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Der Glasgarten

von

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Gläsernes Lächeln

~ Gläsernes Lächeln ~
 


 


 


 

Nach dem Gespräch hatte sich Nagi wie durch die Augen eines Fremden gesehen.

Er war noch auf dem Bett sitzen geblieben und hatte zugesehen, wie das Licht des Displays verlöschte. Erst dann hatte er es sinken lassen. Brad ging es gut, das war doch nicht schlecht! Also warum heulst du hier herum?

Tief einatmend zog er seine nackten Füße vom Bett und stand auf.

Aber was war, wenn Omi nicht kommen konnte oder… wollte? Und… wie fand er her… und wie kam er ins Haus? Am besten, er ging gleich hinunter und wartete unten. Und Jei musste er noch informieren, nicht, dass dieser den nächtlichen Besucher zum Zwecke der Feindelimination ausschaltete. Wäre wirklich schade drum…- tauchten die alten ironischen Gedanken flüchtig in ihm auf und er lachte zwischen den Tränen, wischte sie sich aber ärgerlich beiseite.

Seine Füße tappten auf dem Weg zu Jeis Zimmer. Leise klopfte er an und schlich sich zu Jeis Bett. Der Empath lag wie eine Katze eingerollt auf der Seite, das Auge jedoch nur zur Hälfte geschlossen. Nagi wusste, dass er in eine Art Halbschlaf gefallen war und er die Umgebung sicherte.

„Jei… der junge Takatori kommt noch vorbei.“

Seine Stimme war zu einem Flüstern verkommen, als er sich vor dem Bett in die Hocke gelassen hatte.

„Gut“, hörte er nur klar und deutlich. Bei ihm war die Stimme nicht so angeschlagen wie bei Nagi. Er hörte sich wie immer an.

„Danke, Jei.“

Nagi verließ das Zimmer wieder, lehnte die Tür nur einen Spalt an. Er hatte sich eine Decke um den Leib gezogen und ging ohne Licht zu machen hinunter in den großen Wohnraum. Der Kamin war aus und er setzte sich in seinen Lieblingssessel in dem er ganz verschwand. Er rollte sich etwas zusammen und wartete.
 

Es dauerte etwas, bis Omi so wie er war, in der Nähe der ihm genannten Adresse stand und die Umgebung sicherte. Wie praktisch, dass er noch im Missionsmodus war, lachte er sich selbstzynisch zu und schnaubte leise.

Sie hatten heute Nacht einen Auftrag gehabt, der katastrophal gelaufen war… natürlich hatten sie das Ziel töten können, doch wie, das brauchte man nicht zu fragen. Sie alle waren schon lange nicht mehr bei der Sache. Besonders Youji nicht, der mit Ran mitlitt… mehr noch als Ken und er.

Omi beendete seine Untersuchung und wandte sich der Straße zu, fuhr das letzte Stück und stieg dann schließlich aus. Eine große Hausfassade tat sich vor ihm auf, verdeckt von Neuschnee. Hier wohnten sie also?
 

Omi starrte auf die unscheinbare Klingel mit dem noch unscheinbareren Namen. Einen Moment lang zögerte er… dann klingelte er.
 

Doch kein Laut erklang. Alles war still im Haus, nur auf Nagis Fernbedienung blinkte ein stummes Signal. Sein Herz klopfte schneller, als er sich samt Decke erhob und zur Tür tappte, den stummen Alarm ihrer Sicherheitsanlage bestätigte. Die Kamera zeigte die Silhouette Omis, der Nachtsichtmodus der Anlage jenen noch deutlicher und er öffnete rasch die Tür, als er sich sicher war, wer dort stand. Die dunkle Gestalt, die sich gegen den hellen Schnee abhob und die er stumm anstarrte, war Omi.

Er trat einen Schritt auf den anderen zu in die eisige Kälte der Treppenstufen, seltsam beklommen. Als wäre Omi vielleicht ein Trugbild, das sich schnell ins Nichts auflösen konnte, griff seine Hand den Arm des anderen und wollte ihn in die Wärme des Hauses ziehen.
 

Omi ergriff diese Hand und zog Nagi fest an sich. Gemeinsam mit ihm ging er ins Haus und zog die Tür hinter sich zu, alles jedoch, ohne den anderen loszulassen, immer noch in dieser festen, emotionale Wärme spendenden Umarmung.

„Ich bin da“, murmelte er liebevoll.
 

Die Decke rutschte herab und legte sich um Nagis nackte Füße, als er seine Stirn gegen die rechte Schulter seines Gegenübers legte und nickte. „Habe ich dich geweckt?“

Nagi legte seinen Kopf seitlich, sodass er bequemer lag und seiner Nase stieg ein alarmierender Geruch in die Nase. Nach Straße, Schweiß und da war noch etwas, was sich aus dieser Melange hervorhob, die ihm vertraut vorkam. Es roch nach Kampf, Blut und Waffen.

„Du… kommst nicht von zuhause?“ Dennoch, eine gewisse Portion Angst war nicht zu verhehlen, die in ihm schwellte. Misstrauen… Angst. Er verspannte sich, wie ein Hase, der in seinem Bau saß und zitterte, weil von draußen jeden Moment die Schlange hereinkriechen konnte.
 

„Ich komm gerade von einem Auftrag, das ist alles“, murmelte Omi in die angstvollen Augen hinein. „Wir hatten heute Nacht eine Mission und Ran hat mich danach sofort angerufen, dass ich zu dir kommen sollte. Er hat mir auch den Weg genannt.“

Behutsam strich er dem Größeren über den Rücken.
 

Nagi seufzte verhalten und löste sich etwas. Noch immer stand kein Licht zwischen ihnen und nur der Schnee, der die Himmelskörper und die leuchtende Stadt reflektierte, schlich sich als Zwielicht zwischen sie… und Nagi dachte… vielleicht auch in sein Herz.

„Ich… bin nur misstrauisch…“, gab er zu und seine Brauen zogen sich um Nachsicht bittend zusammen.

Noch immer klammerten seine Finger an der Kleidung des anderen.
 

„Verständlich“, murmelte Omi und strich mit seiner Hand durch die verirrten, braunen Strähnen. „Aber… ich bin kein Feind. Und ich habe auch keinen mitgebracht. Die Gegend ist sauber.“ Zumindest hoffte er, dass sie es war, denn wenn sie Schuldig schon getötet hatten, den Mann, der immer als beinahe unbesiegbar gegolten hatte und Crawford das nicht vorhergesehen hatte, wie groß war dann die Gefahr, in der sie sich hier befanden?
 

„Ich habe Angst“, gab Nagi zu. Sein Nervenkostüm war zu fragil und durchscheinend geworden, dass er diese Schwäche nicht vor Omi äußern konnte. Es war zerfasert und die losen Fäden baumelten in der Luft. „Ihr… du hattet Recht… wir waren zu selbstsicher, zu arrogant, trotz unserer Fähigkeiten, trotz unserer Maßnahmen, wir sind machtlos. Sie werden uns immer weiter jagen, bis niemand von uns mehr existiert.“ Er drohte schon wieder in eine kleine Krise zu steuern, auch wenn er die Tränen zurückhalten konnte, er spürte selbst, wie labil er war.
 

Omi durchlief ein Schauer, als er Nagis Worte hörte, die er verneinen wollte… bei denen er sich im nächsten Moment jedoch bewusst wurde, dass er sie nicht verneinen KONNTE. Der andere hatte Recht, mit allem, was er sagte. Doch…

„…ihr habt immer noch eine Chance, sie zu finden, bevor sie euch vernichten und dann seid ihr die ersten, die denen das Licht ausblasen, okay? Da habe ich gar keinen Zweifel dran, Nagi. Ja… ihr seid… nur noch zu dritt, doch… ihr werdet weiter funktionieren. Ganz sicher.“

Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen und Omi lauschte auf die Geräusche des Hauses, die sie umgaben.

„Es tut mir so leid, Nagi.“
 

Nagi konnte nur nicken und ein kleines ungeschicktes Schniefen war unvermeidlich.

„Willst du… duschen? Bleibst du hier?“ Irgendwie fühlte er sich überfordert. Er hatte so sehr gewollt, dass der andere herkam und nun wusste er nicht so Recht wie es weitergehen sollte. „Oder hast du Hunger?“ Er löste sich und sammelte seine Decke wieder auf.
 

„Alles Nagi, alles. Aber alles nach der Reihe.“ Omi lächelte leicht schief und half Nagi, sich die Decke wieder um den kühlen Körper zu legen. „Begleitest du mich? Dann brauchst du nicht alleine zu sein… außerdem siehst du so aus, als könntest du ein heißes Bad vertragen. Wie wäre es?“
 

Wie aufgezogen nickte Nagi und er fasste nach Omis Hand, schmuggelte seine eigene hinein und zog ihn mit sich hinauf zu seinem Schlafzimmer und dem großen und vor allem hohen Badezimmer. Er ließ die Decke auf den beheizten Boden fallen und stöhnte wohlig auf, als seine Füße die warmen Fliesen zu spüren bekamen. Er schauderte ob der Wärme und rubbelte sich die Arme. Das Licht ging nach und nach an, ganz langsam und er gewöhnte sich an die heller werdende Umgebung.

