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Intellexi

von

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Am nächsten Tag war Tammo sehr müde auf der Arbeit, denn er hatte unruhig geschlafen und wirr geträumt. Sobald er der Bibliothek morgens nahe gekommen war, wurde ihm sofort klar, dass das gestrige Erlebnis keine Wahnvorstellung gewesen war, er vernahm nämlich schon auf der Straße das Flüstern der Bücher aus dem dritten Stock. Es ließ ihn Schaudern und gleichzeitig beruhigte es ihn. Denn wie verrückt die ganze Situation auch war, so war sie doch auch wundervoll, fantastisch und einfach das Beste, das ihm passieren könnte. Er, Tammo, ein schüchterner Junge, der nie richtige Freunde aus Fleisch und Blut gehabt hatte, könnte nun seine Freunde aus Papier und Tinte kennenlernen und Abenteuer mit ihnen erleben! Er zitterte vor Aufregung und während seines gesamten Arbeitstages rief das Wispern der Seelenbücher aus dem dritten Stock ein Gefühl der Freude in ihm hervor.

Er würde Jittah und Rikigaku so gern wieder treffen. Und er wollte auch neue Charaktere kennenlernen. Er war so gespannt auf die fantastischen Welten und beim Gedanken an die vielen fabelhaften Bücher, die er schon gelesen hatte und die er besuchen könnte, hielt er es kaum noch aus, mit den ganz normalen Büchern zu arbeiten. Doch wie sollte er wieder in den dritten Stock gelangen? Tammo war sich sicher, dass es nur Zufall gewesen war, dass der Schlüssel im Schloss gesteckt hatte. Der dritte Stock war sicherlich immer gut verriegelt, was bei dem Schatz, der dort oben lagerte, kein Wunder war. Ob Herr Angbard, der Oberbibliothekar, auch mit den Büchern sprechen konnte? War er vielleicht sogar ein Buchritter? Tammo hätte gern mit ihm gesprochen, sicherlich könnte Herr Angbard ihm vieles erklären, doch noch immer hatte Tammo Angst vor seiner unbekannten Erscheinung. Er würde einfach heute Abend, kurz bevor die Bibliothek schloss und kaum noch Besucher hier waren, nach oben gehen und schauen, ob er hineinkam. Er musste Jittah und Rikigaku noch so vieles fragen, er wollte noch so viel wissen und sehen, bevor er sich entschloss, die Seelenbücher zu verteidigen. Doch Tammo hatte sich schon so gut wie entschieden. Er liebte Bücher mehr als alles andere. Sie waren sein gesamter Lebensinhalt und er konnte unter keinen Umständen zulassen, dass all die wundervollen Geschichten aus seinem Gedächtnis gelöscht wurden. Dennoch wurde er von einer Unruhe besetzt, wenn er an die grausigen Bücherwürmer dachte. Er war nie sportlich gewesen, hatte sich noch nie gegen Gefahren verteidigen müssen und seinen größten Adrenalinkick hatte er bei einer Achterbahnfahrt in einem Vergnügungspark erlebt. Er wusste gar nicht, was Todesangst überhaupt bedeutete und genau das machte ihm Angst und hemmte ihn, sich Hals über Kopf in ein Abenteuer zu stürzen. Andererseits… hatte er nicht immer klein beigegeben in seinem Leben? Immer vor den größeren und beliebteren Jungen auf seiner Schule gekuscht? Sich unterbuttern lassen? War es nicht langsam an der Zeit, aus sich herauszukommen? Was würde überhaupt mit ihm passieren, wenn er in der Bücherwelt starb? Würde er dann auch vergessen werden, so, wie die Geschichten vergessen wurden, wenn sie gefressen worden waren? Das alles wollte er in Erfahrung bringen, wollte alle Möglichkeiten abwägen, um die richtige Entscheidung zu treffen.

Mit diesem Gedanken schlich sich Tammo am Abend, als sich die Bücherei fast komplett geleert hatte, hoch in den dritten Stock. Tatsächlich steckte der Schlüssel noch genauso im Schloss, wie er ihn gestern überhastet stecken gelassen hatte. Es hatte also niemand bemerkt, dass er hier gewesen war, das war sehr gut. Denn wie fantastisch die Geschehnisse auch gewesen sein mochten, er brach immer noch die Regeln des Hauses, indem er hier oben war. Es klickte, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Er schlüpfte schnell in den definitiv zu großen Saal und schloss schnell die Türe hinter sich. Als er zur Arbeit gekommen war, hatte er sich das Dach von der Straße aus genau angesehen und der Saal, der sich hier vor seinen Augen erstreckte, war definitiv größer, als er physikalisch hätte sein dürfen. Doch was für eine Rolle spielten physikalische Gesetze schon, wenn auch so etwas wie Seelenbücher existierten? Tammo erinnerte sich nicht mehr an die genaue Position des Buches und musste ein wenig die Regalreihen absuchen, bevor er es fand. Dabei las er die Titel auf den Buchrücken, die ihn den Atem stocken ließen. Terry Cotter, Tuscheherz, Huckleapple Tim… Es reihten sich Klassiker an Klassiker und Tammo konnte es kaum erwarten, in sie alle einen Blick zu werfen und seine geliebten, papiernen Freunde kennenzulernen. Schließlich fand er das Buch, nach dem er suchte. Denn erst einmal wollte er die Charaktere näher kennenlernen, die er schon getroffen hatte. Begierig schlug er das Buch auf und begann zu lesen. Nach wenigen Zeilen begann der Raum um ihn herum sich zu verändern, so, wie er es schon vom gestrigen Abend kannte. Diesmal befand er sich nicht in einem Wald, doch es war ebenso dämmrig, wie bei seinem ersten Besuch in dieser Welt. Der Reisende befand sich in einem kleinen, zugestellten Raum. Die Wände waren unter einer Vielzahl von kleinen Gegenständen, die fein säuberlich an ihnen aufgehängt waren, nicht zu erkennen. In den Regalen türmte sich allerlei Werkzeug, Kisten mit Schrauben, Messingrohren, Zahnrädern, Nägeln, Schlauchklemmen, Rohrschellen, Unterlegscheiben in allen erdenklichen Größen. An der Decke waren an den zahlreichen Rohren, die dort verliefen und aus denen es teilweise tropfte und zischte, Körbe mit weiterem Kleinkram und Werkzeug aufgehängt. Und zwischen all den metallenen Gegenständen waren Zettel, Memos und abgerissene Fetzen Papier angebracht, die über und über mit Rechnungen, Notizen und Skizzen vollgekritzelt waren. Tammo wusste kaum, wo er hinschauen sollte. Die einzige Lichtquelle in diesem kleinen Raum war eine mickrige Ölfunzel, die einen mit Büchern überhäuften Schreibtisch beleuchtete. An diesem Tisch saß Rikigaku. Er betrachtete einen sehr kleinen metallenen Gegenstand mit einem Gestell aus verschiedenen Linsengläsern, die wie eine Lupe die Augen des Jungen unnatürlich groß erscheinen ließen. Mit Werkzeug, das so klein war, dass es eher für Ameisen als für Menschen gemacht zu sein schien, hantierte Rikigaku an dem seltsamen Gegenstand. Er schien sehr konzentriert zu sein und hatte Tammo im Halbdunkel seiner Werkstatt wohl noch nicht bemerkt. Leise räusperte Tammo sich. Rikigaku reagierte nicht. „Ääh… Hallo, Rikigaku.“

Rikigaku zuckte so stark zusammen, dass das Lupengestell vom Tisch fiel, ein Stapel Bücher verrutschte und den kleinen, filigranen Gegenstand unter sich begrub.

„Im Namen der Götter, die es nicht gibt, wie kannst du es wagen mich so zu erschrecken!“, kreischte Rikigaku hysterisch. „Mein schöner Mikro-Antimateriekondensor! Weißt du wie lange ich gebraucht habe, das Ding zusammenzubasteln?! Ich brauch‘ den so dringend als Energiebereitsteller für mein Extrasphären-Flugzeug! Allein schon die Bauteile in dieser Größe aufzutreiben hat mich ein Vermögen an Zeit, Geduld und Geld gekostet!“ Ihm kamen die Tränen.

Tammo erstarrte. Das hatte er unter keinen Umständen gewollt. Er hätte sich einfach nochmal räuspern sollen oder etwas in der Art. Jetzt hatte er eines von Rikigakus wertvollen Geräten zerstört.

„Ich… äh, das tut mir so leid!“, mehr brachte er nicht heraus.

Rikigakus Stimmung schwang sofort um. Er wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel, dann sagte er: „Nicht so schlimm. Ich hab nicht umsonst eine Partialzeitmaschine gebaut, mir geht ständig was kaputt. Das Ausrasten ist ‘ne alte Gewohnheit. Hahahahahah!“

„Hahaha…“, lachte Tammo etwas nervös mit. Er bemerkte die tiefen Schatten unter Rikigakus Augen. Er war wahrscheinlich schon seit vielen Stunden damit beschäftigt, kleine Schrauben und Zahnräder zusammen zu basteln, kein Wunder, dass er da etwas überreagierte.

„Was für ‘ne Tageszeit haben wir überhaupt?“, nuschelte der Mechaniker. Er ging zu einer freien Stelle an der Wand, die sich als Tür entpuppte und riss sie mit einem Ruck auf.

„Gaaaaahhhh!!!“ Rikigaku schlug die Tür so fest wieder zu, dass ein Paar Schraubendreher von der Wand purzelten und dabei eine Lawine aus herabfallendem Werkzeug auslöste. Von draußen war für einen kurzen Moment die heiße Mittagssonne herein gestrahlt, die in Rikigakus an die Dunkelheit gewohnten, müden Augen wie Säure gebrannt haben musste.

„Ich wollte dich und Jittah eigentlich noch einige Dinge fragen, aber du scheinst gerade nicht besonders wach zu sein, ich schätze, ich geh lieber…“, erklärte Tammo, doch Rikigaku winkte ab. „Ach was, nein, nein, mir geht’s gut und Jittah müsste unten und etwas wacher sein als ich. Keine Angst, wir befragen dir alle Antworten, die du hast! Ne, wart‘ ma‘. Das ging anders...“ Rikigaku nuschelte noch etwas unverständlich vor sich hin, dann öffnete er eine Luke im Boden neben seinem Tisch, nachdem er einen großen Stapel von mechanischen Zeichnungen beiseite gefegt hatte. „Da rein“, grummelte er und stieg die kleine Leiter hinab, deren Sprossen schon mehrmals geflickt worden waren. Tammo folgte ihm zögerlich.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, das heutige Kapitel hat euch gefallen! :) Ich muss gestehen, es ist eines meiner Lieblingskapitel :D Ich hatte auch unglaublich viel Spaß beim Schreiben :3

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