Zum Inhalt der Seite

the world outside

Magister Magicae 9
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Gegenfluch

„Hey, da ist das Tee-Haus. Da drin haben Safall und ich uns mit der alten, schrulligen Kuppelfrau getroffen. Wollen wir reingehen?“

„Du solltest nicht so abwertend über sie reden, Hedda. Kuppelfrauen sind hochangesehene Leute.“, gab Soleil besorgt zurück.

„In erster Linie sind sie geldgeile Wichtigtuer.“

„Hedda!“

„Ja-ja, schon gut. Lässt du dich nun von mir auf einen Tee einladen, oder nicht?“, lachte diese und spazierte fröhlich voraus. Sie waren schon fast drei Stunden lang kreuz und quer durch die ganze Innenstadt gerannt, um Safalls Wunschliste abzuarbeiten, und schleppten nicht wenige, schwere Tüten mit sich herum. Man glaubte gar nicht, wie schwer es heutzutage im Zeitalter des Kugelschreibers war, an ein Fässchen schwarze Tinte heranzukommen. Tintenpatronen für Füllfederhalter: kein Problem. Blaue Tinte in Fässchen: gerade noch so. Schwarze Tinte: niemals. Es war frustrierend. Hätte sie das eher gewusst, hätte sie Safall vorher gefragt, ob auch Tusche ginge. Die hätte sie zur Not noch in einem Künstlerbedarf auftreiben können. Hedda wollte sich jetzt endlich mal irgendwo hinsetzen.

Das Tee-Haus war angenehm leer, als sie eintraten. In einer Ecke saß ein einsamer Mann mittleren Alters mit schwarzen Wuschelhaaren und Lederjacke, der gedankenversunken aus dem Fenster schaute und dabei an einer Tasse Tee nippte. Ansonsten war absolut keiner hier. Obwohl er eindeutig nicht mehr in einem Alter war, um als Student durchzugehen, entdeckte Hedda an ihm den altbewährten Metallreif am Handgelenk, der ihr in letzter Zeit schon so oft untergekommen war. Unwillkürlich schaute sie, ob auch Soleil ihren heute trug. „Sag mal, was hat es damit auf sich?“

Soleil folgte dem Blick zu ihrem Armreif, während sie sich in einer Sitzecke niederließ und dabei ihre Tüten zu verstauen versuchte. „Oh, das ist ein Identifikationsmittel. Da ist eine Registriernummer drauf eingraviert, siehst du? Jeder Genius hat so ein Ding. Damit kann er eindeutig identifiziert werden. Wie bei einem Pass bei euch Menschen.“

Hedda grübelte einen Moment. „Sewill und Safall tragen sowas nicht.“

„Man ist ja auch nicht verpflichtet, das Ding 24 Stunden am Tag zu tragen. Aber wenn man mit Behörden zu tun hat, oder außer Landes will, muss man ihn vorzeigen können. Du trägst deinen Pass doch auch nicht ständig gut sichtbar um den Hals, oder?“

„Hallo. Was darf ich euch Mädchen denn bringen?“, unterbrach die Besitzerin des Tee-Hauses die beiden.

„Ich nehme einen japanischen Macha.“

„Ääääh ... das selbe.“, entschied Hedda auf die Schnelle ein wenig überfordert, da sie sich noch gar keine Gedanken über ihre Bestellung gemacht hatte. Als die Betreiberin sich wieder trollte, griff sie aber doch nochmal zur Karte. „Woar, der Macha ist ja schweineteuer!“

„Das ist der beste Tee der Welt.“, beharrte Soleil irritiert. Sie verstand nicht, wie man da keine entsprechende Summe dafür hinblättern wollte.

„Du bezahlst ihn ja auch nicht ... Ich hoffe, der ist sein Geld wert.“, murrte Hedda leise und beobachtete weiter den schwarzhaarigen Gesellen am Fenster. Was der wohl alleine in einem Tee-Haus wollte? Naja, wahrscheinlich nichts zwielichtiges. Bestimmt nur Zeit totschlagen oder auf jemanden warten.