Erst als sein Blick auf die Badewanne fiel, wurde ihm klar, was es hieß zusammen zu baden: Er würde auch nackt sein.
 

Omi ließ Nagi mit einem Streichen über dessen Rücken stehen und drehte das heiße Wasser auf, fügte etwas Badesubstanz hinzu.

Er wusste wohl, was hinter dieser Stirn vor sich ging, er wusste wohl, was Nagi im Moment denken musste, doch er zeigte ihm, dass er keine Sorge haben musste… denn er entkleidete sich als erstes, legte langsam, Stück für Stück seine schmutzige Kleidung ab und häufte sie wenig ordentlich zu einem Berg etwas abseits an. Schweigend stieg er unter die Dusche und gab Nagi Zeit, sich daran zu gewöhnen, an den Gedanken, an den Anblick, an alles.
 

Nagi beaufsichtigte das Wasser und er sah auch Omi ungeniert beim Duschen zu. Nicht ständig, aber dennoch in zufälligen und doch wie magisch angezogenen Blicken. Ihm fehlte jedoch das erhitzende Gefühl, welches zwar kam, doch durch das Ziehen in seiner Brust über den Verlust eines Freundes gemildert wurde. Es war eher ein warmes Glimmen, ein stetes, kräftiges Feuer, kein heftig aufloderndes. Und auch Scham. Scham darüber, dass Omi da war. Dass Ran alleine war und niemanden mehr hatte, den er mit einem derartigen Blick bedenken konnte.
 

Nagi sah, wie Omi sich wusch, es war Normalität, kein affektiertes Gehabe, nichts, was ihn beeindrucken sollte, nichts womit er mithalten sollte oder musste. Es war normal und genau dieser Aspekt tat ihm gut. Auch wenn seine Gedanken teilweise zu Ran und Schuldig fortglitten. Ran, der alleine war, dessen Herz zerbrochen war. Wie pathetisch. Und wie wahr.
 

Es tat auch Omi gut zu sehen, dass Nagi sich zumindest etwas entspannt hatte, als er sich wieder umdrehte und aus der Dusche stieg. Nass wie er war drehte er das Wasser ab und lächelte aufmunternd.

„Ich geh schon mal rein und mache die Augen zu. Dann kommst du nach, wie wäre es?“, fragte er mit leichtem, schelmischen Einschlag.
 

Nagi glotzte. Wirklich. Die Brauen wanderten gen Stirn über diesen… kindischen Vorschlag. Er näherte sich Omi etwas und prüfte das Wasser, bevor er den anderen um die Flanken nahm und an sich zog, nass wie dieser war. „Zieh mich aus“, wisperte er und versuchte sich an einem Lächeln. „In rauen Zeiten wie diesen neige ich dazu mich anzupassen, was soll ich da noch großartig Zurückhaltung üben?“, …wenn er morgen schon tot sein konnte. Es war kein neuer Gedanke, aber er hatte ihn für wenige Monate, für zwei, drei Jahre in den Hintergrund gedrängt. Und er war älter geworden.
 

Na wenn das mal kein Angebot war… auch wenn es Omi im ersten Moment geradezu überfahren hatte.

Er lächelte warm und strich Nagi ein weiteres Mal über die noch kalte Haut, dieses Mal jedoch über die Wange, die sich so weich unter seine Hand anfühlte. Einen Moment verharrte er dort, dann wanderte er langsam nach unten und strich bewundernd über den weichen Flanell des Pyjamas, bevor er sich ruhig daran machte, einen Knopf nach dem anderen zu lösen. Schließlich schob er Nagi das Oberteil von den schmalen Schultern.

Er verfolgte dessen Weg nach unten und legte es schließlich schweigend beiseite. Nagi aß zu wenig… seine Rippen stachen deutlich hervor, sicherlich auch durch die letzten Tage bedingt… doch wenn das so weiterging, würde es den anderen an den Rand der Unterernährung treiben, wenn nicht sogar schon darüber hinaus.
 

„Sieh nicht zu genau hin“, sagte Nagi weich und merkwürdig distanziert. Er wollte keinen besorgten Blick aus dem kräftigen Blau sehen. Er hatte das Gefühl, geprüft und gemustert zu werden.
 

„Okay…“, lächelte Omi und schloss die Augen. Blind tasteten sich nun seine Finger über die Seiten des anderen zu der Pyjamahose, die er langsam hinuntergleiten ließ. Er ging mit ihr in die Hocke und streifte die Unterschenkel, bevor er Nagi bedeutete, erst den einen, dann den anderen Fuß zu heben, damit er die Hose von den Beinen lösen konnte. Alles blind.
 

Das brachte Nagi zum Schmunzeln. Er stieg aus der Hose heraus und übte leichten Zug an Omis Armen aus. Seine Lippen streiften die des anderen hauchzart und er zog ihn nahe an sich heran, sodass sie sich berührten, ihr Geschlecht in Kontakt mit der Haut des anderen kam.

„Verschließ nicht die Augen… sonst entgeht dir vielleicht etwas“, sagte er und sog tief den Duft von Omis Haut ein.
 

Blaue Augen taten Nagi ein weiteres Mal den Gefallen und Omi zwickte dem anderen spielerisch ins Ohrläppchen… doch, Strafe musste sein.

Wer sich nicht entscheiden konnte, der… musste eben fühlen.

Ebenso fühlen, wie er jetzt auch, denn Nagi ließ ihn garantiert nicht kalt, so aufgeputscht wie er von dem Auftrag noch war.

„Ich habe meine Augen überall, auch wenn sie geschlossen sind“, erwiderte er und zog Nagi in einen längeren, jedoch immer noch sanften Kuss.
 

Nagis Herz klopfte schneller und heftiger in seiner Brust als er die Sanftheit spürte mit der er empfangen wurde. Wärme und Sanftheit. Tröstlich.

Die Angst, dass er unbedacht, durch seine Verletztheit, seine Sorgen und auch seine Ängste seine Kräfte einsetzen könnte blieb im Hintergrund. Seine Hände fanden im Gegenteil wie von Selbst den unteren Rücken Omis, kosten über die Hüfte.

Langsam löste er sich und seine Augen hatten einen verträumt wässrigen Schimmer erhalten als er Omi anlächelte und in die Wanne kletterte. Schauer liefen über seine Haut und er seufzte wohlig als die Wärme des Wassers sich durch seinen ausgekühlten Zustand wie Hitze anfühlte.
 

Omi stieg Nagi hinterher und kuschelte sich eng an den anderen Jungen. Diese Wanne war groß genug für sie beide, sodass sie viel Platz hatten, doch Omi fühlte sich nun einfach mehr danach, Nagi einfach zu halten und in seinen Armen zu wissen… zu wissen, dass er dem anderen damit wenigstens etwas Trost spenden konnte.
 

Eine Weile war es still zwischen ihnen. Nagi hatte sich an Omi gelehnt und er genoss die einlullende Wärme um sie herum. Langsam kroch sie nämlich auch in ihn und vertrieb die Kälte die zuvor so vordergründig in ihm geherrscht hatte.

„Ich habe das Gefühl, dass wir nicht alles getan haben. Vielleicht ist er tatsächlich noch am Leben und… und…“

Nagi versagte die Stimme, er ließ den Satz ins Nichts gleiten, weil er keine Ahnung hatte, wie er ihn fortführen sollte.
 

Der blonde Junge seufzte leise. Er nahm sich Zeit mit der Antwort, die er in seinen Gedanken vorsichtig formuliert hatte.

„Was hast du denn alles getan, Nagi?“, fragte er ruhig und strich Nagi über die beinahe zierliche Schläfe.
 

Nagi richtete sich auf und umfasste seine angezogenen Beine mit einem Arm, den anderen brauchte er um mit dem Schaum der auf dem Wasser trieb zu spielen. Es beruhigte ihn, während er über ihre Vorgehensweise nachdachte.

„Als Brad anrief und mich bat zu suchen, dachte ich, es wäre keine schlechte Idee, mich in den Polizeirechner einzuhacken. Ich suchte nach gemeldeten Vorfällen, die unsere Zielperson betrafen und nach Ungereimtheiten. Nach jemandem, der aufgefunden wurde und dem man kein Gesicht zuordnen konnte.

Es dauerte etwas, bis ich tatsächlich einen Vorfall fand, der die Zielperson betraf. Ein Einbruch und einen Toten. Der Einbrecher wurde vom Sicherheitspersonal auf dem Anwesen gestellt. Als er sich nicht ergeben wollte und das Feuer eröffnet hatte, haben sie ihn erschossen. Soweit die Fakten. Der Fall wurde geschlossen und zu den Akten gelegt.“ Er schwieg für den Moment eines weiteren Gedankens.

„Ich holte mir die Akten der Gerichtsmedizin und fand dann schlussendlich die Bilder des Tatortes, samt der Bilder, die im Leichenschauhaus während der Obduktion gemacht wurden. Ich habe den Bericht gelesen. Ich habe die Narbe gesehen, die Ran ihm verpasst hat. Ich… diese Bilder sind echt, es war… Schuldig. Ich weiß nicht was ich noch tun soll.“
 

Ein Kuss fand seinen Weg auf Nagis Schläfe und Omi zog den anderen noch enger an sich. Schmerz zog sich in seiner Brust zu einem engen Knäuel zusammen und ließ ihn die Augen schließen.

„Das Einzige, was ihr noch machen könntet, wäre hinzufahren und euch selbst zu überzeugen, Nagi. Eindeutiger kann es nicht sein.“

Nein, das konnte es nicht. „Vor allen Dingen, da sie keinen Grund zum Lügen haben… aber es wäre schön, wenn er noch leben würde.“ Doch wie es bei den meisten Träumen so war… blieben sie Träume. Nichts als Schall und Rauch.
 

„Laut den Unterlagen ist er bereits eingeäschert worden.“ Nagis Stimme klang hohl und distanziert.

„Nein…“, fügte er an. „Lügen brauchen sie nicht. Es sei denn die Zielperson wusste von Schuldigs Fähigkeiten und davon, dass wir suchen würden. Aber was für Möglichkeiten haben wir im Moment, wenn diese… Angreifer… immun gegen unsere Fähigkeiten sind. Jei kann nicht so falsch liegen.“
 

Omi hätte Nagi so gerne gesagt, dass die Möglichkeit, Schuldig würde noch leben, bestünde. So gerne. Er hätte so gerne gehofft.

Denn die Möglichkeit einer Versuchsreihe bestand… Kritiker hatten Schuldig schließlich auch dafür gewollt.

„Warum sollten sie sich so einen Aufwand machen, solche Bilder zu erstellen, wenn sie euch ebenbürtig sind? Und euch anlocken könnten… euch andere? Sie… schneiden sich damit ins eigene Fleisch.“

Omi ließ sich einen Moment Zeit mit seinen Worten. „Ich denke nicht, dass er noch lebt, Nagi.“
 

Nagi nickte langsam, schloss seine Augen und schloss diesen letzten Satz in sich ein, als das, was er war. Die schmerzliche Realität.
 

o~
 

Wie still es doch war inmitten all diesen Schnees, inmitten der gedämpften Nachthelligkeit, wie Aya diese Nächte nannte, in denen es nicht richtig dunkel war, weil alles von weißem Pulver erhellt wurde.

Nur seine Schritte, die knirschten in den aufgetürmten Schichten und leiteten ihn zu der Stelle, an der er seit Jahren seine erste Schneeballschlacht ausgetragen hatte - mit Schuldig. Und wie viel Spaß sie gehabt hatten, sie beide, gelöst, auch wenn er getrauert hatte. Genauso wie jetzt.

Aya bückte sich und nahm Schnee in seine bloßen Hände auf, formte ihn zu einer Kugel. Vor seinem geistigen Auge tobte er jedoch hier Schuldig hinterher. Gedankenverloren warf er den Ball, der auf Leere traf und in Millionen kleiner Eiskristalle zersprang.
 

In diesem Augenblick schien es für Aya das einzig Richtige zu sein, sich hier in den Schnee zu legen und auf das Morgen zu warten, das es nicht geben würde, wenn er einmal die Augen schloss und sich der gefährlichen Müdigkeit ergab, die dem Erfrierungstod voranging.

Na, hast du schon Asyl dort oben gefunden?, fragte Aya zynisch in den Himmel. Oder bist du unten beim Teufel, Schuldig? Oder bist du etwa… gar nicht?

Eine schreckliche Vorstellung. Für Aya unvorstellbar. Nein… er wünschte Schuldig, dass er glücklich war… wo immer er war, wo immer er ohne ihn war. Wenn er ihn schon nicht begraben konnte, wenn er nichts hatte, an das er sich klammern konnte, dann musste er Schuldig doch so etwas wünschen, nicht wahr?
 

Ja, vielleicht hatte Schuldig wirklich Asyl im Paradies gefunden, während er hier unten kämpfen musste… um jeden einzelnen Tag. Aber vielleicht würde er bald folgen… oder in ein paar Jahren, wann auch immer seine Zeit gekommen war.
 

Aya starrte auf den Schnee, starrte auf seine Möglichkeit zu sterben, doch er konnte nicht. Er weinte um Schuldigs Verlust, aber er konnte nicht. Seine Beine trugen ihn zurück zu Banshee, zu der Verantwortung, die er noch hatte. Hinein in die Wohnung, in die stillen Räumlichkeiten, die im Halbdämmern vor ihm lagen.

Er machte sich nicht die Mühe, das Licht anzumachen, sondern stieg so aus seinem Mantel und seinen Stiefeln. Er sah, dass Crawford auf dem Bett anscheinend schlief… neben ihm eingerollt die kleine Verräterin, wie er sie einmal genannt hatte. Doch anscheinend wusste sie, an wen sie sich halten musste, damit sie nicht verhungerte.

Es war auch richtig so. Er war… unfähig dazu.
 

Einen Augenblick lang stand Aya dort und lauschte den ruhigen, tiefen Atemzügen des Orakels. Doch bevor er sich wegdrehen konnte… bevor er eine weitere Nacht auf der Couch verbringen konnte, flüsterte ihm eine Stimme zu, dass es sicherlich nicht schadete, noch einmal das Gefühl der Zweisamkeit zu genießen, das er so lange genossen hatte. Er musste sich nur auf seine Seite des Bettes legen und so tun, als wäre Crawford Schuldig. Schlafen konnte er sowieso nicht, also würde er früh genug wieder aufstehen, bevor der andere Mann wach würde.
 

Auch hier reagierten seine Füße schneller als sein Kopf und trugen ihn zum Bett, hießen ihn, sich darauf nieder zu lassen. Crawford lag mit dem Rücken zu ihm und Aya streckte sich lautlos auf der Matratze aus, seinen Blick auf die ausgeprägten Muskeln gerichtet. Nicht ganz so schmal wie Schuldigs, aber ein Mann… jemand, der bei ihm war.

Aya schloss die Augen, sog den Geruch des Amerikaners ein, der unweit von ihm lag. Er stellte sich vor, es wäre Schuldigs Geruch… er stellte sich vor, es wäre Schuldig… und nichts wäre passiert.
 

Gar nichts…
 

Gar…
 

… nichts…
 

o~
 

Ein leises Seufzen ließ ihn träge die Ohren spitzen. Dass es SEIN leises Seufzen war, wusste er erst nicht… einen Moment später vielleicht ja, nur jetzt, jetzt glitt er seicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins dahin und schmiegte sich enger an die Wärme spendende Quelle. Mit geschlossenen Augen hangelte er nach der halb nach unten gerutschten Decke und zog sie wieder richtig, bevor er ein weiteres Mal seine Nase an das definitiv menschliche Kissen bettete.

Es war schön hier… entspannend. Natürlich war es das… es war immer entspannend, mit Schuldig aufzuwachen, den Telepathen in seinen Armen zu halten und ihn zu beobachten, wenn er noch tief und fest schlief, dabei die verschiedensten Gesichter zog. Mal grimmig, mal entspannt… mal aufgeregt oder auch verspielt gefährlich.
 

Aya rückte noch etwas näher an Schuldig und hauchte ihm mit seinen Lippen einen Kuss auf, bevor er von der leichten Schlafphase in eine träge Wachphase glitt… einmal müßig die Augen öffnete, bevor er sie wieder schloss. Noch ein wenig Schuldig, noch ein wenig ruhen, noch ein wenig…
 

…Bilder von Schuldigs Leiche im Leichenschauhaus sehen…
 

Violette Augen öffneten sich ruckartig und Ayas Lippen wollten die Verzweiflung herauslassen, die in ihnen aufbrandete. Doch nichts, kein Laut, entkam ihnen…nur seine Augen quollen über vor Entsetzen, vor ERKENNEN.

Die menschliche Wärme, die er genossen hatte, war nicht Schuldig und dieses Wissen war schrecklicher als das über die Person des Mannes, die immer noch ihm abgewandt auf dem Bett lag und um die er im Schlaf - den er normalerweise nicht bekam, nur ausgerechnet jetzt - einen Arm geschlungen hatte. Die er nahe zu sich gezogen hatte… als Missverständnis.
 

Nein…
 

Es brauchte seine Zeit, bis Aya den Entschluss fassen konnte, Crawford loszulassen, denn er musste das bodenlose schwarze Loch in seiner Brust stopfen… notdürftig… damit er nicht erstickte.

Vorsichtig hob er seinen Arm und zog ihn zu sich.
 

Die Wärmequelle, die auch Brad in seinem Schlaf einen Ort der Ruhe und der albtraumfreien Zone bescherte, entzog sich ihm und er wurde unruhiger, drehte sich nach einer Weile um. Sein Arm fand das, was er suchte und zog es wieder zu sich. Seine Wange lehnte an seidigem Haar und seine Hand strich über die Wärme unter seiner Haut.
 

Die Enttäuschung, dass es nicht Schuldig war, der hier lag, wandelte sich nun wirklich innerhalb von Sekundenbruchteilen in etwas anderes. Ja, jetzt zum ersten Mal begehrte etwas in Aya auf, als er mit Nachdruck und ohne die Möglichkeit, sich ohne Gewalt aus den Fängen des Amerikaners zu befreien, an Crawfords warmen Körper gezogen wurde. Schlimmer als das… dieser Mann vereinnahmte ihn gänzlich, umhüllte ihn regelrecht und…
 

Eine Gänsehaut folgte den Fingerspuren des anderen Mannes wie Feuer, gegen das Aya sich wehrte. Er wollte nicht so nah sein, er wollte das nicht, das war Schuldigs Platz, das war Schuldigs Aufgabe… doch selbst er hatte Crawford irrtümlich mit dem Mann, den er liebte, verwechselt. Aber… aber…

Es fühlte sich gut an, das war das Schlimme. Trotz allem Widerwillen vermisste Aya die Wärme, die ihm hier zuteil wurde. Trotz allem… fand er diesen Geruch beruhigend, der über ihn strömte. Schon seit damals… seit er nicht ganz bei sich gewesen war und Crawford ihn aufgepäppelt hatte, bedeutete dieser Geruch für ihn Leben und Erleichterung.
 

Nur langsam driftete Brad in ein Stadium eines höheren Wachheitsgrades, wohl auch bedingt durch seine streichelnde Tätigkeit, die eine seiner Hände aufgenommen hatte. Er blinzelte und erinnerte sich, dass er doch nicht ganz so tief geschlafen hatte, denn ihm war bewusst, wen er hier im Arm hielt.

Er wunderte sich, natürlich. Es machte jedoch nichts. Es war wie es war und duldete keine düsteren, schweren Gedanken. Das Gefühl der Nähe würde ohnehin… auch ohne sein zutun … früher oder später aufhören.

Vielleicht konnte er noch eine Weile so tun, als hätte es Ran… und vor allem er selbst, in seinem kontrollierten Ich einfach nicht mitbekommen. Sein Unterarm legte sich in die Mitte des unteren Rückens und er hielt Ran sicher und warm an sich. Er ließ seine Augen wieder ruhen und sinnierte dieser Ruhe nach, der Zeit ohne Albträume.
 

Völlig bewegungslos lag Aya hier und versuchte sich einen Reim auf diese Emotionen zu machen, auf das, was in ihm schwelte und an ihm zerrte. In diesem Moment brandete alte Feindschaft zwischen ihnen auf… Hass, wenn man so wollte, der gleichzeitig besänftigt wurde durch das Wissen, nicht alleine zu sein… doch er konnte diese Nähe nicht genießen, es ging nicht. Es war Verrat an Schuldig… an Schuldigs Erbe, an seiner Erinnerung, an einfach allem, was…

Warum bist du nicht einfach zufrieden mit dem, was du hier bekommst?, fragte ihn eine innere Stimme und er hatte keine Antwort auf die Frage. Du hast geschlafen, zum ersten Mal seit Tagen und du bist nicht allein.

Aber es ist nicht der Richtige…

Es schien Aya überdeutlich, wo die Hände des anderen Mannes lagen. Dass sie ihn berührten.
 

Brad hatte das untrügliche Gefühl, dass der, den er im Arm hielt, wie ein erstarrtes Reh im Scheinwerferlicht war. Die Anspannung war deutlich zu fühlen und zeigte ihm, dass Ran wach war, der Herzschlag war zu schnell für ruhigen Schlaf und die Atmung stockte, als würde jeder Atemzug Brad wecken und über Ran herfallen lassen.

Langsam wie zufällig lockerte er seine Haltung und ließ seinen Arm locker liegen, nicht mehr an die Wärme gelegt. Er dämmerte noch immer, in der Zwischenwelt, wo Wissen aber auch Gleichgültigkeit stark waren. Er wollte, dass der andere sich entspannte.
 

„Es… ist noch zu früh zum Aufstehen“, sagte Aya in die Stille, die seine Stimme wie ein Donnerschlag durchbrach, gleichwohl sie leise war… sehr leise. Er war sich bewusst geworden, dass Crawford wach war und dass er sich von ihm entfernt hatte. Warum genau Aya das aber gesagt hatte… blieb ihm selbst in Rätsel. Er hätte auch aufstehen können, weggehen oder Crawford wie früher angiften können. Doch dann sowas.
 

„Hmmm“, murmelte Brad zustimmend in seinem dösigen Zustand. „Hattest du vor… aufzustehen?“ Er schmunzelte verschlafen und überdachte die Situation, doch irgendwie schien sein Gehirn noch halb zu schlafen, denn ihm fiel beim besten Willen nichts ein.
 

„Nein“, erwiderten Ayas Lippen, bevor er auch nur daran denken konnte, Einspruch zu erheben und sich die Worte zu verbieten. Ein großer Teil von ihm wollte es tatsächlich nicht.

„Ich bin müde… und hier ist es warm.“ Ja, das war es in der Tat, menschlich warm aber auch nicht gut. „Ich hätte auf der Couch schlafen sollen, dann wäre das nicht passiert.“
 

Nun die Augen gänzlich öffnend und nicht nur dösend wie eine Katze halb geschlossen, blickte Brad an Ran hinunter und ließ seinen Blick durch die Wohnung gleiten.

„Was… ist denn passiert?“, fragte er ehrlich interessiert und räusperte sich, da sein Hals trocken war. „Oder meinst du, dass wir die Nähe des anderen suchen, ist so frevelhaft, dass Schuldig damit nicht einverstanden gewesen wäre?“, kam es müde von Brad, aber auch nachdenklich. Seine Stimme war ähnlich leise wie die von Ran.

„Wir sind beide fertig, Ran. Gönn uns doch eine kleine Auszeit von dem üblichen ‚ich hasse dich, du hasst mich’ Gezanke.“
 

Aya starrte auf die ihm nahe Brust, auf die gut ausgebauten Muskeln. Auszeit von dem üblichen Gezanke? Frevelhafte Nähe?

Er wusste nicht, was er sagen sollte, wusste nicht, was er denken sollte, nein, er konnte nicht denken, er konnte sich nicht selbst fragen, was nun stimmte und was nicht. Alles in ihm war träge und undurchdringlich geworden… nichts wollte mehr so, wie er wollte. Nichts… aber absolut gar nichts. Er schaffte es ja noch nicht einmal auf Anhieb, dem anderen Mann endlich in die Augen zu sehen, aus Furcht davor, was er dort finden würde.
 

Doch was konnte dort schon sein? Hass? Nein. Verständnis? Ja… er glaubte, er fürchtete sich vor dem Verständnis. Vor der Trauer, die er dort sah und die doch selbst für ihn unerträglich war.

Trotzdem…. trotz allem sah er hoch, langsam zwar, aber sein Blick schweifte nach oben und heftete sich an Feindesaugen, die nicht mehr so feindselig waren.

Es schien, als würden verschiedene Dämme in ihm brechen, nun, da jemand ihm nahe war und ihn berührte. Wie immer, wenn er trauerte. Solange er für sich war, konnte er die Trauer in Schach halten, solange ging es. Doch nun…

„Eine Auszeit…“, wiederholte er nachdenklich und seine Augen wanderten zur Seite, zur willkommenen, kleinen Abwechslung, die sich hinter Crawford aufgemacht hatte, den Amerikaner zu erkunden. „Ja… vielleicht.“

Er atmete tief ein, so tief, wie er es mit dem Kloß im Hals konnte. Die erste Frage…

„Was passiert ist? Ich bin ganz unschicklich über dich hergefallen“, versuchte sich Aya in der schwachen Variante eines Witzes.
 

Brad stieß ein gequältes Lachen aus, da kleine Krallen sich an seiner Decke emporhangelten und seine Hüften traktierten. „Und die entsetzte Jungfrau war nur halb so entsetzt darüber, stimmt das?“ Er hatte bemerkt, dass Ran zunächst zu ihm sehen wollte, aber dann fast erleichtert weggesehen hatte. „Ran, siehst du mich kurz einmal an?“, bat er leise aber nachdrücklich. Fujimiya hatte sich immer noch nicht gerührt, keinen Zentimeter.
 

„Jungfrau?“, sah Aya nun wirklich ehrlich überrascht in diese braunen, ruhigen Augen, bevor er sich bewusst wurde, dass Crawford das nicht ernst gemeint hatte. Er sollte endlich anfangen zu denken… und nicht mehr vor sich hin leben. Zumindest für einen Moment… einen kleinen Augenblick.

Er hielt dem Blick des Amerikaners Stand und hob nun seine Hand, um Banshees Krallen aus dem ‚Fell’ Crawfords zu holen.
 

Die Finger seiner Hand, die noch immer an Rans Rücken lag, seit Minuten aber die seidige Textur der Haare erfühlte wickelten sich gerade um eine der Strähnen. Brad hob die linke Braue und sah spöttisch in das nun doch etwas ruhigere Violett. „Manx hat mir meine Unschuld genommen, mein lieber Zuhälter.“ Er kräuselte den Mund zu einem spöttischen Lächeln, auch wenn es eher das Lächeln eines Träumenden war, der sich gerade über einen verkehrt stehenden Baum lustig machte und im Schlaf lächelte. „Ich finde, damit ist ausreichend geklärt, wer hier von uns beiden der Zuhälter ist, nicht wahr?“
 

Aya staunte nicht schlecht, nein ehrlich gesagt war er vollkommen überfahren von den Worten des Amerikaners. Denn so spöttisch sie auch sein mochten, dass Manx und Crawford… die beiden… Manx hatte also den Preis eingefordert und Crawford ihn anscheinend auch noch bezahlt. Es war schwer zu glauben, doch sollte es Aya wundern? Nein, ihn wunderte nichts mehr.

Selbst der letzte Kommentar nicht mehr, der ihn sogar lächeln ließ. Er war der Zuhälter… ja, das stimmte.

„Das heißt dann, dass du mein Loverboy bist?“, fragte er eine Spur zu trocken, zu ernst und zu… überzeugt davon.
 

„Eine einmalige Angelegenheit.“

Brad schwieg ein Weilchen. „Es würde mich allerdings schon interessieren, wem du mich noch so andrehen würdest.“
 

Schuldig.

Schuldig würde er ihm andrehen.

Das war Ayas erster Gedanke, den er jedoch nicht aussprach. Wenn er noch einmal die Gelegenheit haben würde, wenn es noch einmal eine Möglichkeit gäbe, Schuldig wieder bei sich zu haben… er würde sie beide in den Hintern treten. Doch was das für ihn bedeuten würde… er wusste es nicht.

„Wie wäre es mit Omi? Nein, viel zu jung… Youji. Youji würde gut sein, dann hätte er endlich jemanden, der ihm mal ordentlich den Marsch bläst.“ Ein kleines Lächeln umspielte Ayas Lippen. Ja, das wäre in der Tat gut.
 

„Der Blonde?“, fragte Brad irritiert nach. „Der mit den Drähten?“

Wirklich nicht. Nicht sein Typ. Er hakte den Blonden in Gedanken ab. „Trotz allem bevorzuge ich Frauen, falls du auf diesen Gedanken noch nicht gekommen bist.“ Er lächelte hintergründig und stützte seinen Kopf auf seinen Arm.
 

„Wieso sollte ich?“, fragte Aya ehrlich verwundert nach. Alles, was er bisher über den Amerikaner gehört hatte, war in die männliche Richtung gegangen. Nun, fast alles. Die Frauen, die Schuldig für das Orakel aufreißen musste… doch Schuldig… war… ein Mann gewesen.

„Aber bei uns gibt es eine alte Oma, sie hat ständig ihre Katze auf dem Schoß, sie würde sich freuen, wenn sie einen jungen, kräftigen Mann hätte, der ihr helfen würde einzukaufen und all das.“
 

„Ich wusste gar nicht, dass ihr es euch auf ihrem Schoß gemütlich gemacht habt… ihr Kätzchen“, spielte er auf den Namen des Blumenladens und die Codenamen der Killer an.

„Aber danke für das ‚junger, kräftiger Mann’“, lachte er nun wirklich und zum ersten Mal seit Tagen drückte die Last der Trauer nicht ganz so stark in seinem Innern.
 

Aya schaffte es tatsächlich, indigniert die Nase zu rümpfen über den ersten Kommentar des anderen Mannes. Kätzchen… natürlich haftete ihm der Name noch an. Kätzchen im Haus. Oder auf dem Schoß, je nachdem.

Das Lachen erwärmte auch ihn etwas und Ayas Lippen zogen sich etwas auseinander. „Ich muss die Ware schließlich gut anpreisen, damit sie sich verkauft. Das Gleiche wie mit Blumen, ich sage es dir“, erwiderte er.
 

„Du hättest in die Wirtschaft gehen sollen.“

Die Dämmerung setzte ein, wie Brad eben bemerkte, da die Schatten an Kontur zunahmen.
 

„Hatte ich vor… irgendwann einmal.“ In einem anderen Leben, einer anderen Zeit. „Eine eigene Firma oder eine eigene Bar, irgendetwas in diese Richtung. Aber Killer? Nie. Hätte ich nie für möglich gehalten.“ Aya lachte leise, jedoch abwesend. Vorbei… es war alles vorbei.
 

„Es gibt kaum Kinder, die als Berufswunsch Killer angeben“, stimmte er zu. „Was willst du jetzt tun?“, fragte er nach einer kleinen Weile.
 

„Als ich mir das gewünscht habe, war ich kein Kind mehr…“, sinnierte Aya über die Zeit davor nach und über die Frage des Amerikaners. Was wollte er tun? Nichts. Er wollte weiter vor sich hin leben, im Bett liegen und betrauern, was er verloren hatte. Doch um welchen Preis? Damit er nachher aus dieser Wohnung geworfen wurde, nur weil er die allgemeinen Kosten nicht aufbringen konnte? Irgendwann wäre auch das Geld, das er noch auf seinem Konto hatte, weg und dann stand er auf der Straße.
 

Das wollte er nicht.

„Arbeiten gehen vermutlich. Irgendeine Arbeit, die sich ohne viel Umstand erledigen lässt… unten an den Häfen oder auf dem Bau. Es wird sich schon etwas finden lassen.“
 

Darüber musste Brad erst einmal nachdenken. Es war ihm egal, was der Mann machen würde und was nicht. Er konnte zum großen Teil nachvollziehen, dass dieser einen normalen Job bevorzugte, oder zumindest versuchen wollte, kein Killer mehr zu sein. Auch wenn Brad nicht glaubte, dass er es schaffen würde. ‚Einmal ein Killer… immer einer. Es steckt in dir.’, dachte er, während er die im Schatten liegenden Züge musterte.

Auf dem Bau oder an den Häfen?

Für Schuldig wäre es ein klarer Fall für ein deutliches Nein und es wäre wohl für Ran ein klarer Fall um noch deutlicher Ja zu brüllen. „Wann willst du anfangen zu suchen?“
 

„Wohl besser heute als morgen. Die Arbeitsmarktsituation sieht schlecht aus und jemand wie ich, ohne irgendetwas, das er im Alltagsleben sinnvoll nutzen kann, kann nicht darauf hoffen, dass ihm die Jobs nachgeschmissen werden.“ Aya zuckte leicht mit der Schulter. „Aber irgendetwas wird sich finden lassen, sobald ich einen gefälschten Ausweis habe.“ Er hatte die Nachdenklichkeit des anderen Mannes sehr wohl bemerkt, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Über was dachte Crawford nach? Ihm einen Job zu besorgen? Ja… es war Teil ihres Deals gewesen, doch nein, das lehnte Aya ab. Hatte es abgelehnt, als Schuldig noch lebte…
 

„Ruh dich noch etwas aus, so wie du momentan aussiehst halten sie dich für krank oder nicht leistungsfähig. Gib dir noch ein paar Tage.“

Brads Stimme war sachlich. Er zog sich in der nächsten Bewegung die Decke weiter über die Hüfte, da sie etwas heruntergerutscht war.
 

Instinktiv folgte Aya dieser Bewegung…vielmehr folgten seine Augen dem anderen Mann, dessen Hand, die sich die Decke gegriffen hatte. Er hätte es zu schätzen gewusst, diesen Körper neben sich zu haben, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort und unter anderen Umständen.

Doch nicht so.

„Vermutlich hast du Recht...“, murmelte er und seine Augen kehrten zurück zum Bernstein des anderen. Er lächelte kurz. Also würde er sich weitere Tage hier einschließen und vor sich hindämmern, auf dass er eines Tages so weit sein würde.
 

„Das heißt nicht, dass das eine gute Ausrede ist um dich hier zu vergraben“, knurrte Brad das Lächeln des anderen an, erwiderte es aber ein klein wenig. „Ich kann das auch nicht. Also wirst du es auch nicht tun!“
 

Langsam wurde sich Aya wieder bewusst, warum genau er Wahrsager nicht mochte…

„Ich vergrabe mich nicht. Es gibt einfach… nichts anderes zu tun“, versuchte er sich zu rechtfertigen, einen Grund dafür zu finden, in der Wohnung zu bleiben und…ja, nichts zu tun.
 

Brad ließ es gelten. Er hätte es ebenso gemacht. Es war alles noch zu frisch, zu schmerzhaft.

Die Augen schließend überließ er sich dem Dösen und zog wortlos Ran näher, wie er ihn zuvor gehalten hatte, kommentierte es jedoch nicht.
 

Auch Aya sagte nichts dazu, war besänftigt durch ihr Gespräch. Seine Hände lagen zwar vor seiner Brust zwischen ihnen, eine letzte Barriere, doch er gestattete es sich, die Nähe des anderen Mannes anzunehmen und seine Stirn an dessen Wärme zu betten. Es war vielleicht… gar nicht mal so falsch, für den heutigen Tag. Ein wenig Trost, ein wenig… Zweisamkeit, damit er sich stärken konnte.
 

o~
 

Bradley Crawford genoss seinen Drink in der Bar, die über zwei Ebenen angelegt war. Es gab eine Lounge, einen ruhigen, stilistisch gehobenen Bereich im Gegensatz dazu einen trendy stylisch auf die minimalistische Pop-Kultur der Jungreichen getrimmten. Beide Bereiche hatten eine angenehme Atmosphäre und Brad kam früher hin und wieder mit Schuldig vorbei, wenn sie die Nase voll von Aufträgen oder auch Takatori hatten. Er war nun schon lange nicht mehr hier gewesen, doch den Besitzer kannte er gut.

Amerati Gabriele, ein Italiener, allerdings hatte er eine Japanerin geheiratet und sie leiteten diese Bar.
 

Sie war gut besucht und das Angenehme war, dass sich die Leute, die hier verkehrten sich nicht auf eine Altersschicht begrenzten. Gabriele saß neben ihm und sie unterhielten sich über die Bar, ihren Standort und die Gewinne, die sie abwarf. Yuki, seine Frau, stand hinter der Bar und beaufsichtigte die Bestellungen. Selbst war sie eine hervorragende Barmixerin.

„Geschäfte fürchte ich. Keine dramatischen Ereignisse“, erwiderte Brad gerade die Frage nach seiner Abwesenheit.

„Dann ist es kein Zufall, dass du dich hierher verirrt hast?“, lachte Gabriele.

„Nein. Ich suche einen Job.“

„Du?“ Gabriele sah ihn an als würde Brad flunkern.

Brad hielt sein smartes Lächeln bei und prostete dem anderen zu. „Nein. Du hast mich durchschaut. Es ist ein… Freund. Er ist in einer schwierigen Lage und braucht Beschäftigung.“
 

„Hmmm…“

Gabriele setzte sich etwas auf und stützte den Ellbogen auf den halbmondförmigen Ledersessel. Er tat so, als stände er vor einem großen Problem… einem Problem, dass er für sich annektiert zu haben schien. „Yuki erwartet unser zweites Kind“, murmelte er und rieb sich über den Dreitagebart. Sie hätte Entspannung nötig. Was sucht er denn für Arbeit?“

„Hinter der Bar, er hat… früher schon in einem Cafe oder Ähnlichem gearbeitet, ganz unerfahren ist er nicht.“
 

Gabriele nickte nachdenklich. „Schick ihn mir morgen vorbei.“ Dann fiel ihm noch etwas ein. „Er wird mir doch keine Schwierigkeiten machen?“

Brad verneinte. „Nein, er ist ein ordentlicher junger Mann.“

Gabriele lachte und seine Augen lächelten verschmitzt. Er würde abwarten und sehen, was Brad ihm ins Nest legte, erst dann würde er seine Meinung festigen. Aber er würde ihm eine Chance geben.

Sie unterhielten sich noch über verschiedenes, Gabrieles Nachwuchs, seine Pläne, die eine Expansion ins Auge fassten, nein schon gefasst hatten und seine Chancen. Sie hatten schon eine Zweigstelle der Bar gekauft und nun liefen die Renovierungen des Baus in die Endphase. In zwei Wochen sollte eingezogen und das neue Café eröffnet werden.
 

Brad ging um 23.00 Uhr zu seinem Wagen. Seine Stiefel knirschten unter dem Schnee, als er sein Mobiltelefon hervorholte und Rans Nummer wählte.
 

Das empfangende Mobiltelefon lag am anderen Ende der Stadt und dort am anderen Ende der Wohnung und so fiel Aya die Entscheidung schwer, ob er überhaupt aufstehen sollte um abzunehmen. Es war doch sicherlich nur Crawford oder jemand aus dem Blumenladen… er wollte jetzt einfach nicht. Doch das Klingeln gab nicht nach, verschwand nicht nach ein paar Mal wieder, sodass er viel Zeit hatte, das kleine Telefon in die Hand zu nehmen und abzuheben.

„Ja?“, meldete er sich, allerdings ohne den Biss dahinter, den er sonst immer getragen hatte. Er hatte sich erholt und auch gestärkt, doch wirklich elanreich war er nicht.
 

„Ich habe einen Job für dich. Du hast morgen ein Probearbeiten im ‚Smile’ hinter der Bar. Um 17.00 Uhr geht’s los. Ich hol dich morgen ab“, fing Brad sofort an ohne Begrüßung. Das war etwas, was sie sich bisher an Freundlichkeit verwehrt hatten.
 

Einen Job? So plötzlich?

Aya schwieg. Ich kann nicht, schrie es in ihm. Ich will hier nicht weg, ich will nicht unter Menschen, die fröhlich sind, ich will nicht weg von hier! Doch er blieb stumm, schob die Worte des Amerikaners hin und her. Es klang wie ein Befehl, einen Befehl, den er nicht wollte, gegen den er sich sträubte. Doch… war das nicht seine Chance, Geld zu verdienen? Es war ein Job, in einer Stadt wie Tokyo… Crawford hatte sich darum gekümmert, sein Versprechen eingelöst. Wollte er es?

„Was ist das ‚Smile’?“, fragte er schließlich nur.
 

„Ein Club, mit einem ruhigeren Teil, eine Mischung aus Café und Bar und dann noch einen Teil für die Jüngeren. Gabriele Amerati ist der Besitzer, er und seine Frau Yuki leiten das ‚Smile’. Er war mir noch einen Gefallen schuldig, könnte man sagen. Aber das ist nebensächlich. Seine Frau ist schwanger und sie könnte Hilfe gebrauchen. Sie stehen kurz vor einer Erweiterung und sie sind für jede Hilfe...“

Brad blieb plötzlich stehen, seine Hand krampfte sich, als ein glühender Schmerz durch seinen Kopf zog. Er stützte sich mit der Hand an einem Pfosten ab und keuchte, riss sich das Telefon vom Ohr und versuchte diese Bilder loszuwerden, die ihm die Sicht nahmen. Wieder starb Schuldig, wieder sah er alles genau…
 

Aya hatte das Keuchen am anderen Ende der Leitung genau gehört, den unterbrochenen Satz, alles… alles, was daraufhin deutete, dass irgendetwas mit dem Amerikaner war, etwas nicht stimmte.

„Crawford?“, fragte er nach, das Herz einen kleinen Schritt schneller schlagend. „Crawford, was ist los, Crawford?“, fragte er laut, nun in wirklicher Panik. Waren sie da… die, die auch Schuldig getötet hatten? Nein… nein…
 

Brad hörte diese Worte nicht, nur die Stimme, die besorgt klang. Durch die Schwaden des Kopfschmerzes verärgert zischend, brauchte er einige Sekunden um sich zu fangen.

Er hob das Telefon wieder ans Ohr.

„…sie können jede Hilfe gebrauchen. Das Gehalt kannst du mit ihnen morgen selbst aushandeln, wenn du dich gut machst“, schloss er seine Stimme etwas ermattet. Er richtete sich auf, hatte trotzdem das Gefühl, alles verschwommen zu sehen und schluckte. Wo verdammt war gleich sein Wagen?
 

„Ich werde sehen, was sich ergibt“, sagte Aya und lauschte auf alles, was nur in irgendeiner Weise verdächtig klang. Unruhig tigerte er auf und ab.

„Was ist passiert?“, wollte er schließlich wissen und seine Stimme klang fordernd vor Angst.
 

Brad horchte auf. „Warte“, schloss er seine Augen für einen Moment und blickte sich jetzt konzentrierter um, erst dann überquerte er die Straße um zu seinem Wagen zu kommen.

Er stieg ein und ließ den Motor an. „Ich… es geht schon wieder…“

Erneut schluckte er, da ihm heiß war, die Kopfschmerzen und die noch anhaltenden teilweise in einzelnen Fetzen noch vorhandenen Bilder spukten wie Geisterschiffe durch seinen Kopf.

„Wir sehen uns morgen…“
 

„Nein. Du kommst hierher“, sagte Aya aus dem ersten Impuls heraus. Das, was er da hörte, war nicht Crawford, sondern ein Mann, der gerade etwas Schreckliches erlebt hatte… irgendetwas und Aya machte es unruhig, nicht zu wissen, was es war. Er wollte nicht, dass Crawford da draußen herumirrte und womöglich noch etwas geschah.
 

Brad konnte nicht verhindern, dass er tief Luft holte und dies zu hören war am Ende der Leitung. Er wollte jetzt kein Gespräch um diese Visionen.

„Ich sage Nagi Bescheid und komme dann.“ Er legte auf und lehnte sich ermattet zurück. Wenigstes wusste er die Tabletten bei Schuldig und würde gleich eine nehmen, sobald er dort ankam.

Während er den Wagen anrollen ließ und aus der Parklücke fuhr, wählte er Nagis Nummer.
 


 

Dreißig Minuten und genau vierundvierzig Sekunden brauchte Crawford, um die Schlüsselkarte durch das Schloss zu ziehen und die Wohnung zu betreten, die Aya wie ein unruhiges Tier durchstreift hatte. Jetzt erst, als der andere Mann da war, wurde er sich der Anspannung bewusst, der er unterlegen hatte. Verdammt.

Stumm stand er am Fenster, den Blick sorgsam neutral gehalten, auch wenn er innerlich nach Antworten schrie.
 

Der so aufmerksam taxierte Amerikaner hatte sich wieder gefangen, nur der Geschmack der bitteren Galle, die ihm in den Rachen gestiegen war wollte nicht weichen.

Seine ersten Schritte führten ihn deshalb ins Badezimmer wo er sich erbrach und danach mit zitternden Händen am Waschbecken stand, sich nach einem langen Blick in den Spiegel Wasser ins Gesicht schaufelte.
 

Besagte Geräusche halfen Aya nicht wirklich, sich zu entspannen und so tigerte er in die Küche und setzte Wasser auf.

Es war, als wäre dieser kurze Anflug von Angst dafür gut gewesen, ihn aus seiner Starre zu holen, ihn mehr als nur reagieren zu lassen. Er handelte, wusste, was zu tun war. Und er würde Crawford hier nicht ohne einen beruhigenden Magentee weggehen lassen. Niemals.
 

Nach Minuten kam Brad wieder heraus, das Gesicht noch blass, aber sein Magen rebellierte nicht mehr ganz so sehr… er war schließlich leer.

Seine Schritte zunächst zur Garderobe gelenkt um sich seines Mantels und der Schuhe zu entledigen lockten ihn Geräusche zur Küche. Die Wohnung hatte nur wenige, beleuchtete Eckchen und er war froh darum.

„Kannst du mir eine Tablette heraus geben?“ Ran stand am nächsten an dem Fach. „Die gegen Kopfschmerzen.“ Seine Stimme war leise.
 

Zunächst aber stellte Aya Crawford wortlos die Tasse mit Tee vor die Nase. Der andere Mann roch nicht danach, getrunken zu haben… nichts in alkoholischer Form. Doch was hatte diese Übelkeit dann ausgelöst?

Weiterhin schweigend kramte er in den Medikamenten nach dem Kopfschmerzmittel und drückte eine Tablette aus der Schachtel. Es waren die, die Schuldig immer nahm, wenn es ihm zuviel wurde in seinem Kopf… genommen hatte.

„Trink den Tee. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass er den Magen beruhigt.“ Ja… in der Tat war es DER Tee, an den Aya sich allerdings nur schwach erinnerte. Es war damals das Labsal im Gegensatz zur Suppe gewesen.

Er reichte die Tablette weiter.
 

Und Brad nahm sie nach einem kurzen Seitenblick in besorgtes Violett an und schluckte sie mit Wasser hinunter. Er nahm den Tee an und ging an Ran vorbei zur Couch, ließ sich darauf nieder und stellte den Tee auf dem Glastisch ab. Um sie herum war dämmriges Licht, sein Gesicht lag im Schatten. „Warum sollte ich kommen?“
 

Ja… warum?

Weil ich mir Sorgen gemacht habe, lautete Ayas inoffizielle Antwort.

„Weil ich mit dir noch Dinge wegen morgen besprechen wollte“, die Offizielle. Er kam zu Crawford und ließ sich in einiger Entfernung von ihm nieder, hatte dabei ein Argusauge auf den Tee und dass er auch getrunken wurde.
 

Brad lehnte sich zurück und legte seinen Kopf müde auf die Rücklehne der Couch, wandte ihn zur Seite, sodass er Rans Silhouette sehen konnte. Es war still zwischen ihnen, als würde alles ruhen und Brad hatte das Gefühl, als würde er sich in einem Mausoleum befinden, von der Last der Erinnerung erdrückt.

„Deshalb hast du dich angehört, als würdest du dir Sorgen machen?“, sagte er ironisch und seufzte dann, nahm Rans Worte wie sie waren. „Das brauchst du nicht, die Leute sind in Ordnung.“ Er setzte sich wieder aufrechter und nahm die Tasse in die Hand, nahm einen vorsichtigen Schluck.

Er war noch zu heiß.
 

„Was ist los mit dir?“, fragte Aya nun wenig verschleiernd, dafür mit besagter Sorge in seiner Stimme, die er anscheinend sowieso nicht verstecken konnte. Er wollte nicht so tun, als würde ihm die Arbeit Sorgen bereiten, weil es nicht stimmte.

Der andere Mann sah schrecklich aus, bleich im Gesicht mit eingefallenen Augen und einem Schrecken hinter den beherrschten, braunen Augen, der nur allzu offensichtlich war.
 

Nach reiflicher Überlegung, die ungefähr fünf Minuten dauerte - nach Brads Zeitgefühl - nahm er wieder einen Schluck.

Er stand auf, ging zur Fensterfront. So fiel es ihm leichter darüber zu sprechen.

„An… als Schuldig starb… er… ich meine, willst du das hören?“, fragte er und nahm erneut einen tiefen Schluck, auch wenn es heiß war.
 

„Ja…“

Aya wollte alles hören, was mit Schuldig zu tun hatte, er wollte alles wissen, er wollte diesen Mann nicht vergessen, der alles für ihn bedeutet hatte und noch immer bedeutete. Dessen Verlust ihn unvollständig zurückließ.

„Was war mit Schuldig?“
 

Ein abgehaktes Nicken, dann fuhr Brad fort.

„Ich kam zu der Gruppe, die ihn umringt hatten. Er lag bereits auf dem Boden und er bewegte sich nicht. Ich dachte zunächst aus gutem Grund, dass er nur bewusstlos ist, dass sie ihn niedergeschlagen haben… oder…“ Er machte eine wütende Handbewegung. „… aus sonst einem harmloseren Grund.“

Sein Blick schweifte wie schon so oft von diesem Platz aus über die Stadt. „Wir hielten Verbindung während des Auftrages und ich konnte die Verbindung fühlen. Ich…weiß nicht ob du weißt, was ich meine. Ich wusste, dass er noch da ist. Ich konnte ihn noch spüren. Nicht direkt als Gefühl…

Wie dem auch sei. Er war noch am Leben zu diesem Zeitpunkt. Da tauchte der Boss auf, das Ziel. Er sah mich an, hatte aber die Waffe auf Schuldig gerichtet und trat über ihn. In genau diesem Moment sah ich den Boss so klar vor meinen Augen… aus Schuldigs Sicht. Er drückte ab. Ich sah ihn aus meinen Augen, wie er mich anlächelte und wie er Schuldig erschoss, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen lächelte er mich an. Ich habe beide Sichtweisen in meinem Verstand und werde sie nicht los. Jedes Mal, wenn ich eine Vision empfangen sollte… sehe ich diese Bilder und es ist, als würde es wieder passieren. Wieder und wieder und wieder. Als hätte Schuldig mir das als Abschiedsgeschenk verpasst, bevor die Verbindung riss.“
 

Stille.

Absolut Stille.
 

Ayas Blickfeld verschwamm vor den Tränen, die in seinen Augen standen. Diesen… Leichnam zu sehen, zu wissen, dass Schuldig tot war, war die eine Sache. Zu erfahren, wie er gestorben war, eine ganz andere. Nervös fuhr sich Aya über die Stirn, durch die Haare, alles, nur nicht um daran denken zu müssen, wie… wie es aussehen musste. Wie es immer und immer wieder sein musste, es vor seinen eigenen Augen zu sehen.

Unfähig, irgendetwas zu sagen, starrte Aya Crawford an und… wusste, dass er für so etwas keinen Trost spenden konnte. Was gab es denn auch für einen Trost? Die Zeit heilt alle Wunden? Irgendwann würden diese Bilder vergessen werden?

Völliger Schwachsinn!

Schuldig war regelrecht hingerichtet worden, mit eiskalter Freude am Töten…
 

„Ich sehe momentan nichts… nur das. Als hätte dieser Moment meine Fähigkeit gelöscht oder überzeichnet sie.“ Brad verstummte erneut, wollte sie noch nicht umdrehen, da die Stille, die Geräusche hinter ihm wirkten, als würde sich dort etwas anbahnen, als würde dort die Büchse der Pandora kurz vor ihrer Öffnung stehen. Er spürte beinahe körperlich, wie es den anderen mitnahm oder… war es nur sein eigenes Inneres, das aufbegehrte?

Er presste die Lippen zusammen.
 

Erste Tränen tropften auf den Boden. Aya wollte sich die Ohren zuhalten, wollte nichts mehr hören, doch er wusste, dass er jetzt nicht aufhören konnte. Er musste… wissen… er musste dieses Wissen in sich bewahren. Alles davon. Denn das alles war Schuldig… auch das. Auch das Fehlen von Crawfords Gabe… dessen Folter.

Denn nichts anderes war das. Was konnte es für ein größeres Fegefeuer geben als diesen Moment wieder und wieder vor Augen zu sehen?

Eher unbewusst stand er auf, erhob sich zittrig.
 

Brad zwang den letzten Schluck Tee hinunter, verzog das Gesicht, nicht wegen des Geschmacks, eher wegen der Enge in seinem Hals. Er atmete tief ein und wandte sich um, wollte zur Küchenzeile, um weg… um nicht mehr… nicht mehr hier zu stehen. In Rans Nähe zu stehen.

Er brauchte ein Glas Wasser. Noch im Umdrehen sah er, dass Ran stand, an der Längsseite der Couch, dass dessen Gesicht im Licht der Stadt und Himmelskörper nass war. Er ertrug es nicht. Nicht jetzt.

Hör auf damit.

Die Tasse fand hart ihren Platz auf der Fensterbank und er kam die wenigen Schritte auf Ran zu. Leise wispernd, dann immer lauter werdend tat er das kund, was er schon dachte. Ran sollte aufhören damit. Mit diesen Tränen…

„Hör auf damit… hör… auf…“ Er war bei ihm angekommen, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn einmal, bevor er abrupt aufhörte und den Mann an sich zog, harsch und fast schon hastig, als hätte er Angst, dass er ihm sonst davon lief.

„Hör auf damit“, sagte er nun ruhiger, sanfter, die Stimme erstickt von dem seidigen Haar. Er lachte leise, verzweifelt, verstummte dann aber. „Ich will nicht sehen… was ich nicht kann.“
 

Aya zitterte in der Umarmung, der Umklammerung des größeren Mannes, die ihn hier gefangen hielt, während sich der andere gleichzeitig an ihm festhielt. Denn es war nichts anderes… die Suche nach Stärke, die Verzweiflung…

Aya biss sich auf die Lippen und zog Crawford an sich, doch nur um seine Schluchzer zu ersticken, die der Amerikaner nicht sehen wollte… konnte… wie schrecklich musste es sein, nicht weinen zu können, seiner Trauer kein Ventil zu geben?

Seine Hände verkrallten sich im Hemd des Amerikaners, streiften über Muskeln… über warme, menschliche Nähe, die Schuldig... in den letzten Momenten seines Lebens nicht vergönnt gewesen war.
 

Die Trauer zu sehen, war anders, als die Trauer zu fühlen, das Zittern an sich zu spüren, die Feuchte der Tränen, oder die Anspannung. „Er… hat meinen Namen gerufen… so oft und ich konnte nicht mehr zu ihm… ich konnte einfach nicht… und dann war alles so verdammt still… als hätte er etwas aus mir heraus gerissen.“
 

Worte, die Ayas Hörnerv verätzten, doch nicht nur ihn… alles, alles in Aya zog sich zusammen, alles in ihm scheute sich vor den Worten, vor dem Wissen und den Bildern, die diese einfachen Umschreibungen in ihm hervorriefen.

Aya konnte gar nicht mehr aufhören, es ging nicht. Er erstickte an seinen Tränen, an seiner Trauer, an dem, was Crawford fühlen musste, an allem. Er atmete ruckartig, nicht mehr regelmäßig… alles verschwamm vor seinen Augen. Komm zurück, flehte er in Gedanken, komm zurück, Schuldig… ich kann das nicht ohne dich… es geht nicht…
 

Rans Rücken wurde von einem Schluchzer erschüttert und Brad strich auf und ab, als hätte er das schon immer so gemacht, wenn Ran geweint hatte.

Die Geräusche durchbrachen die Stille wie Kanonenschläge und rissen sich wie Klauen in sein Inneres. Aber er war unfähig sich zu rühren, oder wegzugehen.
 

„Ich… kann… nicht… aufhören…“, würgte Aya erstickt hervor. Es ging nicht, er konnte nicht mehr. Nur noch kraftlos lehnte er an dem ihn stützenden Körper und wäre vermutlich heruntergeglitten, wenn Crawford ihn nicht gehalten hätte. Der Kloß in seinem Hals schnürte ihm den Atem ab und ließ ihn unter der Wucht des Schmerzes erzittern, der durch seinen Körper ging.
 

„Ist… gut“, wisperte Brad lediglich. Die schmale Gestalt, die an ihm lehnte zitterte immer noch.

„Komm… leg dich etwas hin… hmm?“ Er löste sich, aber nicht viel und führte Ran zum Bett. Er war nicht sicher, ob Ran das alles mitbekam, so heftig hatten ihn die Trauer und der Schmerz im Griff. Die Laute rauschten durch ihn und sein Gesicht war wie versteinert, auch wenn seine Augen eine andere Sprache sprachen.
 

Aya legte sich hin, zog die Beine zu sich auf die Matratze und starrte an die Decke. Er war nicht wirklich zurechnungsfähig, nicht wirklich ansprechbar. Alles war… ein Brei aus negativen Emotionen und Gedanken, derer er nicht Herr wurde.

Es dauerte etwas, bis er sich zur Seite drehte und sein Gesicht in den Kissen verbarg, das immer schwächer nach Schuldig selbst roch… immer und immer schwächer. Bald würde es ganz verschwunden sein…wie Schuldig selbst auch.
 

Brad setzte sich aufs Bett, stützte die Ellbogen auf und starrte auf die Dunkelheit um sie herum. Er verfluchte Schuldig. Er verwünschte ihn.

Für sein Sterben, für die Tatsache, dass er ihm Ran aufgebürdet hatte… für alles. Für diese Tränen und für seine fehlenden Visionen, für diese wiederkehrenden Bilder und dafür, dass er jetzt hier saß und sich nicht bewegen konnte.

Er sah sich selbst dort auf dem Bett sitzen, stumm und erstarrt, zeitlos. Als wenn eine Kamera um ihn herum auf einem Gleis fahren würde und ihn aus allen Blickwinkeln einfangen würde. Die Schatten im Raum, die Lichter der Stadt… ihre Trostlosigkeit.
 

Aya wusste nicht, ob sie Stunden hier verbrachten, jede mit seiner eigenen Unfähigkeit, mit Schuldigs Tod umzugehen. Darin waren sie sich beide einig und vielleicht vom Verständnis her, das sie für den anderen aufbrachten.

Der rothaarige Japaner war völlig fertig, zitterte, als er schließlich den Kopf hob und sich Crawford betrachtete, der neben ihm saß und nicht weinen konnte. Doch hieß das, dass er weniger trauerte?

Nein.

Ohne Worte schob sich Ayas Rechte zu Crawford und legte sich auf dessen Oberschenkel. Er war da, wollte er sagen. Er war da und verstand.
 

Warme Finger legten sich über diese Hand, sprachen die gleiche Sprache.

Brad saß lange dort, in dieser Haltung, fast als wäre er erstarrt.

Doch er lauschte auf sein Inneres, auf das wirre Ich, das sich eingestand so viele Fehler gemacht zu haben und nun… war er am Ende.
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Battosai
2010-03-24T20:56:47+00:00 24.03.2010 21:56
oh man dasd ist wirklcih hart deine FF zu lesen wirklcih doch ich werde mich durchkämpfen *Schnief*
so traurig wie besonders crawford und Ran leiden so traurig. Da hat ran endlich eine stütze gefunden und shcon ist diese auch weggenommen worden.
wollen sie sich rächen am feilong oder was? Wer sind diese männer die erst Ran bedroht haben h ängen sie in dieser sahce zusammen mit drin?
ich hoffe das die offenen Fragen bald gelöst werden


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