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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Ablenkung

Carinas Blick wirkte leer, als sie an die Zimmerdecke ihrer kleinen Wohnung starrte. Die letzten beiden Wochen waren hart gewesen, beinahe unerträglich. Nachts hatte sie wirre Träume, die sie nie lange schlafen ließen. Die Palette war hier relativ breit gefächert. Teilweise waren es Träume von Cedric, von seiner Nähe und seinen Berührungen und dann gab es wiederum Nächte, wo sie wieder von ihrem unbekannten Angreifer attackiert und gedemütigt wurde. Die Träume waren so realistisch, dass sie entweder schweißgebadet aufwachte oder verwirrt, weil Cedric doch nicht bei ihr war. Meistens führten jedoch beide Szenarien dazu, dass sie in Tränen ausbrach und die ganze restliche Nacht kein Auge mehr zu bekam. Was dann natürlich unweigerlich zur Folge hatte, dass sie diesen Schlaf tagsüber nachholte. Und wenn sie nicht gerade schlief oder sich die Augen ausheulte, dann starrte sie an die Zimmerdecke oder die Zimmerwand und dachte darüber nach, wie beschissen ihr Leben zurzeit war. Sie war schon immer der Typ Frau gewesen, der gut in Selbstmitleid versinken konnte und genau das konnte sie jetzt richtig ausleben. Es war einfach alles schief gelaufen, was nur schief laufen konnte. Und jetzt konnte sie sich nicht mal schnulzige Liebessongs aus dem 21. Jahrhundert anhören, um den Schmerz herauszusingen oder herauszuschreien.
 

Die Schnitterin wusste, dass sie Alice und Grell mit ihrem Verhalten in den Wahnsinn trieb, aber sie konnte sich noch nicht dazu aufraffen wieder so weiterzumachen wie bisher. Schon mehrere Male waren die Beiden hier aufgetaucht und hatten versucht sie zu einem Spaziergang oder einem Shoppingtrip zu überreden. Grell hatte sogar mit einem Würgen vorgeschlagen, dass sie ja zu dritt gehen könnten und obwohl Carina wusste, was ihn das für eine Überwindung gekostet haben musste, hatte sie alle Angebote ihrer Freunde abgelehnt. Auch Ronald, der mit einem – für ihn – untypisch ernsten Gesichtsausdruck vor ihrer Tür gestanden und ihr ein paar Blumen in die Hand gedrückt hatte, hatte sie mit einer kurzen Entschuldigung abgewimmelt. Sie hatte einfach auf nichts und niemanden Lust und das ging jetzt schon ganze 16 Tage so. Dabei war die Suche nach ihrer Death Scythe ebenfalls nicht allzu spannend gewesen. Ach, was redete sie denn da? Es war stinkend langweilig gewesen, sonst nichts. „Aber irgendwie war das egal. Weil…weil er da war.“ Erneut stiegen ihr ungewollt die Tränen in die Augen. Sie hatte wirklich geglaubt, dass sie ihn vergessen konnte. Dass sie über ihn hinwegkommen konnte. Was für ein riesengroßer Irrtum…
 

Gleichzeitig mit der Trauer machte sich Wut in ihrem Inneren breit. Wut auf sich selbst, weil sie sich in die falsche Person verliebt hatte. Wut auf Cedric, weil er überhaupt so verdammt liebenswert war. Und Wut auf die ganze Welt, weil sie aus irgendeinem Grund in dieser Zeit gelandet war und jetzt mit den Folgen klar kommen musste. Womit hatte sie eine solche Ungerechtigkeit nur verdient? Eine plötzliche Idee ploppte in ihrem Kopf auf. In ihrer Ausbildung war sie oft deprimiert und wütend gewesen. Meistens jedoch hatte ihr ein ausgiebiges Training dabei geholfen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen und ein wenig Dampf abzulassen. Vielleicht könnte es das ja wieder?
 

Träge erhob sie sich aus dem weichen Bett und stöhnte. Ihr Kreislauf war wie es schien vollkommen im Keller von der ganzen Liegerei. Vorsichtig ging die Seelensammlerin zum Kühlschrank, der dank ihres Mentors bis oben hin mit Essen und Getränken gefüllt war. Nach einem kurzen Blick nahm sich Carina einen Salat und Wasser heraus. Immerhin war das seit gestern das Erste, was sie zu sich nahm, da wollte sie ihren Magen nicht direkt schon überstrapazieren. Darauf bedacht langsam zu essen piekste sie mehrere Salatblätter einzeln auf die Gabel und ließ die kleinen, saftigen Tomaten auf dem Teller herumrollen. Das kühle Wasser tat ihrem trockenen Hals gut und nachdem sie einigermaßen gesättigt war, zog sie sich eine frische Hose samt kurzer Bluse an, um anschließend ihre Wohnung zu verlassen. In ihrem Wohngebiet gab es mehrere Räume, die für das persönliche Training genutzt werden konnten und wie es der Zufall nun einmal so wollte, befand sich direkt einen Block von ihr entfernt ein kleines Gebäude mit eben diesen Räumlichkeiten. Zu ihrem Glück fand sie sogar relativ schnell einen Abschnitt, wo sich momentan niemand aufhielt. Ein paar Mal hatte sie in der Vergangenheit ausprobiert sich mit anderen einen Trainingsraum zu teilen, aber das war jedes Mal in einer Katastrophe geendet. Entweder, weil sich die Männer über ihre Anwesenheit lustig gemacht hatten oder weil sie ihnen daraufhin eine reingehauen hatte. Denn wenn sie eines von Grell gelernt hatte, dann sich nichts von anderen gefallen zu lassen.
 

Relativ schnell fand sie eine Beschäftigung, die ihr mehr als alles andere dabei half sich auszutoben. Der Sandsack flog nach vorne und wieder zurück, als sie mit bandagierten Händen begann darauf einzuschlagen. Jeder Schlag, jeder Tritt ließ ein wenig der angestauten Aggressionen verpuffen. Schnell begannen ihre Muskeln vor Anstrengung zu schreien und ihr Körper schwitzte, doch es fühlte sich gut an. So gut wie schon lange nicht mehr. „Abgesehen davon muss ich stärker werden. Damit so eine Sache wie neulich nicht noch einmal passiert.“ Vorerst schien sie hier zwar sicher vor ihrem unbekannten Angreifer zu sein, aber er würde sicherlich nicht so einfach aufgeben. Immerhin würde es genug Momente geben, wo sie alleine war. Sei es in ihrer Wohnung oder wenn sie einen Auftrag in London erledigte. Auch wenn sie nicht wirklich glaubte, dass jemand so dreist war und sie hier in der Shinigamiwelt überfiel, bereitete ihr allein schon der Gedanke ein gewisses Unbehagen.
 

„Nein, ich muss mich zusammenreißen. Ich will mich nie wieder so demütigen lassen.“ Unwillkürlich wurden ihre Faustschläge fester und als sie das nächste Mal mit voller Kraft zuschlug, riss das Seil, das den Sandsack mit der Decke verband. Der Behälter fiel und klatschte schwer auf dem Boden auf. Carinas Atem ging nun wesentlich schneller, erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, der bereits in ihre Augen tropfte und dort unangenehm brannte. „Na, da hat aber jemand dringend etwas Ablenkung gebraucht“, ertönte es hinter ihr, woraufhin die Blondine ihren Kopf umwandte. Grell lehnte grinsend neben der Tür und hatte seine Arme verspielt in die Hüften gestemmt. „Ich musste einfach mal raus“, keuchte sie als Antwort und machte sich gleichzeitig daran den Sandsack wieder in seine ursprüngliche Position zu bringen. „Das sag ich dir schon seit zwei Wochen, aber auf mich hört ja keiner“, seufzte er, zuckte einmal mit den Schultern und zog sich dann den roten Mantel aus, um ihn an einen der Haken neben der Tür zu hängen. Carina hob eine Augenbraue. „Was wird das, wenn es fertig ist?“ „Na, ich werde mit dir trainieren. Ganz wie in alten Zeiten.“ Sie lachte. „Ganz wie in alten Zeiten? Diese alten Zeiten, Grell, sind noch kein Jahr her. Das Ende meiner Ausbildung war vor 8 Monaten.“ Der Schnitter schnaubte und fuhr sich mit seinen Fingern einmal durch die lange, rote Mähne. „Das weiß ich doch. Aber bedenke mal, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Mein Disziplinarverfahren. Die Sache mit der Campania. Deine Entführung. Ich schätze mir kommt das einfach wie eine halbe Ewigkeit vor.“ „Frag mich mal“, murmelte sie, zuckte jedoch dann grinsend mit den Schultern. „Na, dann lass uns mal anfangen.“ Grell grinste. „Liebend gern.“
 

Das Training tat ihr richtig gut. Die nächsten Tage verbrachte sie jede Menge Zeit in dem kleinen Raum und Grell leistete ihr Gesellschaft, sobald er mit seiner Schicht fertig war. Auch Alice schaute einige Male vorbei, beteiligte sich allerdings nicht. „So eine schweißtreibende Sache ist nichts für eine Lady wie mich“, sagte sie und warf Grell dabei einen höhnischen Blick zu, den dieser auch sofort registrierte. „Was soll das denn bitte heißen?“, zeterte er sogleich los, was Carina zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr so richtig zum Lachen brachte. Alice grinste und Grell verschränkte beleidigt die Arme, freute sich aber, dass es mit seinem Schützling bergauf ging. Dennoch sah er auf einmal recht angespannt aus. „Ich wollte dich auch noch etwas fragen“, sagte er an Carina gewandt, woraufhin diese ihn verwundert musterte. Sein Ton indizierte bereits, dass ihm die ganze Angelegenheit mehr als nur unangenehm war. „Will fragte mich, wann er wieder mit der rechnen kann. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich frage, aber wenn du jetzt sagst, dass du noch nicht wieder arbeiten kannst, dann renne ich sofort zu ihm rüber und-“ „Ich werde morgen wieder zum Dienst antreten. Das kannst du William gerne mitteilen“, unterbrach Carina ihren Mentor, bevor der sich noch um Kopf und Kragen redete. Alice und Grell hatten mit einem Mal denselben dümmlichen Gesichtsausdruck. „Aber Carina, bist du dir da ganz sicher?“, fragte die Schwarzhaarige und wirkte nicht so ganz überzeugt von der Entscheidung. „Ja, wieso denn nicht? Alle Blutergüsse und Schrammen sind verheilt, mir geht es super.“ „Ja, körperlich“, warf Grell ein, während er sie missmutig anschaute. „Jeder Shinigami weiß, dass es auch Wunden gibt, die man nicht sehen kann.“ Außerdem hatte er immer noch das dumme Gefühl, dass seine Schülerin William und ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, aber diesen Gedanken behielt er vorerst noch für sich. Alice nickte. „Ich kann kaum fassen, dass diese Worte aus meinem Mund kommen, aber Grell hat Recht, Carina. Vielleicht solltest du dir doch noch etwas mehr Zeit nehmen, um das alles richtig zu verdauen.“ Carina seufzte und wandte sich an den Rothaarigen. „Das ist mir bewusst, Grell. Und ja, mir geht es immer noch nicht sonderlich gut.“ „Und das wird sich in Bezug auf dieses Thema auch niemals ändern“, fügte sie gedanklich hinzu. „Aber ich kann mich nicht ewig in meiner Wohnung und in diesem Trainingsraum verstecken. Wir haben jetzt immerhin schon Juni. Möglicherweise hilft mir die Arbeit ja, mich ein wenig abzulenken und wieder in den Alltag reinzukommen. Es wird schon gut gehen. Und wenn nicht, dann melde ich mich sofort krank, in Ordnung?“
 

Immer noch sahen die beiden Shinigami nicht sonderlich überzeugt aus, stimmten Carina aber schließlich zu. Schlussendlich war es immerhin ihre Entscheidung und wenn sie sich dazu bereit fühlte, dann war das ja auch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Die Blondine lächelte ein wenig gezwungen, sie selbst setzte ebenfalls all ihre Hoffnung darauf, dass es ihr durch die Ablenkung wieder besser gehen würde. Diese Leere in ihrem Inneren musste endlich aufhören, sonst würde sie noch den Verstand verlieren.
 

Am nächsten Morgen klopfte sie auf die Minute genau an Williams Bürotür. Beinahe die ganze Nacht hatte sie über ihre Entscheidung nachgedacht. Schlussendlich war sie dabei geblieben. Es musste doch weiter gehen, oder? Sie war ein Shinigami. Sie war dazu verdammt die Seelen der Verstorbenen einzusammeln als Strafe dafür, dass sie Selbstmord begangen hatte. Dazu gehörten auch alle anderen seelischen Qualen. Die Qualen unmittelbar nach ihrem Selbstmord. Und jetzt die Qualen, die sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Das alles war eine einzige große Strafe. Am Anfang hatte sie nicht verstehen können, warum der silberhaarige Bestatter den Dispatch verlassen hatte, doch mittlerweile bekam sie eine genauere Vorstellung davon. Der Gedanke, bis in alle Ewigkeit diesem Beruf nachzugehen, tagtäglich dieselben Prozeduren zu durchlaufen…Dieser Gedanke war schrecklich. Jedes Mal, wenn sie an die Zukunft dachte, legte sich eine eisig kalte Hand um ihr Herz und drückte erbarmungslos alle Luft aus ihren Lungen. Kein Wunder, dass der Undertaker irgendwann genug gehabt hatte. Würde sie das wirklich durchstehen können? Seufzend war sie vor ihren Spiegel getreten und hatte sich intensiv darin betrachtet. Irgendetwas war anders als vorher, obwohl Carina einige Zeit lang brauchte, um sich dessen Gewahr zu werden. Ihre Augen. Selbst, als ihr all diese schrecklichen Dinge in den letzten Jahren widerfahren waren, war da in ihren Augen – egal, ob blau oder gelbgrün – immer ein Funken gewesen. Ein Stück ihrer Unschuld, ihrer Kindheit, ihrer Menschlichkeit. Jetzt schien es, aber wäre der Rest dieses kläglichen Funkens vollständig verschwunden. Als wäre sie langsam zu einer vollkommen anderen Person geworden, ohne es überhaupt selber zu bemerken. „Das ist jetzt mein Leben. Ich sollte mir keine Gedanken über etwas machen, was ich momentan ohnehin nicht ändern kann“, hatte sie gedacht und sich von ihrem traurigen Spiegelbild abgewandt. „Außerdem…wenn es mir wenigstens vorerst, und sei es auch nur für einen kleinen Moment, dabei hilft ihn aus meinem Kopf zu bekommen, dann mache ich es ohne wenn und aber.“
 

Im Gegensatz zu Grell wartete sie das „Herein“ ab und öffnete erst dann die Tür. „Ich melde mich zurück zum Dienst, Mr. Spears.“ William sah tatsächlich überrascht aus. „Sutcliff sagte mir zwar, dass Sie zurückkommen wollten, aber ich war dennoch skeptisch.“ „Was soll ich noch in meiner Wohnung rumsitzen, das ändert eh nichts“, antwortete Carina und zuckte kurz mit den Schultern. „Eine sehr zufriedenstellende Einstellung“, bemerkte der Aufsichtsbeamte und rückte sich die Brille zurecht. „Und wieder einmal kann ich es kaum fassen, dass Sie seine Schülerin waren.“ Er zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und hielt ihr im nächsten Moment bereits ein kleines Buch entgegen. „Ihre Todesliste. Brandneu und aktualisiert.“ „Vielen Dank, Sir“, erwiderte die 18-Jährige und nahm das Utensil entgegen. Es überraschte sie nicht sonderlich, dass sie eine neue Liste bekam. Ihre Alte lag immerhin am Grund des Nordatlantiks. „Ich erwarte Ihren Bericht heute Abend“, sagte William, steif wie eh und je und Carina nickte. Mit durchgedrückten Schultern und schnellen Schritten verließ sie das Büro und machte sich auf den Weg, um ihre erste Seele einzusammeln.
 

Ein Stockwerk tiefer kam ihr jedoch Ronald entgegen. Er grinste und nickte ihr munter zu. „Hey, ich hab gehört, du fängst wieder mit dem aktiven Dienst an.“ „Ja, ich hab gerade meine Liste bei William geholt“, entgegnete Carina und blieb stehen. „Hör mal, Ronald“, begann sie zögerlich und nach kurzem Hadern. „Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ich dich neulich so schnell abgewiesen habe. Mir ging es da wirklich nicht sonderlich gut. Ach und die Blumen waren sehr schön. Danke dafür.“ Der junge Mann lächelte und strich sich auf seine leicht arrogante Art und Weise eine seiner blonden Haarsträhnen hinters Ohr. „Kein Problem, ich hab es nicht persönlich genommen. Kann mir vorstellen, dass das alles andere als leicht für dich war. Aber wenn du dich unbedingt bei mir entschuldigen willst, wie wäre es dann mit einem-“ „Nein, kein Date“, entgegnete Carina trocken und der Shinigami zog eine beleidigte Schnute. „Aber wieso denn nicht?“ Sie seufzte und ging an ihm vorbei. „Du hast dich wirklich nicht ein Stück verändert, Ronald“, rief sie ihm noch zu und grinste dabei sogar leicht, was ihn dazu brachte mit den Schultern zu zucken und ihr ebenfalls zuzugrinsen. „Ein Versuch war es wert.“
 

„Viel Spaß“, rief Alice ihr zu, als sie im Erdgeschoss angekommen war. Die Schwarzhaarige saß hinter der Rezeption und zeigte mit dem Daumen nach oben. Carina grinste kurz und erwiderte die Geste. „Es kann ja nur noch besser werden“, antwortete sie und steuerte mit neuem Mut den Ausgang des Instituts an.
 

Hätte Carina gewusst, was sich in den nächsten Monaten noch alles zutragen würde, hätte sie diesen Satz sicherlich nicht so leichtfertig gesagt…
 


 

„Trotzdem verstehe ich nicht, wieso du so etwas überhaupt tust. Was soll das bringen, Leichen wiederzubeleben?“, schrie Ciel ihm entgegen, woraufhin der Undertaker grinsend einen Finger in die Höhe hob. Die Reaktion des Aristokraten auf seine neuesten Erkenntnisse über die Bizarre Dolls ähnelte in gewisser Weise der von Carina. „Ich bin nur neugierig, wie es nach dem vorbestimmten Ende weitergeht, das ist alles.“
 

Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber das musste der kleine Earl ja nicht wissen. Natürlich hatte der ehemalige Seelensammler gewusst, dass der Wachhund der Königin und sein Butler ihn finden würden, aber er hätte nicht gedacht, dass es so amüsant werden würde. Den Jungen unter Gleichaltrigen und in einer Schuluniform zu sehen, das war doch ein recht possierlicher Anblick gewesen. Tausend mal besser, als er erwartet hätte. „Nach dem…Ende?“, brachte der 13-Järhige stockend hervor, während hinter ihm sein Butler ebenso überrascht aussah. „Habt ihr etwa noch die darüber nachgedacht, was sich nach dem Abspann für interessante Entwicklungen ergeben könnten?“ Sebastian legte sich selbstbewusst lächelnd eine Hand ans Kinn, während seine Augen rot aufglühten. „Nein, darin unterscheiden wir uns. Gerade weil der Tod so absolut und hoffnungslos endgültig ist, ist er so schön.“ „Pff“, dachte der Bestatter. So eine Aussage konnte auch wirklich nur von einem Dämon kommen. Nun ja, jetzt schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, um sich vom Weston College zu verabschieden. Es war eine gute Zeit gewesen und er hatte hier einiges erlebt, gute wie schlechte Dinge. Aber wie es in seinem Leben nun einmal so war, war nichts von wirklich langer Dauer.
 

„Tja, das war alles, was ich Euch für eure diesmalige Gegenleistung sagen kann. Und da ich keine Lust habe, dass gewisse lästige Individuen von alldem Wind bekommen, sollte ich wohl langsam gehen“, sagte er, drehte sich halb um und grinste in sich hinein. Sicherlich würde der Earl nicht zulassen, dass er einfach so verschwand. Das war ihm mit hundertprozentiger Sicherheit schon beim letzten Mal sauer aufgestoßen. Und er sollte Recht behalten. „Diesmal kommst du mir nicht so davon. Schnapp ihn dir, Sebastian.“ „Sehr wohl“, antwortete der Butler und sprintete los. Allerdings kam er nicht sehr weit. Bevor er den Totengräber überhaupt erreichen konnte, stellte sich ihm der schwarzhaarige Professor in den Weg und fing seine Fäuste mit seinen Händen ab. „Wusste ich es doch“, murmelte Sebastian und starrte den Mann vor sich wenig begeistert an. „Ihr seid also ebenfalls tot, Mr. Agares. Deshalb hatte ich damals so ein ungutes Gefühl.“ „Dieser Mann steckt voller Episoden und ist mein absolutes Meisterwerk. Zumindest bisher.“ Er schnippte mit den Fingern, woraufhin weitere Leichen aus dem Boden herausstießen und sich auf die Anwesenden stürzten. „Raus aus dem Garten. Schnell!“, schrie Edward Midford. Das musste er den Schülern nicht zweimal sagen. Ciel riss die Tür auf und schon liefen alle zum Ausgang. Lediglich ein Junge saß mit zitternden Beinen und angsterfüllter Miene am Boden, der beißende Geruch von Urin erfüllte die Luft. „M-meine Beine“, stammelte er, denn diese schlotterten so heftig, dass er sich von alleine nicht aufrichten konnten. Eine Leiche kam ihm gefährlich nahe, doch bevor diese ihre Zähne in ihm vergraben konnte, griff Ciel plötzlich ein. „Komm schon!“ Er packte den Jungen am Arm und zerrte ihn aus dem Garten heraus, weg von den Dolls.
 

Mehr als nur überrascht öffnete der Undertaker seinen Mund. „Er ist zwar auch ein Phantomhive, aber ganz anders als sein Vater…Interessant…“ Vielleicht hatte die Interaktion mit anderen Kindern ja doch etwas gebracht. Sebastian, der mittlerweile komplett von Mr. Agares im Klammergriff gehalten wurde, klinkte sich wieder in das Gespräch ein. „Ihr seid ziemlich gelassen. Glaubt Ihr etwa, so etwas könnte mich aufhalten? Dann unterschätzt Ihr mich aber.“ Der Zylinder, der auf dem Kopf des Silberhaarigen saß, verdeckte kurzzeitig seine Augen. Er grinste breit. „Ich unterschätze dich keineswegs. Nur…“, begann er und ließ seine Augen mit aller Deutlichkeit zu Ciel wandern, „…ist mein Ziel nicht das, was du denkst.“ An Sebastians erschrockener – beinahe schon schockierter – Miene konnte der Undertaker sehen, dass der Butler es innerhalb von einer Sekunde begriffen hatte. Wenn er Mr. Agares überwältigen würde und anschließend auf ihn losgehen würde, dann hätte der Shinigami mehr als nur genug Zeit, sich den Earl zu schnappen. Dafür war der Butler nicht schnell genug. Also gab es für ihn nur eine einzige andere Lösung, wenn er den Schutz seines Vertragspartners gewährleisten wollte. Es war zwar schade um sein Meisterwerk, aber Opfer mussten nun einmal gebracht werden.
 

Die Kreatur der Hölle reagierte wie geplant. Er packte die Bizarre Doll mit beiden Händen und stieß sie mit dem Kopf voran rückwärts auf den Boden. Gleich darauf stürzte er los, allerdings nicht in die Richtung des angeblichen Direktors, sondern zu Ciel. Der Bestatter kam ihm auf halben Weg entgegen, allerdings mit so einem Abstand, dass er ihn nicht erwischen konnte. „Ich hatte auch nichts anderes von dir erwartet, Butler“, sagte er lächelnd, während ihm Angesprochener einen vernichtenden Blick zuwarf. „Sebastian?“, rief Ciel verwirrt, als sein Diener vor ihm landete und sich beschützend hinstellte. Leichtfüßig landete der Undertaker auf der Mauer, die den Garten vom Rest des Schulgeländes trennte. „Sei so gut und beschütze den Earl auch weiterhin so treu und gewissenhaft. Hi hi…Bis bald~“, grinste er und verschwand daraufhin mit einer gekonnten Teleportation, um wenige Sekunden später in der Nähe der Themse wieder aufzutauchen. Der Halbmond spiegelte sich im Wasser des Flusses und während der Mann am Rand entlangging, ließ er seine Gedanken schweifen. Automatisch wollten seine Hände nach den Medaillons greifen, die um seine Taille hingen, doch er griff ins Leere. „Ach ja…“, fiel es ihm wieder ein. Seit der Campania hatte er seine Medaillons ja gar nicht mehr. „Aber ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Der Earl hat sie ja. So ein wichtiges Beweisstück wird er sicherlich sehr pfleglich behandeln, hehe.“ Er ging gedanklich seine nächsten Schritte durch, einer davon war die Reise nach Deutschland. In den letzten Tagen hatte er sich intensiver mit der Sprache beschäftigt und bereits einiges dazugelernt. Im gleichen Atemzug musste er wie von selbst an Carina denken, wie sie nackt neben ihm gelegen und grinsend versucht hatte ihm Deutsch beizubringen. Der Silberhaarige empfand Schwermut und noch etwas anderes, wenn er an diese Szene zurückdachte, konnte es aber nicht genau benennen.
 

Nach wie vor ärgerte er sich über ihr plötzliches und vor allem stilles Verschwinden. Es hatte ihn selbst erstaunt, wie oft er in den letzten Wochen an die junge, blonde Frau gedacht hatte. Doch das würde jetzt sicherlich ein Ende finden. In der nächsten Zeit würde er mehr als genug mit den Reisevorbereitungen zu tun haben. Da gab es also andere Dinge, um die er sich Gedanken machen musste. Und je schneller er einen Weg fand, um seine Bizarre Dolls zu perfektionieren, umso schneller konnte er Claudia zurückholen. Und das war immerhin das Einzige, was er wollte…



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