Soleil begann sich mit dem Booklet einer CD zu beschäftigen, die sie sich gekauft hatte. Da Hedda ein reges Interesse an dem Genius gegenüber zu haben schien, wollte sie sie nicht bei ihren Beobachtungen stören. Ein paar Minuten später kamen ihre bestellten Tees und Soleil nahm einen tiefen Zug aus der Tasse. Sie konnte nicht anders, sie musste zufrieden durchatmen. „Ist der gut!“

Hedda pustete erst eine Weile in das kochend heiße Gebräu, bis sie es für abgekühlt genug hielt, und gönnte sich ebenfalls eine Kostprobe. Sie verzog das Gesicht und schluckte hart. „Woar, der ist ja furchtbar! Der schmeckt wie Heu!“

„Das ist grüner Tee. Was hast du erwartet, wie der schmeckt? Nach roten Früchten?“

„Wieso ist das Zeug so grieselig?“

„Weil er nicht gefiltert wird. Das Teepulver rührt man direkt ins Wasser.“

„Grässlich!“, urteilte Hedda nochmals und stellte ihre Tasse angewidert weg.

Weiter ausbauen konnten sie ihre Debatte nicht, denn in diesem Moment flog die Tür auf und zwei finster aussehende Herrschaften betraten mit suchendem Blick das Tee-Haus. Sie waren so haarig und verwildert, daß Hedda unwillkürlich an Werwölfe denken musste. Sogar ihre Zähne wirkten wie Fänge, als sie grinsten. Die zwei trampelten polternd auf den einzigen anderen Gast zu.

„Wo ist Victor?“, raunzte einer der beiden ohne Begrüßung.

Soleil sah sich hektisch nach der Besitzerin des Tee-Hauses um. Sie hatte den Eindruck, daß sie schnellsten bezahlen und verschwinden sollten. Das hier hatte alles, was man für einen handfesten Streit brauchte.

„Er ist nicht hier. Aber ich kann euch sicher auch weiterhelfen.“, gab der Gast mit der schwarzen Wuschelfrisur ruhig zurück und setzte die Teetasse auf dem Tisch ab.

Einer der beiden Schläger fegte den Tisch zur Seite, so daß das Porzellan klirrend auf dem Boden in Scherben ging.

Der Schwarzhaarige seufzte, blieb aber – auch ohne Tisch – gelassen sitzen.

Die Besitzerin des Tee-Hauses war spurlos verschwunden.

„Hol sofort Victor her!“, blaffte einer.

„Er ist nicht hier, das sagte ich doch. Ihr werdet mit mir Vorlieb nehmen müssen.“

Einer der Schläger zerrte die erschrocken quietschende Soleil von ihrem Stuhl hoch und hielt sie grob vor sich fest wie eine Geisel. „Hol ihn jetzt her, oder ich werde dieses Mädchen hier ...“

Soleil presste die Augen fest zu und ließ, halb Schock, halb Notwehr, die Jacke ihres Kidnappers in Flammen aufgehen. Der stieß sie von sich und begann sich schreiend um sich selbst zu drehen, warf sich dann auf den Boden und rollte sich brüllend herum, um das Feuer zu löschen. Sein Kollege schlug mit den bloßen Händen auf die Flammen ein. Ein Stuhlbein fing ebenfalls Feuer. Der bisher herumsitzende Schwarzhaarige sprang gleichfalls hoch und wuselte hektisch mit in dem Chaos herum. Das knochentrockene Holz der Bodendielen rauchte bereits bedrohlich. Keuchend packte Soleil Hedda am Ärmel und zerrte sie fluchtartig aus dem Tohuwabohu des engen Tee-Hauses hinaus auf die Straße. Nach Luft schnappend blieben sie dort draußen stehen und verfolgten das Gekrache und Gepolter aus sicherer Entfernung.

„Himmel, was war das?“, krächzte Hedda kurzatmig.

„Ich hab keine Ahnung.“

„Sollten wir dem Typen da drin nicht helfen?“

„Wie denn? Das einzige, was ich kann, ist, das Tee-Haus jetzt endgültig in Flammen aufgehen zu lassen.“, gab Soleil zurück.

Einen Augenblick später wehte eine Druckwelle sämtlichen Rauch explosionsartig aus der offenen Tür, den offenen Fenstern und jeder undichten Mauerritze. Da das Tee-Haus eine ziemliche Bretterbude war, gab es davon sichtlich einige. Die beiden Schläger stürzten Hals über Kopf aus dem Häuschen und rannten davon. Dann kehrte Stille ein. Hedda und Soleil standen noch eine Weile unschlüssig draußen herum, neben ein paar weiteren Schaulustigen. Bis Hedda entschlossen losstapfte und wieder hineinging.

Der Schwarzhaarige rückte drinnen in aller Seelenruhe die Tische und Stühle wieder an ihren Platz. „Ich entschuldige mich vielmals für das Spektakel.“, meinte er gerade.

Die alte Betreiberin kehrte unterdessen murrend Scherben hinter ihrem Tresen zusammen. Bei der Druckwelle war vieles zu Bruch gegangen. „Macht nichts. Macht nichts. Es hätte schlimmer kommen können. Die hätten mein Tee-Haus bis auf den letzten Dachziegel zerlegt, da bin ich mir sicher.“

Sowohl der Schwarzhaarige als auch die Betreiberin – schwer auf ihren Besen gestützt – schauten Hedda fragend an, als sie wieder herein kam. „Hey. Ist bei euch Mädchen alles okay? Entschuldigt das Theater.“, merkte sie an.

„Neutrale Zone.“, fügte der Kerl mit den schwarzen Wuschelhaaren und der Lederjacke nur schulterzuckend hinzu. Was er damit sagen wollte, war selbst ihr klar. In den neutralen Zonen waren Streitigkeiten unter rivalisierenden Parteien zwar offiziell untersagt ... aber eben nur offiziell. In der Tat waren sie regelrecht vorprogrammiert, gerade weil hier so viele rivalisierende Parteien aufeinander hockten. Erst jetzt bemerkte Hedda das viele Kajal in seinem Gesicht, das seine Augen raubkatzenhaft betonte. Noch ein Goth, dachte sie. Die schienen sich hier ja zu tummeln. „Eine tolle Fähigkeit, die deine Freundin da hat. Feuer aus dem Nichts zu erschaffen. Wirklich gut.“, lobte er.

„Sie, äh, sie ist nicht mein Genius Intimus.“

„Das weiß ich.“, meinte er irritiert. „Ich sagte ja auch nichts von Genius Intimus.“

„Oh.“ Hedda war ebenso irritiert wie er und musste verlegen weg sehen. Sie hielt seinem Blick nicht mehr stand. Offensichtlich konnte er sehen, ob ein Mensch und ein Genius zusammengehörten, oder nicht. Und sie selbst erkannte ohne den Armreif nichtmal, wer überhaupt ein Genius war.

Soleil traute sich ebenfalls endlich wieder herein. „He, alles gut hier drin?“

„Egal jetzt. Möchtet ihr einen neuen Tee?“, bot die Besitzerin des Tee-Hauses den beiden gastfreundlich an.

„Ja!“, jubelte Soleil.

„Nein!“, hielt Hedda bestimmend dagegen.

„Doch!“

„Nein!“

„Warum!?“

„Dieses Zeug nicht!“

„Na schön. Für dich einen Macha, für dich irgendwas anderes.“, entschied die Alte, erst an die eine, dann an die andere gerichtet, und ging ihren Besen wegbringen. Vom Boden mitten im Gastraum klaubte sie ein Amulett auf. Verwundert hielt sie es hoch. „Ist das deins, Urnue?“, wollte sie von dem Schwarzhaarigen wissen. Das erste Mal, daß ein Name fiel. Die Besitzerin des Tee-Hauses schien ihn zu kennen.

„Nein, solche Dinger hab ich nicht nötig.“

Sie betrachtete es wieder, dann hielt sie es Soleil hin. „Willst du es haben?“

Soleil winkte hektisch ab. „Kein Bedarf, danke. Wahrscheinlich gehört es einem dieser Schläger. Ich hab keine Lust, mir Ärger mit denen aufzuhalsen, weil die es wiederhaben wollen, oder so.“

„Was ist das denn?“, hakte sich Hedda mit ins Gespräch ein.

„Das Zeichen auf dem Anhänger wehrt wohl Flüche ab.“

„Oh, geben Sie her, ich nehm´s! Dafür hat Safall ganz sicher Verwendung!“

„Dann sag ihm aber, wo du´s her hast! Nicht, daß ihr Probleme bekommt.“, mahnte Soleil.
 

„Aber du hast doch in deiner Vision gesehen, was passiert ist.“, drängte Hedda. „Für mich klingt das eindeutig. Du solltest es melden. Das ist ein Verbrechen gewesen.“ Der Vorfall im Tee-Haus war jetzt drei Tage her und längst wieder vergessen. Sie hatte inzwischen wieder ihre üblichen Schikanen von Safall am Hals.

„Ich sag doch, ich bin mir nicht sicher, was ich gesehen habe.“, hielt Safall stoisch dagegen und blätterte sein Buch um. Sie saßen gerade zu dritt in der Bibliothek und recherchierten etwaigen Flüchen hinterher, die zu Sewills Verfassung passen könnten. Dummerweise gab es nicht gerade wenige Flüche.

„Wie kannst du da nicht sicher sein? Der Typ hat ein Haus angezündet!“

„Man muss mit der Interpretation solcher Visionen sehr vorsichtig sein. Weil man nie weiß, was man NICHT gesehen hat. Man schwebt immer in Gefahr, nur die halbe Wahrheit mitzubekommen.“

„Hast du schonmal eine Vision falsch gedeutet?“, hakte Salome von der anderen Seite nach und sah ebenfalls aus seinem Buch hoch.

„Oh ja, ich lag schon ganz furchtbar daneben. Ich habe mal einen Mann gesehen, der ein Neugeborenes des Nachts in einem See ertränkt hat. Ich habe ihn den Behörden als Mörder gemeldet und er wurde festgenommen. Später stellte sich heraus, daß er das Kind nur getauft hat. Das hat mir ziemlichen Ärger eingehandelt.“

„Getauft?“, gab Salome ungläubig zurück.

„Ja. Der gehörte offenbar irgendeinem Religionszweig an, wo es üblich ist, daß man bei der Taufe mit dem ganzen Körper komplett untergetaucht wird, so wie Johannes der Täufer es damals zu biblischen Zeiten noch gemacht hat. Keine Ahnung. Ich hab jedenfalls nur gesehen, wie dieser Mann das Kind unter Wasser gedrückt hat, aber nicht, daß er es auch wieder rausgezogen hätte. Das meine ich damit. Man muss vorsichtig sein, wenn man beurteilt, was man da sieht.“

Sowohl Hedda als auch Salome vertieften sich kopfschüttelnd wieder in ihre Bücher. In solchen Momenten wusste Salome wieder, warum er keine Wahrsagerei studierte. Viel zu schwammig und ungenau das alles, selbst wenn man ein angeborenes, magisches Talent dafür hatte. „Oh, na hör dir das hier mal an.“, bemerkte er beim Weiterlesen. „Der Jahrestausch-Fluch. Er ermöglicht dem Anwender, seine Lebenserwartung mit der einer anderen Person zu tauschen. Der Anwender erhält die Anzahl der Lebensjahre, die sein Tauschpartner noch gehabt hätte, und umgekehrt. Das hört sich sehr nach deiner Schwester an, findest du nicht?“

Safall rutschte mit einem Ruck heran und versuchte etwas zu erkennen. „Du meinst, da hat irgendein sterbenskranker Sack seine Krankheit auf Sewill übertragen und sie stirbt jetzt an seiner Stelle?“

„Sowas geht? Andere für dich sterben zu lassen, ist ja echt ein mieses Ding. Ist sowas nicht verboten?“, wollte Hedda wissen.

„Flüche sind immer verboten!“, schoss Safall zurück.

„Ah ja? Warum kann man sie dann studieren?“

Salome lachte. „Du würdest staunen, wieviele legale Flüche es gibt. Aber ihr habt Recht. Sowas hier wird wohl kaum erlaubt sein.“

Safall bemühte sich weiter, auf der Buchseite irgendwas lesen zu können. Es sah nicht nach einem gedruckten, sondern nach einem mit Tinte per Hand geschriebenen Werk aus und die zackige Handschrift war nicht gerade gut zu entziffern. Unten war irgendeine Skizze gekritzelt, die viel Enthusiasmus aber wenig zeichnerisches Talent bewies. Jedenfalls konnte Safall nicht enträtseln, worum es sich dabei handeln sollte. „Steht da auch, wie man den Fluch wieder lösen kann?“

„Jetzt mal langsam, Kollege. Erstmal müssen wir rauskriegen, ob wir es hier wirklich mit einem Jahrestausch-Fluch zu tun haben. Nur weil die äußeren Symptome dem Augenschein nach ähnlich sind, muss es kein Treffer ins Schwarze gewesen sein. Um die Aufhebung können wir uns später immer noch Gedanken machen. ... Und nein, hier steht nichts über die Aufhebung. Das hier ist bloß ein Nachschlagewerk, wo so viele Flüche wie möglich katalogisiert wurden. Ein Lexikon, wenn du so willst.“

Als Salome aufstand, um sich ein weiterführendes Buch zum Thema zu suchen, zog sich Safall den dicken Wälzer heran. Er konnte kein Wort lesen. Das war nicht einfach nur eine verkorkste Handschrift, wurde ihm klar. Das war gar keine lateinische Schrift! „Sag mal, ist das Altdeutsch? Oder, nein, wahrscheinlich Kyrillisch. Weil die Fluch-Experten doch alle Russen sind, hast du gesagt.“

„Das ist Glagolitisch.“, rief Salome hinter dem nächsten Regal. „Das ist quasi die Vorstufe von Kyrillisch. Das Kyrillische hat sich aus dem Glagolitischen entwickelt.“

„Alter, sowas kannst du lesen?“, entfuhr es Safall.

„Ist das erste, was man lernt, wenn man so eine Studienrichtung wie ich einschlägt. Wie du schon sagst: Die Fluch-Experten sind alles Russen. Daher ist ein Großteil der einschlägigen Fachliteratur russisch oder irgendwas älteres. Wusstet ihr übrigens, daß dieser Konstantin – später Kyrill von Saloniki genannt – nach dem diese Schrift benannt wurde, sie eigentlich gar nicht entwickelt hat? Kyrillisch, beziehungsweise Asbuka, ist ne Mischung aus griechischem Alphabet und ein paar glagolitischen Buchstaben, für die Laute, die im Griechischen nicht vorkamen. Wurde um das Jahr 900 herum von einem Bischof der damaligen bulgarischen Hauptstadt Preslaw verbreitet. Der Typ war nichtmal ein Schüler von Kyrill, geschweige denn Kyrill höchstselbst. Er war nur ein Schüler von Kyrills Bruder Method. Kyrill und Method haben auch fast ein Jahrhundert zu zeitig gelebt, um Urheber dieser Schrift sein zu können.“

„Salome, bitte ...“, unterbrach Safall ihn stöhnend. „Du hast im Studium offensichtlich gut aufgepasst und ich bewundere das, aber das hilft uns gerade nicht weiter. Wir sind auf der Suche nach Flüchen.“, meinte er. Er warf nochmal einen Blick auf das fremdsprachige, handgeschriebene Lexikon vor sich. Ihm wurde ein wenig bang. „Und ich schätze, ich brauche deine Hilfe noch viel nötiger, als befürchtet.“, fügte er leise an. Er hoffte, daß Salome gut genug im Übersetzen solcher Texte war, falls die Aufhebung des Fluchs auch in sowas hier verschlüsselt war.

„Mal davon abgesehen, ich kann dir zu jedem Fluch den passenden Gegenfluch basteln, wenn ich nur weiß, wie er aufgebaut ist.“, erzählte Salome weiter, klatschte seine drei neuen Bücher, die er sich geholt hatte, auf den Tisch, und setzte sich wieder. „Alle Arten von Flüchen lassen sich auf nicht mehr als drei oder vier Grundformen zurückführen. Hat man diese Grundform erkannt und durchschaut, ist es relativ leicht, sie unter Beachtung einiger Faktoren aufzuheben. Das ist quasi das kleine 1x1 der Fluchwissenschaften, das lernen wir in meinem Studiengang ziemlich früh. Aber das alles ist reines Glücksspiel, wenn wir nicht wissen, welche Vehemenzfaktoren der Fluch hatte.“

„Was ist denn ein Vehemenzfaktor?“, wollte Hedda ungebildet wissen, auch wenn der Name ihr schon fast eine Ahnung davon gab.

„Die Stärke des Fluchs, beziehungsweise seiner Bestandteile zueinander.“ Salome lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Lass es mich mal so ausdrücken: Ein und derselbe Zauber kann mächtiger oder schwächer sein. Nur weil du zu einem Fluch den passenden Gegenfluch beherrschst, muss es dir nicht automatisch zum Erfolg gereichen. Ist der Fluch stärker als dein Gegenfluch, kannst du abdanken. Deshalb sind Flüche ja so fies, weil für ihre Aufhebung der Vehemenzfaktor entscheidender ist als bei jeder anderen Art von Magie. Man kann einen Fluch nicht bloß ein bisschen abschwächen. Beim Brechen eines Fluches gibt es nur ganz oder gar nicht. Wenn dein Gegner sehr mächtig ist, und dem Fluch viel Kraft verliehen hat, und du ihm nicht ebenbürtig bist, nützt dir alles Wissen und Können nichts mehr. Das ist dann, als ob du mit einem Glas Wasser einen ganzen Waldbrand löschen willst. Ja, Wasser löscht Feuer, das ist ne Tatsache. Aber du brauchst auch genug davon.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du kannst es dir so vorstellen wie Armdrücken. Der Stärkere gewinnt.“

Safall sah ihn mit eingeschlafenem Gesicht an und ließ das erstmal kurz setzen. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

„Es gibt Möglichkeiten, festzustellen, wie mächtig ein Zauber ist. Es gibt verschiedene Zahlenwerte und Skalensysteme dafür.“

„Wonach richtet sich die Stärke eines Zaubers denn?“, wollte Safall wissen.

Salome zuckte wieder mit den Schultern, als könne er das nicht so genau sagen. „Hängt von verschiedenen Faktoren ab. Training, angeborenes Talent, Qualität der verwendeten Materialien, falls du welche hast, je nach Zauber auch die Tages- oder Jahreszeit oder die Mondphase, magische Hilfe von außen ... Wenn ein Getreuer dich bei deinem Zauber unterstützt, gewinnt deine Magie schon den einen oder anderen Punkt. Es summiert sich aber nicht bis ins Unendliche auf, die Macht eines Zaubers steigt nicht linear mit der Anzahl der beteiligten Leute.“
 

„Und du bist dir sicher, daß es ein Jahrestausch-Fluch ist?“, hakte Sewill skeptisch nach, als ihr Bruder ihr davon erzählte. Zu Recht. Sie war immerhin die, die etwaige Misserfolge am deutlichsten zu spüren bekam.

„Salome und ich haben tagelang alles durchgesucht, was uns irgendwie möglich war. Es gibt keine anderen Flüche, die auch nur ansatzweise ins Schema passen.“, erklärte er ihr in beruhigender Stimmlage.

„Safall, ich halte das für keine gute Idee.“

„Hast du Bedenken?“

Sewill wandte fröstelnd den Blick ab. „Irgendwie schon, ja. Ich kann dir nur nicht sagen, woher ich die nehme.“

„Hattest du eine Vision, daß es schiefgehen wird?“, wollte er sanft wissen und strich ihr eine Haarsträhne glatt.

„Nein.“

„Ich auch nicht. Also lass es uns versuchen.“

„Ich hatte aber auch keine Vision, daß es gelingen wird.“, hielt Sewill dagegen. Obwohl sie schwach und leise klang, hatte sie einen Tonfall, dem man unter jeden Umständen Gehör schenkte.

„Ach, Schwesterchen. Wenn wir für jedes Vorhaben erst auf Zukunftsvisionen warten würden, würden wir nie irgendwas zuwege bringen.“

„Ich habe es versucht, Safall! Ich habe es wirklich versucht! Der Blick auf die Auswirkungen eures Gegenfluches bleibt mir komplett verborgen. Die Zukunft ist ungewiss. Bitte überdenke es nochmal.“

„Wenn ich es noch recht lange überdenke, stirbst du mir inzwischen weg. Was haben wir zu verlieren, Sewill? Sehr viel schlechter kann es dir kaum mehr gehen. Selbst Vater ist dafür. Ich soll es versuchen.“

„Hast du mit ihm gesprochen?“, wollte das schneeweiße Mädchen überrascht wissen.

„Ich habe schon mit ihm telefoniert, ja.“

„Hast du ihm auch von Hedda erzählt?“

„Nein, das noch nicht ...“, gestand er kleinlaut. Da hatte er strategisch gedacht. Wenn Sewills Rettung gelang, würde diese blöde Sache mit seiner neuen Nebengetreuen zur unwichtigen Nebensächlichkeit verblassen, über die sein Vater nicht mehr sonderlich erbost sein würde.

„Kann ich euch helfen?“, wollte Hedda von der Seite wissen. Sie saß auf dem einzigen Stuhl im Zimmer und fühlte sich irgendwie abgeschoben. Safall drüben auf der Bettkante bei seiner Schwester würdigte sie keines Blickes mehr. Er hatte nicht mal mehr gewürdigt, daß auch sie tagelang mit in der Bibliothek gesessen und Bücher gewälzt hatte.

Safall schaute sie ratlos an. „Wie willst du uns bitte helfen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht kann ich deinem Gegenfluch ja etwas mehr Kraft verleihen. Kannst du nicht irgendwie auf meine Energie zugreifen, ohne daß ich selber Magie dafür einsetzen muss? Komm schon, ich will helfen! Lass mich helfen!“

Der Goth mit den langen schwarzen Haaren und den schwarzen Lippen überlegte eine Weile hin und her. „Mit einem Nüff könnte es gehen. Wenn du deine Katze herholst, kann sie eine Brücke zwischen uns schlagen.“

„Du meinst, mein Kater-Schatz wird dann sowas wie ein Stromleiter?“

„Ihm passiert dabei nichts, keine Sorge. Er wird es gar nicht merken. Du musst nur aufpassen, daß er sitzen bleibt und nicht abhaut. Geh ihn holen!“, verlangte Safall mit einer auffordernden Handbewegung.

„Jetzt gleich? Sollte Salome nicht dabei sein, wenn du hier rumfluchst?“

„Ja, Salome kommt auch gleich. Er ist ja der einzige, der ein angeborenes Talent für Flüche hat. Ich kann das nicht, mir fehlt die magische Begabung dafür. Das Talent unseres Klans liegt in der Wahrsagerei.“
 

Sie bildeten förmlich eine Kette von Kreaturen, als Salome seine Vorbereitungen getroffen hatte und loslegen wollte. An der einen Hand hielt er Safalls Erste, seine andere Hand hatte er im Genick von Heddas Katze. An Heddas Katze wiederrum hingen Hedda selbst, die das genervte Tierchen an Ort und Stelle zu halten versuchte und besänftigend kraulte, und Safall. Salome hatte Hedda gebeten, um Himmels Willen nicht loszulassen, auch wenn sie sich komisch, schwindelig oder gar schwach fühlen sollte. Das seien normale Nebenwirkungen, wenn sich jemand anderes an ihrer Energie bediente. Nach allem, was er wusste, sollte sich der Energiefluss von selber so regulieren, daß es Hedda nicht umbrachte. Es bestünde wohl keine Gefahr, daß er ihr versehentlich zuviel Kraft nahm und ihr damit Schaden zufügte. Sie hoffte einfach mal, daß das stimmte. So wie sie bei vielen Faktoren einfach mal hoffte, daß sich alles von selbst zum Besten fügte. Sie war zugegeben nervös. Aber Salome hatte ihnen allen gut zugeredet, daß alles klappen würde. Das sei ein ziemlich gemeiner, aber im Grunde sehr simpler Fluch. Und Flüche seien außerdem wider die Natur, schon deshalb würde die Natur ganz von alleine dafür sorgen, daß sich möglichst alles von selber wieder ins Lot brachte.

