Zum Inhalt der Seite

Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Nachhilfe

Die nächsten Tage versuchte ich verzweifelt, nicht die ganze Zeit auf mein Handy zu starren. Als könnte mein Blick das blöde Ding endlich dazu bringen, zu klingeln. Etwa zwei Dutzend SMS verfasste ich an Jesse, schickte sie jedoch nicht ab. Zweifel nagten an mir. Hatte er mich doch nur verarscht? Ich wollte das nicht glauben und rief mir immer wieder seine Worte ins Gedächtnis, und den Kuss.

Und doch, je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde ich. Ich wollte nicht, dass es vorbei war. Ich brauchte mehr. Immer mehr von Jesse. Ich befürchtete, es würde nie genug sein. Wieso meldete er sich nicht?

Dann endlich, am Mittwoch, wurde ich erlöst.
 

Morgen, Eisprinzessin.
 

Ich konnte mich nicht so recht entscheiden, ob mir der Spitzname nun gefiel oder nicht.
 

Wann ist morgen dein Unterricht zu Ende?
 

Es war eine so simple SMS, und doch zauberte sie mir jedes Mal, wenn ich sie las – und ich las sie ziemlich oft – ein Lächeln auf die Lippen.
 

Hi, Jesse.
 

Ich überlegte, ob ich ihm auch einen Spitznamen verpassen sollte, aber mir fiel ehrlich gesagt keiner ein, der zu ihm passte.
 

Um 14:00 Uhr. Es besteht nicht zufällig die Chance, dass ich um die Nachhilfe herumkomme?
 

Ich fügte einen Smiley hinzu und wartete fiebrig auf die Antwort.
 

Vergiss es. Ich hol dich an der Schule ab.
 

Ich wurde ganz flattrig bei dem Gedanken, ihn morgen zu sehen.
 

Okay. Ich freu mich.
 

Ich löschte das ich freu mich und machte ein bis dann daraus.
 

Unüblich für mich, überlegte ich am nächsten Tag minutenlang, was ich anziehen sollte. Mein Haar flocht ich, hauptsächlich, weil es mir auf die Nerven ging. Ich spielte mit dem Gedanken, es abzuschneiden, wusste aber im selben Moment, dass ich es nicht über mich bringen würde.

Im Unterricht fiel es mir schwer, den Lehrern zu folgen. Jede Minute, die verstrich, brachte mich Jesse näher und machte mich nervöser. Wie sollte ich mich bloß aufs Lernen konzentrieren, wenn er in meiner Nähe war?

Als der Unterricht endlich zu Ende war, hielt ich nach seinem Auto Ausschau und versuchte, nicht so aufgeregt zu wirken, wie ich mich fühlte. Ich sah erst ihn, dann seinen Wagen, an den er sich lehnte. Er zog an seiner Zigarette und beobachtete die Schüler, die in Scharen aus dem Gebäude strömten. Als unsere Blicke sich trafen, nickte er mir zu und warf seine nicht mal halb gerauchte Zigarette weg. Ich wäre am liebsten in seine Arme gerannt, doch ich bemühte mich um einen gemäßigten Gang. Bildete ich mir das nur ein, oder zog Jesse tatsächlich viele weibliche Blicke auf sich? Natürlich tat er das. Er war umwerfend. Er trug wieder seine Beanie, die ich so sehr liebte. Und den Mantel vom Sonntag, an dessen Kragen ich mich gekrallt hatte, während meine Knie zu Butter wurden. Konzentrier dich!
 

„Hi.“ Sein Lächeln war umwerfend.

„Hi.“

„Bereit?“ Nein.

„Klar.“ Er öffnete die Beifahrertür. Wie hatte ich ihn je nicht mögen können? Ich war mir durchaus bewusst, dass mehrere Augenpaare auf mir lagen, als ich in sein Auto stieg. Sollten sie doch gucken!

„Ich dachte, wir fahren zu mir. Da haben wir unsere Ruhe.“ Ich versteifte mich für eine Sekunde und schluckte trocken. Wir beide, ganz allein in seiner Wohnung. Meine Fantasie spielte sofort verrückt. Würde ich denn – vorausgesetzt natürlich, Jesse würde die Initiative ergreifen…

Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, weil mir so heiß wurde, dass ich meine Winterjacke öffnen musste. Ich hoffte inständig, Jesse würde mein laut schlagendes Herz nicht hören. Wir hatten erst zwei Dates hinter uns und ich dachte schon an sowas. Das war doch nicht normal. Andererseits fragte ich mich, ob Jesse auch darüber nachdachte. Er war ein Kerl – bestimmt tat er das. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich wollte, dass er daran dachte. Ich musste unbedingt ein Gespräch beginnen, sonst würde ich noch verrückt werden.

