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Die Seele der Zeit

Yu-Gi-Oh! Part 6
von

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Von Gedeih und Verderb

Hatte Atemu zu Beginn des Weges damit gerechnet, er würde andauernd das Gerede des Grabräubers ertragen müssen, so hatte er sich getäuscht.

Sie waren gestern nicht mehr lange unterwegs gewesen, sondern hatten sich bald darauf eine Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Nachdem sie unter dem überstehenden Felsen einer Sandsteinformation ein Feuer entfacht hatten, hatten sie sich rasch schlafen gelegt. Diabound hatte die Umgebung im Auge behalten, während sie ruhten. Atemu hatte dennoch kaum ein Auge zugetan – was eventuell an seiner Begleitung liegen konnte.

Nach einer kargen Mahlzeit, bei der sie ohnehin schon nur das Nötigste gewechselt hatten, waren sie dann aufgebrochen. Seitdem hatten sie kein Wort miteinander gesprochen.

Vielleicht war es besser so. Ihre letzten Unterhaltungen hatten gezeigt, dass dabei selten irgendetwas anderes herauskam, als Keifereien. Bakura würde die meiste Zeit diesen herablassenden Tonfall benutzen, Atemu würde das irgendwann auf den Nerv gehen und dann krachte es. So lief es immer ab.

Dennoch war die Stille irgendwie unangenehm. Es lag eine gewisse Anspannung über Pharao und Grabräuber, die sich nicht abschütteln ließ, gleich, wie weit sie ritten. Vielleicht war es auch eher ein Misstrauen, da waren sich beide nicht so ganz sicher. Auf der anderen Seite bezweifelte jeder von ihnen, dass der Andere irgendetwas tun würde, um dem Gegenüber zu schaden. Wobei die Verlockung für Bakura zugegebenermaßen groß war. Alleine mit seiner Majestät – wären da nur nicht diese verdammten Göttermonster.

So ging es noch eine Weile. Letzten Endes passierte aber dann das, was Atemu eigentlich für genau das Falsche hielt: Er durchbrach die drückende Stille.

„Meinst du, Risha wird zurückkommen?“

Die fliedernen Augen des Grabräubers musterten ihn kurz, dann schnaubte er. „Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Und was interessiert’s dich überhaupt? Dir kann es doch nur recht sein, wenn sie bleibt, wo immer sie ist.“

„Es ist dir wirklich vollkommen gleich, was mit ihr passiert?“

„Bei den Göttern, jetzt fang du nicht auch noch mit diesem Gequatsche an. Ich führe hiermit eine neue Regel ein: der Nächste, der mir irgendetwas von familiärer Gefühlsduselei erzählt, stirbt. Also halt die Klappe, wenn du heil in Theben ankommen willst. Außerdem geht es dich, und ganz besonders dich einen Scheißdreck an, was in meiner Familie passiert.“

Paradox. Anders wusste Atemu dieses Verhalten nicht zu beschreiben. Zum einen gab Bakura den völlig Unbeeindruckten, zum anderen war da doch irgendwie so etwas wie eine Verbindung zu seinem Bruder und seiner Base, wenn er von seiner Familie sprach. Er fragte sich, ob sich der Grabräuber dieses Widerspruchs überhaupt bewusst war.

Sie schwiegen wieder, während ihre Pferde sie weiter trugen. Atemu beobachtete den Anderen jedoch noch eine ganze Weile aus dem Augenwinkel heraus. Was war er wohl für ein Mensch gewesen, bevor das Drama in Kul Elna geschehen war? Und was wäre aus ihm geworden, wenn all das niemals passiert wäre? Wäre er anders als heute? Der Pharao nahm es an. Keiro hatte sich zwar mit allen Informationen, die seine Vergangenheit und die seines Bruders betrafen ziemlich bedeckt gehalten, aber das Bisschen, was er preisgegeben hatte, ließ darauf schließen. Ja, wahrscheinlich wäre vieles anders gekommen. So sehr Atemu den Grabräuber auch für das verachtete, was er ihm Kampf um die Milleniumsgegenstände getan hatte, ein Teil von ihm wusste, dass das, was er erlebt hatte, Bakura zu dem hatte werden lassen, der er heute war – und dass er, Atemu, vielleicht genauso geworden wäre, hätte er etwas Vergleichbares durchleben müssen.

Als er noch der Geist des Milleniumspuzzles gewesen war, hatte er sich häufig gefragt, wie sein Leben einmal gewesen sein mochte. Er hatte sich die abenteuerlichsten Dinge ausgemalt. Als er dann seine Erinnerungen zurück erlangt hatte, war das neu gewonnene Wissen ernüchternd, aber auch erleichternd gewesen. Bis auf die Tatsache, dass er Ägyptens zukünftiger Herrscher war, war an ihm nichts Besonderes gewesen. Er hatte eine relativ normale Kindheit verbracht, gemeinsam mit Mana und Mahad, und war später von seinem Vater in all den Dingen unterwiesen worden, die später einmal in seiner Position als Regent wichtig sein würden. Das Schicksal hatte sich erst in Gang gesetzt, als Bakura aufgetaucht war – ein Mann, der sich stets hatte durchschlagen müssen, wohingegen Atemu sich niemals darüber hatte sorgen müssen, wo er schlafen konnte oder genug zu essen herbekam. Ihre verschiedenen Geschichten hatten sie unterschiedlich wie Tag und Nacht werden lassen. Und dennoch waren sie jetzt hier, ritten Seite an Seite durch die Wüste Ägyptens, um sich in naher Zukunft einem gemeinsamen Feind zu stellen, ohne sich dabei gegenseitig so etwas wie Vertrauen entgegen zu bringen. Ja, manchmal ging das Schicksal komische Wege.

„Hab‘ ich irgendwas im Gesicht oder warum glotzt du mich so an?“

Die Worte des Grabräubers rissen ihn aus den Gedanken. „Nichts“, erwiderte er. „Ich habe lediglich nachgedacht.“

Er erinnerte sich noch genau daran, wie er erst vor kurzem zu Yugi gesagt hatte, er habe es satt, sich andauernd Vorhaltungen wegen Kul Elna machen zu lassen. Ja, er hatte genug davon, wusste jedoch zugleich auch, dass er dem nicht entkommen konnte. Es war seine Verantwortung als Herrscher der beiden Länder, sich der Konflikte anzunehmen, die in seiner Heimat brodelten. Er durfte sie nicht beiseiteschieben, nur weil er es nicht mehr hören konnte. Denn genau das war seine Pflicht: Zuzuhören. Und das, was er hörte, zu beurteilen und daraus resultierend Entscheidungen zu treffen. Dabei durfte er nicht nur dem lauschen, was ihm gefiel, nein, er musste auch mit Kritik leben können, gleich wie heftig sie war, selbst wenn es ihn immer wieder einmal alle Nerven kostete. Die Anschuldigungen der Überlebenden der Tragödie von Kul Elna bildeten dabei keine Ausnahme, auch wenn sie sehr … drastischer Natur waren. Zumal ihm die besagten Personen scheinbar keine andere Art von Wiedergutmachung zu gewähren schienen, als seinen eigenen Tod.

Doch wenn nie jemand diesen Kreis, nein, diese Abwärtsspirale von Feindseligkeit durchbrach, dann würde sich nichts ändern. Im Gegenteil, irgendwann würde der Punkt kommen, wo einer von ihnen endgültig brach. Spätestens wenn der Krieg vorüber und wieder Zeit und Luft war, sich dem alten Konflikt zu widmen, würden alte Wunden aufgerissen und noch tiefer geschnitten werden. Das hatte seine Heimat schon einmal beinahe in den Abgrund gerissen. Diesmal wollte, konnte, durfte er es nicht soweit kommen lassen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich abermals mit einem Thema auseinandersetzen musste, dass schon zigmal ohne das Ergebnis einer Einigung durchgekaut worden war. Doch er musste es versuchen, wieder und wieder. Es war seine Aufgabe.

„Bakura?“

„Was?“, giftete es sofort vom anderen Pferd her zurück.

„Eines habe ich nie verstanden. Warum hast du Akunaden am Leben gelassen?“

Der Grabräuber warf ihm einen fragenden Blick zu. Atemu fuhr fort: „Mit jedem Priester, der sich dir in den Weg gestellt hat, hast du kurzen Prozess gemacht. Nur mit ihm nicht, obwohl er derjenige war, der den Angriff gegen dein Dorf geplant und ausgeführt hat. Wieso?“

Bakura schnaubte. „Ich bezweifle, dass dein nobles Herz so etwas nachvollziehen könnte.“

„Versuch es.“

Der Andere musterte ihn einen Augenblick lang, dann sah er wieder nach vorne. „Ihn zu töten wäre zu einfach gewesen. Er sollte leiden. Er sollte derjenige sein, der seinem eigenen Sohn das Leben nimmt, unfähig etwas dagegen zu tun. Außerstande es abzuwenden. Ich wollte, dass er hilflos dabei zusieht, wie sich seine Hände mit dem Blut seines eigenen Kindes rot färben. Und es hätte funktioniert, wäre dieses Weib nicht dazwischen gekommen.“ Er fixierte nun wieder Atemu. „Du hast dich nie gefragt, weswegen ich deine geliebten Priester-Freunde umgebracht habe?“

Der Pharao schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, ehe er antwortete. Er durfte in diesem Gespräch nicht die Kontrolle verlieren. „Nein. Du wolltest du Milleniumsgegenstände und ihre Aufgabe war es, diese zu beschützen. Und das taten sie selbst unter Aufopferung ihres Lebens.“

„Das alleine war es nicht.“

Atemu erwiderte den Blick nun. Dies genügte dem Grabräuber, um fortzufahren. „Mit ihnen verhielt es sich ganz ähnlich, wie mit meinem Plan für Akunaden, diesen Bastard. Ich wollte, dass du leidest. Dein eigenes Dasein bedeutet dir nichts, das war mir vom ersten Moment an klar. Es war dir gleich, ob du stirbst, solange du die, die dir wichtig sind, beschützen kannst. Das ließ mir nur eine Wahl: Dir die zu nehmen, die du liebst. Denn das ist die schlimmste Form von Schmerz, schlimmer als jede Folter oder jede Krankheit. Nichts ist zu vergleichen mit der Pein, wenn einem jemand Nahestehendes genommen wird. Es ist, als reiße dir jemand einen Teil deiner Seele bei lebendigem Leib heraus. Und daraus entsteht eine Wunde, die sich niemals schließen wird, bis zu dem Tag, da wir endlich in die Unterwelt einkehren dürfen.“

Atemu wusste, dass die Worte darauf ausgerichtet waren, ihn zu verletzen. Doch sie verfehlten ihre Intention. Sie waren mit abgrundtiefer Verachtung gesprochen worden und dennoch vermochte der Pharao noch mehr aus ihnen herauszulesen, als nur das: Schmerz. Das, was Bakura soeben beschrieben hatte, war das, was er selbst gespürt hatte, als Kul Elna in Flammen aufgegangen war, als man seine Familie vor seinen Augen auf die scheußlichste Art und Weise ermordet hatte.

„Du meinst, du wolltest, dass ich das Gleiche fühle, wie du damals, als man dir die Deinen nahm? Deine Eltern … Keiro … Risha? Und dennoch tust du so, als habe dich all das nicht berührt, als sei es nur Machtgier, die dich antreibt?“

„Ich tue so, weil es so ist“, zischte der Grabräuber. „Auch wenn du einen Teil davon missverstanden hast. Alles, was ich will, ist, dass das Königshaus endlich bekommt, was es verdient. Ihr haltet euch für so unantastbar. Doch ich habe euch, und dir im Besonderen, den Spiegel vorgehalten. Ich habe euch, sowie allen anderen, die Fratze gezeigt, die sich unter der scheinenden Fassade verbirgt.“

„Und du hast uns Leid beschert. Unermesslich viel davon. Was auch immer du sagst, Bakura, ich denke nicht, dass dabei lediglich die Gründe, die du angibst, eine Rolle gespielt haben. Nein, ich glaube, ich habe Recht.“

„Einen Dreck hast du!“

„Ist das so? Wenn dem so ist, warum wolltest du mich dann unter Berufung auf das, was in diesem Dorf geschehen ist, leiden lassen? Warum hast du mich nicht einfach getötet?“

„Weil die Welt endlich die Wahrheit über das erfahren sollte, was passiert ist! Sie sollten sehen, wozu ihr fähig seid, wenn man euch an der Macht lässt!“

„Die Welt ist dir doch gleich – zumindest behauptest du das stets. Du widersprichst dir, Bakura.“

„Ach, halt einfach dein verdammtes Maul! Ich habe von Anfang angesagt, du würdest nicht in der Lage sein, es nachzuvollziehen. Und ich hatte Recht.“ Danach schwieg er zunächst. Es dauerte jedoch nicht lange, da fuhr er fort, nun eindeutig gereizt. „Außerdem: Ich soll mich in Widersprüche verstricken? Pah! Was tut Ihr denn bitte, Euer Majestät? Immerzu heißt es, die Verantwortung für all das hier“, begann er, wobei er eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm machte, „liege auf deinen Schultern. Zugleich hältst du mir immer wieder vor, es sei dein Onkel gewesen, der für Kul Elnas Untergang verantwortlich sei und du hättest damit nichts zu tun gehabt. Was ist denn nun richtig? Trägst du die Verantwortung für das, was hier passiert oder nicht? Ich höre?“

Atemu seufzte. „Ich kann nur für das die Verantwortung übernehmen, auf das ich Einfluss habe. Das habe ich in diesem Fall aber nicht. Als sich diese Tragödie ereignet hat, war ich noch ein Kind, Bakura, und jünger, als du es damals warst. Ich hätte nichts dagegen tun können, auch wenn ich es noch so sehr gewollt hätte. Ich kann auch nicht ungeschehen machen, was Akunaden getan hat, denn das ist nicht möglich. Aber glaube mir, wenn ich sage, ich würde es tun, wenn es in meiner Macht stünde. Und dennoch – obgleich diese Angelegenheit eine ist, die ich, wie ich sagte, nicht zu verantworten habe, so versuche ich dennoch, genau das zu tun.“

„Ach ja? Wo denn? Was hast du getan, als ich dir von der Schöpfungsgeschichte der Milleniumsgegenstände berichtete, hm? Nichts! Du hättest diesen dreckigen Priester aufknüpfen lassen können, aber nein, du hast nichts dergleichen getan! Es kam noch nicht einmal eine lahme Entschuldigung – die nichts geändert, aber wenigstens guten Willen bewiesen hätte. Und dann bist du auf mich losgegangen, an der Seite deiner Priester – des einen Priesters, der das Leben von einhundert Menschen auf dem Gewissen hat!“ Bakura spuckte Wort für Wort aus, als lägen sie wie glühende Kohlen auf seiner Zunge.

„Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass der von dir gewählte Weg nicht gerade der feinste war? Es hätte bessere Mittel gegeben, mir ein Anliegen vorzutragen, als meinen toten Vater aus seinem Grab heraus in den Palast zu schleifen.“

„Ich wollte kein Anliegen vortragen, ich wollte dich und Akunaden schlicht und ergreifend brennen sehen! Und das werde ich noch. An deinen Onkel kann ich keinen Finger mehr legen, da ist mir dein Vetter zuvor gekommen. Aber dich kriege ich noch, wenn dieser Krieg vorüber ist.“

„Und was dann? Sag mir, was geschieht dann, Bakura? Was glaubst du, wird es dir bringen? Wirst du deswegen besser schlafen können? Was willst du anschließend aus deinem Leben machen, wenn ich nicht mehr bin? Wohin wird dein Weg dich führen? Wirst du dich irgendwo niederlassen, eine Familie gründen und glücklich und zufrieden bis ans Ende deiner Tage leben? Du brauchst mir keine Antworten auf diese Fragen zu geben, denn ich kenne sie bereits. Und sie sind der Grund, weswegen ich nicht zulassen werde, dass du mich tötest. Gäbe es irgendeine Aussicht darauf, dass es dir helfen würde, ich wäre vielleicht gar bereit, mir das Herz von dir aus der Brust reißen zu lassen. Aber es wäre vergebens. Dann der Hass ist alles, was dich noch am Leben hält. Es gibt nichts und niemanden auf dieser Welt, der in der Lage wäre, ihn zu besänftigen – kein toter König, keine noch so schöne Frau, kein noch so erfülltes Leben. Dein Hass würde auch dann nicht enden, wenn ich das Zeitliche segne. Nein, du würdest nur immer weiter machen, weiter und weiter, zerstören, töten, vernichten, bis nichts mehr übrig ist. Dabei ist dir vollkommen gleich, wen diese unbändige Wut in deinem Innere trifft. Du würdest dir neue Opfer und neue Rechtfertigungen für ihren Tod suchen. Und das kann ich nicht zulassen.“

Bakuras Blick wäre kälter als Eis. Seine Hände, die er um die Zügel seines Pferdes gekrampft hatte, zitterten. Innerlich bereitete sich Atemu auf eine Auseinandersetzung vor, rechnete jeden Augenblick damit, dass sich Diabound auf ihn stürzen würde. Und dennoch fuhr er fort.

„Nicht ich bin dein Problem. Mein Vater, mein Onkel mögen es einst gewesen sein, doch nachdem du an Ersteren keinen Finger mehr legen konntest, verzerrte sich all der Hass in dir und legte sich auf andere Menschen – Menschen, die mit dem, was in Kul Elna passiert ist, nichts, gar nichts zu tun haben. Wann begreifst du das endlich?“

Der Grabräuber zügelte abrupt sein Pferd. Die fliedernen Augen bohrten sich in die violetten des Pharao. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er zum Sprechen anhob, zugleich jedoch schneidend und kalt wie der nächtliche Wüstenwind.

„Du glaubst mich zu kennen und weißt doch nichts. Du hast keine Ahnung, wer ich bin und maßt dir dennoch derlei an. Du widerst mich an, du dreckiges Stück Unrat. Aber nicht mehr lange. Bald ist dieser Krieg vorbei. Wenn du dann noch lebst, werde ich dich zerfetzen – und ich werde die kleine Magierfotze zwingen, dabei zuzusehen.“

Damit gab er seinem Pferd die Sporen und preschte voraus. Atemu verharrte noch eine ganze Weile dort, wo er war, mit der Wut kämpfend, die sich in seinem Inneren bemerkbar machte. Er durfte sie nicht hochkochen lassen, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Zugleich gewann er eine Erkenntnis: Vielleicht bestand die Möglichkeit, dass es keinen Weg gab, Bakura zu retten. In diesem Fall hatte er keine andere Wahl – Atemu würde ihn abermals töten müssen.
 

„Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!“

„Das ist alles deine Schuld, du Hund!“

„Hat dich irgendjemand nach deiner Meinung gefragt? Ich rede mit ihr!“

„Ich bin ein Teil von ihr! Und ich habe Recht! Hättest du ihr nicht dieses scheußliche Zeug verabreicht …“

„Scheußliches Zeug? Wer hat sich denn mit mehreren Fässern davon abgeschossen, du oder ich?“

Kiarna meckerte weiter, doch Marlic schenkte ihr schon keine Beachtung mehr. Sein Blick wanderte wieder zu Samira hinüber, die in der anderen Klaue der Ka-Bestie hockte. Sie sah nicht gut aus. Ihr Kopf hing vorne über und ihre Lider sanken weiter und weiter herab. Der Vollsuff und der daraus resultierende schlechte Schlaf forderten allmählich ebenso ihren Tribut, wie die wochenlange Unruhe, die jeden von ihnen seit Ausbruch des Krieges ergriffen hatte. Die Schattentänzerin brauchte eine Auszeit, und das dringend. Doch gerade jetzt war dafür definitiv der falsche Zeitpunkt. Am gestrigen Mittag waren sie von Gizeh aus aufgebrochen. Nun, da die Sonne beinahe ihren Zenit erreicht hatte, waren sie fast an ihrem Ziel angelangt. In der Ferne zeichneten sich bereits die Umrisse Thebens und der dahinter liegenden Erhebung ab, die das Tal der Könige barg. Doch ausgerechnet nun schienen sie zu scheitern. Samira konnte nicht mehr. Wenn die Erschöpfung sie übermannte, dann würde Kiarna so schnell es ging landen müssen. Zwar war es dem Phönix möglich, die Gefühle und Gedanken ihrer Trägerin bis zu einem gewissen Grad ausblenden zu können, doch sie bezog ihre Kraft aus der Seele des Mädchens. Wenn diese aufgebraucht war, würde auch Kiarna nicht mehr lange in der Luft bleiben können. Sie drohten zu scheitern und das so kurz vor dem Ziel. Marlic biss sich auf die Unterlippe. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie waren so nah dran.

„Hey, Püppchen, Kopf hoch! Los, nicht einschlafen! Wir haben es bald geschafft, dann kannst du meinetwegen noch an Ort und Stelle pennen gehen. Ich trag‘ dich auch zurück in die Stadt, abgemacht?“

„Ich kann … kaum …“ Samira beendete den Satz nicht, sondern kämpfte darum, ihre Augenlider offen halten zu können.

„Jetzt mach nicht schlapp! Wir sind jeden Moment da! Ihr Götter, sonst hast du doch auch immer so eine große Klappe!“

Das Mädchen ging gar nicht auf die Provokation ein. Stattdessen brabbelte sie vor sich hin. „Wir sollten landen … wenn ich nicht mehr kann, dann kann Kiarna auch nicht … zu gefährlich …“

„Oh nein, wir bleiben in der Luft, bis wir das Tal der Könige erreicht haben, hast du mich verstanden?“, entgegnete Marlic gereizt.

„Was ist eigentlich dein Problem?“, grummelte es von der gegenüber liegenden Klaue zurück, während sich die Schattentänzerin erschöpft über das Gesicht fuhr. „Wir wissen ja jetzt, wo das Relikt ist … wir können es auch einfach morgen holen …“

„Vergiss es! Wir holen dieses Ding hier und heute! Sonst schwingst du doch immer große Reden von wegen wir dürften keine Zeit verlieren! Dann halt‘ dich jetzt gefälligst auch dran! Wenn ich etwas noch mehr hasse, als Moralapostel, dann Moralapostel, die sich nicht mal an ihr eigenes Wort halten können!“

„Caesian ist weit weg …“

„Noch! Hast du in den letzten paar Tagen etwas von den Anderen gehört, hm? Nein, ebenso wenig, wie ich. Wir wissen überhaupt nichts über die derzeitige Lage, denn wir haben die letzten paar Sonnenläufe damit zugebracht, durch den Dreck von zwei Nekropolen zu kriechen! Und jetzt da sich dieser ganze Scheiß endlich auszahlt, willst du kneifen? Wir sind außerdem noch nicht mal sicher, dass wir diesmal richtig liegen! Was, wenn wir uns wieder getäuscht haben und noch woanders hin müssen?“

„Dann brauch‘ ich trotzdem erstmal Ruhe …“

Marlic gingen die Ideen aus. Egal, was er tat, Samira sprang nicht darauf an. Es half kein nettes Bitten, kein Drohen und auch kein Beleidigen. Die Erschöpfung war scheinbar stärker als ihr hitziges Gemüt, da sie sich besonders die letzten beiden Varianten für gewöhnlich nie hätte gefallen lassen. Sonst war er ein vollkommener Meister darin, die Menschen in seiner Umgebung zu seinen Gunsten zu manipulieren, doch hier schien er kläglich zu scheitern. Eine leise, zischende Stimme meldete sich in seinem Kopf.

Ich könnte ihr wehtun … Das könnte helfen, sie vom Land der Träume fern zu halten …

Damit du sie am Ende komplett erledigst? Du bist nicht gerade für dein Feingefühl bekannt, Des‘. Außerdem kann ein Blinder sehen, dass wahrscheinlich schon der kleinste Blutverlust für ihren Körper zu viel wäre. Die Kleine ist durch. Also halt‘ gefälligst die Klappe, wenn du nichts Sinnvolles beizutragen hast und lass das wen machen, der weiß, was er tut!

Tse … weil das bislang so wunderbar Früchte getragen hat …

Schnauze jetzt!

Marlics Denkvermögen arbeitete auf Hochtouren. Es musste einen Weg geben, sie zum Umdenken zu bewegen. Immer wieder wanderte sein Blick nervös zur Sonne hinauf. Wenn sie ihren Weg jetzt unterbrachen, dann würden sie frühestens morgen in der Lage sein, nach dem Relikt zu suchen – ein Umstand, den sie sich nicht leisten konnten. Erstens war noch nicht gesagt, dass sich das Artefakt wirklich dort befand, wo sie es vermuteten. Diese Gewissheit würden sie erst erlangen, wenn sie es mit eigenen Augen sahen. Zweitens wollte er dieses verdammte Teil jetzt haben, damit er sich dann guten Gewissens nochmal Entspannen konnte, ehe er in der entscheidenden Schlacht fit sein musste. Und das würde er nicht können, wenn er nicht sicher sein konnte, dieses blöde Ding aufgetrieben zu haben! Was, wenn der Pharao sie einholte, bevor sie einen Erfolg vorweisen konnten? Diese Schmach, nicht auszudenken!

Dann kam ihm schlagartig eine Idee und er schlug sich die Hand gegen die Stirn. Dass er da nicht schon früher drauf gekommen war!

„Hey, Weib! Huhu, hier drüben!“, versuchte er, die kümmerlichen Reste ihrer Aufmerksamkeit auf sich zu richten.

Ihre matten Augen wandten sich ihm zu. „Lass mich in Ruhe … wir landen bei Theben, wenn du dich beeilst, kannst du es vielleicht noch ins Tal schaffen … mit einem Pferd vielleicht …“

„Nichts da! Bei den Göttern, hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, was dein Clan von dir halten würde, würde er dich so sehen?“

„Die sind mir egal …“

Ein feixendes Grinsen schlich sich auf Marlics Züge. „Ist das so …? Risha etwa auch?“

In Samiras Augen blitzte es kurz auf, dann wandte sie sich ab. „Die ist nicht hier … kommt vielleicht nie wieder …“

„Gut möglich. Aber was, wenn doch? Was wenn sie zurückkommt und rausfindet, dass du versagt hast? Dass du deine Erholung über ein göttliches Relikt gestellt hast, hm? Meinst du, sie könnte es nachvollziehen? Oder würde sie vielmehr toben, weil du dich hast gehen lassen? Ich meine … glaubst du wirklich, sie würde so handeln wie du, wenn eure Rollen vertauscht wären?“

Es herrschte Stille. Drückende Stille. Marlic rang sich einen Moment Geduld ab. Wenn sie nicht gleich halbherzig zurückpampte, bedeutete das, dass sie sich seine Worte durch den Kopf gehen ließ. Diese Vermutung wurde nur kurz darauf bestätigt, als Kiarnas Stimme erklang.

„Sam? Was ist nun? Soll ich vor Theben landen?“

Die Kleine war sich in ihrer Entscheidung also tatsächlich nicht mehr sicher! Die Sekunden zogen dahin, fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Dann schüttelte Samira schwach den Kopf.

„Flieg zum Tal der Könige … aber beeile dich …“

Marlic grinste breit und verkniff sich ein Jubeln.
 

Samira rutschte matt von den Klauen ihrer Ka-Bestie, kaum da diese gelandet war. Das Monster verschwand nur einen Wimpernschlag später in ihrer Seele, um sie nicht noch weiter zu belasten. Marlic indessen wartete nicht, sondern sprintete sofort tiefer in das Tal der Könige hinein. Die Sonne würden jeden Moment ihren Zenit erreicht haben. Seine Augen wanderten unablässig über die gewaltigen Felshänge, die ihn zu beiden Seiten umgaben. Schließlich rief er seine Ka-Bestie herbei.

„Mach dich nützlich“, wies er sie an. „Acht Augen sehen bekanntlich mehr als zwei. Die Sonne wird nicht lange an ihrem höchsten Punkt stehen. Wir haben nur ein kurzes Zeitfenster, um dieses verdammte Relikt zu finden und das Tal ist riesig. Du schreist sofort, wenn du irgendetwas siehst.“

Marlic gab es nur ungern zu, aber er war angespannt. Die Möglichkeit, dass sie falsch lagen, bestand weiterhin. Vielleicht waren sie vergeblich hierher zurückgekehrt. Ebenso war denkbar, dass sie das Artefakt schlicht und ergreifend übersehen würden. Es gab in den Felshängen hunderte, vielleicht gar tausende Plätze, die sich eignen würden, um etwas so Wichtiges vor den Augen der Menschheit zu verbergen. Immer wieder wanderte sein Blick zum Firmament. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Er war so fixiert, dass er nicht hörte, wie sich ihm schlurfende Schritte näherten. Samira hatte mit letzter Willenskraft beschlossen, dass ihr Körper noch auf seinen wohlverdienten Schlaf würde warten müssen, bis sich all die Strapazen endlich auszahlten – wenn sie es denn tun würden. Ansonsten hatte sie nur noch einen Grund mehr, sich unter einer Decke zu verkriechen.

Dann war es so weit. Die Sonne erreichte ihren höchsten Punkt. Fast nirgendwo waren mehr Schatten zu sehen. Marlic drehte sich um sich selbst, blickte überall und nirgendwo hin. Sie durften nicht falsch liegen. Sie würden es niemals schaffen, das Relikt vor Caesians Eintreffen zu bergen, wenn sie sich geirrt hatten. Einmal, wenigstens einmal mussten ihm die Götter doch wohlgesonnen sein!

Doch egal, wohin er auch sah, da war nichts. Kein verräterisches Funkeln, kein verdächtiges Schimmern. Nichts, das auf etwas hinwies, das nicht aus Staub oder Stein bestand. Er ballte die Hände zu Fäusten. Das durfte nicht wahr sein! Was hatten sie diesmal übersehen? Was falsch interpretiert? Oder war ihnen vielleicht gar jemand zuvor gekommen? Er wusste es nicht. Er war mit seinen Einfällen am Ende. Ihm war nicht klar, wie es von hier aus weitergehen sollte. Wenn die Sonnenscheibe des Ra nicht hier war, wo sollte sie sonst verborgen sein? Sie würden ihr halbes Leben brauchen, um die anderen Nekropolen in Ägypten zu durchsuchen! Verflucht, war das Glück denn nie mit ihm? Wo waren diese scheiß Götter, wenn man einmal ihren Segen brauchte? Hatte denn noch nicht einmal Ra, dessen Bestie er einst kontrolliert hatte, Erbarmen mit ihm? Es schien nicht so.

Frustriert sank er in den Sand. Er wollte am liebsten etwas zerstören. Einen Felsen, dieses Tal, ach, dieses ganze beschissene Land! Seine Augen wanderten noch einmal zum Himmel. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht.

„Ich schwöre, sollte ich dich jemals in die Finger bekommen, du Drecksack, dann …“

Er brach ab, als er etwas im Augenwinkel wahrnahm. Sofort ruckte sein Kopf herum. Doch da war nichts. Scheinbar sah er jetzt schon Gespenster …

Und dann war es plötzlich wieder da! Ein schwaches Glimmen am oberen Rand eines Felshanges. Marlic erstarrte, doch entkam seiner Trance ebenso rasch wieder, wie sie ihn ereilt hatte. Nein, er täuschte sich nicht!

„Des‘! Da oben!“, rief er seiner Ka-Bestie zu, die ein Stück entfernt stand und deutete in die gemeinte Richtung. Das Biest folgte seinem Fingerzeig und erkannte sofort, was er entdeckt hatte. Es stürmte zu der steinigen Wand hinüber und sprang diese Stück für Stück mit Hilfe seiner kräftigen Beine empor. Um den Halt nicht verlieren, nutzte es seine rasiermesserscharfen Krallen. Schließlich erreichte es sein Ziel. Unter einem letzten Aufbieten seiner Kräfte, zog sich das Monster über den Rand der Klippe – und fand sich Auge in Auge mit der Sonnenscheibe des Ra wieder. Langsam schritt es auf das Artefakt zu und betrachtete es. Eine glatte, leicht gewölbte Platte aus Gold, die von zwei Schlangen eingerahmt war, deren Köpfe sich am oberen Ende kreuzten. Zwischen ihnen saß ein Skarabäus. In der Mitte des Relikts wiederum prangte die Darstellung eines Falken, umgeben von strahlenförmigen Mustern. Es bestand kein Zweifel. Sie hatten die Sonnenscheibe des Ra gefunden.

Des Gardius entriss das Relikt seinem Platz zwischen den Felsen, wandte sich zu seinem Träger am unteren Ende der Felswand um und hob es triumphierend in die Höhe. Marlic vermochte kaum in Worte zu fassen, was in diesem Moment in ihm vorging. Sie hatten es geschafft, sie hatten das Artefakt gefunden!

Neben ihm plumpste Samira erleichtert in den Sand.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Seelendieb
2016-01-22T06:12:37+00:00 22.01.2016 07:12
Wunderschönes KApitel!

Mir gefällt besonders das Gespräch zwischen BAkura und Atemu. Ich bin überrascht, was für ein Sinneswandel Atemu durchläuft, BAkura betreffend. Sehr schön!

Natürlich freue ich mich auch für Marlic, dass er es endlich geschafft hat, die Sonnenscheibe zu finden! ;)
Antwort von:  Sechmet
23.01.2016 21:48
Danke für das Kompliment! Freut mich, dass es Dir wieder gefallen hat!


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