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Intellexi

von

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Das Erste, was Tammo auffiel, war, dass der Raum unter dem Dach viel größer erschien, als er hätte sein dürfen. Lange Regalreihen nahmen den Platz ein und verloren sich in einer meterhohen Decke, an der in einiger Höhe ein Kronleuchter hing und den Saal mit einem warmen, aber dämmrigen Licht erfüllte. Tammos Kopf war wie leer gefegt. Er war allein durch das Flüstern der Bücher gefüllt. Sie alle schienen ihn anzusehen und ihn dazu aufzufordern, sie aus ihren Regalen zu nehmen und aufzuschlagen. Langsam ging er die Regalreihen entlang und fuhr mit den Fingern über die Buchrücken. Bildete er sich das ein oder waren sie warm, wie die Haut eines Menschen? Ein wohliger Schauer überkam Tammo. Diese Bücher schienen alle so lebendig zu sein. Er griff instinktiv nach einem dicken Band und zog ihn aus dem Regal. Es war eine Ausgabe des Abenteuer-Romans, den er bis eben noch gespannt gelesen hatte. Nur schien dieser Band viel älter zu sein, als der, den er noch vor kurzem vor sich liegen hatte. Er strich über den Einband und spürte die Prägung des Titels unter seinen Fingerspitzen. Dann schlug er das Buch vorsichtig auf. Der Geruch des alten Papiers kam ihm entgegen und genüsslich sog Tammo den Duft ein. Mit einem leisen Knistern schlug er das Buch auf und las die ersten Worte, an die er sich noch gut erinnern konnte. Schließlich hatte er sie erst vor zwei Tagen gelesen. Auf dem vergilbten Papier kamen ihm die Buchstaben weicher vor. Sie zogen Tammo in ihren Bann und versetzten ihn in eine andere Welt. Die Umgebung um ihn herum begann zu verschwimmen und sich neu zu formen. Die zahlreichen Regale und Folianten aus Papier wichen einem nächtlichem Wald, der sich zu einer Lichtung hin öffnete. Der Geruch von feuchter Erde stieg Tammo in die Nase. Verwirrt blickte er sich um. Ja, Bücher hatten ihn schon in andere Welten getragen, ihm Neues gezeigt, doch nie hatte er ein Buch so hautnah erleben können. Er spürte, wie der weiche Waldboden unter seinen Füßen nachgab und die Dornen niedriger Büsche an dem Stoff seiner Hose zerrten, als er langsam auf die Lichtung zuging, auf der ein Lagerfeuer brannte. Zwei Gestalten saßen dort. Tammo konnte sie im Gegenlicht des Feuer nicht erkennen. Doch er hörte ihre Stimmen. Es waren Jungen. Etwa in seinem Alter, vielleicht ein wenig älter. Sie brieten anscheinend ein Tier über dem Feuer. Langsam kam Tammo näher. Er ahnte, wer die beiden Gestalten sein mussten, doch konnte er es nicht glauben. Die Verwirrung, über das, was um ihn herum geschah, machte ihn vorsichtig und misstrauisch. Tammo trat auf einen Ast. Alle Vorsicht konnte seine Sicht in der Dunkelheit nicht verbessern, so hatte er das Stück Holz nicht gesehen. Ein lautes Knacken hallte über die Lichtung. Sofort stellten die Gestalten am Feuer ihr Gespräch ein und nahmen eine Habachtstellung ein.

„Wer ist da?“, sagte der Kleinere von ihnen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie ein großer Inbusschlüssel. Tammo war sich sicher, dass es sehr weh tun würde, wenn sein Schädel mit dem harten Metall des Werkzeugs Bekanntschaft machen würde. Verängstigt blieb er stehen und hielt die Luft an. Er war nur ein schwächlicher kleiner Junge, gegen die Kerle auf der Lichtung, die um einiges muskulöser als er aussahen, hatte er nicht den Hauch einer Chance.

„Zeig dich!“

„Vielleicht ist es nur ein Tier gewesen, Rikigaku“, meldete der andere der beiden sich zu Wort. „Quatsch. Kein Tier ist so tollpatschig und tritt auf einen Ast.“ Tammo errötete. Doch nun hatte er Gewissheit. Rikigaku. Er konnte es kaum glauben. Rikigaku war der Name des Hauptcharakters aus dem Roman, den er eben noch in dem geheimnisvollen Raum aufgeschlagen hatte. Was ging hier nur vor sich? Aber wenn das hier Rikigaku war, brauchte er keine Angst zu haben. Er kannte Rikigaku, er war wie ein Freund. Jedenfalls hatte er seine Geschichte gelesen. Vorsichtig machte er einen weiteren Schritt und trat dann auf die Lichtung in den Schein des Feuers. Nun sah er die beiden Gestalten und hatte Gewissheit. Tatsächlich, das musste Rikigaku sein. Genauso hatte er ihn sich vorgestellt. Mit einer Fliegerbrille auf dem Kopf und abstehenden Haaren. Seine Augenbrauen erinnerten eher an ein Geweih als an richtige Augenbrauen. Tammo erkannte auch seinen Begleiter. Es war Jittah, ein Freund Rikigakus, mit langen, hellen rosa-schimmernden Haaren und einer wilden Musterung im Gesicht, die an Kriegsbemalung erinnerte. Die Haltung der beiden entspannte sich, als sie erkannten, was für ein kümmerlicher Junge vor ihnen stand.

„Ah,“, sagte Rikigaku „du bist vermutlich aus der anderen Welt? Sehr vielversprechend siehst du nicht aus. Kannst du denn wenigstens ein Schwert schwingen?“

„Ein… was? Andere Welt? Ich… äh...“, stammelte Tammo. Er war vollkommen perplex. Wovon redete er da?

„Der rafft doch mal gar nichts, Rikigaku, guck doch mal, mit was für verwirrten Hundeaugen der uns anglotzt!“ Er lachte derbe. Dann ging er auf Tammo zu und wuschelte durch seine eh schon zerzausten Haare. „Haha, ein süßer Welpe bist du!“

Das Zweiergespann kugelte sich vor Lachen. Tammo wollte vor Scham im Boden versinken. Er war verwirrt, er hatte Angst, er fragte sich, ob in der obersten Etage der Bibliothek vielleicht irgendein Gas versprüht wurde, dass die Bücher vor Zerfall schütze, bei Menschen aber wahnwitzige Halluzinationen hervorrief? Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. Oh nein, jetzt fang ich auch noch an zu heulen. Das macht‘s jetzt bestimmt besser. Ständig machten sich Gleichaltrige über ihn lustig.

„Aaaaah, jetzt sei doch nicht so gemein zu ihm, Jittah!“, Rikigaku wischte sich eine Lachträne aus dem Gesicht. Tammo sagte nichts. Er starrte zu Boden, um zu verhindern, dass sie seine mit Tränen gefüllten Augen sahen.

„Also komm, Kleiner,“ Rikigaku packte ihn an der Schulter und schob ihn mit sanfter Gewalt zu einem Baumstamm am Lagerfeuer, auf den er sich nun setzte. Schnell wischte Tammo sich unauffällig mit dem Ärmel seines Pullis über die Augen. Rikigaku setze sich neben ihn, während Jittah auf einem zweiten kurzen Baumstamm schräg neben ihnen Platz nahm.

Jittah nahm das Tier vom Feuer, es schien ein Kaninchen zu sein, und begann es mit einem Messer in Teile zu schneiden. Er gab Tammo ein Bein.

„Hier, iss, du musst ziemlich geschockt sein. Ein gutes Stück Fleisch hilft dir, dich zu sammeln. Ein gutes Stück Fleisch hilft gegen alles.“ Er reichte Rikigaku ebenfalls ein Stück, dann biss er selbst herzhaft in das Tier. Der Saft troff ihm vom Kinn. Tammo blickte auf sein Stück. Er hatte überhaupt keinen Appetit und der Umstand, dass er eben noch das ganze Tier über dem Feuer gesehen hatte, machte es nicht besser. Doch schließlich überwand er sich und nahm einen kleinen Bissen. Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Tammo schmeckte das Fleisch kaum. Alles war so überwältigend. Das Rauschen der Bäume im Wind, das Prasseln des Feuers, der warme Schein, der auf den Gesichtern der Jungen tanzte. Eben noch stand er verbotenerweise in der Sammlung der Bibliothek und nun war er hier, mitten in einem Wald, mit zwei Jugendlichen, die er aus einem Buch kannte. Was war hier los?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetzt geht's so richtig los mit der Story :D Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen! :) Komplett anzeigen

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