„Wohnst du allein?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.

„Bei Greg.“ Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Wieso bei Greg?“ Jesse verzog das Gesicht.

„Wenn ich zu neugierig bin, sag’s einfach. Du musst nicht mit mir darüber reden“, ruderte ich zurück. Er warf mir einen beruhigenden Blick zu.

„Schon gut. Ich glaube nur nicht, dass meine familiären Umstände besonders spannend für dich sind.“ Mich interessierte alles, was mit ihm zu tun hatte, aber das sagte ich ihm nicht. Als ich ihn abwartend ansah, begann er schließlich zu erzählen.

„Das ist eigentlich ganz schnell erklärt: Ich hab’s zuhause nicht mehr ausgehalten, deshalb bin ich ausgezogen. Aber eine eigene Wohnung kann ich mir nicht leisten.“

Ich würde gerne wissen, wieso er mit seinen Eltern nicht klarkam. Ich hatte das große Glück, eine intakte kleine Vorstadtfamilie zu haben.

„Darum also die Nachhilfestunden. Du brauchst das Geld“, witzelte ich. Jesse lachte nicht, sah mich nur intensiv an. Ich sollte ihn bitten, wieder auf die Straße zu gucken, aber wie könnte ich mich von diesen Augen loseisen? Schließlich brach er den Blickkontakt ab.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du als Gegenleistung zu den Auftritten kommst.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Du sollst das aber nicht umsonst machen. Und zu den Gigs komme ich von ganz allein.“ Jetzt stahl sich doch ein Lächeln auf seine Lippen.

„Was? So richtig freiwillig? Bist du dir sicher?“ Er lachte ein kehliges Lachen. „Das halte ich für fair.“ Gregs Haus kam in Sicht. Unangenehme Erinnerungen wurden in mir wach. Alkohol war wirklich nicht mein bester Freund. Jesse rief ein Hallo in die Stille, als wir das Haus betraten, doch es kam keine Antwort. Er hängte seine Jacke an die Garderobe und nahm mir meine ab.

„Sind wohl alle ausgeflogen“, meinte er und ich war nicht sicher, ob ich darüber froh sein sollte oder nicht. Wenn Greg mitbekam, dass ich hier war, würde es bestimmt Gerede in der Clique geben. Und darauf konnte ich wirklich gut verzichten.

„Hast du Hunger? Ich muss unbedingt was essen.“ Ich folgte Jesse in die Küche, zur Speisekammer. Ich schluckte. Hier hatte ich Rob geküsst. Sollte ich Jesse davon erzählen? Nein, wieso denn? Das war, bevor wir… was auch immer wir jetzt waren. Außerdem hatte er auch rumgeknutscht, da hatten wir uns schon gekannt. Zugegeben, das war eine ganze Weile vorher gewesen, aber die Bilder hatten sich gut in mein Gedächtnis gebrannt. Ich wollte nicht daran denken, konnte es aber nicht verhindern. Hatte er die Nummer des Mädchens aus dem Restaurant noch? Eifersucht bohrte sich durch meine Adern. Ich hatte keinen Anspruch auf ihn, rief ich mir ins Gedächtnis. Es waren nur zwei Dates gewesen, mehr nicht. Das hieß nicht, dass wir zusammen waren. Vielleicht traf er sich ja auch noch mit anderen Mädchen. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht.

„Couscous?“, schlug Jesse vor und hielt die Packung in die Höhe. Ich nickte. Mir war der Hunger ordentlich vergangen. Ich sollte wirklich damit aufhören, irgendwelche Hypothesen über Jesse aufzustellen und mir dadurch den Tag zu vermiesen. Ich beschloss, mein Sozialleben für heute außer Acht zu lassen und mich auf die Nachhilfe zu konzentrieren. Ich brauchte wirklich bessere Noten. Aber das war leichter gesagt als getan, wenn mein Nachhilfelehrer ausgerechnet der Typ war, in den ich verknallt war.
 

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich. Jesse holte einen Topf aus einem der Schränke, befüllte ihn mit Wasser und erhitzte dieses auf dem Herd.

„Du kannst den Tisch decken, wenn du willst.“ Er holte Teller, Besteck und Gläser heraus und reichte sie mir. Unsere Finger berührten sich kurz. Spürte nur ich den Stromschlag?

Das Tischdecken war innerhalb von zwei Minuten erledigt, dann war ich arbeitslos. Ich ging zurück in die Küche und stellte mich zu Jesse an den Herd. Er wartete noch immer darauf, dass das Wasser kochte. Seine Mütze hatte er inzwischen ausgezogen. Sein Haar war glatter als sonst. Verdammt, auch so sah er einfach umwerfend aus.

„Wie geht’s deinem Tattoo?“, fragte ich. „Alles verheilt?“ Jesse nickte.

„Willst du’s sehen?“ Ich bejahte und stellte mich hinter ihm auf die Zehenspitzen und spähte durch den weiten Kragen seines Pullovers auf die frische pechschwarze Tinte. Jesse bekam eine Gänsehaut.

„Tut mir Leid. Meine Finger sind eiskalt“, sagte ich und zog meine Hände zurück. Jesse drehte sich zu mir um und nahm meine Hände in seine.

„Vielleicht sollte ich dich ein bisschen aufwärmen.“ Er zog mich näher zu sich, bis sich unsere Körper berührten. Mein Herz explodierte. Er senkte den Kopf und ich schloss in freudiger Erwartung die Augen. Überraschenderweise trafen seine Lippen nicht meinen Mund, sondern meine Stirn. Diese liebevolle Geste brachte mich beinahe zum Schmelzen. Er zog mich in eine Umarmung und schlang seine Arme um meine Schultern. Reflexartig erwiderte ich die Berührung und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. So nah war ich ihm noch nie gewesen. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass er mein hämmerndes Herz spüren konnte. Zu meiner Erleichterung war auch sein Puls erhöht. Er roch gut, wenn man mal von der leichten Zigarettennote absah.

„Das Wasser kocht“, sagte er irgendwann leise. Wasser? Welches Wasser? Ach ja, wir machten ja Couscous. Widerwillig löste ich mich von ihm und sah zu, wie er die kleinen Körner in das sprudelnde Wasser schüttete.

„Ah, fuck!“ Er zog seine Hand ruckartig zurück, als ein paar übersprudelnde Tropfen seine Hand verbrannten.

„Shit.“ Er knallte den Deckel auf den Topf und saugte an der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, wo es ihn getroffen hatte. Er tat mir Leid, gleichzeitig musste ich aber auch über seine heftige Reaktion lachen. Als er mich mit strafenden Augen ansah, hielt ich mir den Mund zu.

„Entschuldige. Komm.“ Ich zog ihn zum Waschbecken und stellte das kalte Wasser an. Ich ergriff sein Handgelenk und hielt die wunde Stelle unter den Wasserstrahl.

„Besser?“, fragte ich, während das Wasser über seine Hand strömte. Er entspannte sich – so schlimm war es ja nun auch nicht gewesen.

„Schon mal daran gedacht, Krankenschwester zu werden?“, fragte er mich mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein, eher Kinderärztin.“ Er brauchte einen Moment, bis er den Witz verstand.

„Haha“, sagte er nur trocken, während ich grinste. Er drehte den Hahn ab.

„Ich glaube, das reicht.“ Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn weiter aufzuziehen.

„Möchtest du ein Pflaster?“ Er verengte die Augen und trat einen Schritt auf mich zu. Ich musste mich zwingen, nicht zurückzuweichen und laut loszulachen.

„Nein. Ich will einen Kuss.“ Er hob mir seine Hand vor die Nase und ich sah ihn ungläubig an.

„Was?“ Er zuckte die Schultern.

„Du bist doch hier die Krankenschwester. Macht man das nicht so bei Kindern? Die Wunde küssen und alles ist wieder heil?“ Die Wunde! Männer waren so wehleidig! Ich verdrehte die Augen, als er mich abwartend ansah. Er meinte das wirklich ernst. Jetzt erinnerte er mich sehr an den Jesse, wie ich ihn kennengelernt hatte.

„Na schön.“ Ich verdrehte die Augen und platzierte einen hauchleichten Kuss auf die gerötete Stelle. „Und, hilft’s?“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, du musst nochmal.“ Ich boxte ihn gegen die Schulter.

„Vergiss es.“ Er grinste.