Salome atmete nochmal durch, drückte ermutigend Sewills Hand und beobachtete das qualmende Räucherstäbchen neben dem Bett. Ein bisschen Asche rieselte davon herunter und fiel in die Auffangschale. Es war bis zu der Stelle heruntergebrannt, die er markiert hatte. Also begann er von seinem Spickzettel den Fluch vorzulesen. Das war Wortmagie. Leider war es kein Russisch, denn das hätte er gerade noch hinbekommen. Aber da Sewills rapide gesundheitliche Verschlechterung schon zu Hause in Schottland begonnen hatte, musste Salome annehmen, daß der Fluch auf Schottisch ausgesprochen worden war. Daher hatte er Safall gebeten, den Fluch in seine Muttersprache zu übersetzen. An sich war es völlig egal in welcher Sprache man einen Fluch aussprach. Aber wenn der Gegenfluch in der gleichen Sprache verfasst wurde wie der Fluch, gegen den er gerichtet war, trug das schon ein wenig zum Erfolg bei. Über die Stärke eines Fluches, die es zu überbieten galt, und die Vehemenzfaktoren hatte Salome sie ja bereits ausreichend aufgeklärt.

Zwischen zwei Zeilen schielte er wieder kurz zum Räucherstäbchen. Die Glut hatte sich in ein giftgrünes Glimmen verwandelt, also wirkte der Fluch. Bisher lief alles so, wie Salome es sich gedacht hatte. Langsam machte sich in seinem Kopf auch das vorhergesehene Dröhnen breit, von dem er den anderen gesagt hatte, man solle sich davon einfach nicht irritieren lassen. Konzentriert und in gewisser Weise beruhigt las er also weiter. Sehr lang war der Fluch nicht. Nur ein paar Zeilen, deren Inhalt sich keinem außer ihm erschloss. Der Fluch war wie in Rätseln geschrieben, die keinen Sinn ergaben. Es hatte ihn einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, Safall zum Übersetzen dieser wirren, kryptischen Texte zu bewegen. Nun, Salome störte das nicht, solange es nur das bewirkte, was es sollte. Der Katze unter seiner linken Hand sträubte sich spürbar das Fell und sie gab ein drohendes Jaulen von sich. Sicher würde sie nicht mehr sehr lange freiwillig da sitzen bleiben. Sie spürte, daß hier ungesunde Mächte am Werk waren. Hedda bemühte sich, das Tierchen mit einer Hand festzuhalten, während sie sich mit der anderen den Griffel des Gongs angelte. Wenn Salome fertig gelesen hatte, musste sie den Gong schlagen, da sie als einzige noch eine Hand frei hatte. Sewill als die, die verflucht werden sollte, durfte sich am Ritual in keinster Weise beteiligen. Zum Schlagen des Gongs kam Hedda allerdings nicht mehr. So wie Salome das letzte Wort gesprochen hatte, fuhr ein scharfer Blitz vom Räucherstäbchen Richtung Decke und riss Hedda, Safall und Salome gleich einer Explosion zu Boden. Salome ließ vor Schreck sowohl Safalls Schwester als auch die Katze los, welche sich kreischend davon machte und damit auch die Verbindung zu Hedda unterbrach. Der Blitz schoss noch einige Male kreuz und quer durch das Zimmer, von einer Wand zur anderen wie ein PingPong-Ball, so daß sich alle Anwesenden panisch schutzsuchend die Arme um die Köpfe schlangen, und krachte schließlich mit einer lauten Entladung ins Sewills Dekolleté. Dann war alles still.

„Au-au-au! Heiß! Heiß!“, hisste das weißhaarige Mädchen auf und fischte hektisch ihre Kette aus dem Ausschnitt ihres Kleides, um das glühend heiße Metall von ihrer Haut zu bekommen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück