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Der Glasgarten

von

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Ein Leben für ein Leben

Jetzt wurde es interessant, dachte sich Schuldig und sah von Brad zu Eve. Die Frau wusste so einiges wie ihm schien. Und ihm wurde jetzt auch klar, warum er sie zuvor nur in Teilbereichen lesen konnte – ihre Schilde waren als PSI zu stark und sie hatte ihn stets nur das lesen lassen, was ihr passend schien, um den Schein zu wahren. Ein anerkennendes, schmales Lächeln breitete sich auf seinen Gesichtszügen aus.

Wenn er nicht bereits vergeben wäre, würde er sich an Eve ranwerfen – der weiblichen Ausgabe von Brad... nur so zum Spaß, schränkte er ein, als er den lauernden und warnenden Blick von Brad gewahr wurde, der wohl seinem eigenen verräterischen Lächeln geschuldet war.

Denk nicht mal dran, besagte dieser Blick.

Er stellte es sofort ein und erwiderte stumm mit fragend gelupften Augenbrauen in etwa: jetzt schau nicht so, sie ist halt zum Anbeißen!
 

„Ich... ich kenne Asugawa.“ Bevor einer der beiden Männer etwas sagen konnte, hob sie die Hand. Schuldig war noch geistig mit seiner nonverbalen Unterhaltung beschäftigt, als ihn diese Meldung einholte und aufgrund ihrer Brisanz wieder zum Thema zurück brachte.

„Lasst mich zu Ende erzählen. Kennen ist vielleicht zu viel gesagt, ich bin ihm ein paar Mal begegnet und es war bis heute immer eine unangenehme Begegnung, das kann ich euch sagen.“
 

„Bei dem Typen nicht verwunderlich“, sagte Schuldig großspurig und dachte danach daran, dass sicher viele Leute – sofern sie sich an eine Begegnung mit ihm selbst erinnern konnten – wohl das gleiche sagen mochten.
 

„Erinnerst du dich an das Schulfest, nachdem du eine Lebensmittelvergiftung hattest und ins Krankenhaus musstest?“
 

„Das war... wie alt war ich da... fünfzehn?“ fragte Brad, nicht ahnend, worauf sie hinaus wollte.
 

Eve fühlte die Aufregung in sich und schluckte. Sie stand auf und ging nervös auf und ab. Ab und an warf sie Brad und Schuldig einen verunsicherten Blick zu. Für Letzteren schien eine kleine Ewigkeit zu vergehen, bis sie weitersprach.

„Es war keine... also keine Lebensmittelvergiftung.“
 

Brad seufzte und drehte sich auf seinem Stuhl, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Er hatte die Beine vom Barhocker gespreizt abgestellt und die Hände locker auf den Oberschenkeln liegen. „Das dachte ich mir damals, Eve.“
 

„Du hast nie etwas gesagt...“, Eve sah ihn an. Sie fühlte die Nervosität in sich wie etwas Lebendiges, dass unter ihrer Haut entlang kroch. Brad war ihr nicht mehr so vertraut wie früher. Vieles trennte sie und sie wollte die verlorenen Jahre aufholen – ungeschehen konnte sie sie nicht mehr machen.
 

„Diese Art Anschlag war damals an der Tagesordnung gewesen. Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich bin erst im Krankenhaus darauf gekommen, als die Ärzte immer ratloser wurden und ich plötzlich und unerwartet geheilt war.“
 

„Ich kam an diesem Abend erst sehr spät nach Hause, weil ich im Komitee dafür zuständig war, nach dem Schulfest aufzuräumen. Es war schon weit nach Mitternacht und Samy... erinnerst du dich an ihn? Er war der Boss der Sicherheit, die das Haus bewachte, meinte, du hättest dich hingelegt weil dir nicht gut war. Er hatte nach dir gesehen, du hättest ihm aber gesagt, es sei alles in Ordnung und ihn beruhigt.

Ich bin also rein ins Haus und zu dir hoch. Ich habe das Nachtlicht bei dir brennen sehen und wollte dich zunächst nicht stören, also bin ich runter und hab dir einen Tee gemacht. Dann bin ich wieder hoch und habe leise angeklopft. Als keine Antwort kam bin ich rein und sehe da dieses Kind sitzen.“
 

Schuldig keuchte und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er wollte das jetzt nicht hören. Das war absurd. Er sah Brads Profil an, der wie versteinert dort saß.
 

„Zunächst wusste ich nicht, ob es Junge oder Mädchen war, das dort saß und konnte die Szene nicht gleich einordnen. Das Rätselraten hatte sich aber bald verflüchtigt. Es war ein Junge. Er saß oberhalb deines Kopfes an die Wand gelehnt und hatte eine Hand auf deinen Kopf gelegt. Er strich dir darüber und las in einem Buch. Es war so surreal.

Ich fragte, wie er reingekommen und ob er ein Freund von dir sei. Samy allerdings hatte von einem Gast nichts erwähnt und das alarmierte mich. Auch die Waffe, die auf mich gerichtet war und die ich zu spät erkannte, sagte mir, dass das kein Freund war.
 

Er begrüßte mich freundlich und sagte, ich solle die Tür schließen. Ich tat es und hatte Todesangst. Er war so ruhig. Das war gespenstisch und jagte mir eine höllische Angst ein. Ich dachte, du bist tot.
 

Ich wollte etwas sagen, doch der Junge schüttelte nur den Kopf und zeigte mit der Waffe auf deinen Sessel. Ich setzte mich und starrte immer wieder auf dich. Du lagst auf dem Bauch und ich konnte dein abgewandtes Gesicht nicht sehen.“
 

Sie blinzelte Tränen weg und wischte sich unwirsch über die Augen. Es war, als wäre es erst heute Nacht gewesen.
 

„Er sagte, dass du nicht tot seist aber bald und er mir Gelegenheit geben wollte, um mich zu verabschieden. Das war so unbegreiflich, dass ich vor lauter Panik laut auflachte. Ich fragte ihn, ob er verrückt sei und was das sollte. Wenn er ein Killer war - und das war offensichtlich - dann solle er mit diesen grausamen Spielchen aufhören und uns erledigen. Ich beschimpfte ihn und zählte die letzten Attentate auf, die auf dich verübt worden waren und fragte ihn, ob einer seiner Auftraggeber dafür verantwortlich waren und ob sie jetzt Kinder dafür einsetzten, um dich zu töten – ein Kind. Er sah mich nur an, mit diesen geweiteten Augen, so als würde er mich jetzt erst wahrnehmen. So hübsch, mit diesen asiatischen Gesichtszügen und den großen Augen, dabei aber so kalt und nüchtern. Er machte mir damals Angst und tut es heute noch.

Dann plötzlich, noch während ich auf ihn einschimpfte, fragte er mich ob das deine Bücher wären, die dort im Regal standen. Er deutete auf deine Tagebücher.

Er sah zu den Regalreihen und ich dachte, ich könnte mich auf ihn werfen oder irgendetwas tun, als er ohne hinzusehen die Waffe hob und entsicherte. Er sah mich nicht mal an dabei, als er mich warnte und mich bat, mich wieder zu setzen. Er hatte den Blick immer noch auf deine Tagebücher gerichtet. Das war, als wäre er ein eiskalter Killer, der... naja, er war ein Kind. Ich verstehe es bis heute nicht...“
 

Eve schüttelte den Kopf.
 

Brad und Schuldig hörten schweigend zu. Aber in Brad stoben Funken der Wut auf, die Nahrung suchten. Er hatte den absurden Gedanken, dass er niemandem seine Tagebücher zu lesen erlaubt hätte. Bevor er gegangen war, hatte er sie verbrannt. Und dieser Bastard hatte sie in seinen Fingern gehabt? Seine neugierigen Augen darüber wandern lassen? Er wusste Dinge von ihm, die er nie jemandem anvertraut hatte? Natürlich waren es Probleme, die Kinder und Jugendliche so hatten – hauptsächlich Dinge über seine langsam erwachenden Fähigkeiten. Daraus resultierende alltägliche Probleme mit seiner Umwelt. Wie sie ihn oft für geistig gestört gehalten hatten, seine Blackouts dann mit einer organischen cerebralen Erkrankung erklärten. Trotzdem hatte er Freunde.
 

„Ich beantwortete ihm all seine Fragen zu dir. Seine rechte Hand hatte er wieder auf deinem Kopf abgelegt. Hin und wieder fuhren die Finger zu deinem Hals, als würden sie fühlen wollen, ob du noch lebst. Es machte mich halb wahnsinnig, ihn das tun zu sehen. Er wollte alles über dein Leben wissen und über deine Fähigkeiten. Während ich erzählte, sicherte er die Waffe wieder, hielt sie aber immer noch über eines deiner Tagebücher auf mich gerichtet.

Ich wusste nicht, wann das war, aber irgendwann nahm er die Hand von dir, rutschte flink vom Bett und warf mir das Tagebuch zu.

‚Ich muss eine Entscheidung fällen’, sagte er. ‚Das Leben deines Bruders bedeutet dir sehr viel und deshalb wirst du sicher ein wenig Geduld dafür aufbringen.’

Er sprach in Rätseln für mich.

Ich saß in meinem Sessel und sah dieses Kind an, das mit der Waffe dort stand und sich gebärdete wie ein Erwachsener.

‚Ich werde gehen und in ein paar Stunden wieder zurück sein. Das Gift in dem Muffin – den ich übrigens selbst gebacken habe – wirkt langsam. Du hast also Zeit, um dir zu überlegen, ob er leben oder sterben soll.’
 

‚Er soll leben’, sagte ich ihm hastig und ohne nachzudenken und er nickte. ‚Sicher soll er das’, sagte er nachdenklich, ‚deshalb wirst du auf mich warten. Wenn ich zurückkehre wird er leben. Wenn du vergebens wartest oder jemandem von dem, was hier passiert ist, erzählst, wird er sterben.’
 

Er löschte das Licht und öffnete ein Fenster. Dann war er weg. Für Stunden. Die längsten Stunden meines Lebens, Brad. Ich dachte, ich würde dich verlieren, du warst so blass und schweißgebadet. Ich hab versucht, deinen Körper zu kühlen und ich war mittlerweile der Verzweiflung nahe. Ich wusste nicht, ob dieser Junge zurückkehrt oder nicht und ob ich Sam was sagen sollte oder nicht. Dein Leben hing davon ab und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Dann irgendwann war er wieder da, so lautlos und still wie er gegangen war. Er kam zu mir und bedeutete, dass ich Platz an deinem Bett machen sollte.

Er stand vor mir und sah zu mir auf.
 

‚Ein Leben für ein Leben, Eve Crawford. Seines für deines. Bist du bereit dafür?’
 

Ich sah ihn voller Entsetzen an, aber mir war zu dem Zeitpunkt vieles egal. Ich hatte so schreckliche Angst davor, dich sterben zu sehen.

Ich stotterte irgendetwas vor mich hin, fragte ihn, ober er mich gleich töten würde.

Er schüttelte langsam den Kopf.

‚Nein’, sagte er. ‚Irgendwann, wenn es nützt, nicht jetzt. Irgendwann werde ich zu dir kommen und du wirst deine Schuld einlösen.’

Eine Schuld? Wofür... dass er dich in die Nähe des Todes brachte und dann rettete?

Er staute eine Vene, zog eine Spritze samt Kanüle hervor und spritzte dir irgendetwas. Ich stand da und sah ihm tatenlos dabei zu. Ich war wie gelähmt. Seine Hände waren ruhig, arbeiteten mit einer Präzision, die ich einem Kind bei einer solchen Tätigkeit nie zugetraut hätte, während ich am ganzen Leib zitterte.
 

Dann erhob er sich und ging zum Fenster.

‚Ich werde ihn beschützen, Eve. Ich habe ihn mir ausgesucht und werde meine Aufgabe erfüllen.’ Er verneigte sich und weg war er.“
 

Eve verstummte und hatte die Arme vor sich verschränkt. Sie sah zum Fenster hinaus.
 

In Brad war eine entsetzliche Kälte aufgestiegen. Er konnte nichts sagen. Warum sie ihm nichts davon erzählt hatte lag auf der Hand. Er wäre wütend geworden so wie jetzt. Er hätte sich gesorgt um seine Schwester so wie jetzt. Sie hatten sich oft in dieser Zeit gestritten und dann war er gegangen. Er hatte beschlossen, dass sie ohne ihn besser dran wäre. Die Attentate hatten stets ihm gegolten und sie wäre nur ein nüchterner Kollateralschaden gewesen. Er wollte ihr das nicht mehr aufbürden und wollte sie in Sicherheit wissen.
 

„Dann Jahre später habe ich ihn erneut gesehen. Immer wenn ich dir zu nahe gekommen bin auf meiner Jagd nach dir funkte er mir dazwischen. Zwei Mal bekam ich Besuch von ihm. Er drohte mir zwar nicht, ‚riet’ mir aber, dich in Frieden zu lassen... zu meiner eigenen Sicherheit. Du würdest dich mit Menschen umgeben, die mir schaden würden, das könne er nicht verantworten. Vermutlich meinte er SZ. Er befürchtete wohl, ich würde in ihre Fänge geraten.“
 

Sie lachte laut auf. „Er war damals älter, so um die zwanzig, und dann noch einmal ein paar Jahre später. Ich dachte, die Sache wäre damals abgehakt gewesen. Aber nein, er war immer bestens über deine Aktivitäten informiert.
 

Brad stand auf. „Du hättest es mir erzählen müssen“, sagte er und starrte blind vor eisiger Wut ihren Rücken an. Sie nickte und er nahm dieses Nicken mit auf seinem Weg nach draußen. Er musste Abstand zu dem gewinnen, was Eve ihm erzählt hatte.

Er ging durch den Wohnraum, den sie zum Besprechungsraum umfunktioniert hatten, öffnete die Tür zur Holzterrasse und setzte sich hin. Er lehnte sich an die Stützbalken der Überdachung und starrte in den Kies.

Wieso hatte er ihn all die Jahre nicht gesehen? Keine Vision, kein gar nichts. Wer war dieser Schatten, der ihn offensichtlich stets begleitet hatte? Wenn es denn so war. Was war noch echt? Was Trugbild?

Und was hatte Asugawa dazu bewegt, sich ihm zu nähern? Sein Tod offensichtlich nicht. Die Entlarvung, als Eve befreit wurde – von ihm befreit wurde – war so nicht geplant gewesen, das war ihm klar. Er hatte das nicht offenbaren wollen. Er versuchte, das Kind mit dem Ninjutsu und dem Mann in seinen Armen in Einklang zu bringen, schaffte es aber nicht. Das waren drei verschiedene Gestalten. Und es waren noch so viele andere...
 

Sein Gesicht verhärtete sich. Er würde ihn jagen und finden und dann das vollenden, was dieser Killer nicht geschafft hat. Er würde ihn töten. Er brauchte keinen Schatten in seinem Leben, davon hatte er genug. Und er würde sich nie wieder an eine Kette legen lassen. Er würde diese unsichtbare Kette zerschlagen in tausend Glieder.
 


 

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Schuldig sah Brad hinterher. Keiner von ihnen rührte sich, um ihm zu folgen. Dass einer ihrer Gegenspieler derart nahe an sie herangekommen war und das zu einer Zeit, in derkeiner von ihnen auch nur etwas geahnt hatte... war furchteinflößend. Es war persönlich. Ein persönlicher Angriff auf Brad. Keiner der Angriffe zuvor hatte diese persönliche Note besessen, wie die bloße Existenz dieses Mannes – Asugawa. Oder wie auch immer er heißen mochte. Sie konnten sich kaum vorstellen, was in Brad vorgehen mochte.
 

Eve dachte daran, dass Brad ihr und Fujimiya erzählt hatte, dass er mit Asugawa geschlafen hatte. Sie konnte sich nicht ausmalen, was er jetzt fühlte. Sie schwiegen für ein Weilchen, es war auch nicht nötig, etwas zu sagen.
 

„Habt ihr Alkohol hier?“ fragte Eve leise an Schuldig gewandt. Dieser ging zu einem Hängeschrank, zog Whiskey und drei Gläser hervor und füllte diese zu einem Drittel. Eines davon reichte er Eve. Mit den beiden anderen ging er Brad nach. Er fand ihn auf der Veranda.

Er brachte das Glas in das Blickfeld des Amerikaners, der es ohne aufzusehen annahm. Schuldig setzte sich ihm gegenüber.
 

Sie sprachen lange nichts und er sah, wie Ran mit dem Mädchen kurz zu ihnen ins Besprechungszimmer kam. Die Türen zur Terrasse standen weit offen und er lächelte seinen Freund an, winkte dem Mädchen, dass schüchtern und verschämt zurück winkte. Ran sah kurz zu Brad und führte das Mädchen dann in die Küche. „Kommt ihr zum Essen?“
 

„Später, Ran. Fangt schon mal an. Eve hat sicher auch Hunger“, schickte er zurück und hob das Glas an. „Wir sind momentan versorgt.“ Er grinste schief. Aber Ran sah ihn nur ernst an bevor er sich endgültig abwandte.

Sie saßen noch lange so da. Es war heiß, aber die Veranda spendete ihnen Schatten. Brad legte den Kopf in den Nacken und hatte die Augen geschlossen.

„Ich habe mit ihm geschlafen, Schuldig.“
 

Schuldig hatte gerade einen Schluck genommen und musste sich zwingen, den Alkohol in die richtige Richtung zu bringen. Dabei war ihm noch nicht klar, wohin es gehen sollte: raus und wenn raus, dann über die Nase oder den Mund? Runter und wenn runter, in welche Röhre?

„Was?“ krächzte er und sah Brad verständnislos an. Der öffnete die Augen, sah ihn mit diesem stechenden schwefelgelben Blick für einen Moment an.

Er stellte sein unberührtes Glas ab und wandte sich dann seitlich so, dass Schuldig nur sein Profil sehen konnte.

„Sind wir schon soweit gekommen, dass du mir Dinge verschweigst, die derartige Brisanz haben? Wir versuchen seit Wochen herauszufinden, wer SIN sind und...“
 

„Ich wusste es nicht“, fiel ihm Brad leise dazwischen.
 

Schuldig verstand wirklich wenig davon, was Brad ihm da sagte. Also mit seinem Gehör war alles in Ordnung, nur sein Verstand blockierte.
 

„Du warst gerade aus China zurück und hast dich mit Fujiimya davon gestohlen...ich...“
 

„Dann ist es jetzt meine Schuld?“ fragte Schuldig verbittert und stürzte den Rest Alkohol hinunter. Er wollte wütend aufstehen.

„Setz dich und hör mir zu“, befahl Brad und Schuldig schmälerte seinen Blick. Er blieb aber wo er war.
 

„Es ist nicht deine Schuld. Du warst für mich noch nicht greifbar. Ich dachte, ich hätte versagt, dich verloren. Dein Wiederauftauchen war für mich noch nicht real. Ich war wütend und verletzt, dass du dich lieber an diesen Weiß hängst als an mich. Ich erledigte einen Auftrag, der noch ausstand und traf mich mit einem Informanten im Icebreak. Dort bin ich ihm und den Kindern begegnet. Einem Jungen und dem Mädchen. Er hat sie beaufsichtigt. Am Abend habe ich mich mit ihm verabredet und wir waren die ganze Nacht zusammen. Er stellte sich als Finn Kimura vor. Es war eine Nacht, mehr nicht.“
 

Schuldig musste diese nüchterne Beichte erst verdauen und die Eifersucht, die er in sich fühlte, machte die Verdauung dessen nicht besser.

„War es wenigstens befriedigend gewesen?“ ätzte er. Er hatte das dringende Bedürfnis ihn, dafür eine Weile auf die Nerven zu gehen, aber der niedergeschlagene Ausdruck in der ganzen Gestalt, die ihm stets Stärke und Halt vermittelt hatte, ließ ihn davon Abstand nehmen. Schuldig hatte sich verändert. Früher hätte ihn das kaum davon abgehalten, Brad verbal anzugehen. Aber auch die zur Abwechslung einmal offene Art, wie sich Brad hier präsentierte, hielt ihn davon ab – zugegeben. Es war zu selten, um es zu zerstören.
 

„Spielt das irgendeine Rolle, Schuldig?“ fragte Brad und wandte ihm sein Gesicht zu. Es sah müde und so verletzlich aus, dass Schuldigs Zorn zu einem weiteren Stück verrauchte. Er sank in sich zusammen und seufzte.

„Wohl nicht“, brummte er und verzog das Gesicht gequält. Scheiße. Brad hatte Asugawa gefickt. Das wollte ihm irgendwie nicht ins Hirn sickern. Wohl eher hatte Asugawa sie alle gefickt, mehrfach, immer wieder, wohl schon seit Jahren.

Er würde ihn umbringen, sobald er ihn in den Fingern hatte.
 

Sie schwiegen wieder.
 

„Aber was soll das alles? Er will dich töten. Dann wieder nicht. Und das zieht sich offenbar durch die letzten Jahre. Vorausgesetzt wir glauben, was deine Schwester uns erzählt.“
 

„Was hätte sie davon, uns etwas derartig Abstruses zu erzählen?“
 

„Außer, dass wir Asugawa mehr hassen als zuvor, was kaum vorstellbar ist.“ Schuldig zuckte mit den Schultern.
 

„Ich hasse ihn nicht, Schuldig. Ich will ihn nur beseitigen, das ist alles. Ich bin wütend, das ist richtig - ich kann kaum atmen vor Wut. Nur weiß ich noch nicht alles, was mich umso wütender macht. Zumal dieses Mädchen, dass er uns aufgezwungen hat, unsere Situation eher verschlimmert als verbessert. Er hat uns in diese Situation hineingezwungen, wie offenbar in viele davor auch schon. Ich will diesen Mann haben. Ich will Informationen von ihm und ich werde sie bekommen.“ Seine Stimme war düster und sein Blick weit weg.
 

„Ich treffe mich später mit Manx. Bleib hier und behalte alles im Auge. Wir sollten zusehen, dass wir eine schnelle Lösung für das Kind finden. Es kann nicht hier bleiben. Hast du ihren Ausweis und den Pass schon gesehen?“
 

„Ihren Pass?“
 

„Asugawa hat Ausweise, Pässe und Geburtsurkunden mitgegeben, die sie als Fujimiyas Tochter ausgeben. Der andere Pass beläuft sich auf Gabriel Villard. Laut Pass bist du sein Vater. Die Geburtsurkunden sprechen aber davon, dass es die Kinder von Masahiro Sakurakawa und Elisabeth Villard sind.“
 

„Bitte? Wenn das stimmt ist die Kleine meine Cousine?“ In Schuldig breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Das konnte kein Zufall sein.
 

„Tja. Asugawa scheint an alles gedacht zu haben“, sagte Brad leise. Zu leise, wie Schuldig befand. Die knisternde Wut war fast in jeder Faser des Körpers vorhanden und vibrierte in der Stimme an Schuldigs Ohr, was ihn vorsichtig werden ließ.

„Er manipuliert uns und ich weiß nicht wie lange schon. Das werde ich ändern. Ich spiele dieses Spiel ungern zu Bedingungen die mir andere aufdiktieren. Wenn dann geht es nach meinen Spielregeln.“ Brads Hand schloss sich zu einer Faust, öffnete sich wieder und schloss sich wieder... als er es bemerkte und hinuntersah, stellte er dieses verräterische Zeichen seiner Wut ein und stand auf, dabei überließ er sein Glas Schuldig, der es entgegennahm. Er blieb noch sitzen und sah Brad nach.
 

Dieser ging hinauf in sein Zimmer. Er zog sich aus und beschloss zu duschen. Dann zog er sich an. Nach einer Stunde, in der er sich in einen perfekt sitzenden Anzug gekleidet und darüber gebrütet hatte, welche Optionen ihm offen standen, verließ er sein Zimmer wieder. Er hatte noch nichts gegessen und ihm war auch nicht danach. Er verließ das Ryokan, stieg in seinen Jaguar und fuhr in Richtung Treffpunkt. Bereits auf der Hinfahrt hatte er eine Vision über ihr Treffen, konnte sich aber noch keinen Reim darauf machen.
 

Es dauerte eine Stunde, bis er am Friedhof der kleinen Fujimiya angekommen war
 

Er stieg aus und sah sich um. Einige Autos standen auf dem kleinen Parkplatz. Der Friedhof war nicht sehr groß und er würde nach der rothaarigen Operateurin Ausschau halten müssen, weil er nicht wusste, wo sie ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Auf dem Weg dorthin ging er einen Pfad entlang und fand den roten Haarschopf in der Sonne leuchten.

Neben ihr stand eine ältere Dame im Hosenanzug, wie es aussah betete sie. Brad blieb in einigem Abstand stehen, als Manx ihn kommen sah.

Sie nickte ihm zu. Brad sah sich um und die Augen hinter der Sonnenbrille taxierten die Umgebung.
 

Ihm war klar, dass er sich hier nicht mit Manx traf sondern mit dieser Frau. Allerdings entzog es sich noch seiner Kenntnis, wer diese Frau war.

Es dauerte noch einige Minuten, bis sie ihr Gebet beendet hatte. Sie erhob sich und verneigte sich mit gefalteten Händen, bevor sie einen Schritt zurück trat und Manx zunickte. Diese sagte etwas zu ihr und die Frau drehte sich zu ihm um. Sie maß ihn für endlose Augenblicke, bevor sie zu ihm kam.

„Mr Crawford“, sagte Manx. In diesem Augenblick hatte er eine Vision davon, wie ihr Gespräch enden würde und wusste auch, wen er vor sich hatte.
 

„Darf ich Ihnen Sakura Chiyo vorstellen?“ sagte sie auf Englisch.
 

Noch bevor er zur üblichen Begrüßungszeremonie mit Verbeugung und dem ganzen anderen Brimborium, dass er im Augenblick wenig schätzte, kommen konnte, reichte sie ihm ganz westlich die Hand.

„Mr Crawford. Ich freue mich Ihnen endlich persönlich zu begegnen“, sagte sie in akzentfreiem Amerikanisch. Er nahm ihre Hand und drückte sie angemessen für einen Moment, bevor er die schmale Hand wieder freigab. Alles an dieser zierlichen Dame, die vielleicht in den Fünfzigern oder Sechzigern war, wirkte zerbrechlich. Bis auf die Härte in ihren Augen vielleicht.
 

„Das kann ich mir schwer vorstellen“, sagte er unverbindlich und sehr neutral.
 

„Doch... glauben Sie mir. Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört.“
 

„DIES wiederum liegt durchaus im Bereich meiner Vorstellungskraft.“
 

„Sie fragen sich sicher, warum ich Manx bat, dieses Treffen zu vereinbaren. Und warum ausgerechnet an diesem Ort?“ sie lächelte ein winziges Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte.
 

„Was wollen Sie von Schwarz?“ kam er zum Thema.
 

Sie nickte Manx zu und bedeutete ihm, ein Stück mit ihr zu gehen. Er seufzte innerlich, ohne, dass ein Laut nach außen drang.

„Es interessiert Sie gar nicht warum ich ausgerechnet hier vor Ihnen stehe?“
 

„Ich konnte gerade noch verhindern, Ihnen einen neugierigen Telepathen auf den Hals zu hetzen, Mrs Sakura. Seien Sie gewiss, es interessiert mich, aber ich lasse die Dinge gerne auf mich zukommen.“
 

„Sie sind ein kluger, junger Mann, Mr Crawford und sehr gut aussehend, wie ich bemerken darf.“ Sie lächelte verschmitzt und er warf einen irritierten Seitenblick zu der Frau an seiner Seite.
 

„Und Sie verheiratet wie uns beiden bekannt sein dürfte“, erwiderte er trocken und erntete ein vornehmes Lächeln.
 

„Ah...“ sagte sie, als wäre ihr gerade ein Licht aufgegangen, und nickte. „Das ist richtig. Das bin ich. Schon viele Jahre. Und jung verheiratet worden. Eine gute Partie wie es damals hieß. Gut situiert mit viel Einfluss. Gerade für meine Familie war das sehr wichtig.“

Er sah ihre weiteren Worte schon kommen.

„Ist er das immer noch? Eine gute Partie?“
 

Sie blieb stehen und sah ihn lange an. „Sehr subtil Mr Crawford. Wohl der Hellsicht zu verdanken, über die Sie verfügen. Sie sehen kommen, was ich von Ihnen will. Nun gehen wir die Dinge wie normale Menschen an. Der Reihe nach.“
 

Er sagte nichts dazu. Er wusste noch nicht genau, was sie von ihm wollte, aber er wusste, DASS sie etwas von ihm wollte.
 

Sie begann wieder zu gehen. „Tatsächlich ist er keine gute Partie mehr. Das war er nie. Es hat aber einige Jahre gedauert, bis ich es verstanden habe.“
 

„Wollen Sie von mir, dass wir Ihnen das Problem abnehmen. Endgültig?“
 

„Nein. Das übernehme ich selbst. Aber der Gedanke ist in dieser jetzigen vertrackten Situation durchaus verführerisch.“
 

Crawford traute seinen Ohren kaum. War Sie die Komponente, die Ihnen bisher in dem verworrenen Konstrukt fehlte?
 

Sie schwieg lange bevor sie fortfuhr und betrachtete die hohen, dicken Zedernstämme, die den Weg säumten. „Vor einigen Jahren starb meine Tochter auf tragische Weise. Sie wurde ermordet. Mit ihr starb auch der Mann an ihrer Seite und meine Enkelin wurde so schwer verletzt, dass sie sich nie mehr von diesem heimtückischen Anschlag erholte und schlussendlich ebenfalls verstarb. Ich fand erst sehr spät heraus, dass mein eigener Ehemann und ihr Vater diesen Mordauftrag erteilte.

Sie hatte die Regeln gebrochen, die in unserer Familie lange währten. In meiner Familie möchte ich betonen. Mein Mann hatte nie das Recht, dies zu tun. Lange hatte ich tatenlos zugesehen, wie er die Werte unserer Familie mit Füßen trat, vielleicht auch, weil ich blind vor Liebe und daher machtlos war.
 

Ich möchte eine Reform, Mr Crawford. Während mein Mann seine eigene, kleine Armee hegte, war ich selbst nicht untätig. Es gibt einen kleinen Kreis an Getreuen, die ich um mich versammelt habe und die im Verborgenen arbeiten. Dazu darf ich auch Manx zählen.“
 

Crawford verzog den Mund spöttisch. Das war interessant und selbst von Schuldig nicht zu erkennen gewesen.
 

„Viele meiner Gelder flossen in der Vergangenheit in Kritikers Aktionen und Persha war ein fähiger Mann, wie sie sicher erfahren durften.“
 

„Es gab da so ein paar Momente“, erwiderte er kryptisch.
 

„Takatori war mir ein Dorn im Auge und Persha sah das ebenso. Takatori war gefährlich und ich war nicht bereit meine Heimat von diesem Mann regieren zu lassen. Außerdem hatte Persha genug persönliche Abneigung gegen ihn, um sein Engagement nicht verebben zu lassen. Vor allem nachdem mir bekannt war, dass er mit SZ paktierte. Ich sandte Persha Manx zur Unterstützung. Nebenbei finanzierte ich Kritiker und ihre Aktionen zum Preis einer Jagd gegen einen Mörder und dessen wahnwitzige Visionen einer grausamen Zukunft.“
 

Die Frau blieb wieder stehen.
 

„Mein Mann allerdings finanzierte Takatori und dessen Machenschaften auf wissenschaftlicher Basis nur, um sie sich nach dessen Tod unter den Nagel zu reißen.“ Sie war jetzt wütend, nur zu erkennen an dem harten Zug um ihre Mundwinkel. Sie lächelte kalt und sah ihn für einen Moment an, bevor sie wieder den Weg aufnahm. Das Lächeln gefiel ihm.
 

„Meine Familie kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, in denen sie Ihresgleichen schützte, Mr Crawford“, fing sie unmittelbar an und Crawford blieb dieses Mal stehen.

„Sie erzählen mir jetzt nicht etwas von Olof oder den Guards, Mrs Sakura?“ sagte er zynisch.

„Doch, Mr Crawford, das versuche ich gerade. Nur entwickelten sich die Dinge in den letzten fünfzig Jahren entgegen unserer eigentlichen Maxime. Schon zuvor waren wir auf einem Irrweg und mein Mann vollendete diese Irrfahrt bis zu dieser Sackgasse, vor der wir heute stehen. Mit meiner Hilfe.“

Sie verstummte für einen Augenblick, als müsste sie sich dieser Erkenntnis erneut stellen.

„Ich war untätig und habe gedacht, dass dies nun einmal der Lauf der Dinge sei. Dabei habe ich meine Fähigkeiten verleugnet und sie begraben. Erst der Tod meiner Tochter rüttelte mich wach. Und jetzt bin ich wach, Mr Crawford. So wach wie noch nie.“
 

Ein Vorteil hatte die jahrelange Untätigkeit: Ihr Mann unterschätzte sie.

Crawford mochte diese Frau. Sie schien ihm ebenbürtig. Und er wagte es zu sagen: er konnte von ihr noch ein paar Dinge lernen. Wie sie jedoch ihre Aktionen hinter dem Rücken ihres Mannes bewerkstelligte, konnte er nicht einmal ahnen.
 

„Sie trauern sicher noch um Ihren erst kürzlich verstorbenen Sohn, Mrs Sakura“, sagte er ohne Bedauern.

„Ich trauere schon seit dem Moment an, als ich den Befehl für seine Tötung in Auftrag gegeben habe, Mr Crawford“, sagte sie schlicht. Diese Frau war lange über Hass hinaus. Den eigenen Sohn töten zu lassen sprach von kalter Rache.

„Ich möchte mich jetzt nicht über seine Verfehlungen auslassen, jeder begeht Fehler in seinem Leben. Ich weiß das nur zu gut. Nur hat er das, was ich ihn gelehrt habe, in den Schmutz gezogen und sich seinem Vater verschrieben. Es war an der Zeit, ihn daraus zu erlösen.“
 

Sicher, dachte Crawford. Jemanden zu ‚erlösen’ war stets eine elegante Berechtigung, um ihn aus dem Diesseits ins Jenseits zu befördern.
 

„Nun komme ich zum eigentlichen Teil unserer kleinen, durchaus angenehmen Unterhaltung. Auch wenn die meiste Zeit ich rede und Sie ein sehr schweigsamer Mann sind.“ Sie lächelte wieder dieses aufmerksame, freundliche Lächeln.
 

„Einer meiner...“ sie fand nicht gleich das richtige Wort. „... sagen wir Schützlinge ist abtrünnig geworden. Ich möchte, dass Schwarz ihn findet und zu mir bringt. Er hat etwas gestohlen, das für mich sehr wichtig ist. Es könnte bereits in Ihren Besitz übergegangen sein. Und ich bezweifle, dass es unter Ihrer Obhut die angemessene Behandlung erfährt, die ihm zusteht.“
 

„Drücken Sie sich klar aus“, forderte Brad kühl.
 

„Sie haben meine Enkelin, Mr Crawford, und ich will sie zurück.“ Sie blieb wieder stehen und sah ihn an. „Es ist für mich unbegreiflich wie... K... „ sie runzelte die Stirn. „... sie kennen ihn unter dem Namen Asugawa, das Kind entführen und es Ihnen überlassen konnte. Was hat er sich nur dabei gedacht!“ sagte sie wütend, war aber viel zu beherrscht, als dass sie diese Wut übergebührlich nach außen trug.
 

„Und Sie meinen, dass dieses Kind besser bei Ihnen aufgehoben wäre? Warum ausgerechnet jetzt?“ Er verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln.

„Was unterscheidet jetzt von letzter Woche?“
 

Sie sagte nichts dazu. Er hatte den Finger wohl in eine offene Wunde gelegt.
 

„Werden Sie Asugawa nun für mich finden? Sie haben doch sicher auch noch die eine oder andere Rechnung mit ihm offen, oder irre ich mich?“
 

„Das lassen Sie meine Sorge sein, Mrs Sakura. Was bieten Sie mir für diesen Auftrag?“
 

„Loyalität Ihrem Team und Ihren Unterstützern gegenüber, sobald die Führung in der Familie an mich übergeht. Ich möchte Sie nicht beleidigen, indem ich Ihnen finanzielle Unterstützung zusichere, für Sie sind sicher anderweitige Werte viel interessanter.“
 

Er brauchte nicht allzu lange überlegen, zögerte jedoch dennoch. Die Sakurakawa Gruppe hatte sehr großen Einfluss in die höchsten politischen Kreise der Staaten. Sogar soweit, dass er wieder in seine Heimat reisen konnte ohne Gefahr zu laufen, dort von Agenten umzingelt zu werden.
 

„Wer garantiert dies?“
 

„Sie haben immer noch meine Enkelin als Pfand. Und ich selbst, Mr Crawford. Ein Versprechen, das bereits vor langer Zeit gegeben wurde und ich jetzt vor Ihnen erneuere. Sobald Sie mir Asugawa bringen.“
 

„In welchem Zustand?“

„Lebend. Falls es sich nicht vermeiden lässt auch tot. Er ist von mir persönlich ausgebildet worden und ich befürchte, dass es unvermeidlich sein wird, ihn zu töten. Er ist zu gefährlich geworden und gehorcht nicht mehr meinen Befehlen. Das ist unverzeihlich und muss geahndet werden.

Er hat seinen Tod vorgetäuscht. Meinen Mann konnte er täuschen – mich nicht. Asugawa hat Ihnen meine Enkelin überlassen und hat seinen Tod nur fingiert. Was er weiterhin plant ist mir nicht bekannt. Finden Sie ihn, bevor er meine Pläne durchkreuzt. Und er ist gut darin, dass kann ich Ihnen versichern. Er ist der beste Mann, den ich habe. Trotzdem ist sein Versagen für ihn sein Todesurteil.“
 

Von ihr persönlich? Hat Asugawa damals von ihr oder von ihrem Mann den Tötungsbefehl für ihn erhalten? Hat Sie dieses Kind damals bereits zum Killer ausgebildet? Hat Asugawa damals, als er ihn am Leben ließ, schon nicht gespurt?

Er wagte nicht, diesen Gedanken weiter zu führen. Das hätte Asugawa vielleicht in ein positives Licht gerückt und das gestand er ihm nicht zu.
 

„Sind wir im Geschäft, Mr Crawford?“

Sie reichte ihm ihre Hand und Brad nahm sie. „Das sind wir.“
 

Sie würden über Manx in Kontakt bleiben. Brad verließ die beiden Frauen und sah das berechnende Lächeln nicht mehr, das die ältere Frau der Jüngeren schenkte. Diese verneigte sich.
 

Und er hörte auch nicht mehr ihre Worte. „Scheint doch ganz umgänglich zu sein“, sagte sie.
 

„Glauben Sie, er hat es geschluckt?“
 

„Schwierig zu sagen, meine Liebe. Die Gedanken dieser PSI sind nicht so einfach zu erahnen. Sie denken in anderen Bahnen. Dieser Mann ganz speziell in völlig anderen. Aber ich denke... wir haben ihn am Haken.“

Sie sahen beide dem Mann nach.
 

„Was ist mit Asugawa?“
 

„Er hat vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen. Er ist für mich verloren.“
 

„Er ist gefährlich und unberechenbar.“
 

„Nein, in einer Sache ist er berechenbar. Und das ist sein Schwachpunkt. Es wird ihn zu Fall bringen. Wir müssen nur abwarten, meine Liebe. Und jetzt lass uns gehen. Ich möchte nicht zu spät zur Trauerfeier kommen.“
 


 

o
 


 

Als er ging, hatte Brad viele Dinge über die er nachdenken musste. Vor allem über die Vision, die er hatte, als er in seinen Wagen stieg. Er starrte für Sekunden sein Lenkrad an und keuchte über die Intensität. Der Zusammenhang war ihm nun klarer, aber er war nicht begeistert von diesen Aussichten. Er beschloss, das zunächst für sich zu behalten.
 

Er fuhr zurück zum Ryokan.
 

Die alte Sakurakawa wollte also ihren besten Mann im Feld aus dem Weg räumen. So wie sie ihren Sohn ausgeschaltet hatte.

„Was hast du nur vor?“ fragte er laut in Gedanken diesen besten Mann, der ihm selbst mehr als einmal vorgeführt hatte. Sein Entschluss stand ohnehin schon fest, seiner habhaft zu werden. Jetzt mehr denn je. Er brauchte Antworten und er musste ihn aus diesem Spiel entfernen, denn dieser Spieler manipulierte ihre Handlungen nach belieben wie es schien.

Er fragte sich aber ob ihn die Antworten die er von Asugawa erhalten würde zufrieden stellen konnten.

Welche Fragen würde er ihm stellen? Wo sollte er anfangen? Es war ein komplettes Leben, das neben seinem parallel gelebt worden war – in seinem Schatten? Bei all der Wut in sich fragte er sich, wie Asugawa das fertig gebracht hatte, ohne sich zu zeigen? Ohne nur einmal nachlässig geworden zu sein. Zeugten die jüngsten Ereignisse davon, dass er müde war? Was hatte sich verändert?
 

Es juckte ihn in den Fingern seiner habhaft zu werden. Er musste ihn in die Finger kriegen. Dabei spürte er wie unruhig und unausgeglichen er sich bei dem Gedanken daran fühlte.
 

Und einen Punkt hatte die alte Chiyo nicht angesprochen: Die Tatsache, dass sie am Grab ihrer Enkelin stand und betete. Sie hatte ihren Enkel mit keinem Wort erwähnt. Weil sie annahm, dass er bereits wusste, dass Ran Fujimiya in Wahrheit Mitglied des Sakurakawa Clans und der Erbe dessen war? Es war so offensichtlich. Sie stand am Grab von Aya, sie spazierten über den Friedhof und sie erzählte ihm, wie ihr Mann unter Zuhilfenahme Takatoris ihre Tochter samt Familie ausradiert hatte.
 

Es sei denn, Manx hatte ihr nicht verraten, dass Ran noch lebte. Was er aber für unwahrscheinlich hielt. Diese doppelzüngige Schlange... das war es gewesen, dass er immer an ihr interessant gefunden hatte. Dieser Schatten, dieses Geheimnis, das um diese rothaarige Frau waberte.
 

Natürlich konnte er sich immer noch täuschen. Aber woher kannte die Frau Aya Fujimiya und deren Familie? Vor allem, wenn das stimmte, dann war das Kind sowohl Fujimiyas als auch Schuldigs Cousine. Mit Sicherheit kein Zufall.

Er würde Nagi oder Omi darauf ansetzen. Wenn sich bestätigte, dass Ran der Enkel der Sakurakawas war, barg das ungeahnte Möglichkeiten. Dann hatten sie nicht nur das Mädchen, sondern auch noch einen männlichen Erben als Faustpfand für mögliche Verhandlungen mit der Familie. Das war interessant, aber auch problematisch. Vor allem, weil dieses Problem orangerote Haare hatte und sicher wenig erbaut darüber wäre. Das war vorerst nichts, was Schuldig wissen musste. Der geeignete Zeitpunkt dafür würde sicher kommen – früher oder später.
 

Er überlegte kurz zum Doc zu fahren, verschob aber diesen Besuch. Stattdessen fuhr er zu Asami. Er traf sich mit ihm und schlug ihm ein Geschäft vor. Eine Jagd auf den Mann, der ihnen ein Dorn im Auge war.
 

Im Gegenzug versorgte er ihn mit Informationen über die Sakurakawa Gruppe und deren interne Probleme. Das war Asami neu, wie es schien. Er versicherte, Augen und Ohren offenzuhalten und seine Leute auf Asugawa verstärkt anzusetzen.
 

Zufrieden fuhr Brad ins Ryokan und hörte bereits, als er die Tür öffnete, lautes Gekreische und Lachen. Er ging in die Küche, wo er Ruhe davor hatte. Aus dem Besprechungszimmer drangen diese fröhlichen Klänge, die er so gar nicht hören wollte, weder im Moment noch sonst an einem Tag. Schuldig kam in die Küche.

„Wie wars?“

Er lehnte an der Türumrandung und hatte die Arme verschränkt. Brad machte sich einen Kaffee. Sein Magen rebellierte schon seit der Autofahrt von Asami ins Ryokan, dass er gefälligst gefüllt werden wollte. Eine leichte Übelkeit hatte ihn befallen und er war sich nicht sicher, ob es tatsächlich daher kam, dass er nichts gegessen hatte.

„Wir hatten lediglich eine Nachbesprechung des Einsatzes. Sie stellt uns weiterhin ihre Informationen und Unterstützung zur Verfügung. Das Mädchen bleibt vorerst hier.“
 

Er nippte an seinem Kaffee, dann nahm er die Sonnenbrille ab und legte sie neben die Kaffeemaschine.
 

„Ist das gut?“ Woher der Sinneswandel, fragte sich Schuldig.
 

„Besser als die Alternative.“
 

„Die wäre?“
 

„Zurück zum Clan oder ein Versteck irgendwo bei irgendjemandem, der keine Ahnung von ihrem PSI Status hat.“
 

Schuldig war klar, dass das nicht drin war. Er seufzte und kam näher, um sich auf einen der Barhocker zu setzen.

„Übrigens hat mir Eve noch erzählt, als Asugawa sie rausgeholt hat, ist ihnen Manx über den Weg gelaufen. Sie hatte ihre persönliche Truppe dabei, um uns zu helfen. Offenbar hat sie dabei ein interessantes Gespräch mitbekommen. Ich habe Eve gefragt, ob ich das Gespräch von ihr lesen kann und sie hat zugestimmt. Heute Abend ziehen wir’s durch, sobald das Kind schläft. Manx scheint eine größere Rolle in dem Ganzen zu spielen, als wir bisher dachten. Sie kennt zwar Asugawa nicht persönlich, hat aber von ihm gehört. Und dabei ging es ums Thema Guards und um dich.“
 

Brad rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er hatte keine Ambitionen dahingehend, wieder der Dreh- und Angelpunkt für Kämpfe und Gefechte zu werden. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Das hatte doch die letzten Jahre gut funktioniert. Vielleicht sollte er sich mit dem Gedanken beschäftigen, einfach wieder abzuhauen, wie er es schon einmal getan hatte. Die Verbindungen zu anderen kappen und verschwinden.

Aber Ruhe und Freiheit waren nicht vereinbar. Waren es niemals gewesen. Wenn er Ruhe wollte, musste er sich den Rosenkreuzern ergeben. Dann brauchte er sich um nichts mehr zu kümmern. Nicht einmal denken musste er dann noch. Zog er jedoch die Freiheit vor, würde er nie Ruhe haben. Niemals.
 

Er wich Schuldigs Blick aus und nahm einen Schluck seines Kaffees.

„Ich muss noch nach Nagi sehen und ein paar Dinge erledigen...“ setzte er an.

„Ruh dich aus“, unterbrach Schuldig ihn und kam näher. Er nahm ihm die Tasse aus der Hand und strich ihm über den Arm. „Du bist fertig und solange das Kind wach ist, solltest du die Zeit nutzen, um zu regenerieren. Später kannst du immer noch zu Nagi.“

Brad wollte sich nicht von Schuldig befehlen lassen, aber er erkannte, wenn dieser Recht hatte. Deshalb ließ er seinen Kaffee stehen und löste sich von Schuldig. Er verließ die Küche und ging hinauf in sein Zimmer. Er zog sich aus, verstaute seine Kleidung und legte sich aufs Bett.

Das Kind war Segen und Fluch zugleich. Im Augenblick empfand er es jedoch als Segen. Er schloss die Augen und versuchte, Ruhe vor dem Schatten zu finden, der jetzt nicht nur ein bloßer Gedanke war, sondern eine ganze Geschichte. Ein Mann, dessen Augen er kannte, dessen Gesicht er berührt hatte und dessen Stimme er noch hören konnte. Dieser Schatten war lebendig geworden und ließ ihn nicht mehr los. Eine Kette, die ihn band und über die er keinen Einfluss hatte. Er hatte Angst vor dieser Kette und er würde sie zerschlagen. Irgendwie...
 

An diesem Gedanken hielt er fest bis er einschlief, denn er hatte sich bisher von keinem anderen derart bedroht gefühlt wie von diesem Mann. Es war ihm auch keiner so nahe gekommen. Er dachte daran, wie dieser laut seiner Schwester an seinem Bett gesessen hatte, um seinen Puls zu fühlen.
 

Die darauf folgenden Träume waren wirr, und das kam nicht von Traumvisionen. Rache und Wut spielten in ihnen eine tragende Rolle und waren gezeichnet von seiner Angst, an diesen Schatten gebunden zu werden, der ihn offenbar den größten Teil seines Lebens begleitet hatte.
 

o
 


 

Ein paar Tage waren ins Land gezogen. Die Hitze war drückend und das Objekt dieser Rache wähnte sich im Moment in Sicherheit, war aber auf der Hut.

Finn observierte das Anwesen der Familie in Kyoto. Dort waren die Sektionen eingetroffen und das Gelände wuselte nur so von Männern und Frauen. Er hatte es sich gemütlich eingerichtet auf seinem Beobachtungsposten an der Hügelkuppe. Zwei mal hatte er sich vor Patrouillen unsichtbar machen müssen und war nur um ein Haar nicht entdeckt worden. Aber da er dort blieb, wo er war und sie ihn dort nicht sehen konnten, da er sich mit einem Seil hinuntergelassen hatte und dieses geschickt verborgen war, hatten sie ihn bisher nicht bemerkt. Die Kontaktaufnahme zu Chiyo war noch nicht möglich gewesen. Es schien, als hätte sie die Nummer gewechselt. Er hatte somit keine Möglichkeit mehr, sie zu kontaktieren. Hatte sie ihn fallen gelassen? Warum ausgerechnet jetzt?
 

Heute Abend wollte er sich mit Kiguchi in einem Bordell treffen. Das war unauffällig und verschaffte ihm einen guten Grund, das Anwesen zu verlassen. Finn würde als Hure gut durchgehen, dachte er sich und lächelte schmal. Er hatte bereits alles klar gemacht in dem Etablissement und er war nicht zum ersten Mal dort, um derlei durchzuziehen.
 

Es war Asamis Herrschaftsgebiet und der Clan hatte dort nichts zu melden. Besser ging’s nicht.

Nach einer Weile packte er seine Sachen zusammen, verstaute alles in dem mitgebrachten Rucksack, der schmal an seinem Rücken lag und begann den Aufstieg wieder. Er zog sich über die Kante, flach an den erdigen Boden gedrückt, und wartete dort endlose Minuten geduldig in dieser Lage. Nichts rührte sich. Die Patrouille war noch weit entfernt, sie waren erst vor Kurzem auf ihrer Runde hier vorbeigekommen. Schnell erhob er sich und zog sich weiße Kleidung an, schlüpfte in einfache Sandalen und schob sich einen weiten aus Bambus gefertigten Pilgerhut über den Kopf. Seine nur mehr kurzen Haare verschwanden darunter. Der Undercut, den Gula ihm verpasst hatte, war im Moment tatsächlich sogar nützlich. Sein Körper trug einen dunklen Hautton und ein dezenter angeklebter Dreitagebart kündete von seiner entbehrungsreichen Pilgerreise. Na ja, so entbehrungsreich, wie sie in der heutigen Zeit eben war. Er griff sich den Wanderstock neben sich, verstaute das Seil in dem Loch, das er zuvor gegraben hatte und bedeckte es mit Erde, einem Stein und dahingeworfenen Zweigen.

Dann schlüpfte er auf den Weg hinaus und machte sich davon. Er eilte zum Zug, schließlich musste er heute Abend eine Nutte spielen. Vom Pilger zur Hure – welch ein Wandel und welch herausragende Flexibilität! Nur was er dazwischen war, das war ihm mittlerweile ein Rätsel, vor dem er zu großen Respekt hatte, als es lösen zu wollen.
 

Er ging zügig voran, imitierte aber einen hinkenden Mann, der mit seiner Einschränkung gut zurecht kam. So gelangte er schließlich nach einer Stunde zum Bahnhof. Er betrat ihn und sprang auf die Welle der Businessleute auf, die von einem Bahnsteig zum anderen schwappten. Dort bestieg er nach einer Weile des Wartens den Shin-kan-sen nach Tokyo.
 

In Tokyo angekommen ging er in einer der Toiletten und zog sich um. Den Pilgerhut ließ er auf der Toilette zurück und verschwand im Getümmel der Menge.
 

o
 

Es war bereits später Abend, als er sich in einen Kimono kleiden ließ. Sowohl Langhaarperücke als auch Frisur und Make-up saßen perfekt. Als Edelnutte sah er wirklich atemberaubend aus, wie ihm die Chefin versicherte. Sie hatte ihm nicht nur einmal bereits einen Job in diese Richtung angeboten und beteuert, dass er viel Geld damit verdienen könne und sicher heiß begehrt sein würde. Vor allem wegen seiner Andersartigkeit – das sagte sie natürlich nicht, aber es war oft interessanter für Finn, was die Leute NICHT sagten und welche Sätze sie offen im Raum hingen ließen und an welchen Stellen sie zu aufmerksam lächelten.
 

Seine braunen Augen maßen sich selbst eher unbeeindruckt und sachlich im Spiegel, während die Frau ihm den Obi umlegte. Die Hochsteckfrisur ließ seinen Nacken frei, nur ein paar verirrte Strähnen blitzten vorwitzig daraus hervor. Vorne bildeten zwei schwarze Strähnen einen Rahmen um das schöne Gesicht – wie sie ihm wiederholt versicherte. Finn seufzte innerlich.

Wie oft hatte er das schon gehört?

Und es bedeutete ihm immer noch nichts.
 

Als er fertig war führte sie ihn zu dem freien Zimmer, das für ihn reserviert war. Sie waren hier in einem Hochhaus oberhalb einer Diskothek und unterhalb eines Restaurants. Der Treffpunkt, den er gewählt hatte, war gewagt, denn der ganze Komplex gehörte Asami.

Das Zimmer, welches sie betraten, bot ihnen zwei Sitzmöglichkeiten auf dem Boden. Eine Trennwand aus Seidenpapier verbarg das Bett. Er ging zu den beiden Zeishu und besah sich das Arrangement, das auf dem Tisch stand. Er ließ sich anmutig nieder, als die Frau ihn alleine ließ und vermutlich direkt dazu überging, das Geld zu zählen, das er ihr zum Dank für ihre ‚Mühe’ und diesen kleinen Gefallen überlassen hatte.
 

Kiguchi würde erst in einer halben Stunde eintreffen, also hatte er noch Zeit. Er erhob sich und zog aus dem Gürtel um seinen Oberschenkel eine der fünf Klingen aus ihrer Schutzhülle und versteckte sie am Kopfende zwischen Bett und Matratze, sodass nur eine Spitze hervorstach, die niemandem ins Auge fiel. Er trug noch weitere Waffen an sich, die sich zum großen Teil als Accessoires tarnten.

Dann ließ er sich wieder an dem niedrigen Tisch nieder und beschloss etwas zu meditieren. So saß er noch lange da bis er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Er saß reglos mit gesenktem Kopf da und wartete. Die Tür schloss sich wieder. Er spürte jemanden näher kommen, spürte eine warme große Hand, die ihn am Nacken, sowie Lippen, die seine Schläfe berührten.

„Du bist spät“, sagte er leise mit einem bezirzenden Lächeln und sah auf. Kiguchi hob die Brauen.

Es war merkwürdig, dass er ihn küsste. Sehr merkwürdig und es fühlte sich nicht richtig an.

„Ich konnte nicht sofort weg.“
 

Er neigte zum Verständnis den Kopf. „Nimm doch Platz“, er lächelte aufmerksam.

Kiguchi seufzte. Er war erleichtert, Finn hier so unbekümmert sitzen zu sehen.

Er setzte sich. Sie konnten noch nicht offen sprechen, erst, wenn er näher an Finn herankam. Denn wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob Asami seine Etablissements nicht verwanzt hatte?

„Sind die Sektionen schon einsatzbereit?“, fragte dann dieser plötzlich unverblümt, jedoch immer noch mit dieser leisen und warmen Stimme.

Kiguchi glotzte ihn an und Finn lachte leise.

„Alles überprüft“, winkte er die Besorgnis über mögliche Abhörmanöver ab.

Finn musste streng genommen nicht danach fragen, was auf dem Anwesen vor sich ging, er hatte sich diese Informationen selbst geholt, aber wenn Kiguchi erfuhr, dass er sich in der Nähe des Grundstücks herumdrückte, machte er sich mehr Sorgen als nötig wäre. Und das wollte Finn nicht.
 

„Nein, sind sie nicht. Es dauert noch ein paar Tage. Da du nun nicht mehr zur Verfügung stehst fehlen ihnen auch deine Raffinesse und dein Einfallsreichtum. Nicht zu vergessen deine Kontakte. Sie haben keine Ahnung, wo sich Schwarz aufhalten. Noch nicht. Superbia wird unruhig. Ich bin mir fast sicher, dass er nichts mehr von dem Serum zu sich nimmt. Er plant etwas und ich...“
 

Sie hörten Stimmen auf dem langen Flur und Finn horchte auf. Die Stimmen wurden lauter. Er sprang auf und ging zum Bett hinüber. Kiguchi folgte ihm augenblicklich. Finn legte sich auf die Seite, zog Kiguchi an sich, sodass dieser ihn halb verdeckte und der breite Rücken von der Tür zu sehen war. Dann schob er die Stofffalten zur Seite, dass ein nacktes Bein von ihm zu sehen war, griff sich Kiguchis Hand und schob sie unter die Stofffalten auf seinen Schritt. Kaum war das Arrangement fertig und Kiguchis Lippen an seinem dramatisch lasziv gestreckten Hals, als die Tür aufflog. Kiguchi wandte den Kopf langsam nach hinten um und Finn barg halb das Gesicht an dessen Schulter, aber eben nur halb. Verschämt schlug er die Augen nieder und wandte das Gesicht ab.

Kiguchi gab ihn frei und erhob sich langsam vom Bett. Finn legte sich eine Hand über die Augen und hörte wie... Gula... diese Schlampe ihn ankeifte, was er hier trieb.

„Das geht dich nichts an“, sagte Kiguchi ruhig und Finn hörte einen Schlag und einen dumpfen Aufprall. Er rollte sich zur Seite zu einem Ball zusammen und linste zwischen seinen Händen hervor, die er sich vors Gesicht hielt, um diesen furchtbaren Akt der Gewalt nicht ansehen zu müssen, obwohl er eigentlich sehr gern hingesehen hätte – nur zu gern. Er hätte auch gern mitgemacht. Wenn er daran dachte, wie oft sie ihn zu ihren perversen Spielchen gezwungen hatte, wurde ihm noch im Nachhinein schlecht davon. Sie hatte dafür gesorgt, dass er Sexspielzeuge mit anderen Augen sah und nicht nur Lust darin fand. Er gab es vor sich selbst ungern zu, aber er hatte so etwas wie Angst vor Superbia und ihr. Superbia war nicht das, was er vorgab zu sein – wie er selbst auch - und Gula war einfach nur verrückt, verspürte weder Mitgefühl noch Skrupel. Und sie war viel zu spontan in ihren Handlungen. Konsequenzen ließ sie außer Acht und kümmerte sich später darum. Er hasste sie.
 

Finn sah, wie Kiguchi Gula - die so perplex war, dass sie verspätet reagierte - an ihrem dürren Hals packte und an der Wand hochschob. Sie röchelte und strampelte und versuchte mit ihren Händen Kiguchi zu erreichen, der jedoch nicht nur wesentlich größer, breiter und kompakter war sondern schlicht stärker. „Du willst mir beim vögeln zusehen?“ fragte er sie lauernd.

Sie kickste etwas und versuchte den Kopf zu schütteln.

„Meinst du, du überlebst es, wenn ich dich so runtertrage und dich vor die Tür werfe? Meinst du, du kannst so lange die Luft anhalten?“ fragte er sie wieder mit völlig gelangweilter Stimme. Ihr Gesicht war rot, sie bekam keine Luft mehr.

Er warf sie wie einen Waschlappen nach draußen gegen die Wand im Flur, wo sie abprallte und auf den Boden fiel. „Verschwinde oder ich vergesse mich. Wenn ich dich noch einmal in meiner Nähe sehe, war es das letzte Mal.“ Er schloss die Tür wieder als einer der Bodyguards den Gang entlang kam, die Chefin im Schlepptau. Er hörte die Stimmen gedämpft, die die Frau befragten, wie sie hereingekommen war und noch einiges mehr. Als der Name Asami fiel keifte Gula zurück und offenbar reichte das aus, um sie zum Gehen zu bewegen.
 

Kiguchi sah auf das Bett und fing einen anerkennenden Blick von Finn ein. „Du kostest mich echt Nerven, Kleiner.“

„Ich tu was ich kann“, erwiderte der mit einem lasziven Lächeln und winkelte ein Bein an, ließ den Stoff zurück auf seinen Oberschenkel rutschen, offenbarte dabei seine Klingen. Er lächelte und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.
 

„Ich hätte ihr beinahe ihre verlogene Kehle zerdrückt. Es wäre so leicht gewesen, weißt du?“ sagte Kiguchi brummig und kam wieder näher. Er setzte sich neben Finn auf das Bett und strich ihm die falsche Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich weiß, sie löste bei mir Ähnliches aus.“
 

Kiguchi betrachtete ihn lange. „Du hast dies alles auf dich genommen wegen diesem...“ Finn legte ihm einen Finger auf die Lippen, bevor er weiter sprechen konnte.

„Darüber haben wir schon so oft gesprochen“, tadelte er sanft.
 

Kiguchi nahm die Hand weg.

„Wie oft hat sie dich gezwungen, bei ihren Spielen mitzuspielen? Kannst du es noch zählen?“

Er sah zu, wie Finn sich nach hinten fallen ließ, die Arme lagen neben seinem Kopf und er starrte an die Decke.
 

„Sie behandeln mich so, weil sie glauben, was ich ihnen vorspiele.“
 

„Sag das nicht.“ Kiguchi schüttelte den Kopf und sein Blick richtete sich auf den Stoff der Bettwäsche. Er versank in Gedanken, den beobachtenden Blick des anderen auf sich wissend.

„Wenn man einmal anfängt kann man nicht mehr aufhören, hast du mal gesagt. Schmeiß alles hin und hau ab“, riet er frustriert. Er wollte seinen kleinen Halbbruder nicht so sehen. Nicht in Frauenklamotten, nicht in der Nähe von Gula und schon gar nicht in der Nähe des Amerikaners. Irgendwann musste es doch gut sein. Irgendwann musste es genügen. Es war jetzt soweit. Es war genug.
 

Finn schloss die Augen.
 

„Ich gehöre ihm ich kann nicht weglaufen, solange er lebt nicht. Mein Platz ist in seinem Schatten“, flüsterte er und Kiguchi nickte ergeben. Natürlich war das so. Es würde immer so sein bis Finn starb.
 

„Du wirst daran zerbrechen.“
 

„Dann ist es so.“ Das war er schon.
 


 

o
 


 

Brad betrat die Klinik in Begleitung von Hisoka, der ihn zum Doc führte. Es waren zwei Tage vergangen und er hatte den kurzen Anflug von Feigheit und Flucht überwunden.

„Ich möchte zunächst zu Naoe.“ Hisoka bog in einen Korridor ab und blieb vor einer Tür stehen. Es war später Abend und Brad hatte sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, ob sie einen Ortswechsel in Betracht ziehen sollten. Zurück in ihr altes Haus ziehen, nachdem sie von Eve erfahren hatten, dass Asugawa ihr gesagt hatte, dass das Haus sicher sei, dass das Ryokan allerdings höchst gefährdet war und der Clan verstärkt im umliegenden Viertel nach ihnen suchte. Das Haus war besser zu verteidigen, die Nachbarschaft beherbergte hohe Tiere mit hohem Sicherheitsstandard und war sehr einflussreich. Ein offener Angriff war risikoreich. Ihr Haus war besser gesichert als das Ryokan.

Er war noch zu keinem Schluss gekommen, schon allein deshalb nicht, weil Asugawa ihnen diese Information gegeben hatte.
 

Er dachte an die letzten Visionen in dieser Angelegenheit und er schüttelte den Kopf über sein Misstrauen. Sie wurden im Haus angegriffen, aber sie wehrten den Angriff ab.

Er hatte auch Visionen über das Ryokan bekommen. Düstere und von Tod gezeichnete. Ran und das Mädchen starben dabei. Also, was galt es noch zu überlegen?
 

Er betrat den Raum und sah Omi am Bett sitzen. Nagi hatte die Augen geschlossen. „Lass uns allein“, wies Brad den Jungen an und sah auf dessen Gesicht bereits die Revolte kommen, als Nagi die Augen aufschlug. „Bitte Omi“, sagte dieser schwach und lächelte zaghaft.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss sah Brad auf den Jungen hinunter. „Du hast dich nicht an den Plan gehalten, Naoe.“
 

„Das war vorherzusehen gewesen“, sagte dieser neutral aber mit brüchiger Stimme.
 

„Ich kann dich nicht mehr einsetzen. Das Risiko ist zu hoch, dass derartiges noch einmal geschieht. Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich. Und du gefährdest nicht nur den Einsatz selbst sondern auch diejenigen, die ihn begleiten.“
 

„Ja.“
 

„Bis auf weiteres bist du von Einsätzen ausgeschlossen. Solange bis wir eine dauerhafte Lösung gefunden haben“, sagte Brad nachdenklich und sein abschätzender Blick lag auf dem jungen Gesicht. Er sah, wie er versuchte, seinen Schock über diese Worte vor ihm zu verbergen, aber er konnte keine Milde walten lassen. Nicht bei ihm. Nicht von ihm.
 

„Hast du mich verstanden?“
 

„Ja, Crawford“, sagte Nagi mit fester Stimme und nickte einmal.
 

Er wandte sich ab und wollte die Tür öffnen als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel sah und die ausgestreckten Hände, die ihn zu erreichen versuchten. „Bitte...“ flehte Nagi und Brad sah ihn abschätzig an.
 

„Gibt es noch etwas zu sagen?“
 

„Was für eine Lösung?“ Nagi sah ihn sichtlich verstört an. Ein Gesichtsausdruck, den er nur selten in seinem Leben gezeigt hatte. Brad lächelte innerlich. Es war gut, dass Nagi langsam menschlicher wurde. Aber das bedeutete auch, dass er ihn gehen lassen musste.
 

„Du brauchst etwas, dass ich dir nicht geben kann. Solange wirst du deine Fähigkeiten nicht mehr in diesem Ausmaß einsetzen.“

Nagis Hände sanken nach unten und er legte sich wieder zurück.

„Ja, ich verstehe.“
 

„Das hoffe ich für dich.“ Brad ging und ließ den jungen Weiß Agenten wieder ins Zimmer. Hisoka erwartete ihn erneut und sie gingen zum Doc.

Über kurz oder lang musste er den Jungen wegschicken.
 


 

o
 


 

„Er war fies zu dir, ich sehe es dir an“, sagte Omi, als er an Nagis Bett trat.

Der blickte ihn nicht an, sondern hatte den Kopf zur Seite gedreht. Er sah immer noch viel zu mager aus. Die Haut spannte sich um die spitzen Knochen und wirkte so dünn wie Pergament. Er zog sich die Schuhe aus, schob die Infusionsleitungen beiseite, die aus Nagis Hals in den Zentralen Venenkatether liefen und schlüpfte unter dessen Bettdecke. Als Belohnung für seine frevelhafte Tat entlockte dies dem anderen ein Seufzen.

„Er hat Recht. Brad sagte, ich soll mich von Einsätzen fernhalten. Ich kann ohnehin nichts ausrichten im Moment. Ich habe mich selbst ins Aus befördert und das Team gefährdet, dich gefährdet.“
 

Gar keine Fremdwörter? Wunderte sich Omi, bemerkte aber auch, wie fertig Nagi noch war. Er küsste die Wange, pustete sanft die Haarsträhnen zur Seite und dirigierte das spitze Kinn zu sich herum.

„Ja und dafür wirst du von mir höchst persönlich bestraft“, drohte er mit einem nicht ganz jugendfreien Grinsen.

Nagi sah ihn mit einer Mischung aus Erleichterung, Sehnsucht und Verzweiflung an.

„Du gehst nicht weg? Ich habe dich nicht vertrieben?“ krächzte er und seine Stimme brach.
 

Omi sah ihn ernst an.

„Nein. Ich bleibe bei dir. Du kannst dich gegen diesen Rausch nicht wehren, das habe ich gesehen. Dich trifft keine Schuld, Nagi. Aber wir müssen uns etwas überlegen.“

Nagi nickte hektisch. „Ja... das... das ist gut“, sagte er und Tränen glitzerten in den Augen. Es war Erleichterung und Freude.

Die Einsamkeit war Nagis wunder Punkt und er verströmte sie mit jeder Faser seines schwachen Körpers.
 

Sobald er etwas nicht richtig machte, einen Schritt fehlging, sich nicht an die Regeln hielt, hatte er Angst, verlassen zu werden. Das hatte jemand so stark in ihn hineingebrannt, dass er diesem Stigma nicht mehr entkommen konnte. Er war hilflos diesem Gefühl ausgeliefert.
 

Omi küsste die zitternden Lippen zart und bettete Nagis Kopf an seine Schulter. Er streichelte über dessen Gesicht, ließ seine Hand an dessen Halsbeuge liegen und lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge. Der Schild erschien als er schlief, flackerte aber immer noch gespenstisch.

Omi schloss die Augen, um es nicht sehen zu müssen. Es reichte, den dünnen Körper an sich zu spüren, um zu wissen, dass Nagis Lebensenergie am seidenen Faden hing.
 


 

o
 


 

Fortsetzung folgt in Kürze...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Ein Dankeschön fürs Beta geht an 'snabel'! ^__^
 

Gadreel



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