„Na gut. Aber du musst weiterkochen. Ich bin schwer verletzt.“ Er presste seine Hand an seine Brust, als hätte ihn gerade ein Hund gebissen. Ich schüttelte grinsend den Kopf.

„Von mir aus!“ Jesse setzte sich auf die Ablagefläche und sah ziemlich zufrieden mit sich aus.
 

Die Nachhilfe gestaltete sich weniger erfreulich. Wir begannen mit Mathe, weil ich es da am dringendsten nötig hatte. Es war mir regelrecht peinlich, wie wenig ich wusste und ich merkte Jesse an, dass er nicht erwartet hatte, dass ich so schlecht war. Nach ein paar unbeholfenen und ergebnislosen Aufgaben, bei denen ich nicht mal verstand, was man von mir wollte, schloss Jesse das Buch und kritzelte etwas auf einen Zettel.

„Okay. Hausaufgabe bis zum nächsten Mal: Die Formeln auswendig lernen. Wenn du die Formeln beherrschst, kannst du die Lösungen voneinander ableiten.“ Und die hatte er sich einfach so aus den Fingern gesaugt? Als ich mir die Zahlen und Buchstaben ansah, erkannte ich sie vage wieder. Diese Formeln standen in meinem Heft, irgendwo ganz vorne. Aber Jesse hatte nicht mal einen Blick darauf geworfen.

„Kann ich dich mal was fragen?“ Ich sollte aufhören, ihn danach zu fragen, ob ich was fragen durfte, und einfach fragen. Er nickte. Bisher war er sehr geduldig mit mir gewesen.

„Was für einen Notendurchschnitt hast du in deinem Abschluss?“ Jesse kratzte sich hinterm Ohr. War das etwa eine verlegene Geste? Ich hatte ihn noch nie so gesehen.

„Wieso fragst du?“ Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch.

„Keine Ahnung. Es interessiert mich.“

Er schien einen Moment zu überlegen, ob er es mir sagen sollte oder nicht, dann seufzte er.

„Eins Komma drei.“ Heilige Scheiße. Er war ein verdammtes Genie. Er musste mir mein Erstaunen ansehen, denn er lächelte breit.

„Wie hoch ist dein IQ?“ Er runzelte die Stirn.

„Ist das 'ne ernsthafte Frage?“ Ich nickte.

„Keine Ahnung. Ich habe noch nie einen Test gemacht.“ Ich nahm einen Schluck von meinem Wasser und war ziemlich deprimiert.

„Solltest du vielleicht.“ War er in irgendwas nicht perfekt? Diese Fehlerlosigkeit fing an, mich ein bisschen zu nerven. „Ich wette, du musstest nicht gerade viel lernen. Hast du ein fotografisches Gedächtnis?“

„Nein. Und um ehrlich zu sein, habe ich immer viel gelernt im Internat. Brav Hausaufgaben gemacht, mich auf jede Stunde vorbereitet, im Unterricht mitgemacht und so weiter.“ Mir fiel die Kinnlade runter.

„Du bist ein Streber“, sagte ich gespielt schockiert. Er verdrehte die Augen.

„Zugegebenermaßen ist mir das Lernen nie besonders schwer gefallen. Ich habe nicht den ganzen Tag in meinem Zimmer gesessen und in Bücher gestarrt, falls du das meinst“, verteidigte er sich.

„Trotzdem bist du ein Streber“, neckte ich ihn weiter.

„Wenn du meinst“, seufzte er ergeben, mit einem Grinsen in den Mundwinkeln. Es machte Spaß, ihn aufzuziehen. Außerdem bewahrte es mich davor, irgendwas anderes mit ihm lernen zu müssen. Jetzt, wo ich wusste, wie intelligent er war, wollte ich mir noch weniger die Blöße geben, mit ihm meine zahlreichen Problemfächer durchzugehen.

„Wieso?“, fragte ich.

„Wieso was?“, entgegnete er.

„Wieso hast du dich in der Schule so angestrengt?“, präzisierte ich.

„Mir war ganz schön langweilig im Internat. Und ich wollte einen guten Abschluss, um einen gut bezahlten Job zu kriegen.“ Den er nicht hatte. Wieso, wenn er doch so ein gutes Zeugnis hatte?

„Und was für ein Job wäre das?“ Jesse zuckte mit den Schultern.

„Hab' mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht.“ Wow, das nannte ich mal einen Plan für die Zukunft. Aber ich musste auch gerade reden. Ich hatte auch keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Allerdings hatte ich auch noch ein, zwei Jahre, um mir darüber Gedanken zu machen. Möglicherweise noch mehr, wenn ich nicht bald bessere Noten bekam.

„Momentan jobbe ich in einem Plattenladen. Und ab und zu stehe ich hinter der Bar in einem Club.“ Jesse als Barkeeper. Das konnte ich mir gut vorstellen. Und ich konnte mir auch die Unmengen an Frauen vorstellen, die sich weit über den Tresen beugten, um ihm ihre Bestellungen ins Ohr zu flüstern. Ich hasste Eifersucht.

„Cool“, sagte ich trocken und legte mein Französischbuch auf den Tisch. Das war das Fach, bei dem ich noch am meisten Hoffnung für mich hegte. Ich war früher gar nicht so schlecht darin gewesen, aber seit ich aufgehört hatte, dafür zu lernen, waren die Leistungen rapide in den Keller gesunken.

„Wie steht’s mit Französisch?“, fragte ich und hoffte innerlich, dass er in irgendeinem Fach nicht genial war.

„Pourquois pas?“ Na toll. Auch das konnte er. Das Einzige, womit ich mich in dem Fach wirklich rühmen konnte, war meine Aussprache. Meine Lehrerin sagte immer, ich sei ein Naturtalent. Glücklicherweise musste ich dafür nicht besonders viel tun. Wir unterhielten uns einfach eine Stunde auf Französisch. Zu meiner Erleichterung musste auch Jesse ein paar Wörter nachschlagen. Meine Sätze waren anfangs grammatikalisch ziemlich holprig, doch je länger wir uns unterhielten, desto besser wurde ich.
 

„Bin ich für heute erlöst?“, fragte ich und stützte meinen brummenden Kopf in meine Hände. Jesse sah mich mit einem Lächeln in den Augen an und fuhr mir durchs Haar. Diese unerwartete sanfte Berührung brachte mich aus dem Konzept.

„Für heute“, gab er schließlich nach. Ich packte meine Sachen in den Rucksack. Was jetzt? Ich wollte noch nicht gehen.

„Heute wieder Tierheim?“, fragte Jesse, während er mir zusah. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, heute nicht.“ Martha hatte darauf bestanden, mir ein paar Tage freizugeben. Sie hatte, glaube ich, ein schlechtes Gewissen, weil sie mir nur einen kleinen Lohn zahlte und ich beinahe mehr als eine Teilzeitkraft arbeitete. Außerdem wollte sie, dass ich mehr unternahm, mit Freunden und so. Sie hatte mich nach Jesses Besuch nur einmal nach ihm gefragt, und ich hatte ihr erzählt, er sei ein Freund meiner Schwester. Das war sowas von gelogen. Tammy konnte ihn nicht leiden. Und Jesse war viel mehr mein Freund als ihrer. Also, nicht mein Freund, aber eben ein Freund. Den ich zweimal geküsst hatte. Okay. Unser Beziehungsstatus war nicht eindeutig festgelegt. Natürlich hätte ich Jesse gern als meinen festen Freund, auch wenn ich mir das absolut nicht vorstellen konnte. Kein bisschen.

„Willst du meine Playlist hören?“, fragte Jesse und riss mich damit aus meinen Gedanken. Mal wieder.

„Sicher.“ Er führte mich die Treppe hinauf. Dieselbe Treppe, auf der ich Betty das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte ich noch geglaubt, sie wäre eine seiner Eroberungen. Und auch jetzt konnte ich mich nicht davon abhalten, darüber zu philosophieren, wie viele Mädchen diese Treppe schon hinaufgestiegen waren. Ich sollte wirklich mal mit Jesse darüber reden, bevor ich mir ernsthaft Hoffnungen machte.

Mein Puls beschleunigte sich, als wir sein Zimmer betraten. Es war nicht groß und auch nicht besonders liebevoll eingerichtet. Am auffälligsten waren die Schachteln, die sich auf dem Schreibtisch stapelten, direkt neben einem alten Plattenspieler. Es sah ziemlich unordentlich aus, aber irgendwie störte ich mich nicht daran. Jesse offensichtlich auch nicht, denn er entschuldigte sich nicht für das Chaos, das hier herrschte und machte auch keine Anstalten, irgendetwas aufzuräumen.

Während er eine CD einlegte, inspizierte ich den Plattenspieler und die dutzenden Platten, die danebenlagen. Die meisten Interpreten und Lieder sagten mir überhaupt nichts. Den Covern nach zu urteilen waren sie aber auch schon mehrere Jahrzehnte alt. Ich erschrak kurz, als Jesse die CD startete. Er hörte in seinem Zimmer genauso laut Musik wie in seinem Auto. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, drehte er zu meiner Erleichterung auf Zimmerlautstärke runter. Ich ging zu ihm und nahm die Hülle aus seiner Hand, die er beschriftet hatte. Meine Augen überflogen die Liste, doch ich konnte nichts mit den Titeln anfangen. Zumindest war anhand des ersten Liedes sofort klar, dass es seine schnelle Playlist war. War auch besser so. Wenn jetzt irgendwelche Schnulzen liefen, kam ich vielleicht noch auf falsche Gedanken. Oder er.

Weiter kam ich nicht, weil Jesse im nächsten Moment seine Lippen auf meine presste und sich mein Hirn zeitgleich ausschaltete. Das kam unerwartet. Nicht unerwünscht, nur unerwartet. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, sodass unsere Körper förmlich aneinanderklebten, und erwiderte den Kuss. Vielleicht sollte ich nicht so schnell damit sein, mich ihm wortwörtlich an den Hals zu werfen, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Es fühlte sich einfach zu gut an. Wenn ich mich an den Kuss mit Rob erinnerte, war das nichts im Vergleich. Jetzt schoss Adrenalin in meine Adern, mein Atem wurde schneller und auf angenehme Weise zog sich mein Magen zusammen. Es fühlte sich so richtig an, und ich mich so lebendig. War das der Grund, warum ich so in Jesse verknallt war? Weil er mich aus meinem Loch herausholte und mir endlich wieder das Gefühl gab, am Leben zu sein? Wollte ich mit ihm die kahle Stelle füllen, die Natalie hinterlassen hatte? Nein, ich wollte niemanden ersetzen! Ich schubste Jesse unsanft von mir. Der Gedanke hatte mich so sehr erschreckt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich sah die Verwirrung in seinen Augen.
 

„War das zu viel?“, fragte er. Am liebsten hätte ich ihm versichert, es würde mir nie zu viel werden, aber vorher wollte ich ein für alle Mal klarstellen, was das zwischen uns war.

„Wer war das Mädchen an der Gartenhütte?“ Das war eigentlich nicht das, woran ich gedacht hatte, doch es war mir einfach so rausgerutscht. Jesses Verwirrung wurde noch größer.

„Was für eine Gartenhütte?“ Ich trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Na, auf der Party. Die Blondine im Garten. Du weißt schon.“ Ich konnte genau sehen, wie sein Hirn arbeitete. Ich versuchte währenddessen, die Bilder von den beiden, eng umschlungen, aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich war selbst schuld.

„Du warst das auf dem Balkon“, teilte er seine neu gewonnene Erkenntnis mit mir. Ich biss mir auf die Lippe. Das war eigentlich nicht das, worauf ich hinauswollte.

„Ja“, sagte ich deshalb nur knapp und beließ es dabei. Es zu leugnen, hatte ja wohl keinen Zweck mehr.

„Du hast und beobachtet.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich konnte seine Reaktion nur schwer einschätzen. War er sauer? Amüsiert? Genervt?

„Ich dachte, es gibt ein Feuerwerk. Wegen der Böller“, versuchte ich mich zu erklären.

„Du hast uns beobachtet“, wiederholte er, dieses Mal mit einem Grinsen auf den Lippen. Wie konnte er grinsen, während wir uns darüber unterhielten, wie er mit einer anderen rumgemacht hatte? War das alles doch nur ein Spiel für ihn?

„Ist sie deine Freundin?“, fragte ich geradeheraus und hoffte, die Antwort wäre nein. Jetzt entglitten ihm doch alle Gesichtszüge.

„Was? Amanda? Nein, sie ist nur... wie kommst du darauf?“ Mir fiel beinahe die Kinnlade runter.

„Wie ich darauf komme? Du hast sie beinahe aufgefressen.“ Gut zu wissen, dass für Jesse ein Kuss nichts bedeutete. Jetzt wusste ich wenigstens, woran ich war.

„Wir haben nur...“ Er schien endlich zu begreifen, wie sehr mich das verletzte, denn seine Stimme wurde sanft und er seufzte schwer.

„Lea. Das war nichts Ernstes. Ich war betrunken. Wir waren beide betrunken. Das hatte nichts zu bedeuten.“ Er merkte, dass mich das nicht besonders beruhigte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das war vor uns.“ Uns. Hatte er uns gesagt?

„Ich werde mich nicht für etwas entschuldigen, das so weit zurückliegt.“ Seine Worte versetzten mir einen Stich, aber er hatte recht. Ich senkte den Kopf und sprach mit dem Fußboden.

„Ich will nicht, dass du dich entschuldigst. Ich möchte einfach nur wissen, woran ich bin.“ Ich scharrte mit dem Fuß über eine unebene Stelle in dem Holz und kam mir auf einmal ganz klein vor. Wenn ich im Erdboden versinken könnte, würde ich es jetzt tun. Jesse kam auf mich zu und hob mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste.

„Ich dachte, das wäre klar.“ Ich schluckte schwer. Seine nächsten Worte würden über mein ganzes Leben entscheiden. „Ich nehme nicht jede mit ins Tattoostudio.“ Aha. Was sollte mir das jetzt sagen?

„Mhm“, machte ich deshalb nur und entfernte mich wieder von ihm. Ich ertrug es gerade nicht, ihm so nahe zu sein. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sodass eine Falte dazwischen entstand.

„Was glaubst du denn, was wir hier machen?“, fragte er und ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf er hinauswollte. „Habe ich irgendetwas gemacht... oder gesagt, das dir Anlass dazu gibt, mir zu misstrauen?“

Nur, dass dein Bruder mich von Anfang an vor dir gewarnt hat.

„Was hat er gesagt?“ Jesses Miene versteinerte sich. Oh verdammt, hatte ich das etwa laut gesagt? Ich wollte Greg nicht bei Jesse anschwärzen, aber dafür war es wohl schon zu spät.

„Nichts. Er hat nur...“ Ich wusste selbst nicht, was ich sagen sollte.

„Sag die Wahrheit.“ Jesse wirkte wütend. Das konnte ich ihm aber auch nicht verübeln, wenn man hinter seinem Rücken über ihn redete.

„Er hat nur gesagt, dass du, naja... gerne spielst“, sagte ich und zeichnete dabei Gänsefüßchen in die Luft. Ich sah an seiner Reaktion, dass er etwas anderes erwartet hatte.

„Und du denkst, dass ich das tue. Nur mit dir spielen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und blieb stumm. Keine Antwort war auch eine Antwort.

„Wow.“ Jesse trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. Mit verschränkten Armen beobachtete er mich. Sollte ich was sagen? Mich entschuldigen? Ich wollte es, aber kein Wort kam über meine Lippen. Erst musste ich von ihm hören, dass Greg sich irrte.
 

„Es stimmt.“

Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich hatte es geahnt, die ganze Zeit über. Wieso sollte Jesse auch ernsthaft an mir interessiert sein? Ich war so dumm.

„Ich bin nicht so der Beziehungstyp. Und normalerweise sehe ich die Mädchen, mit denen ich was hatte, nie wieder. Aber jede Einzelne wusste genau, woran sie war. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass bei mir nicht mehr drin ist.“

Ich versuchte, die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, zurückzuhalten, und mir nicht all die Mädchen vorzustellen, mit denen er schon im Bett gewesen war. Hätte ich ihn vorhin nicht zurückgewiesen, wäre ich jetzt womöglich eine Trophäe mehr in seiner Sammlung.

„Dann hast du das bei mir wohl vergessen. Zu mir hast du nichts gesagt. Du hast mich nicht vorgewarnt“, sagte ich mit zittriger Stimme und blinzelte mehrmals, um die Tränen zu vertreiben. Ich sollte mich einfach umdrehen, gehen, und nie wiederkommen. Dieses Mal würde ich Jesse wirklich aus meinem Leben streichen. Wie ich es von Anfang an hätte machen sollen. Er kam jetzt auf mich zu und all meine Sinne schrien, ich solle mich von ihm fernhalten. Gleichzeitig wollte ich jedoch meinen Kopf an seine Schulter lehnen und weinen.

„Lea. Du verstehst nicht. Das versuche ich doch die ganze Zeit zu sagen: Mit dir ist es anders. Ich will nicht nur eine Affäre. Ich will was Richtiges.“ Ich war verwirrt und runzelte die Stirn. Was denn nun?

„Wenn du das auch möchtest.“ Jesse biss sich auf die Lippe. War er jetzt unsicher? Ich dachte, das sei mein Part. Ich verstand noch nicht ganz, was das bedeutete.

„Du willst mit mir zusammen sein?“, fragte ich ungläubig.

„Ja“, sagte er schlicht, ohne zu zögern. Es kam mir vor, als bekäme ich endlich wieder Luft. Gleichzeitig fehlten mir die Worte.

„Wieso?“, entfuhr es mir schließlich. Es war das Einzige, was mir dazu einfiel. Jesse zuckte die Schultern.

„Ich mag dich, ganz einfach.“

Wieso, wollte ich erneut fragen, ließ es aber bleiben, weil ich ihn nicht überstrapazieren wollte.

„Ich mag dich auch“, gestand ich. Mögen war wohl etwas untertrieben, aber das musste Jesse ja noch nicht unbedingt wissen. Er lächelte breit und wirkte erleichtert.

„Gut“, sagte er. „Ich war mir nämlich nicht sicher.“ Er kam wieder näher, und dieses Mal kam ich ihm entgegen.

„Du hast geglaubt, ich mag dich nicht?“ Wie konnte er das nur denken? Jesse vergrub die Hände in den Hosentaschen.

„Du bist nicht gerade leicht einzuschätzen.“ Ich runzelte die Stirn.

„Liegt wohl daran, dass du so mysteriö-“ Ich hielt ihm den Mund zu.

„Nicht dieses Wort!“ Er lachte unter meiner Berührung und ich nahm die Hand weg.

„Gut. Da wir das geklärt hätten, können wir jetzt da weitermachen, wo wir aufgehört haben?“ Liebend gerne würde ich mich erneut an ihn schmiegen, bis meine Lippen taub waren. Aber ich glaubte, dass Jesse es nicht beim Küssen belassen würde. Ein nervöses Flattern erfüllte meinen Bauch.

„Nein. Ich glaube, ich gehe jetzt besser nach Hause“, sagte ich und hob meine Tasche vom Boden. Jesse runzelte die Stirn und sah mich prüfend an.

„Bist du noch sauer? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ Ich schüttelte den Kopf und trat vor ihn.

„Ich bin nicht sauer. Alles gut. Aber ich muss noch Hausaufgaben machen.“ Ich konnte nicht widerstehen und platzierte einen federleichten Kuss auf seinen Lippen. Es hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut.

„Du kannst den Schulkram auch hier erledigen“, schlug er vor und nickte Richtung Schreibtisch. Es freute mich, dass er mich nicht gehen lassen wollte, dennoch hielt ich es für besser. Nun war es an ihm, sich zu mir herunterzubeugen und meine Lippen zu versiegeln. Seine Taktik, mich von einem Widerspruch abzuhalten, war beinahe erfolgreich, doch ich musste mir nur wieder ins Gedächtnis rufen, wo diese ganze Sache enden könnte – nämlich in seinem Bett – das reichte mir, um die Willenskraft aufzubringen, mich von ihm zu lösen.

„Ich werde mich heute sicher nicht nochmal vor dir blamieren. Streber.“ Ich grinste breit. Ich trat einen Schritt zurück, als er erneut Anstalten machte, mich zum Schweigen zu bringen. „Außerdem fragt sich meine Mom bestimmt schon, wo ich bin. Normal dauert Nachhilfe nicht so lang.“ Ich hatte meiner Mutter zwar erzählt, dass ich zur Nachhilfe ging – was sie sehr begrüßte – aber nicht, bei wem.

„Na gut. Ich fahre dich nach Hause.“ Jesse seufzte, ergriff meine Hand und ging mit mir hinunter. „Soll ich dich am Samstag mitnehmen, zum Gig?“ Ich schüttelte den Kopf und war noch völlig überwältigt von dem Gefühl, seine Hand zu halten, während wir zum Auto liefen. Das mich eine so simple Berührung so glücklich machte, hätte ich nie für möglich gehalten.

„Ich fahre mit Tammy und Jen.“ Falls Jen mitkam. „Dann musst du keinen Umweg fahren.“ Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es ein Umweg für Jesse wäre oder nicht, weil ich in dem Club, in dem Zero an diesem Wochenende spielte, noch nie gewesen war.

„Wie du meinst.“ Jesse öffnete mir die Beifahrertür und ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ein wenig bereute ich es, dass ich so nach Hause gedrängt hatte. Aber wahrscheinlich war es besser, wenn ich den heutigen Tag erst einmal verarbeitete.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück