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Touching Tomorrow

von

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01.12.

Ich kann das nicht. Ich kann das nicht mehr! Ich muss es beenden.

Mit der Hand fuhr sie an ihre Wange. Sie konnte nichts gegen die Tränen tun, die sich nun ihren Weg in die Freiheit bahnten. Wie sollte sie ihre Traurigkeit nur zu Hause erklären ohne die Wahrheit zu erwähnen? Keiner durfte es sehen. Das Meer aus Tränen.

Ihre Hände zitterten obwohl sie im warmen Bus saß. Instinktiv rieb sie ihre Handflächen aneinander und blickte aus dem Fenster. Draußen wehte der Wind, Bäume rüttelten an den Scheiben und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie kam ihrem Ziel näher.

Ich kann das nicht.

Ein Schauder lief über ihren Rücken. Mit einem Mal wurde es wieder real.

Nächste Haltestelle: Tokyo – Yanaka-Friedhof.

Sie atmete tief durch und kämpfte einige Sekunden gegen die Panik an. Sie sog die Luft scharf ein. Ihr Herz raste noch immer.

Der Bus rollte auf die Haltestelle zu. Langsam tastete sie nach dem Blumenstraß und den Räucherstäbchen. Nur mit Mühe schaffte sie es auf die Beine. Fast apathisch stieg sie aus dem Bus aus. Sie durchquerte das große Eingangstor und ging direkt zum Grabstein. Langsam legte sie Blumen nieder und entzündete die Räucherstäbchen.

Es tut mir so leid.

Sie ließ sich auf die Knie fallen und starrte den Grabstein an.

01.12.2012

Zum vierten Mal jährte sich der Todestag. Obwohl die Zeit verging, blieb der Schmerz. Sie legte ihre Hand auf den Grabstein, fast zärtlich strich sie drüber. „Ich vermisse dich so sehr.“

Plötzlich packte sie die nackte Angst. Zielstrebig sah sie sich um. Sie spürte sie. Die Dunkelheit umgab sie und es gab kein Entkommen. Eine falsche Entscheidung und ihr Leben war vorbei. Sie war eine Marionette und ihr blieb nichts anderes übrig als die Befehle der Organisation durchzuführen. Nur der Tod läutete das Ende ein.

Sie spürte die Spannung in der Luft und verkrampfte. Sie atmete tief durch und verließ den Friedhof mit schnellen Schritten. An der Bushaltestelle zog sie ihr Handy aus der Tasche und sah auf das Display. Als das Handy auf einmal anfing zu klingeln, erschrak sie.

Nummer unbekannt.

Sie schluckte und ihre Hand wollte nicht aufhören zu zittern. Sie vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war und nahm den Anruf entgegen. „Hallo“, sprach sie zaghaft in den Hörer.

„Wo bist du?“

Noch einmal sah sie sich um. „Ich bin auf dem Weg zur Arbeit“, entgegnete sie ruhig. „Es dauert…“

„Beeil dich“, raunte Wodka in den Hörer. „Wir haben einen Auftrag für dich.“

„J….ja….“

Bitte verzeih mir.
 

Verärgert sah der FBI Agent aus dem Fenster. „Das darf doch nicht wahr sein.“

„Lass gut sein, Benett.“ Die Agentin startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.

„Wie kannst du so ruhig bleiben, Fay?“

„Es bringt nichts über verkleckerte Milch zu streiten“, antwortete sie.

Der Agent seufzte. „Ich bin mir so sicher, dass sie mit einem von ihnen telefoniert hat“, sprach er und holte das Handy heraus. „Aber aus dieser Entfernung hört man ja so gut wie nichts. Und egal was wir tun, wir können sie nicht mit der Organisation in Verbindung bringen.“

Mit einem Lächeln sah sie ihn an. „Gibst du etwa auf?“, fragte sie. „Wir haben doch schon viel heraus gefunden. Und so wie sie eben reagiert hat, können wir zumindest sehen, dass sie sehr große Angst hat. Hast du gesehen, wie bleich sie geworden ist als der Anruf kam? Das kann unmöglich ihr Mann gewesen sein.“

Benett nickte. „Und einen Liebhaber können wir auch ausschließen. Aber uns fehlen trotzdem die Beweise.“

„Dann ist es eben so. Ich gebe nicht auf. Wenn es sein muss, beschatte ich sie die nächsten Wochen weiter. Wie viel Zeit haben wir noch?“

Der Agent sah auf die Uhr. „1 Stunde und 8 Minuten.“

„Na gut, fahren wir ins Büro und bereiten alles vor. Wenn wir es gut machen, dürfen wir vielleicht weiter an dem Fall arbeiten.“
 

***
 

James stellte seine Tasche auf den Tisch und lehnte sich nach hinten. Sogleich blickte er auf seine Armbanduhr.

15:30 Uhr.

Die Zeit schritt schnell voran. Viel zu schnell. In seinen Erinnerungen kam es ihm noch nicht so lange vor. Über 20 Jahre war das FBI dem Feind auf den Fersen. Und wie sah das Ergebnis aus?

Frustrierend. Niederschmetternd. Ernüchtern.

Der FBI Agent seufzte.

Früher war alles besser.

Wie oft hatte er diesen Satz gehört und es nie für möglich gehalten, ihn selbst zu denken? Aber stimmte es auch?

Damals hatte das FBI nicht so viele Möglichkeiten und war der Organisation noch nicht so lange auf der Spur. James erinnerte sich noch ganz genau wie er in das Büro seines Vorgesetzten zitiert wurde und dort auf seinen besten Freund und neuen Partner traf. Sie wuchsen zusammen auf, teilten den Freundeskreis und blieben auch während der Studienzeit miteinander in Kontakt. Im Ausbildungsgelände des FBIs sahen sie sich wieder. Sie trainierten zusammen und wurden zur gleichen Außenstelle versetzt. Über ein Jahr gingen sie beruflich getrennte Wege, verfolgten aber insgeheim das gleiche Ziel. Beide sollten gegen die Organisation ermitteln und Beweise sammeln. Es war eine einfache Beschattungsaufgabe. Etwas, dass sie in der Vergangenheit nur zu Genüge getan hatten. Aber die Welle die ausgelöst wurde, sah keiner von ihnen vorher und schließlich überschlugen sich die Ereignisse.

Alle Besprechungen fanden am Abend stat. Jodie sollte friedlich in ihrem Bett liegen und schlafen. Sie sollte nichts von der schlimmen Welt mitbekommen und nicht einmal in Gefahr geraten. Aber nicht immer gelang es ihnen die Besprechungen an sicheren Orten abzuhalten. James wusste nicht einmal wie die Organisation von dem Haus erfuhr. Sie achteten doch immer auf ihre Umgebung.

Umso schockierte war er als er das achtjährige Mädchen mitten auf der Straße fand. Es war bereits dunkel und ihr Anblick jagte ihm eine höllische Angst ein. Jodie hingegen war fröhlich und hielt zwei Trinkpakete mit Saft in der Hand. Noch immer konnte James die Worte von damals nicht vergessen. Sie waren voller Stolz. Stolz, weil sie ganz alleine im Laden war und einkaufen konnte.

Papa schläft. Ich wollte ihm Saft bringe, aber da wir keinen mehr zu Hause hatten, bin ich einkaufen gegangen. Hoffentlich kann mir Papa noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen wenn sein Besuch weg ist. Er hat es mir doch versprochen.

Sofort lief James los. Das Feuer im Haus der Starlings hatte sich schnell ausgebreitet. James ahnte sofort das Brandbeschleuniger zum Einsatz kam. Er konnte nichts mehr tun. Jeder der sich im Gebäude aufhielt, war gestorben. Der Schock saß ihm tief in den Knochen. Etwas war schief gegangen. Etwas, dass seinem Kollegen das Leben kostete. James konnte sich nicht bewegen. Mit einem Mal fühlte er sich schwer und träge.

Jodies kleine Hand hielt sich an seiner Hose fest. Die Saftpackungen fielen zu Boden und das Mädchen begann bitterlich zu weinen. Die ganze Zeit rief sie nach ihren Eltern und versuchte in ihr Elternhaus zu laufen. Geistesgegenwärtig hielt James das Mädchen fest und drückte sie an sich. Sie war das einzige was ihm von seinem besten Freund geblieben war. Nachdem seine FBI Kollegen eintrafen, übergab er Jodie an eine Kollegin.

„Sir? Hat das Mädchen etwas gesehen?“

Schockiert sah James auf Jodie. Sie war eine Zeugin. Sie hatte den Besuch ihres Vaters gesehen. Allein bei dem Gedanken wurde James schlecht. Wie konnte es nur sein, dass ein unschuldiges Kind in den Fokus der Organisation geriet? Es war einfach nicht fair. Sie verlor ihre Eltern und damit auch ihre Kindheit, vielleicht sogar ihre Zukunft. Was hätte aus Jodie werden können, wenn sie nicht durch dieses Ereignis geprägt wurde? Ärztin, Wissenschaftlerin, Kindergärtnerin?

Jodies Zukunft und ihr Leben mussten auf jeden Fall gesichert werden. So gab es für James nur eine Möglichkeit. Jodie musste in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Aber jede Familie die sie fanden, schien nicht geeignet zu sein, sodass James das Kind zu sich holte. Um Jodie alles zu ermöglichen, schickte er sie auf die besten Schulen, bezahlte das übertriebene Schulgeld und zahlte sogar ihre Studiengebühren. Er war froh und erleichtert, als sie einem ganz normalen Studium nachging. Leider freute er sich zu früh.

Entsprechend schockiert sah er seinen Vorgesetzten an, der ihn mit Jodies Bewerbung aufsuchte. Unglücklicherweise erfüllte Jodie sämtliche Voraussetzungen und nach ihrem erfolgreichen Abschluss musste er ihr die ersten Aufträge geben. Zuerst konnte er sie noch mit kleineren Fischen abspeisen damit sie Erfahrungen sammelte, aber irgendwann wollte Jodie mehr. Sie wollte gegen die Organisation antreten.

Tagelang zermarterte er sich den Kopf unter welchen Vorwand Jodie nach Japan konnte. Amerikaner im Ausland waren viel zu auffällig. Allerdings spielte ihm das Schicksal wieder einmal mit. War es nun Glück oder Pech das an der Oberschule ein Englischlehrer gesucht wurde?

Jodies Missionsziel war von Anfang an klar definiert und trotz ihrer Abneigung Vermouth gegenüber, verhielt sie sich äußerst professionell. Sie flirtete sogar mit der neusten Rolle der Schauspielerin. Fast hatte Jodie ihr Ziel erreicht. Nur ganz knapp hatte sie Vermouth in die Finger bekommen und musste sie doch wieder los lassen. Fast hätte Jodie mit dem Leben bezahlt. Zum Glück ließ sich Akai nicht von der Schauspielerin an der Nase herum führen und wartete. Dass die anderen Agenten überhaupt ihre Stellung verließen und „nach Hause“ gingen, war eine Schmach für das Büro. Eigentlich hätten sie wissen müssen, dass Jodie die Situation nie und nimmer so plump auflösen würde. Sie hätten sich rückversichern müssen.

Jodie hatte auch Glück gehabt das die Kugel keine wichtigen Organe verletzte. Jeden Tag besuchte er sie im Krankenhaus, brachte frische Blumen mit und teilte die neusten Ermittlungsergebnisse mit ihr. Jodie war zäh und gab nicht auf. Verbissen wollte sie am Fall weiter arbeiten. Trotzdem wusste er, dass sie die Sache nicht einfach so wegsteckte. Sie sah dem Tod ins Auge und zog ihre Kraft nur noch aus der Tatsache heraus, dass Vermouth noch immer frei herum lief.

Dennoch hatte James bemerkt wie sie unter dem abweisenden Verhalten ihres Kollegen litt.

Jodie und Akai. Nie im Leben hätte James diese Kombination für möglich gehalten. Seit der junge Agent den Dienst aufnahm, folgte er einer klaren Linie und ließ sich von Nichts und Niemanden von seinem Weg abbringen. Die Motivation die dahinter steckte, erkannte James sehr schnell. Aber was sollte er dagegen sagen? Jodie war aus dem gleichen Grund dem FBI beigetreten. War es da nicht die logischste Konsequenz beide zusammenarbeiten zu lassen? Vielleicht taten sie einander gut. Und dass sie es taten, merkte er schon schnell. Beide – obwohl es die Regeln des FBIs verboten – fingen eine heimliche Beziehung miteinander an. Wobei heimlich seine eigene Definition hatte. Es war eher ein offenes Geheimnis. Alle wussten es, schwiegen aber.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“

James blickte auf die Kellnerin. Er hatte sie nicht einmal bemerkt. Jeder hätte sich nun an ihn heran schleichen und weitaus Schlimmeres verursachen können.

„Noch einen Kaffee, bitte.“

„Bring ich Ihnen.“

„Danke.“ James sah sich im Lokal um. Akai ließ auf sich warten. Er hatte seine Eigenarten und übernahm bestimmte Aufträge gern auf seine eigene Art und Weise. Dabei handelte er oftmals wie es ihm gefiel und nahm auf andere keine Rücksicht. Auch Verluste gehörten dazu. Dennoch traf er mit jeder seiner Handlungen ins Schwarze. James hatte die Wandlung seines besten Agenten selbst miterlebt. Nach seinem ersten Auftrag in Japan wurde er härter. Härter und gefühlsloser. Selbst Jodie mochte diese Art nicht – zumal er auch mehrfach auf ihre Kosten handelte.

James seufzte auf. Dass er Akais inszenierten Tod damals nicht unterbunden hatte, sprach nicht gerade für ihn. Er kannte die Wichtigkeit und die Tragweite dieser Handlung und trotzdem brachen ihm Jodies Tränen das Herz. Wie gern wollte er sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles nicht so schlimm war…das Akai noch am Leben war? Stattdessen war er als Leiter dieser Mission dazu angehalten ganz sachlich auf die Nachricht zu reagieren. Auch wenn es damals kein Trost war, musste er darauf hinweisen, dass ihnen nun wenigstens die Tür offen stand.

James hoffte, dass der Auftrag nicht noch weitere 25 Jahre dauerte. Ab und an fanden sie einige hochrangige Mitglieder, aber keiner von ihnen saß in den Staaten im Gefängnis. Manchmal begann er die Aussichtslosigkeit dieser Mission zu sehen, aber dann kam es wieder dazu, dass sie einen kleinen Durchbruch erhielten. Und nun war es nicht nur das FBI welches hinter ihnen her war. Die CIA und das Büro für Sicherheit der Nationalen Polizeibehörde hatten auch ein Auge auf die „Männer in Schwarz“ erhoben. Leider reichten die Indizien, die alle drei Institutionen sammelten, nicht aus um auch nur ein Mitglied ins Gefängnis zu bringen.

James war sich nun nicht sicher. Mit Glück hatten sie eine Spur. Mit Pech jagten sie wieder nur einem Phantom hinterher. Sie standen noch am Anfang, aber die Grundlage war bereits gelegt. Eigentlich war es auch ein Zufall, dass die Organisation so lange unentdeckt arbeiten konnte. Sie ließen sich nicht in die Karten gucken, aber es gab Aspekte ihrer Arbeit die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Geldbeschaffung war eine. Niedere Mitglieder kümmerten sich um diese Tätigkeiten, aber irgendwo musste ein hochrangiges Mitglied sein, welches alle Aktionen koordinierte und die Befehle gab. Vielleicht konnten sie diesmal etwas erreichen. Geld war schließlich Macht. Und wenn eine Quelle versiegt, konnte ein enormer Schaden entstehen. Vor allem dann, wenn man im Untergrund tätig war.

„James.“

Der Agent blickte auf seinen Gegenüber. Endlich. „Setzen Sie sich“, sprach er ruhig und zog eine Akte aus seiner Tasche heraus.

Shuichi Akai nahm Platz und beobachtete James misstrauisch.

Sofort kam die Kellnerin an den Platz. „Darf ich Ihnen etwas Bringen?“, wollte sie freundlich wissen.

„Danke, nein“, erwiderte der FBI Agent – nicht so freundlich.

James wartete ab und schob die Akte anschließend über den Tisch. Shuichi öffnete diese und blätterte ein wenig darin herum. Er schien nicht begeistert zu sein. „Neue Zielperson?“

James Black nickte.

„Codename?“

Leider musste James nun mit der Wahrheit raus rücken. „Keiner der uns bekannt ist.“

„Mhmm…“

„Akai?“

Der Angesprochene verengte die Augen. „Kleiner Fisch, nicht erwähnenswert.“ Shuichi schloss die Akte. „Kümmert sich wahrscheinlich um die Geldbeschaffung.“

„So ist es.“

„Warum soll ich den Auftrag übernehmen?“

„Ich denke, es ist ein guter erster Einsatz für jemanden, der gerade von den Toten auferstanden ist“, fing er an.

Akai war dennoch nicht überzeugt.

„Ich weiß, dass Sie darauf hoffen die höheren Mitglieder zu treffen und sich mit denen zu messen. Momentan haben wir allerdings keine neuen Erkenntnisse und ich möchte, dass Sie die Observation in dem Fall übernehmen“, gab James ruhig von sich. „Wir sind uns noch nicht sicher, ob die Zielperson wirklich für die Organisation tätig ist. Einige Geldbeträge sprechen dafür. Aber…“

„Aber es könnte sich auch als reine Zeitverschwendung entpuppen“, führte Akai den Satz zu Ende. „Gut, ich kümmere mich drum. Ich finde schon heraus, ob die Zielperson für die Organisation arbeitet oder ob sie einfach nur Dreck am Stecken hat.“

„Sollte die Organisation dahinter stecken, besteht die Möglichkeit, dass Sie auf höhere Mitglieder treffen. Wenn dies bei Ihrer Observation der Fall sein sollte, möchte ich nicht, dass Sie sich unnötig in Gefahr bringen.“

„Ich doch nicht.“

Der Satz triefte nur vor Ironie. „Wir arbeiten im Schichtsystem.“

Akai verengte die Augen. Auf welchen Kollegen sollte er aufpassen?

„Sie sollen die Nachtschicht übernehmen. Agent Benett und Agent Fayden übernehmen die Schicht am Tage.“

„Wann geht’s los?“

„Heute noch. Die Wohnung wurde von unseren Agenten bereits verwanzt. Die Abhörausrüstung steht Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

„Verstehe.“
 

***
 

Shuichi Akai blieb nicht viel Zeit um sich auf den Auftrag vorzubereiten. Aber die Zeit brauchte er auch nicht. Er wusste was er tat und was er tun musste um an sein Ziel zu kommen.

Mitten in der Dunkelheit stand er da. Schwarze Hose, dunkel blaues Hemd und eine schwarze Jacke. Seine Garderobe wurde von seiner markanten schwarzen Strickmütze komplettiert. Nur das schwache rote Glimmen seiner Zigarette war sichtbar. Endlich konnte er wieder als er selbst durch die Stadt laufen. Endlich musste er sich nicht mehr als der nette Subaru Okiya ausgeben und dauernd diese Maske tragen. Diesmal passte auch die Organisation auf. Sie schickten nicht mehr zahlreiche Auftragsmörder um ihn fertig zu machen. Sie hatten wahrscheinlich nicht einmal einen Plan und warteten noch ab. Oder sie mussten einen der höheren Mitglieder einschalten.

Rum. Die Nummer 2 nach dem Boss. Ein gefährliches Mitglied, welches möglicherweise die Aufträge koordinierte. Und sie hatten keine Möglichkeit an die besagte Person heranzukommen. Noch nicht.

Akai fixierte das Gebäude in dem sich die Zielperson aufhielt. Er blies den Rauch aus. Die Dunkelheit bot ihm genügend Schutz um agieren zu können. Jetzt musste die Zielperson nur noch das Gebäude verlassen. Akai kannte die Baupläne, wusste wo sich der Hinterausgang befand und wo Garten sowie sämtliche Fenster lagen. Das FBI hatte alles gründlich vorbereitet, sodass er nur noch die Akte lesen musste.

Shuichi nahm sein Handy heraus. Er hatte keine neuen Nachrichten, keine Warnungen. Als die Tür des Hauses aufging, steckte der Agent sein Handy weg und stieg in seinen Wagen. Sogleich war sein Blick auf die Zielperson und dessen Begleiter gerichtet. Alles lief nach Plan. Akai wartete und beobachtete die beiden Fremden.

Der Mann, Mitte 30, schwarzer Anzug und große Hornbrille öffnete seiner Frau, Mitte 20, mit elegantem roten Kleid, kleiner Handtasche und sehr hohen Schuhen die Wagentür. Kein Wunder, dass das FBI diese Ehe für eine reine Farce hielt.

Akai startete den Motor. Mit Sicherheitsabstand folgte er den beiden Personen bis zu einem Restaurant. Er parkte in einer Seitenstraße und holte sein Handy heraus. Mit einem flinken Finger wählte er die Nummer eines anderen Agenten. „Sie kommen gleich rein“, sprach er ruhig aber bestimmt. Das Handy warf er auf den Beifahrersitz und steckte sich einen Ohrstöpsel in das Ohr. Der reservierte Tisch war verwanzt, sodass Shuichi jedes einzelne Wort mit anhören konnte.

Das Gespräch erwies sich als Reinfall; keine belastenden Aussagen und von der Tonlage her, gab es keine besonderen Vorkommnisse. Shuichi wählte wieder die Nummer seiner Kontaktperson im Restaurant. „Wie schaut es aus?“, wollte er wissen.

„Alles ruhig“, fing der Agent an. „Bisher essen Herr und Frau Shibungi alleine. Keine Auffälligkeiten“, fügte er leise hinzu.

„Was ist mit dem Kellner?“

„Haben wir vorher überprüft. Er steht nicht im Kontakt mit der Organisation.“

Akai überlegte. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass auch Furuya hier arbeitete? „Wie sicher sind Sie sich?“

„Was?“

„Ich will wissen, wie sicher Sie sich sind, dass der Kellner nicht für die Organisation arbeitet.“

„Ich…“, er überlegte. „90%.“

„Das ist nicht genug“, fing Akai an. „Behalten Sie die Zielperson weiter im Auge und achten Sie darauf, wie viel mit dem Kellner gesprochen wird.“

„Ja…verstanden.“

„Ich melde mich später wieder.“ Akai legte auf und lehnte sich nach hinten. Wenn der Arbeit so weiter ging, brauchte er dringend etwas gegen seine Langeweile. Die Beschattung damals bezüglich Kogoro Mori hatte ihm wenigstens wichtige Erkenntnisse und neue Einblicke beschert. Aber das hier? Das hatte etwas von Beschäftigungstherapie. Als wollte James ihn bestrafen.

Die Zeit verging und kein potentielles Mitglied betrat oder verließ das Restaurant. Als sein Handy auf dem Beifahrersitz anfing zu vibrieren, nahm er es und ging ran. „Was gibt es?“

„Die Rechnung wurde so eben bezahlt. Die Zielperson verlässt gleich das Gebäude.“

„Irgendwelche Auffälligkeiten?“, wollte Shuichi erneut wissen.

„Nein, gar nichts. Sie haben nur gegessen. Mehr nicht“, erzählte Agent Benett. „Es gab keine auffälligen Gäste, keine komischen Blicke oder Treffen.“

„Hmm…verstehe. Sind Sie der Zielperson auch überall gefolgt?“

„Ja, Sir. Meine Partnerin, Agent Fayden, ist kurz nach Frau Shibungi zur Toilette gegangen. Sie konnte ihr nicht in die Kabine folgen. Es gab aber auch kein Telefongespräch. Nicht einmal der Versuch wurde unternommen.“

„Halten Sie die Augen weiterhin offen.“ Shuichi legte wieder auf. Sein Blick ging sofort zum Eingang des Restaurants. Er hoffte, dass die Zielperson noch irgendeine Dummheit beging. Etwas womit man sie mit der Organisation in Verbindung bringen konnte. Stattdessen aber fuhr er wieder den Weg zurück und stellte seinen Wagen ab.

Akai lehnte sich nach hinten und wechselte den Ohrstöpsel aus. Nun war er mit den Wanzen im Haus der Shibungis verbunden. Er schloss die Augen und hörte einfach nur zu.

Sein Gefühl war weder positiv noch negativ. Natürlich hatte er bemerkt, dass die Frau ihren Mann nicht ohne Grund geheiratet hatte. Da steckte mehr dahinter. Aber ob es wirklich die Organisation war? Man durfte keine Gefühle zeigen. Doch genau das wurde ihr zum Verhängnis. Ob die Ehe überhaupt gültig war, würde James überprüfen. Aber wenn es so weiter ging, konnte er nur noch darauf hoffen auf höhere Mitglieder zu treffen. Im Notfall musste er es eskalieren lassen und die Organisation aus ihrem Versteck locken. Und das sollte ja wohl ein Kinderspiel sein.

02.12.

Mit einem unguten Gefühl sah sie auf die Unterlagen. Sie runzelte die Stirn, blickte dann auf den Computer hoch und ging die Zahlen erneut durch. Siebenstellig. Aber noch nicht hoch genug, dass es auffällig wäre.

Ich will nicht mehr.

Sie seufzte. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie wollte weiter leben. Aber wie lange konnte sie es noch aushalten? Sie starrte die Zahlen an. Aus dem Augenwinkel blickte sie zu ihrem Handy auf dem Tisch.

Ich kann nicht mehr.

Sie schluckte und fuhr mit dem Mauszeiger über die Zahl. Sie kopierte sie und fügte sie in der entsprechenden Zeile wieder ein. Mit flinken Bewegungen gab sie sämtliche Zahlen und Buchstaben in die Felder ein. Schnell führte sie die Maus auf das nächste Feld.

Absenden.

Gleich würde es vorbei sein. Sie klickte auf das Feld. Erleichtert atmete sie durch. Sie lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Der Moment ging viel zu schnell vorbei. Das Vibrieren ihres Handys konnte nichts Guten verheißen. Langsam nahm sie das Mobiltelefon in die Hand und bestätigte den Anruf. „..J…ja?“

„Wie ich sehe, hast du das Geld überwiesen“, sprach Wodka.

„Wie ihr…es…gewollt habt…“, murmelte Sayaka leise.

„Nächste Lieferung in der nächsten Woche. Und dann zierst du dich nicht so lange. Haben wir uns verstanden?“

„J…a…“

Danach hörte sie nur noch das Signal des Telefons. Er hatte aufgelegt. Sayaka sah sich um. Wurde sie von ihnen beobachtet?
 

***
 

Jodies Füße waren kalt. Sie stand draußen auf dem Gehweg und der Regen tropfte auf sie herab. Wie eine Anfängerin die ihren ersten Arbeitstag antrat, stand sie einfach nur da und starrte auf ihr eigenes Spiegelbild in der Glastür. Wie oft war sie schon durch diese Tür getreten?

Aber heute war alles anders. Heute fühlte sie sich beobachtet und vollkommen auf sich alleine gestellt. Und warum? Weil sie versagt hatte. Wie eine blutige Anfängerin hatte sie den größten Fehler begangen. Ihr Partner Camel musste dafür den Preis zahlen. Auch nach vier Wochen war die Erinnerung daran noch frisch. In ihren Träumen hörte sie noch immer den Schuss, sah Camel zusammensacken und auf den Boden stürzen. Sie sah zu wie sich der Blutfleck auf seinem Hemd viel zu schnell ausbreitete. Alles lief in Zeitlupe ab. Und was war mit ihr?

Sie stand einfach nur da, hilflos und vollkommen bewegungsunfähig. Keiner Wunder, dass die zweite Kugel ihre Schulter durchbohrte. Aber sie hatte wieder einmal Glück. Die Kugel traf keine lebenswichtigen Gefäße oder Arterien. Obwohl sie im Krankenhaus von den Ärzten stundenlang operiert wurde, hielt sich der Schaden in Grenzen. Sie selbst hatte nur – wie sie es nannte – einen Kratzer, wurde krankgeschrieben und lungerte zu Hause rum. Allein.

Die vergangenen Wochen wollte sie nur eines: Zurück in den Dienst. Aber nun wo es soweit war, fühlte sie das Unbehagen. Jodie atmete tief durch. Es brachte nichts, wenn sie noch länger wartete. Irgendwann musste sie schließlich nach oben in das Büro. Jodie setzte sich in Bewegung. Sie trat durch die Tür und ging auf den Wachmann am Empfang zu.

Er grüßte sie mit einem Lächeln im Gesicht. „Guten Morgen, Agent Starling.“

„Guten Morgen“, erwiderte sie mit einem falschen Lächeln im Gesicht. Jodie wusste, das man das von ihr erwartete. Fröhlichkeit und gute Laune.

Es war lange her, als James das Bürogebäude gemietet hatte und heimlich eine Zweigstelle des FBIs aufbaute. Das Gebäude fiel nicht auf. Und der Wachman passte immer auf, dass die richtigen Menschen eintraten. Da sie den Schein waren mussten, waren die unteren Etagen unbesetzt und konnten als Konferenzräume, Übungsgelände oder für die Abgeschiedenheit verwendet werden.

„Wie geht es Ihnen?“

„Gut“, antwortete Jodie knapp.

„Und ihrem Kollegen? Geht es Agent Camel besser?“

Jodie schluckte. Warum musste er sie ausgerechnet an ihrem ersten Arbeitstag darauf ansprechen? „Jeden Tag etwas Besser. Bald wird er die Krankenschwestern herum scheuchen.“

Der Wachmann nickte. „Dafür sind die Schwestern doch da.“

„Wie mans nimmt…“, murmelte Jodie. „Aber ich denke, die Krankenschwestern mögen ihn. Sie sagen immer, dass er ein sehr vorbildlicher Patient ist, der sich nie beschwert. So wie ich es mitbekam, nennen sie ihn auch schon ihren „Teddybären.“

„Das glaube ich sofort. Agent Camel ist ein Guter“, entgegnete der Wachmann.

„Das ist er. Auch wenn ihm momentan die Schonkost sehr gegen den Strich geht. Wahrscheinlich ärgert er sich jetzt auch darüber, dass er noch im Krankenhaus bleiben muss.“

„Dann müssen Sie ihm einen Schokoriegel rein schmuggeln.“

Jodie lachte leise. „Geht leider nicht so einfach. Die Krankenschwestern sind gut. Wirklich gut. Sie riechen, wenn man ihm etwas zum Essen mitbringt. Und dann schauen sie mich jedes Mal so richtig tadelnd an und erwähnen eine ganz lange und große Spritze.“

„Autsch…“, murmelte ihr Gegenüber.

„Naja…ich müsste dann mal nach oben. Es wäre wohl schlecht, wenn ich direkt am ersten Tag zu spät komme.“

Er nickte. „Dann wünsch ich Ihnen einen schönen Tag mit wenig Überraschungen.“
 

Jodie bog um die Ecke und durchquerte das Großraumbüro. Wie immer arbeiteten einige Agenten an ihren Tischen. Wobei Tisch so eine Sache war. Meistens rotierte das System – je nachdem welcher Agent gerade im Außendienst tätig war und welcher nicht. Sie durften keine zu großen Räumlichkeiten benutzen. Ihre Arbeit durfte nicht auffallen.

Es sah alles wie immer aus. Zwei Tische standen Rücken an Rücken, belegt mit Papieren, Akten und Kaffeebechern. Brauchte man den Tisch länger, ließ man seine Akten darauf liegen. War der Tisch für die nächsten Tage allerdings frei, räumte man ihn leer und legte die Akten in den Zahlencode-gesicherten Schrank ab. Jeder Agent besaß seinen eigenen Zugang, sodass die Rückverfolgbarkeit immer gewährleistet war.

Sogleich richteten sich mehrere Augenpaar auf sich. Es war wie im Zoo – mit Jodie Starling als Hauptattraktion. Jodie atmete tief durch und suchte sich einen leeren Tisch. Sie stellte ihre Tasche ab und sah zu der braunen Bürotür. Von allen Agenten war er der Einzige, der sein eigenes Büro bekleidete. Sie ging schnurrstracks auf dieses zu. Jodie schob alle Zweifel beiseite und klopfte an.

„Ja“, rief James. Er saß hinter seinem Schreibtisch und wirkte nachdenklich. Als Jodie den Raum betrat und er in ihr Gesicht blickte, lächelte er. „Setz dich doch.“ Er wies auf die Stühle vor dem Tisch. „Wie geht es dir?“

Jodie schloss die Tür hinter sich. „Ich bin bereit zum Dienst.“ Dann setzte sie sich auf den Stuhl. Sie kannte die Prozedur sehr gut. James musste nun sichergehen, dass sie auch wirklich einsatzfähig war. Wenn die eigene Psyche nicht mitspielte, war eine Diensttauglichkeit vom Arzt nur die halbe Arbeit.

„Fühlst du dich wirklich wieder bereit in den Dienst zurück zu kehren?“, wollte James wissen.

„Natürlich. Ich habe nur einen kleinen Kratzer. James, bitte.“ Sie machte eine kleine Pause. „Es bringt keinem etwas, wenn ich nur zu Hause herum sitze. Die Zeit kann ich bei weitem besser nutzen.“

James beobachtete sie nachdenklich. „Du musst mir schwören, dass du dir keine Vorwürfe mehr machst. Keiner konnte voraussehen was passiert.“

Doch! Das hätte ich sollen. Shu hätte es getan.

Jodie seufzte. „Können wir die Diskussion sein lassen?“, bat sie.

„Wenn du trotzdem reden willst, bin ich für dich da.“

Sie nickte. „Danke, James. Aber es geht mir gut. Ich fühle mich bereit. Und wenn du einen Auftrag für mich hast, dann werde ich ihn erledigen und ich werde meine Sache gut machen.“

James musterte sie. „Lass uns später darüber reden.“

„James…“

„Jodie, bitte. Ich muss erst sicher gehen, dass du auch wirklich bereit für unsere Arbeit bist.“

„Das bin ich“, warf sie ein. „Ich lasse mich nicht ablenken“, sprach sie ruhig. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich verletzt wurde. Und es wird sicher auch nicht das letzte Mal sein. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen.“

„Es ist allerdings das erste Mal, dass ein anderer verletzt wurde, während du im Dienst warst. Du standest fast neben ihm.“

Jodie versuchte sich keine Reaktion anmerken zu lassen. „Ich bin bereit, James, wirklich.“

„Gut.“

Jodie wartete. Es kam keine weitere Reaktion. „Also?“

„Wir reden nachher darüber.“

„Okay…“, murmelte Jodie. Sie stand auf und verließ den Raum.
 

***
 

Shuichi Akai ließ sich nicht an der Nase herum führen. Nachdem die Nachtschicht ihr Ende fand und er den Agenten der Tagesschicht einige Anweisungen gab, fuhr er nach Hause, nahm eine heiße Dusche und legte sich einige Stunden schlafen. Stunden später sah die Welt immer noch gleich aus und seine Meinung blieb bestehen. Es gab eben nie Zufälle. Und Zufälle die sich häuften, waren erst recht verdächtig. Frisch und munter trat Akai durch die Glastür und zeigte seine Marke am Empfang vor.

„Guten Tag, Agent Akai.“

„Mhm…“, murmelte er. „Ist Agent Black oben?“

Der Wachmann nickte. „Agent Starling ist ebenfalls oben.“

Akai verengte die Augen. „Nur ein Besuch?“

„Ich denke nicht, Sir. Agent Starling kam bereits heute Morgen hier her. Seitdem hat sie das Gebäude nicht verlassen. So wie es sich anhörte, arbeitet sie seit heute wieder.“

„Verstehe“, murmelte Shuichi und ging zum Aufzug. Kaum das er diesen betrat, lehnte er sich gegen die Aufzugswand und verschränkte die Arme.

Jodie ist wieder im Dienst.

Er betrat das Großraumbüro und suchte sofort die Plätze nach Jodie ab. Als er ihr blondes Haar erblickte, konnte er nicht anders. Er trat an ihren Tisch und sah ihr über die Schulter. „Du solltest das lassen.“

Jodie zuckte erschrocken zusammen und versuchte alle möglichen Unterlagen irgendwie zu verdecken. „Shu“, sprach sie mahnend. „Du sollst dich doch nicht von hinten anschleichen.“ Dann sah sie ihn streng an. „ich fühl mich gut und der Arzt hat auch nichts einzuwenden. Du würdest doch genau so handeln. Wahrscheinlich wärst du bereits zwei Tage nach der Operation arbeiten gegangen.“

Akai griff nach einem Zettel. „Amerikanisches Touristenpaar schwer verletzt…“ Er seufzte. „Du sollst solche Sachen doch nicht lesen.“

„Das hast nicht du zu entscheiden, Shu“, meinte Jodie und zog den Zettel wieder zu sich.

Akai schüttelte den Kopf. „Mach was du willst, aber ich sage dir voraus, dass dich dieses Verhalten zerstören wird. Camel lebt und wird wieder gesund. Also, sieh nach vorne und jage keinem Phantom nach. Wie die Situation aussieht, wirst du den Schützen eh nicht finden.“

Jodie schluckte. „Es hätte auch anders kommen können“, sprach sie leise. „Was wenn er…wegen mir…“

„Ist er aber nicht. Und wenn du mit dem Ganzen nicht klar kommst, solltest du nach Hause gehen.“

Schockiert sah Jodie zu ihm. „Das ist…nicht dein ernst.“ Aber sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er es tatsächlich so meinte. „Shu…“, er ging an ihr vorbei, klopfte an der Bürotür von James an und trat ein. Jodie erhob sich. Sie ging ebenfalls zur Tür und verharrte dort für einen Moment. Sie wollte nicht lauschen, seufzte und schüttelte den Kopf, ehe sie zurück an ihren Platz ging.

„Akai“, kam es von James.

Shuichi nickte seinem Vorgesetzten zu und setzte sich auf den Stuhl vor dessen Tisch.

„Irgendwelche neuen Erkenntnisse?“, wollte James wissen.

„Keine Auffälligkeiten.“

James beobachtete den Agenten. Wie immer war er sehr wortkarg und gab nur das preis, was unbedingt gesagt werden musste. „Wie ist Ihre Einschätzung?“

Akai überlegte kurz, musste dann aber grinsen. „Obwohl der Abend und auch die Nacht ohne weitere Vorkommnisse verliefen und ich mir sicher bin, dass die Zielperson ihren Ehemann liebt, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es einen Haken in der Idylle gibt. Da ich nicht an Zufälle glaube und mir sicher bin, dass wir Sayaka Shibungi nicht ohne Grund in den Fokus nahmen, ist es wichtig, dass wir uns auch weiterhin um sie kümmern.“ Akai räusperte sich. „Wie Sie bereits gestern feststellten, ist sie eher ein niederes Organisationsmitglied und ich muss gestehen, dass ich mir wirklich die Einmischung anderer Mitglieder wünsche. Ich weiß aber auch, wie wichtig es ist die Organisation zu schwächen. Deswegen bin ich dafür, dass wir weiter machen und ihnen ein wenig zusetzen.“

„Verstehe“, kam es von James. „Wie wichtig halten Sie diese Geldquelle?“

„Nicht wichtig genug. Aber ausreichend um ihnen mal eine Lektion zu erteilen. Sie werden sich sicher fragen, warum ihre Quelle versiegte und dann könnten wir zuschlagen. Ich möchte aber nicht außer Acht lassen, dass auch das Pharmaunternehmen im Fokus steht.“

James dachte nach. „Wir werden das Unternehmen im Auge behalten. Unsere bisherigen Recherchen führten zu keinem weiteren Mitglied der Organisation in der Firma. Allerdings sind wir erst am Anfang. Und wir können das Unternehmen nicht verwanzen.“

„Dann sollten wir schleunigst damit beginnen neue Informationen zu erhalten“, entgegnete Akai. „Ich nehme an, ich bin für diesen Job zu auffällig. Wenn ich am helllichten Tag dort auftauche, schöpfen sie Verdacht.“ Shuichi verschränkte die Arme. „Ich würde Ihnen raten, dass ich mich erst einmal auf die nächtliche Observation fokussiere.“

„So machen wir das“, fing James an. „Haben Sie Neuigkeiten von Kir?“

„Nein. So wie es aussieht, steht sie weiterhin unter Beobachtung und muss aufpassen, dass sie sich nicht zu verdächtig macht. Ich will Kir nur ungern wegen dieser Sache in Gefahr bringen. Wir brauchen sie eher an der Front“, entgegnete er. „Zurück zu den Shibungis. Was wissen wir über die Vergangenheit von Sayaka Shibungi?“

James zog die Akte hervor. „Unsere Agenten konnten nicht viel in Erfahrung bringen. Aber wir haben alles zu ihrem beruflichen Hintergrund. Sayaka Mikage absolvierte vor fünf Jahren eine ganz normale Ausbildung als Bankkauffrau. Nachdem sie die Ausbildung abschloss, befand sie sich ein Jahr auf Reisen. Sie wollte die Welt sehen und eine neue Sprache erlernen. Wir wissen auch, dass ihre Eltern, ihre Großeltern und ihr Bruder verstorben sind. Es ist gut möglich, dass sie nach seinem Tod mit dem Reisen anfing. Das versuchen wir noch zu verifizieren“, erklärte James. „Nachdem sie wieder in Tokyo war, arbeitete sie für kurze Zeit bei einer anderen Bank. Wie es scheint wurde ihr die Stelle zu langweilig und sie bewarb sich als Assistenz der Geschäftsführung im Pharmaunternehmen Medipharm. Medipharm wurde von Sota Shibungi gegründet. Das Unternehmen beschäftigt sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von filialisierten Arzneimitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, Medizinprodukten und Kosmetikartikel. Sayaka Mikage ergatterte den begehrten Arbeitsplatz und stach 12 andere Bewerber aus. Durch ihre Arbeit lernte sie ihren Mann kennen.“

„Mhmm…es hört sich für mich danach an, dass sie auf ihrer Reise die Organisation kennen lernte und in ihre Fänge geriet. Sie war jung und brauchte das Geld. Oder was auch immer. Jedenfalls scheint es mir, dass sie aus irgendeinem Grund für sie erpressbar ist.“

„Können wir noch nicht bestätigen. Wir wissen, dass Sayaka Anfang 2014 in der Firma anfing. Mit ihrem jetzigen Ehemann hatte sie damals nur wenig privaten Kontakt. Es war eine reine Geschäftsbeziehung. Bis das Jahr zu Ende ging. Die Weihnachtsfeier gab den Ausschlag.“

Akai grinste. „So würde ich es auch machen. Hätten sie ihn sich zu früh geangelt, wäre es aufgefallen. Und möglicherweise wäre ihr Plan dann schief gelaufen, vielleicht wären sogar wir früher auf sie aufmerksam geworden. Eines muss man der Organisation schon lassen: sie sind ausdauernd. Also hat sie fast ein Jahr gewartet, ihn wahrscheinlich betrunken gemacht und ist dann zufällig neben ihm aufgewacht. Natürlich nackt damit sie an seine moralische Integrität appellieren kann.“

„Möglich. Die Hochzeit selbst fand ein halbes Jahr später statt.“

„Nicht ungewöhnlich für Japaner.“

„Ich mache mir Gedanken, warum sich die Organisation nicht direkt Sota Shibungi ausgesucht hat“, kam es von James.

„Vielleicht haben sie es versucht und er ließ sich nicht kaufen. Sie unterziehen ihn einem Test. Wahrscheinlich haben sie jemanden geschickt der seine Moralvorstellungen überprüft. Es wäre auch möglich, dass er eine viel zu große Familie besitzt und damit aus dem Beuteschema heraus fällt. Obwohl man durch die Familie sehr leicht erpressbar ist, kann die Familie einen auch auf den richtigen Pfad zurück bringen“, sprach Shuichi. „Haben wir Informationen über sein Testament?“

„Noch nicht. Es ist nicht leicht an so etwas zu kommen, wenn man nicht auffallen darf.“

Akai nickte. „Ich bin mir sicher, dass seine Ehefrau alles erben wird. Das Geld und die Firma – falls diese dann noch existiert. Dass Sota Shibungi bisher noch nicht Tod ist, kann nur zwei Dinge bedeuten: es gibt kein Testament indem Sayaka die Begünstigte ist oder es gibt eines mit einer Klausel. Vielleicht erbt Sayaka erst, wenn sie mindestens zwei Jahre verheiratet sind oder wenn sie schwanger ist. Egal was es ist, wir sollten der Organisation nicht zu viel Zeit geben. Wenn sie merken, dass wir ihnen auf den Fersen sind, werden sie versuchen schneller zu sein.“

James runzelte die Stirn.

„Wie sieht die Firma aus?“

„Nun ja…“, begann er und holte zwei Baupläne heraus. „Das Unternehmen ist in zwei Etagen gegliedert. In der obersten Etage befindet sich die Produktionsstätte. Unten finden die ganzen regulatorischen Tätigkeiten statt. Das Büro des Geschäftsführers befindet sich interessanterweise in der oberen Etage.“

„Sehr ungewöhnlich. Normalerweise müsste er unten sitzen. Vielleicht hat er Angst, dass man ihn vom Erdgeschoss überrumpeln kann.“

„Möglich wäre es“, sagte James. „Die Frage können wir ein anderes Mal besprechen. Generell macht uns der Standort einige Probleme. Um in den unteren Bereich eintreten zu können, haben wir vier Eingänge.“ Er zeigte auf die Baupläne. „Nummer eins: der ganz normale Eingang. Nummer zwei: Lastenaufzug. Nummer drei: Hinterausgang und Nummer vier: Keller über die Parkplätze.“

„Nicht zu vergessen, dass wir viele Fenster haben, die potentielle Ein- und Ausgänge darstellen“, fügte Akai an. „Genügend Fluchtmöglichkeiten.“

„Und da wir sie nicht abhören können, wissen wir auch nicht, was drinnen vor geht.“

„Genau“, murmelte James. „Wir sollten natürlich auch nicht den logistischen Aspekt vergessen. Sayaka Shibungi ist zwar die Assistenz der Geschäftsführung, ist aber nicht bei allen Terminen anwesend. Da ihr Mann ihr vertraut, darf sie einige selber leiten und erläutert ihm anschließend alles. Unsere Männer stehen bereits vor den Eingängen und beobachten.“

Akai nickte. „Dann sollten wir das Unternehmen so schnell wie möglich infiltrieren.“

„Ich habe gehofft, dass Sie das sagen.“

„Wenn haben Sie im Auge?“

„Jodie.“

Akai verengte die Augen. „Sind Sie sich sicher? Jodie ist den ersten Tag im Dienst.“

„Jodie wurde vom Arzt wieder diensttauglich geschrieben“, entgegnete Black.

„Das heißt nichts“, gab Shu von sich. „Sie sollte sich besser ausruhen und die Sache mit Camel verarbeiten.“

„Es bringt keinem etwas, wenn Jodie den ganzen Tag zu Hause sitzt und sich Vorwürfe macht“, warf er ein.

„Die macht sie sich so oder so“, entgegnete Akai. „Und wenn sie diese im Dienst macht und dadurch nicht aufpasst, können noch weitere Personen verletzt werden. Jodie kann verletzt werden. Wollen Sie das?“

James verengte die Augen. „Sie machen sich Sorgen um sie.“

„Sie wissen genau wie ich, dass Jodie beim nächsten Mal daran zugrunde gehen wird.“

Leider musste James dem zustimmen. „Glücklicherweise ist Agent Camel auf dem Weg der Besserung. Und ich finde nicht, dass wir Jodie weiterhin schonen sollten. Was passiert ist, ist passiert“, fing er an. „Wenn wir Jodie die ganze Zeit über außen vor lassen und ihr keine Aufträge zutrauen, wird sie sehr schnell das Selbstbewusstsein verlieren. Sie wird alles infrage stellen und noch mehr Fehler machen. Aus diesem Grund ist es besser, wenn wir sie in die Arbeit miteinbeziehen. Und ich finde, dass sie für diesen Auftrag bereit ist. Sie wird ihr Bestes geben und sich beweisen.“

Akai zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“

James sah ihn skeptisch an. „Sie wollte also nur wissen, warum ich gewillt bin Jodie den Auftrag zu geben, nicht wahr?“

„Mitleid wäre genauso kontraproduktiv wie wenn Jodie am Schreibtisch hocken muss.“
 

***
 

Jodie erwischte sich wie sie andauernd zu der Bürotür schielte. Seitdem Shuichi vor einer dreiviertel Stunde heraus getreten war, hatte James kein Wort mit den anderen Agenten gewechselt. Jodies Neugier war groß. Worüber hatten sie gesprochen? Gab es einen neuen Auftrag für Shu? Oder ging es dabei um sie? Vielleicht wollte Shu sie wirklich nicht vor Ort haben. Was wenn es um ihre Tauglichkeit ging?

Jodie war nicht auf den Kopf gefallen. Die Organisation verhielt sich auffallend ruhig. Es konnte einfach kein gutes Zeichen sein. Aber sie hatten keine Anhaltspunkte und konnten daher nur recherchieren und warten.

Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Shu und James ab. Auf welcher Seite stand Shu? Würde er zu ihr halten und sie in den Dienst schicken oder war er der Meinung, dass sie noch zu Hause bleiben sollte? Letzteres wollte sie nicht. Warum auch? Was machte sie schon dort?

Aufstehen. Durch die Wohnung laufen. Sich Fragen stellen. An Camel denken. Schlafen gehen. Großartiges Leben das sie da hatte. Ihre Eltern wären sicher stolz. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr. Man musste sie nicht beschützen. Aber scheinbar bekam sie es auch nicht alleine hin.

Jodie seufzte leise auf. Sie versuchte sich wieder auf ihre Unterlagen zu konzentrieren, als die braune Tür aufging. Sofort hob sie den Kopf in diese Richtung.

„Jodie? Kann ich dich kurz sprechen?“

Die Agentin nickte und stand auf. Nachdem sie in die Räumlichkeiten trat, schloss sie die Tür und setzte sich auf einen der Stühle vor dem Tisch. „Ist irgendwas passiert?“, wollte sie wissen. Unweigerlich musste sie schlucken. „Ist etwas mit Camel? Geht es ihm nicht gut? Oder hat es was mit Shu zu tun? Hat er was über mich gesagt? Will er das ich gehe?“, sprudelte es gleich aus ihr heraus.

„Es ist alles in Ordnung, Jodie. Beiden geht es gut. Akai hat sich nicht negativ über dich geäußert.“

Sie war erleichtert. „Entschuldige…da sind die Pferde wohl mit mir durchgegangen.“

James musterte sie. „Du wurdest vom Arzt wieder diensttauglich geschrieben“, begann er. „Was macht die Schulter?“

Jodie blickte auf die Stelle. „Wie schon heute morgen gesagt: Nur ein kleiner Kratzer.“ Wobei klein eine ganz eigene Definition hatte. Zwei Wochen schmerzte die Stelle wie die Hölle. Ohne Schmerzmittel hatte sie nicht gewusst, wie sie paar Tage geschweige denn einige Wochen überleben sollte. Nach 14 Tagen bebte der Schmerz ab und es ging ihr wieder besser. „Ich fühle mich wirklich bereit wieder zu arbeiten. Egal welcher Auftrag es ist. Gib mir die Chance, James!“

„Gut.“ James zog eine Akte hervor. „Wir ermitteln im Fall von Medipharm, ein Pharmaunternehmen, welches sich auf die Herstellung und den Vertrieb von filialisierten Arzneimitteln, Kosmetika, Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten spezialisiert hat. Die Zielperson ist Sayaka Shibungi. Sie ist die Ehefrau des Geschäftsführers Sota Shibungi. Es ist anzunehmen, dass sie die Hochzeit des Geldes wegen voranschob und dieses der Organisation überweist.“

„Geldquelle“, murmelte Jodie.

„So ist es“, nickte der Ältere. „Wir observieren das Ehepaar Tag und Nacht. Akai hat die Nachtschicht übernommen. Er sieht es wie ich. Bei der Frau handelt es sich wohl um ein kleines Mitglied der Organisation.“

„Verstehe“, sprach Jodie und sah auf die Akte.

„Da das Ehepaar einen großen Teil ihrer Zeit in der Firma verbringt, möchte ich, dass du dich dort einschleusen lässt.“

„Ich…ich soll…“

„Undercover gehen“, führte James den Satz zu Ende. „Du hast bereits als Lehrerin gezeigt, dass es dir nicht schwer fällt eine andere Rolle zu spielen. Du wirst nicht alleine agieren. Dir werden die Agenten zur Verfügung stehen. Im Notfall werden sie eingreifen. Aber du musst bedenken, dass wir dich verwanzen können. Und wir können das Unternehmen auch nicht abhören. Solltest du dich entscheiden den Auftrag anzunehmen, fahren wir fort.“

„Verlass dich auf mich, James.“

„Gut. Schritt eins besteht immer noch darin dich in das Unternehmen einzuschleusen.“

„Gibt es eine offene Stellenanzeige?“

James schüttelte den Kopf. „Diesmal leider nicht.“

„Mhm…“, murmelte sie. „Hast du Kontakte dort?“

„Auch nicht.“ James lehnte sich nach hinten. „Bei den Recherchen ist einem Agenten aufgefallen, dass Herr Shibungi mit Professor Agasa befreundet ist oder war. Ich fände es gut, wenn du den Professor morgen aufsuchst und mit ihm darüber sprichst. Vielleicht erfahren wir dadurch noch mehr. Eventuell besteht die Möglichkeit, dass wir dich durch den Professor in das Unternehmen bringen können.“ James seufzte. „Ich spanne ungern Zivilisten für solche Aktionen ein. Außer es ist wirklich notwendig.“

„Ich auch“, gab Jodie von sich.

„Jodie? Traust du dir den Auftrag auch wirklich zu?“

„Natürlich“, kam es sofort von ihr. „Mach dir keine Sorgen, James. Ich kann das, was mit Camel passiert ist, von meinem jetzigen Auftrag trennen.“

Er nickte. „Akai wird dich bei allem unterstützen.“

03.12.

Jodie stand bereits früh auf. Sie war voller Tatendrang. Nun konnte sie zeigen, was in ihr steckte, sich beweisen und dem Fall zu einem Durchbruch verhelfen. Da sie sowieso nur kaum schlafen konnte, brauchte sie nicht einmal einen Wecker. Jodie saß auf dem Sofa, eine Tasse Kaffee stand neben ihr. Der Laptop lag aufgeklappt auf dem Tisch und zeigte eine Suchmaschine.

Jodie machte ihre Hausaufgaben. Sie erhielt zwar Informationen von James, aber es konnte nicht schaden, wenn sie auch selber recherchierte. Ihr ursprünglicher Plan sah vor, dass sie Professor Agasa am Abend zuvor telefonisch um einen Termin bitten wollte. Sie hatte die Nummer bereits in ihr Telefon eingetippt, ließ es aber dann dabei bleiben.

Keine Zivilisten.

Der Professor wusste von der Organisation. Aber so lange es ging, mussten sie ihn aus dem Fadenkreuz raushalten. Mit einer vorherigen Terminabsprache hätte nicht nur der Professor von ihrem Kommen gewusst. Und wenn Ai einen Verdacht hatte, würde schon sehr bald Conan informiert werden.

Jodie mochte Conan. Aber es gab Aufträge bei denen der Junge einfach nichts tun konnte und es auch nicht durfte. Das FBI hatte nicht den Ermessensspielraum um Conan in Gefahr zu bringen. Und auch wenn der jetzige Auftrag keine Gefahr darstellte, war es einer bei dem Conan nicht helfen konnte. Zumindest noch nicht.

Wenn Jodie am Ende ohne Informationen da stand oder sich der ganze Fall als Reinfall entpuppte, konnte sie noch immer mit dem Grundschüler sprechen. Vorher die Hunde Scheu machen, brachte keinem etwas.

Normalerweise hörte Jodie auch nie auf Kinder. Allerdings hatte sich Conan Edogawa ihren Respekt verdient. Er war hoch intelligent und wirklich begabt. Außerdem schien er kein gewöhnlicher Grundschüler zu sein. Leichen machten ihm nichts aus. Und sobald er den Schrei einer Person vernahm, lief er los, wollte helfen und setzte sich für die Opfer ein. Dass er in die Geschehnisse um die Organisation involviert war, erkannte sie nach der Begegnung mit Vermouth. Entgegen ihrer Art ließ sie Conan auch danach noch am Leben. Und dann war da noch die Sache mit Kir. Für Conan war die Organisation normal. So als würde er sie die ganze Zeit jagen. Nur war es jetzt nicht an der Zeit um die Wahrheit über Conan heraus zu finden. Jodie schüttelte den Kopf.

Nicht jetzt. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.

Immer mal wieder blickte Jodie auf die Uhr am Laptop. Keine Ablenkungen mehr. Da sie nicht zu früh beim Professor auf der Fußmatte stehen wollte, öffnete sie den Internet-Browser. Mit einigen Mausklicks ließ sie sich die Unternehmensgeschichte von Medipharm anzeigen. Sie war nicht gerade spektakulär, aber wenigstens gab es sie im Internet – was man von Sota Shibungi nicht behaupten konnte. Die Firma wurde 2005 von Sota Shibungi gegründet und war zunächst nur auf Arzneimittel und Medizinprodukte ausgelegt. Damals waren sie außerdem nur für die Herstellung von Salben und Gelen zuständig. Zwei Jahre später hatten sie sich auf dem Markt weites gehend etabliert und fingen mit anderen Darreichungsformen, unter anderem Weichkapseln, Pulvern und Tabletten an. Irgendwann kamen schließlich die Nahrungsergänzungsmittel und die Kosmetikartikel hinzu. Jodie schrieb das Wichtigste mit. Für eine erste Übersicht reichte die Internet-Präsenz aus.
 

***
 

Jodie stand vor dem Haus von Professor Agasa. Sie brauchte „Vitamin B“, den Kontakt zu Bekannte.

Sag nicht zu viel. Wir bringen keine Zivilisten in Gefahr.

Sie war gespannt ob der Professor alleine zu Hause war. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit das Ai auch zu Hause war hoch. Und trotzdem hoffte sie, dass das Mädchen mit Conan und den Detective Boys unterwegs war.

Ai war ein sehr zurück gezogenes, ruhiges Mädchen. Außer man brachte sie in die Bredouille. Dann konnte sie aufbrausend sein. Und sie setzte sich für Freunde, aber auch für Fremde ein. Aus irgendeinem Grund schien sich Ai zu verstecken. Ai Haibara kannte die Organisation. Und sie kannte sie besser als jemand anderes. Ai konnte die Namen den Mitgliedern zu ordnen. Einige schien sie persönlich zu kennen. Und Vermouth war fixiert auf sie. Sie wollte das Mädchen unbedingt erschießen.

Sherry.

So hatte Vermouth das Mädchen bei ihrer Begegnung genannt. Sherry. Ein spanischer Weißwein, der aus Andalusien stammt. Ein Getränk welches sie selbst favorisierte und gerne trank. Fast hätte er sie verraten. Nur weil Jodie Conan und Heiji Hattori bei der Fallaufklärung half, nahm sie zu viel ihres Leibgetränkes ein und sagte die merkwürdigsten Sachen ehe sie einschlief.

Aber Sherry musste ein Mitglied der Organisation sein. Und Ai war definitiv noch ein Kind. Ein Kind und ein alkoholischer Name machten die Situation nicht einfacher. Und dann war da noch die Dartscheibe die sie in Vermouths Wohnung fanden.

Jodie schüttelte den Kopf.

Nicht abschweifen, mahnte sie sich. Selbst wenn Ai nun nicht zu Hause war, war sich Jodie sicher, dass das Mädchen bald vom Professor in die neusten Tätigkeiten des FBIs eingewiesen werden würde.

Bis Jodie von zu Hause losgefahren war, überlegte sie, wie sie den Professor am besten auf Sota Shibungi ansprechen sollte. Sollte sie ihm direkt die Wahrheit sagen oder sich lieber eine Ausrede einfallen lassen? Auf der anderen Seite brachte es ihr nichts zu Lügen. Sie durfte dem Professor zwar nichts zur Organisation mitteilen, aber das hieß nicht, dass sie sich eine komplett neue Hintergrundgeschichte ausdenken musste. Der Professor war – wie Conan und Ai – mit den Machenschaften der Organisation vertraut und versuchte die Kinder zu schützen. Er bot ihnen immer wieder seine Hilfe an. Eine Hilfe, die sie auf gar keinen Fall annehmen durften.

Jodie entschied, sich wie immer zu verhalten und ganz natürlich zu agieren. Spontan und normal. Sie wollte sich nicht andauernd verstellen und so tun, als wäre die Sachlage eine ganz andere. Das war nicht ihre Art und es wirkte immer ein wenig gekünstelt. Genau wie damals als Englischlehrerin. Dass sie damit überhaupt durchkam, grenzte schon an ein Wunder. Ihre einzige Vorgabe damals bestand darin, keinen Verdacht auf sich zu ziehen. Dafür hatte sie extra lange recherchiert und überprüft wie sich die Japaner eine amerikanische Frau vorstellten. Sie hatte selbst einige Japaner aufgesucht und sie zu diesem Thema befragt. Jodie musste ein wenig aufreizend gekleidet herum laufen und ihren exotischen Status als blonde Frau ausnutzen. Und natürlich musste sie locker sein. Dazu legte sie sich extra einen stark übertrieben Akzent zu, so als würde sie gerade erst mit dem japanisch anfangen. Manchmal fiel es allerdings auch ihr schwer alles durch zu ziehen.

Jodie klingelte an der Haustür des Professors. Sie musste ein wenig schmunzeln. Bis vor einigen Wochen lebte noch Shuichi unter seiner falschen Identität – Subaru Okiya – im Haus nebenan und kam häufiger zu Besuch. Allein das hätte sie schon schockieren sollen. Viel schockierender war seine neue Art. Er war nett und zuvorkommend, kümmerte sich um sein Umfeld, goss die Blumen und konnte kochen. Er war – normal. Diese Art von ihm machte ihr am Anfang sogar ein wenig Angst. Sie war nicht nur befremdlich, sie war komisch. Seit sie den Mann kannte, wirkte er anderen Menschen gegenüber immer unfreundlich und bedrohlich. Er konnte nicht einmal etwas mit Kindern anfangen, nannte sie Nervensägen und fand, dass sie sich in alle Themen einmischten. Die Person die Akai anschließend spielte, war ganz anders. Er war kein Einzelgänger, er mochte seine Mitmenschen und brachte den Kindern gern etwas bei. Er wurde von ihnen geschätzt und zu Ausflügen eingeladen. Trotz allem wollte er sich Ai noch nicht offenbaren. Und Jodie respektierte diesen Wunsch.

Sie erinnerte sich noch an die erste Begegnung mit Subaru Okiya. Jodie war im Kaufhaus und suchte nach Narben-Akai. Ihre Spur war nur die Mütze die dieser auf dem Kopf trug. Camel hatte sie damals mit geschleppt ohne ihm die Wahrheit zu sagen. Und als Narben-Akai das Einkaufszentrum verließ, versuchte sie ihn aufzuhalten und stieß mit Subaru Okiya zusammen. Unsanft landete sie auf dem Boden, doch er half ihr hoch und sah sie mit diesem ganz speziellen Blick an. Hätte sie besser auf die Hinweise geachtet und ihrem Gefühl vertraut, hätte sie es vielleicht schon eher erkannt. Aber sie hatte nur Augen für Shuichi und rannte fast in ihr Verderben.

Wie konnte sich in der kurzen Zeit nur so viel verändern? Jodie war sich nun nicht einmal mehr sicher, ob Shu die ganze Zeit nur eine Rolle spielte. Um das heraus zu finden, brauchte es aber noch mehr Zeit. Welcher Shuichi Akai gefiel ihr besser? Beide hatten ihre Vorzüge, aber sie wollte den echten Akai. Den Akai, der sie nicht verunsicherte.

Shuichi ließ sie wie immer außen vor. Zuerst die Trennung vor einigen Jahren. Er entschied. Er ganz alleine. Sie hatte kein Mitspracherecht obwohl sie in einer Beziehung waren. Und dann sein Tod. Er setzte ihr zu. Täglich weinte sie sich in den Schlaf und zwang sich am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Zu Zeiten wo sie viel zu tun hatte, hörte der Schmerz auf. Sie verdrängte ihn. Aber er kam wieder kaum dass sie alleine war. Mit der Zeit wurde Jodie blasser, unglücklicher und nahm ab. Jeden Abend schlurfte sie zu ihrer Wohnung zurück, schaltete das Licht an und setzte sich entweder auf das Sofa oder ging direkt ins Bett. Und dann fingen ihre Tränen an zu laufen bis sie erschöpft in den Schlaf fiel. Am nächsten Morgen war sie vollkommen fertig und fühlte sich wie überfahren. Erst das Auftauchen von Narben-Akai gab ihr wieder neue Hoffnung. Sie suchte ihn und hatte ein neues Ziel vor Augen. Die Organisation rückte auf Platz 2. Sie kam nicht einmal auf die Idee, dass sie nur benutzt wurde um Akais Tod zu verifizieren oder um ihn aus seinem Versteck heraus zu locken. Aber es war egal. Sie fühlte sich schlagartig besser. Und am Ende offenbarte er sich ihr. Er kam zurück.

Und was hatte Conan mit der ganzen Situation zu tun? Warum wollte Shuichi, dass keine Zivilisten wie Conan und Professor Agasa in die Sache hineingezogen wurden während er es doch tat? Jodie konnte die Art des Agenten einfach nicht nachvollziehen. Welchen Plan hegte er? Conan half Akai und Akai half Conan. Warum ausgerechnet der Junge? Warum war Shu nicht zu ihr gekommen? Hielt er so wenig von ihr?

Jodie schüttelte hastig ihren Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Ihr Auftrag war wichtig. Sie musste ihn sich in Gedanken rufen und so oft es ging an ihm arbeiten. James setzte sein Vertrauen in sie und sie durfte es nicht verspielen. Sie durfte keinen Fehler machen.

Jodie ahnte bereits, dass die mitleidigen Blicke der Belegschaft sie auf immer verfolgen würde. Wobei die Blicke der Kollegen nicht das Problem darstellten. Es war schlimmer wenn James und Shu sie so ansahen. Sie kam sich dann wie ein kleines Kind vor und wollte sich verkriechen. Es war leicht nach außen hin die taffe Agentin zu mimen. Sie hatte lange an ihrem Ruf gearbeitet. Aber die Wahrheit war eine andere. Sie war noch immer eine unsichere junge Frau die ihren Weg ging.

Nun reiß dich zusammen, mahnte sie sich erneut. Wie sollte sie an der jetzigen Stelle überhaupt einen Fehler machen? Der Auftrag befand sich noch am Anfang. Sie musste nur ein Gespräch führen. Mehr nicht. Wenn es neue Informationen gab, würde sie diese mitbringen.

Die Agentin seufzte. Wann war ihr Leben eigentlich so kompliziert geworden? Und warum musste sie dazu noch darauf achten, dass Personen die offensichtlich auch in den Fall verstrickt waren, nichts ahnten? Manchmal vermisste Jodie die Auftrage in denen es nicht um Undercover-Missionen ging: Aufträge die schnell erledigt werden konnten und einfach waren. Sie dauerten meistens nur 1-2 Wochen. In seltenen Fällen länger. Aber sie war selber Schuld. Damals in den Staaten bekam sie von James nur Kleinigkeiten. Und dann wollte sie mehr. Viel mehr. Sie wollte in die Fälle der Organisation eingebunden werden und die Mörder ihres Vaters finden. Sie wollte die Welt verbessern.

Aber nun war es Jodies Primärziel den Tag nur noch hinter sich zu bringen. Ein weiteres Mal drückte die Agentin auf die Klingel. Der Ton erklang und erst dieses Mal bemerkte sie, dass der Professor noch immer eine ganz normale Klingel besaß. War es nicht offensichtlich, dass er für sein Haus einen eigenen Ton konzipierte? Oder hatte Ai etwas dagegen?

Als Jodie ihm damals vorgestellt wurde, hatte sie das typische Bild von einem Professor vor sich. Sie sah, wie er in seinem Labor stand, ausgestattet mit Kittel und Laborbrille, bastelte und kurz darauf flog alles in die Luft. Anschließend stand er mit einem rußbefleckten Gesicht da und wunderte sich.

Fast hätte sie bei diesem Anblick anfangen müssen zu lachen. Die Vorstellung wurde auch nicht besser als Shu die Position des Professors einnahm. Stattdessen musste sie ihre ganze Kraft aufbringen um nicht loszulachen. Es war wirklich schwer.

Nun aber stand sie vor seiner Tür und wartete…Hatte der Professor tatsächlich eine andere Verabredung oder war für Einkäufe außer Haus? Vielleicht war er auch mit den Kindern unterwegs. Jodie hatte diese Szenarien nicht bedacht. Sie biss sich auf die Unterlippe. Warum musste sie spontan vorbei kommen? Es war ihre Schuld wenn der Zeitplan nicht eingehalten werden konnte. Die Agentin holte ihr Handy aus der Handtasche und suchte nach der Nummer des Professors. Sie seufzte. Es war unvermeidlich ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Eine Nachricht die mit großer Wahrscheinlichkeit von Conan und Ai mitgehört werden würde.

„Großartig…einfach nur großartig…“ärgerte sie sich. Der Vormittag war die reinste Zeitverschwendung. Sie würde nach Hause gehen und sich überlegen wie sie alles richten konnte. Vielleicht würde sie erneut recherchieren in der Hoffnung doch noch Material über Sota Shibungi zu finden. Vielleicht war es auch in der Suchmaschine so weit nach hinten gerutscht, dass eine Suche länger dauerte. Und wenn es nicht so war, musste sie mit James reden. Ein Unterschied zwischen Amerikanern und Europäern zu Japanern bestand leider auch darin, dass die Japaner ihr Privatleben nicht im Internet öffentlich machten. Sie hatten keine Accounts zu den Plattformen und posteten nicht dauernd was sie wann und wo taten. Sie schrieben nichts über die Dinge, die sie ihrem Körper zuführten oder ab. Warum konnten die Japaner nicht in diesem Moment eine andere Mentalität an den Tag legen? Jodie brauchte doch nur ein paar kleine Informationen. Nichts Großes.

Während sich Jodie umdrehte und zum Gehen aufmachte, wählte sie die Nummer des Professors. Die Sekunden verstrichen…aber es passierte nichts. Als sie den Anrufbeantworter des Professors hörte, sprach sie drauf: „Hallo Professor Agasa, Jodie Starling hier. Könnten Sie mich bitte zurück rufen?“

Sie steckte ihr Handy wieder ein. Erneut seufzte sie. Jetzt hieß es abwarten und auf einen frühen Rückruf hoffen.

„Miss Jodie?“

Die Gefragte drehte sich um. Er war also doch zu Hause. „Professor Agasa.“ Sie nickte ihm zu. Ihre Laune besserte sie.

„Bitte entschulden Sie, dass es so lange gedauert hat. Ich war unten in meinem Labor und habe ein wenig gebastelt.“

„Eine neue Erfindung?“, wollte Jodie wissen.

„Naja…so in der Art“, murmelte er und kratzte sich am Hinterkopf. Er konnte ihr schlecht sagen, dass Ai unten am Gegenmittel für das APTX 4869 arbeitete, Conan ihr zu schaute und einfach nur zuschaute. „Ich hab mir ein paar alte Erfindungen angesehen. Kommen Sie doch rein.“ Agasa stellte sich ein wenig abseits.

„Danke.“ Jodie trat ein und sah sich um. „Sind Sie heute alleine da?“

Bitte. Lass. Ihn. Alleine. Sein.

Agasa schüttelte den Kopf. „Conan und Ai sind ebenfalls unten und sahen mir zu. Sie sind noch in meinem Labor. Soll ich sie nach oben holen?“

„Nein“, kam es sofort von Jodie. „Ich bin hier, weil ich mit Ihnen sprechen muss. Alleine.“

Agasa runzelte die Stirn. „Natürlich….“

Jodie folgte ihm in das Wohnzimmer und setzte sich. Vielleicht hatte sie wirklich Glück und Conan blieb mit Ai lange genug unten. Aber dafür musste sie schnell machen. Jodie holte ihr Notizbuch aus der Handtasche heraus.

„Möchten Sie einen Tee? Oder einen Kaffee?“

Jodie schüttelte den Kopf. „Nein, Danke.“ Sie sah ihn an. „Bevor ich anfange, Professor, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass alles was zwischen uns nun besprochen wird, diese Räumlichkeiten nicht verlassen darf. Sie dürfen auch weder Conan noch Ai etwas von diesem Gespräch erzählen. Bitte geben Sie mir ihr Wort darauf.“

Agasa musste schlucken. Wenn jemand so anfing, konnte es nichts Gutes verheißen. „Sie haben mein Wort.“

„Danke. Ist es richtig, dass Sie früher einmal Kontakt zu einem Herrn Shibungi pflegten?“, wollte Jodie wissen.

„Ja, ich kenne ihn“, kam es gleich vom Professor. „Wir haben zusammen studiert.“

Jodie sah ihn überrascht an. Er hatte mit Sota Shibungi studiert? Pharmazie? „Sie haben also mit Sota Shibungi Pharmazie studiert?“, fragte sie deswegen nach.

„Was? Sota? Nein…nein…ich meinte seinen Vater. Kaito. Kaito Shibungi“, entgegnete Agasa. „Sota hat sich nie für Ingenieurwissenschaften interessiert. Er wollte, wie Sie erwähnten, Pharmazie studieren.“

„Mhmm… verstehe“, murmelte Jodie. „Dann fangen wir am besten vom Anfang an. Kaito Shibungi. Wie haben Sie ihn kennen gelernt?“

„Das war nicht spektakulär. Wir haben uns damals auf der Einführungsveranstaltung unseres Studienjahrgangs kennen gelernt. Wir waren viele Studenten sodass uns die Dozenten in unterschiedliche Gruppen einteilten. Wir sollten einen Zettel ziehen und den Zwilling mit dem gleichen Wort finden. So sind Kaito und ich ins Gespräch gekommen. Wir haben gemerkt, dass wir uns gut verstanden und die gleiche Ziele hatten. Daraufhin saßen wir in allen Vorlesungen zusammen und versuchten die gleichen Kurse zu belegen. Kaito war schon immer ein sehr guter Student. Er arbeitete verbissen und hatte sich voll und ganz auf sein Ziel konzentriert. Sie hätten ihn damals sehen sollen. Er war strukturiert mit fünf-Jahres-Plänen. Ich hielt davon nichts. Ich war mir sicher, dass ich die Zukunft nur bis zu einem bestimmten Grad planen kann. Aber Kaito…er hatte alles bis ins Detail vorhergesehen. Beziehungsweise er wollte das.“

Jodie nickte.

„In seinem letzten Jahr lernte Kaito seine Frau kennen und kurze Zeit später war auch der gute Sota unterwegs. Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, dass Frau und Kind so gar nicht in seinen Zeitplan passten. Ich weiß noch wie wütend er damals war. Er musste den Plan zerreißen und schrieb stattdessen einen neuen. Aber als er Sota das erste Mal auf dem Arm hielt, bemerkte er, dass es auch wichtigere Dinge im Leben gibt als das Studium und die Karriere. Leider konnte er nicht aus seiner Haut. Kaum das ein Plan nicht mehr funktionierte, schrieb er den nächsten und den nächsten und den nächsten… Sie wissen worauf ich hinaus will, nicht wahr?. Nach seinem Studienabschluss fing Kaito bei einem Chemiekonzern an. Dort arbeitete er so lange bis er schließlich in Rente ging. Ich war damals auf seiner Abschiedsfeier.“

„Mhm…und was wissen Sie über seinen Sohn: Sota Shibungi?“

„Eigentlich nicht viel. Ich sah ihn in der Anfangszeit natürlich häufiger. Aber Sota war klein und nachdem wir unseren Abschluss in der Tasche hatten, verlief sich der Kontakt. Zu Beginn wurde ich öfters eingeladen. Ich versuchte auch an Geburtstagen teilzunehmen. Aber irgendwann ließ es die Zeit nicht mehr zu. Wir sahen uns über 30 Jahre nicht mehr. Zu seiner Abschiedsfeier stand ich allerdings auf der Gästeliste. Sota war auch dort. Kaitos Wunsch war es, dass Sota in seine Fußstapfen tritt und noch besser wird. Sota aber interessierte sich nie für diese Art der Naturwissenschaften. Er wollte viel lieber Pharmazie studieren.“

„Was er auch getan hat.“

Agasa nickte. „Wie ich gehört habe, leitet er mittlerweile ein gut laufendes Pharmaunternehmen.“

„Er hat es vor einigen Jahren gegründet und ist mittlerweile auch verheiratet.“

Der Professor lächelte. „Das freut mich für ihn.“

„Haben Sie sonst noch Kontakt zu den Shibungis?“

Agasa schüttelte den Kopf. „Nur hier und da eine Karte zu Weihnachten oder zum Geburtstag.“ Er sah Jodie an. „Ich bin Ihnen keine große Hilfe, nicht wahr?“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Professor. Sie haben mir bereits geholfen. Nun konnte ich mir ein besseres Bild über die Familie machen.“

„Wenn Sie wollen, höre ich mich ein wenig für Sie um. Oder benötigen Sie den Kontakt zu den Shibungis?“

„Danke, nicht nötig. Ich habe alles erfahren, was ich wissen musste.“

Agasa überlebte. „Es geht um die Organisation“, sprach er dann leise. „Arbeiten die Shibungis für sie?“

Jodie schwieg.

„Ich hab Recht, nicht wahr?“

Jodie nickte. „Das muss aber wirklich unter uns bleiben. Ich kann Ihnen nicht viel darüber sagen. Wir wissen nicht, wer von Ihnen für die Organisation tätig ist. Wir wissen nur, dass sie ihre Finger im Spiel haben.“

Agasa schluckte. „Ich…werde kein Wort sagen“, fing er an. „Das bleibt unter uns.“

„Was bleibt unter Ihnen?“

Jodie drehte den Kopf zur Seite. „Conan…Ai…“ Sie lächelte gezwungen. „Schön euch zu sehen.“

„Gleichfalls.“ Conan musterte sie. „Gibt es Neuigkeiten zur Organisation?“

„Nein. Ich hatte nur ein paar allgemeine Fragen an den Professor.“

Bereits an Conans Gesichtsausdruck erkannte sie, dass der Grundschüler ihr nicht glaubte. Aber daran war nichts mehr zu ändern. Conan musste damit leben. Vorerst.

„Wirklich?“, kam es von dem Grundschüler.

„Sie sahen aber nicht so aus“, warf Ai ein.

„Haben Sie eine neue Spur zu der Organisation?“, fragte Conan direkt heraus.

Jodie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie sah ruhig auf die beiden Kinder und überlegte sich ihre Worte ehe sie sprach. „Auch wenn es mein Primärziel ist die Organisation ausfindig zu machen und sie für ihre Verbrechen zu überführen, erhalte ich gelegentlich auch Aufträge aus den Staaten. Unter anderem handelt es sich dann um ein wenig Recherchetätigkeit für verschiedene Bereiche. Da wir hier nicht so gut aufgestellt sind wie drüber, muss ich auf andere Ressourcen zurück greifen.“

„Deswegen waren Sie also hier?“, wollte Ai wissen.

„Genau.“ Im Grunde war es auch keine Lüge.

„Egal wofür Sie recherchieren, vergessen Sie bitte nicht, dass sich die Organisation überall befindet. Sie halten ihre Augen und Ohren immer offen. Man könnte meinen die Aussage Die Wände haben Ohren wurde von der Organisation in die Gesellschaft integriert.“ Ai blickte mit einer Mischung Langeweile und Furcht zu ihr. „Menschen denen man sein Vertrauen entgegen brachte, können einen sehr viel schneller Verraten als fremde Menschen. Menschen die Fehler machen sind einfacher zu manipulieren und zu erpressen“, fügte sie an.

Obwohl Jodie Ai ein wenig kannte, überraschte sie die Aussage des Mädchens. Sie schien aus Erfahrung zu sprechen. „Mach dir mal um mich keine Sorgen. Ich kann auf mich aufpassen.“

„Trotzdem. Sie sollten nicht vergessen, dass überall Mitglieder der Organisation tätig sind. Wir wissen ja, dass sie hohe Positionen in der Gesellschaft bestreiten. Passen Sie auf, dass Sie nicht unwissentlich auf einen von ihnen treffen.“

Ai nickte zustimmend. „Die Tatsache warum sie noch nicht aufgeflogen sind, liegt daran, dass ihre Mitglieder weit zerstreut sind und sie einander immer ein Alibi geben würden.“

„Das weiß ich doch alles“, entgegnete Jodie ruhig. „Professor, ich möchte nicht mehr von Ihrer Zeit stehlen. Sollten Sie weitere Informationen für mich haben, melden Sie sich bitte…egal zu welcher Zeit.“

„Ja, natürlich“, nickte Agasa. Er stand auf und brachte Jodie in den Flur. „Passen Sie auf sich auf.“

„Das mach ich“, nickte die Agentin. „Und Professor? Bitte vergessen Sie nicht, dass Conan und Ai nichts erfahren soll.“

„Machen Sie sich darum keine Gedanken“, entgegnete er. Das Telefon im Haus fing an zu Klingeln. „Oh…ich müsste dann…“

„Ja, natürlich. Auf Wiedersehen.“

04.12.

Jodie lag in ihrem Bett. Sie war wach und wälzte sich hin und her. Irgendwann gab sie schließlich auf und sah zu ihrer Uhr.

0:50 Uhr.

Warum konnte die Zeit nicht schneller vergehen? Die Agentin drehte sich auf die linke Seite. Sie schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Zwei Minuten später drehte sie sich auf die rechte Seite und das Spiel ging von vorne los. Egal was Jodie tat, sie konnte einfach nicht einschlafen. Sie war blockiert. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Es war nicht einmal der Fall über den sie nachdachte. Es war alles. Sie sprang von einem Aspekt zum nächsten. Total wirr.

Die FBI Agentin seufzte. Was war nur los mit ihr? Warum ausgerechnet jetzt? Eigentlich konnte sie selten nicht gut schlafen. Oft lag es an ihrem Kollegen. Aber diesmal gab es nichts, was sie sich selbst hätte vorwerfen können. Alles war in Ordnung. Und doch war da dieser leichte Hauch. Ein kleiner Zweifel.

Es war etwas, das sie tief im Inneren so sehr beunruhigte, dass sie nicht abschalten und sich regenerieren konnte. Langsam setzte sich Jodie auf. Sie strich sich durchs Haar und atmete tief durch. Damit war die Nacht zu Ende. Sie stand auf und ging an ihr Fenster. Sie öffnete es und spürte den kalten Lufthauch während sie in die Dunkelheit blickte. Irgendwo da draußen war er.

Shu.

Irgendwo beobachtete er nun das Haus der Shibungis und wartete auf neue Erkenntnisse. Aber Jodie machte sich keine Sorgen um ihn. Sie kannte ihn, wusste wozu er fähig war. Die Organisation sollte sich fürchten, nicht aber sie. Dazu stellten die Shibungis – von dem was sie wusste – keine Gefahr dar. Ihm würde nichts geschehen.

Jodie rieb sich den Arm und schloss kurz darauf das Fenster. Wie gern wäre sie trotz allem nun bei ihm. In seinem Wagen sitzen und reden. Stattdessen war sie hier. Allein. Und wartete auf den nächsten Morgen.
 

***
 

Jodie fühlte sich wie gerädert. Stunden später war sie erneut in ihr Bett gekrochen und tatsächlich eingeschlafen. Gefühlt kam es ihr aber nicht so vor. Sie hasste es, wenn die Unruhe sie einfach nicht in Ruhe ließ. Und sie konnte ihr komisches Gefühl einfach nicht los werden. Irgendwas stimmte nicht. Sie war sich nun ganz sicher, dass es nichts Direktes mit dem Auftrag zu tun hatte. Aber es gab etwas, das nicht ins Bild passte. Eine Komponente, die sie ausfindig machen musste.

Jodie stand vom Bett auf. Sie ging, wie auch in der Nacht, an das Fenster und öffnete dieses. Mit geschlossenen Augen sog sie die kalte Luft ein. Dann ging sie in die Küche und setzte frischen Kaffee auf. Anschließend belegte sie sich ein Sandwich, legte dieses auf einen Teller und nahm die Tasse Kaffee mit ins Schlafzimmer. Sie setzte sich wieder auf das Bett und zog ihre Handtasche – die am Bettende lag – nach oben. Aus ihr holte sie schließlich ihr Notizbuch heraus und ging die Geschehnisse des vorherigen Tages durch.

Vom Professor erfuhr sie nicht wirklich viel – die Freundschaft zwischen ihm und Kaito Shibungi würde bei der Bearbeitung des Falles nicht in den Vordergrund rücken. Aber wenigstens konnte das FBI nun ausschließen den Professor weiterhin in den Fall zu involvieren. Damit stimmte nun wieder die Aussage von James.

Unglücklicherweise hieß das aber auch, dass sie keine Eintrittskarte für das Pharmaunternehmen Medipharm besaßen – zumindest nicht über den Professor.

Wenigstens hatte Jodie neue Erkenntnisse gesammelt. Sie zog ihr Handy ebenfalls aus der Handtasche und sah auf das Display.

Upps.

Mit zwei verpassten Anrufen rechnete sie. Nummer 1 kam von Camel. Nummer 2 hingegen war James. Jodie wollte nicht wissen, wie ihr Vorgesetzter nun reagierte. Sie wählte seine Nummer.

„Guten Morgen“, sprach sie in das Telefon.

„Guten Morgen, ich habe deinen Anruf bereits gestern erwartet.“

Jodie seufzte innerlich. „Ja…ich weiß…ich hab nach dem Treffen mit dem Professor noch etwas recherchiert…danach wurde es einfach zu spät und ich wollte dich nicht mehr wecken“, antwortete sie.

„Gut. Was hast du heraus gefunden?“

„Naja…“, kam es von Jodie. „Es ist nicht wirklich viel. Professor Agasa ist seit dem Studium mit Kaito Shibungi befreundet und nicht mit Sota Shibungi. Kaito ist allerdings der Vater von Sota und war selber jahrelang für einen Chemiekonzern tätig. Mittlerweile ist er in Rente gegangen. Der Professor hat Sota Shibungi nur sehr selten gesehen. Er kennt ihn mehr oder weniger aus dessen Kindertagen. Aber kurz nachdem Professor Agasa seinen Abschluss machte, verlief sich der Kontakt. Hier und da wurde er zu Geburtstagen eingeladen oder verschickte Karten…das war es dann aber auch. Außerdem war Professor Agasa bei der Abschiedsfeier von Kaito Shibungi und sah diesen nach über 30 Jahren wieder. Dort traf er auch auf Sota Shibungi. Wie es sich anhörte, waren sie nicht wirklich ins Gespräch gekommen.“

„Ich verstehe“, entgegnete James. „Dann brauchen wir uns wegen dem Professor keine Gedanken zu machen und müssen ihn nicht um Hilfe bitten.“

„Genau. Er bot zwar an, dass er sich für uns umhört, aber ich habe sofort abgelehnt.“ Jodie dachte nach. „Wie ist unser weiteres Vorgehen?“

„Ich treffe mich nachher mit Akai zum Austausch über die Neuigkeiten von der Observation. Ich werde ihm auch deine Ergebnisse mitteilen. Danach sehen wir weiter.“

„Soll ich dabei sein?“, fragte Jodie.

„Nein, das musst du nicht. Wenn es wirklich wichtig ist, werden wir dich direkt anrufen“, antwortete er. „Ruh dich für heute aus…versuch dir einfach einen freien Tag zu machen, schließlich haben wir Sonntag.“

Jodie seufzte.

Als ob ich nicht genug freie Tage hatte.

„Ich seh was ich machen kann“, murmelte sie leise.

James merkte ihr den Unmut an. „Ansonsten recherchier doch ein wenig über das Unternehmen und über die Vergangenheit von Sota und Sayaka Shibungi.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Was dachte James von ihr? „Okay…“, sprach sie leise. „Bis später dann…“ Sie legte auf und warf das Handy auf das Bett. Dann seufzte sie laut auf. Als ob sie sich nicht schon die Unternehmensgeschichte ansah. Und auch Sota überprüfte sie. Sayaka Shibungi hingegen suchte sie kaum. Als Zielperson wurde sie bereits von den anderen Agenten überprüft. Warum sollte sie ausgerechnet etwas finden, was die anderen nicht fanden? Es war lächerlich.

Na komm, konzentrier dich.

Sie sah sich die Notizen vom Vortag erneut an und schüttelte den Kopf. Was brachte es, wenn sie sie erneut durch ging? Sie schloss die Augen und ließ das gestrige Gespräch noch einmal Revue passieren. Sie überlegte und überlegte. Alles war wie immer. Der Professor erzählte was er wusste und dann kamen Conan und Ai hinzu.

Jodie stockte. Es waren die Kinder. Diesmal drehte sich alles um sie. Beide waren schon von Anfang an sehr seltsam. Dieses Mal war es aber noch viel seltsamer. Vorher wollte sie das alles nicht sehen und ignorierte die kleinen Indizien. Aber jetzt…jetzt änderte es sich schlagartig. Die Kinder wussten von der Organisation und sie kannten ihre Mitglieder. Gehörten sie selbst zu ihnen?

Hastig schüttelte Jodie den Kopf. Das konnte nicht sein. Sie waren Kinder. Wieder und wieder rief sie sich dies in Erinnerung. Und Kinder arbeiteten sicher nicht für die Organisation. Auch dann nicht, wenn sie intelligenter als manch Erwachsener waren. Jodie biss sich auf die Unterlippe. Ein leiser Hauch eines Zweifels blieb bestehen. Jodie erinnerte sich wieder an die erste Begegnung zwischen Ai und Vermouth. Als Ai vor Ort war, wurde Conan betäubt. Sie begrüßte sie mit Sherry und sprach über ihre Eltern. Danach wollte sie das Mädchen erschießen. Und Ai? Sie wollte es zulassen. Sie wollte sterben um alle anderen zu retten.

„Verdammt“, murmelte sie leise. Sie wollte das nicht. Conan war ihr Lieblingsdetektiv. Er war schlau und aufgeweckt. Er hatte die Gabe, dass er sich auch aus den schwierigsten Situationen befreien konnte. Und ihm machten Leichen nichts aus. Statt sich zu verkriechen, half er beim Lösen der Fälle. Die besondere Beziehung zwischen Ai war ihr auch früh aufgefallen. Immer wenn Ai Angst hatte und sich zurück zog, war Conan da. Er ermutigte sie, beschützte sie und munterte sie auf. Es beruhte auf Gegenseitigkeit, auch wenn es Ai manchmal Spaß machte Conan ein wenig zu ärgern.

Jodie würde nie den Tag vergessen an dem sie Vermouth fast gestellt hatte. Der Tag hätte alles verändern sollen. Sie hätte ein hohes Mitglied der Organisation verhaften können. Stattdessen lief alles aus dem Ruder. Fast wäre sie dabei erschossen worden. Conan war es zu verdanken, dass sie überhaupt überlebte. Conan, der sich als Ai verkleidet hatte und Vermouth in Schach hielt…bis die richtige Ai auftauchte und wiederrum Conan retten wollte. Bis heute war sich Jodie nicht sicher welche Verbindung Ai zur Organisation hatte. Vermouth besaß ein Bild. Ein Bild von einer Frau, die Ai sehr ähnlich sah, aber bei weitem eine Erwachsene darstellte. Vielleicht war sie mit ihr verwandt.

Und dann war da noch Shuichi. Auch er spielte in dieser komischen Konstellation eine Rolle. Er blieb im Verborgenen und wollte nicht, dass Ai ihn erkannte. Als Subaru Okiya verstand er sich einigermaßen mit dem Mädchen und trotzdem wollte er sich ihr nicht offenbaren. Warum? Welche Vergangenheit hatte er mit Ai?

Sie spürte, dass irgendwas im Busch war. Etwas, das ihr nicht Geheuer war. Scheinbar wusste James darüber Bescheid. Und wie immer schlossen sie sie davon aus. Sie sollte lieber recherchieren – etwas, das zig Agenten vor ihr auch gemacht hatten. Heute wollte sie das Gesamtbild zusammen setzen.

Sie stand auf. James wollte dass sie recherchierte, also würde sie recherchieren. „Komm schon, Jodie“, spornte sie sich selbst an.

Jodie nahm einen Zettel sowie einen Stift hervor. Sie musste schreiben. Schreiben und nachdenken. Was kam ihr alles verdächtig vor? Und was hatte es mit Conan oder Ai zu tun? Unbewusst schrieb sie bereits los. Überrascht sah sie auf ihre eigenen Worte: keine Angst vor Leichen, Intelligent, kann mit kniffligen Themen umgehen, großes Allgemeinwissen, spricht gut Englisch, wird manchmal Shin-Conan genannt.

Jodie verengte die Augen. Shin-Conan. Ja, es stimmte. Die Frau – Yukiko Kudo - die sich um Shuichis Verkleidung kümmerte, nannte den Grundschüler Shin. Aber wo lag die Verbindung zu der Organisation?

Die Agentin massierte sich die Schläfen. „Du bist nah dran“, sagte sie zu sich selbst. Shuichi kannte bestimmt die Wahrheit. Aber sie konnte ihn nicht fragen. Jodie kannte ihn gut genug und sie wusste, wenn es ein großes Geheimnis war, schwieg er bis zum bitteren Ende. Sie musste etwas übersehen haben. Die Indizien waren da. Sie musste sie nur noch entschlüsseln und die Puzzleteile zusammensetzen. Sie konnte es. Shuichi hatte es auch gekonnt. Und Jodie wusste, dass er dafür weniger Informationen hatte.

Jodie ging die Fakten noch einmal durch. Conan wohnte bei Kogoro und Ran Mori. Mori wurde als schlafender Detektiv bekannt. Vorher arbeitete Mori auch schon als Privatdetektiv, war aber nicht berühmt. Davor arbeitete er als Polizist, musste aber den Dienst quittieren. Conans richtige Eltern lebten im Ausland, weswegen sie ihn bei den Moris ließen.

Jodie runzelte die Stirn. Welche Eltern ließen ihr Kind alleine im Ausland und dann noch in dem Alter? Ihre hätten das nie getan. Eigentlich hätte Jodie damals auch nicht einmal alleine Saft kaufen gehen dürfen. Damals hatte sie allerdings nicht mehr an das Verbot ihrer Eltern gedacht. Sie war eben noch ein Kind. Konsequenzen wurden erst real, wenn sie bestraft wurde. Oder wie es in dem Fall gewesen war, auf dem Rückweg. Voller Stolz hatte sie damals die Saftpackungen gekauft und wollte dann nach Hause. Ihr wurde mulmig zumute als sie James sah. Sie kannte ihn und sie wusste, dass er ihrem Vater alles erzählen würde. Wie sollte sie ihren Eltern diesen Alleingang erklären?

Eltern, schrieb sie auf den Zettel und kreiste das Wort ein. Über seine Eltern wusste sie nichts. Nachdenklich tippte Jodie mit dem Stift auf dem Papier rum. Conan war oft beim Professor zu Besuch. Und der Professor nahm Ai, die angeblich eine entfernte Verwandte von ihm war, bei sich auf. Conan und Ai freundeten sich an und bildeten mit den anderen Kindern die Detective Boys. Als Shuichi eine neue Bleibe brauchte, zog er beim Nachbarn ein. Welcher Nachbar ließ einfach so einen fremden Mann bei sich wohnen? Nachbar…Nachbar…Nachbar…

Jodie schrieb den Namen auf. Yusaku und Yukiko Kudo. Daneben tauchte der Name Shinichi Kudo auf, der Sohn des Ehepaars. Und es war auch Yukiko gewesen, die Conan zuerst mit Shin ansprach. Shin…Shin…Shin…ichi.

Jodie musste über sich selbst lachen. Sie hatte einen Verbindungspfeil von Conan zu Shinichi gezogen. Sie kannten einander, zumindest wurde das erzählt. Conan telefonierte öfters mit dem Oberschüler und fragte ihn um Rat. Aber warum beschwerte sich Sonoko damals bei ihr, dass Shinichi Ran selten anrief? Wieso rief der Oberschüler dann bei Conan an und nicht bei Ran?

Jodie holte ihren Laptop und schaltete ihn an. Es ließ sie nicht mehr los. Jodie gab den Namen Kogoro Mori in das Suchfeld ein und ging die einzelnen Artikel durch. Es waren nicht gerade wenige und auf jedem Foto posierte Mori voller Stolz. Irgendwann klickte sich Jodie zum aller ersten Artikel über den schlafenden Mori durch. Er war wenig spektakulär, enthielt aber ein Foto von Ran und von Conan. Jodie notierte sich das Datum an dem der Artikel erschien.

Als nächstes gab Jodie den Namen Conan Edogawa in das Suchfeld ein. Die Artikel wurden schon weniger. Jodie klickte sich durch einige durch, bemerkte aber nichts Merkwürdiges. Im Anschluss versuchte Jodie noch einmal die Suche mit Shinichi Kudo. Die vielen Artikel überrollten sie. Aber irgendwann hörte der Zeitpunkt seiner Fallaufklärung auf und stattdessen stand Mori im Mittelpunkt. Lag da eine Verbindung? Löste in Wahrheit Shinichi Kudo die Fälle und Kogoro Mori tat nur so? Jodie dachte an ihre zahlreichen Begegnung mit Mori. Er würde sicherlich nichts von seinem Ruhm abgeben. Zumindest nicht freiwillig. Und soweit Jodie wusste, mochte Kogoro Mori den Oberschüler nicht.

Jodie streckte sich. Sie schloss die Augen und ging noch einmal jedes kleinste Detail durch. Wieder einmal sprachen die Indizien für sich. Shinichi Kudo verschwand und Kogoro Mori wurde berühmt. Und dann war da noch Conan, der von Yukiko Kudo mit Shin angesprochen wurde. Also musste sie noch heraus finden, wann Conan zu den Moris kam. Aber wie? Die Unterlagen von Minderjährigen waren streng vertraulich und nicht einmal das FBI konnte diese bekommen.

Jodie wusste nur, dass Conan von seinen Eltern bei den Moris gelassen wurde. Auf Nachfrage verstrickte sich der Professor damals in zahlreiche Familienverwandschaften. Er war der Sohn des Sohnes der Tante der Schwägerin des Freundes…bei ihrer zweiten Frage waren die Verhältnisse schon anders. Aber es war nicht nur Conan der ihr Sorgen machte. Selbst Shinichis Eltern hatten mit dem Verschwinden ihres Sohnes keine Probleme – nicht einmal die Schule rollte dieses Thema auf. Bei den vielen Konferenzen denen sie beiwohnen konnte, wurden seine Fehlzeiten nur kurz angeschnitten, aber wieder verworfen. Die Lehrer waren sich sicher, dass Kudo den Stoff schnell aufholte und mit Bestnoten jede Prüfung bestand.

Jodie klickte sich wieder durch einige Artikel und blieb dann bei einem Mord während einer Theateraufführung hängen. Sie selbst war auch vor Ort gewesen und konnte aus der ersten Reihe der Fallaufklärung bei wohnen. Aber warum wurde nie die Anwesenheit des Oberschülers erwähnt? Absicht? Zufall?

Jodie massierte sich die Schläfe. Jemand wollte nicht, dass Kudos Anwesenheit bekannt wurde. Aber warum? Shinichi nahm seine Maske ab und löste anschließend auf sehr spektakuläre Weise den Fall. Und selbst Conan war vor Ort. Jodie seufzte. Natürlich war Conan da. Wieso hatte Jodie auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass es sich bei Shinichi und Conan um die gleiche Person handelte. Sie schüttelte den Kopf. Sie war dumm. Jodie wollte das Fenster gerade zu klicken, als ihr Heiji Hattori auf dem Bild auffiel. Sie stockte und musste schlucken. Heiji hatte sich als Shinichi verkleidet. Wieso?

Sie dachte nach. Entgegen Conans eigentlicher Art war er nun still. Er war nicht er selbst. Irgendwas war passiert. Conan konnte nie im Leben Shinichi sein. Wie sollte es gehen? Wie?

Menschen konnten nicht einfach jünger werden. Das ging einfach nicht. Jodie biss sich auf die Unterlippe. Es war die Organisation. Nur so konnte es sein. Und es erklärte mehr als sie für möglich hielt. Vermouth hätte nun eine alte Frau sein müssen. Stattdessen war sie jung. Jung und schön . Aber wie konnten sie derartiges erreichen ohne aufzufallen?

Jodie merkte, dass sie der Wahrheit um einiges näher gekommen war. Ob Shu und James so etwas ahnten? Eher nicht. Oder doch? Shu schien Conan ein großes Vertrauen entgegen zu bringen. Die Beiden hatten den gleichen Feind und arbeiteten gelegentlich auch zusammen. Shu musste die Wahrheit kennen.

Aber die Wahrheit machte die ganze Situation nur noch komplizierter. Jetzt konnte sie die Augen nicht mehr davor verschließen. Und selbst wenn Conan weiterhin versuchte der Organisation auf der Spur zu sein, durfte sie nicht zulassen, dass er sich noch mehr in Gefahr brachte.

Jodie wusste, dass sie unbedingt mit Shu und James darüber sprechen musste. Und wenn es soweit war, brauchte sie genügend Indizien, damit beide ihr auch glaubten.

Jodie schloss die Fenster auf ihrem Laptop und sah sich den beschrieben Zettel an. Sie konnte es irgendwie nicht glauben. Ihr Bauchgefühl war aber auf ihrer Seite und manchmal musste man sich auch selbst vertrauen. Jodie zog das Handy hervor und sah auf den Bildschirm. Anfangs tippte sie auf der Tastatur herum. Ihre Finger juckten. Sie musste das, was sie heraus fand unbedingt los werden. Schnell tippte sie die Nummer von Shuichi ein und wartete.

„Was gibt es?“, fragte der Agent.

„Hey…Was machst du?“

„Observation der Shibungis.“

Jodie blickte auf die Uhr. Sie hatte den halben Tag darüber recherchiert und gar nicht die Uhrzeit im Auge behalten. „Oh…stimmt ja“, murmelte sie. „Gibt es schon etwas Neues?“

Shuichi lehnte sich nach hinten. „Alles normal“, entgegnete er. „Sie waren den ganzen Tag zu Hause. Einige Gespräche, aber nichts was auf die Organisation hinweist. Abwarten.“

„Ach so…tut mir leid, dass du da jede Nacht festsitzt.“

„Das ist der Job“, kam es dann von Akai. „Entweder wir finden was oder wir finden nichts. Früher oder später werden wir sicher etwas Belastendes vorliegen haben.“

„Ja…du hast recht…“ Jodie dachte nach. „Du hattest doch viel Kontakt mit Conan, nicht wahr?“

„Ja. Warum?“

„Ist dir bei dem Jungen nichts Merkwürdiges aufgefallen?“

Akai verengte die Augen. „Was meinst du?“

„Naja…er liest Bücher, die andere Kinder in seinem Alter nicht lesen. Er ist hoch intelligent, hat keine Probleme mit Leichen und hilft sehr oft bei der Fallaufklärung…“

„Und?“, wiegelte der Agent ab. „Ich war in seinem Alter so ähnlich.“

„Wirklich?“, fragte Jodie. Über seine Kindheit und die Familie wusste sie so gut wie nichts.

„Du solltest dich lieber auf den Auftrag konzentrieren, Jodie. Mach dir über Conan keine Gedanken. Oder weiß er, woran wir arbeiten?“

„Natürlich nicht. Und ich wies den Professor auch an, dass er ihm nichts erzählt.“

„Gut.“
 

***
 

Conan sah den Professor misstrauisch an. Er musterte ihn und blickte dann auf die Erfindungen im Labor. Ai saß wie immer am Computer und versuchte die Daten über das APTX 4869 weiter zu entschlüsseln und ein Gegenmittel zu kreieren, dessen Wirkung nicht verging. Oft sah ihr der Professor zu, seltener war auch Conan im Labor.

„Was hast du, Shinichi?“, wollte der Professor von dem Jungen wissen.

„Mir geht die Sache mit Miss Jodie nicht aus dem Kopf.“

„Was meinst du?“, fragte er dann.

„Ich frage mich, warum sie gestern bei Ihnen war.“

„Das sagte sie doch“, warf er gleich ein. „Sie musste ein wenig recherchieren und bat mich um Hilfe.“

„Sind Sie sich sicher?“, wollte der Junge wissen. „Ich würde denken, dass das FBI ihre eigenen Leute dafür hat. Soweit ich weiß, wollen sie keine Zivilisten in ihre Fälle mit einbeziehen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Ich glaube, dass sie hier war, weil Sie von Ihnen Hilfe brauchte. Vielleicht stimmt es ja, dass sie Informationen über Erfindungen brauchte…aber wenn Sie mich fragen, steht das in Zusammenhang mit der Organisation. Haben Sie versprochen, dass Sie mir nichts sagen?“

Der Professor schwieg.

„Ich hab also Recht.“ Conan sah ihn nachdenklich an. Dann blickte er zu Ai. „Sie müssen uns sagen um was es ging. Professor, bitte.“

Agasa seufzte leise. „Ich kann nicht, Shinichi.“

„Jetzt sagen Sie es ihm, Professor“, meinte Ai ruhig. „Sonst lässt er sie den ganzen Abend nicht mehr in Ruhe.“

„Sie wollen uns schützen. Aber Sie wissen auch, dass wir so oder so irgendwann von den Machenschaften der Organisation erfahren werden. Ist ein neues Mitglied aufgetaucht? Rum? Weiß das FBI wie Rum aussieht?“

„Nein.“ Agasa schüttelte den Kopf. „Das FBI hat eine Spur zu dem Sohn eines alten Freundes. Es besteht wohl die Möglichkeit, dass die Organisation mit seiner Firma in Verbindung steht.“

Conan dachte nach. „Mhmm…“

„Sie hat nicht mehr gesagt. Sie recherchieren gerade.“

„Dann sollten wir das auch machen.“

„Das lässt du bleiben, Kudo“, sprach Ai. „Lass das FBI die Sache übernehmen. Wenn sich nachher herausstellt, dass die Person gar nicht für die Organisation tätig ist, hast du uns alle unnötig verrückt gemacht.“

„Was soll denn das heißen?“

„Du weißt, was ich mein“, kam es von dem Mädchen. „Professor? Solange Sie keine Neuigkeiten haben, sollten Sie ihm nicht den Namen nennen.“

05.12.

Mit einer Plastiktüte trat Jodie durch den langen Krankenhausflur. Sie war alles andere als ein Fan von Krankenhäusern. Aber wer war das schon außer den Ärzten und Schwestern? Alles war so klinisch und hatte diesen bestimmten Geruch. Chlor. Reinigungsmittel. Auf Dauer war er einfach nur anstrengend. Außerdem durfte man so gut wie nicht eigenständig denken. Stattdessen lag man den ganzen Tag über im Bett, musste warten und sollte sich ausruhen. Am nächsten Tag begann das Spiel erneut. Manchmal bekam man auch Besuch, aber was war mit der Zeit dazwischen? Und wehe man sagte irgendwas, beschwerte sich oder wusste es besser. Außerdem musste man sich an den Ernährungsplan halten. Unglücklicherweise rochen die Schwestern, wenn man Essen hinein schmuggeln wollte und drohten mit großen Spritzen. Es war eine gute Motivation um sich an den Essensplan zu halten. Aber manchmal hatte man einfach Bedürfnis nach was Anderem. Wenigstens waren sie zu den Kindern netter und lieber. Kinder standen in ihrer Priorität auf Platz 1. Natürlich bekamen auch diese einen bestimmten Ernährungsplan, aber die Schwestern verliehen ihren Drohungen mit der Spritze noch einen Hauch von Witz und Spaß.

Dennoch hasste es Jodie wenn sie im Krankenhaus als Patientin war. Sie mochte es nicht, einfach nur herum zu liegen und nichts zu tun. Sie brauchte eine Aufgabe. Egal welche. Sie erinnerte sich noch an ihre früheren Aufenthalte. Manchmal bettelte sie James an, dass er ihr Akten brachte und sie irgendwas tun durfte. Es musste keine große Aufgabe sein. Kleinigkeiten reichten auch. Dieses Mal aber ließ er sie außen vor.

Jodie wurde direkt nach ihrer Operation an der Schulter in ein Einzelzimmer gebracht. Nachdem die Narkose nachließ und sie endlich wieder das Gefühl hatte, klar bei Verstand zu sein, machte sie erste Übungen um den Arm wieder zu belasten. Sie wollte nicht einmal krank geschrieben werden. Der Arzt – in Zusammenarbeit mit James – konnte sie schließlich davon überzeugen, sich noch auszuruhen. Sie versuchte es langsam anzugehen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Das Szenarium war sehr präsent. Jodie stand mit gezogener Waffe vor dem Gebäude. Camel gab ihr Deckung und beobachtete ihre Umgebung. Und dann fiel auf einmal der Schuss. Jodie drehte sich zu ihrem Kollegen um. Der Angreifer hatte sie ausgetrickst, hatte sich auf der anderen Seite positioniert und hatte dann geschossen. Der Blutfleck auf Camels Hemd breitete sich schnell aus. Viel zu schnell. Sofort erkannte Jodie den Ernst der Lage, wurde dann aber selbst angeschossen. Während sie nach hinten fiel, konnte sie einen Schuss in Richtung des Schützen abgeben. Jodie hatte sich wieder aufgerappelt. Sie hielt ihre Waffe fest und richtete diese nach oben. Diesmal würde sie bereit sein. Sich selbst Schutz gebend, schlich sie zu Camel und überprüfte den Puls. Danach wusste Jodie nichts mehr. Sie wachte im Krankenhaus wieder auf.

Die Krankschreibung war zwar unschön, aber sie konnte wenigstens zu Hause sein. Dort war es bei weitem Angenehmer zumal sie dort recherchieren konnte. Wie schaffte es Camel nur nicht durchzudrehen? Er lag in einem Einzelzimmer und hatte keinen Gesprächspartner. Und auch sie konnte nicht 24 Stunden am Tag bei Camel im Zimmer sitzen.

„Guten Morgen.“

Jodie sah zu der Krankenschwester. „Guten Morgen. Kann ich zu Herrn Camel oder laufen gerade Untersuchungen?“, wollte sie wissen.

„Gehen Sie ruhig. Er freut sich bestimmt sie zu sehen“, antwortete sie. Dann fiel ihr Blick auf die Tüte. „Sie haben ihm doch nicht etwa etwas zu Essen mitgebracht?“

„Natürlich nicht“, log Jodie. „Das sind Unterlagen für die Arbeit.“

Die Krankenschwester musterte sie eindringlich, sagte dann aber kein Wort.

Jodie klopfte an Camels Tür. Nach einem Moment trat sie ein. „Guten Morgen.“

„Morgen.“ Camel wirkte gequält.

Jodie konnte es ihm nicht verübeln als sie auf das Knäckebrot auf der Ablage blickte. Sie hielt die Tüte hoch. „Brötchen?“

Camel wurde sofort hellhörig. „Gibt es auch Belag?“

„Natürlich“, nickte sie. „Ich denk doch immer an alles.“

Camel setzte sich auf. „Aber du darfst mich nicht an die Schwestern verraten.“

„Hmm? Warum nicht? Drohen sie dir?“

„Und ob“, gab er von sich. „Lange Spritzen….“

Jodie kicherte. „Das überlebst du schon. Obwohl…vielleicht auch nicht.“

„Gibt es irgendwas Neues?“, wollte Camel anschließend wissen.

Jodie zögerte. Sollte sie es ihm sagen?

„Jodie?“ Camel hob die Augenbraue während er sein neues Frühstück betrachtete. „Ich merk doch, dass da etwas ist. Spuck es aus.“

Die Agentin nickte. „Bevor du mich für bescheuert hältst, hör mich bis zum Ende an.“ Jodie atmete tief ein. „Mir ist in den letzten Tagen Conans Verhalten aufgefallen. Er ist immer so intelligent und erwachsen. Deswegen habe ich schließlich ein wenig weiter geforscht. Dabei stieß ich auf ein paar Merkwürdigkeiten. Conans Eltern leben scheinbar im Ausland. Und er ist auch nicht mit den Moris verwandt. Scheinbar kannten sie ihn vorher auch nicht. Wer würde sein Kind in diesem Alter bei fremden Menschen lassen?“, Jodie sah ihn an. „Naja und dann gibt es noch ein paar komische Zufälle. Kogoro Mori war früher nie bekannt. Stattdessen stand Shinichi Kudo im Mittelpunkt. Von heute auf Morgen hörte dessen Ruhm auf und Mori kam in die Zeitung. Und was auch noch dazu kommt, er nahm Conan kurz darauf bei sich auf. Dann gibt es noch einige andere Aspekte. Ran ist irgendwie mit Shinichi Kudo zusammen oder auch nicht. Naja das ist nebensächlich, aber ihre beste Freundin beschwert sich andauernd, dass Shinichi nie mit ihr telefoniert. Aber wir wissen, dass Shinichi öfters mit Conan Kontakt hat. Wieso ruft er also den Jungen an und nicht seine Freundin?“

„Öhm“, Camel überlegte.

„Und dann gibt es natürlich noch eine ganz bestimmte Sache. Als Shu sich für Okiya ausgab, wohnte er neben dem Professor. Das Haus gehört der Familie Kudo. Conan soll mit der Familie ausgemacht haben, dass Shu dort wohnen kann. Und als wir Yukiko Kudo kennen lernten, sprach sie Conan mit „Shin-Conan“ an. Mir ist auch wieder eingefallen, dass der Professor Conan auch schon mal mit Shin angesprochen hat“, entgegnete sie ruhig. „Ich weiß…es ist unvorstellbar. Aber…was ist, wenn Shinichi und Conan ein und dieselbe Person ist? Das ist momentan meine Vermutung…ich weiß aber nicht, wie das geht. Und…“ Jodie biss sich auf die Unterlippe. „Ich wollte mit Shu darüber sprechen, aber er wiegelte ab. Vielleicht weiß er es auch schon…Du hältst mich jetzt sicher für verrückt.“

Camel schüttelte den Kopf. „Nein…es ist…eine interessante Sichtweise. Und wie du gesagt hast, die Zufälle haben sich gehäuft. Wir sollten es auf gar keinen Fall ignorieren. Hast du schon mit James darüber gesprochen?“

„Noch nicht. Ich wollte noch nach weiteren Anhaltspunkten suchen“, gestand sie. „Naja…und ich dachte auch, dass ich zuerst mit Shu darüber reden sollte. Gerade er kennt Conan von uns am besten. Und…ich werde das Gefühl nicht los, dass Shu davon weiß.“

„Denkst du das wirklich?“

Jodie nickte. „Wie gesagt, es ist ein Gefühl von mir. Ich hab ihn darauf angesprochen, dass Conan für sein Alter sehr intelligent ist und mit Leichen keine Probleme hat…Daraufhin meinte er, das er damals in dem Alter auch so war. Als ich weiter nachfragen wollte, gab er mir den Hinweis, dass ich mir über Conan keine Gedanken machen sollte. Aber gerade das ist komisch für Shu. Normalerweise würde er so etwas nicht einfach so unfertig lassen. Entweder er recherchiert nun selber oder er weiß Bescheid.“

„Und was hast du jetzt vor?“, fragte Camel.

„Das überlege ich mir noch. Der Auftrag Sayaka Shibungi hat momentan oberste Priorität. Aber solange wir da nicht weiter machen, möchte ich auf jeden Fall noch mehr Informationen über Conan sammeln. Ich habe mir überlegt, dass ich mich einfach mal in seiner Schule umhöre oder sogar versuche ältere Unterlagen über ihn zu finden.“

„Hmm…“, murmelte Camel. „Meinst du, du kriegst sie?“

„Ich weiß es nicht. Es kann nicht schaden, wenn ich nachfrage“, fing Jodie an. „Ich hab mir auch überlegt, dass ich den Professor in einigen Tagen aufsuche und ihm einen Teil meiner Erkenntnisse mitteile. Ich werde es so aussehen lassen, dass ich die Wahrheit kenne. Vielleicht erzählt er mir sie dann von sich aus.“

„Der Plan ist gut. Ich helf dir.“

„Du bist verletzt und im Krankenhaus.“

Camel seufzte. „Aber wenn du Hilfe brauchst…“

„Melde ich mich“, nickte sie.
 

***
 

Jodie fühlte sich nach dem Gespräch mit Camel besser. Er schien ihr zu glauben. Das war ein gutes Zeichen. Die Chance, dass es James tat, war hoch. Und Shu würde irgendwann auch die Wahrheit sagen – wenn er es wusste. Manchmal wurde Jodie das Gefühl nicht los, dass Camel sie viel besser verstand als Shu oder James. Und sie hoffte, dass er ihr nicht einfach nur zustimmte um wieder gut zu machen, dass er sie einmal mit einem Fausthieb ausschaltete. Oder das es einfach nur Mitleid war, weil sie über den Tod von Akai damals so trauerte.

Jodie hatte keine Möglichkeit um nun darüber nachzudenken. Eigentlich hatte sie auch nicht vor gehabt so lange im Krankenhaus zu bleiben, aber die Zeit dort tat ihr gut. Camel war jemand, mit dem sie jederzeit über alles sprechen konnte. Immer hatte er ein offenes Ohr für sie. Und es war das, was sie in dieser Zeit brauchte. Er stärkte ihr den Rücken, egal was war. Und er ließ sie nicht allein. Weder wenn sie sich verrannte oder wenn sie wirklich Neuigkeiten heraus fand. Camel war an ihrer Seite, auch wenn sie es bei ihrer ersten Begegnung noch gar nicht für möglich gehalten hatte, mochte sie den Agenten. Sie wusste noch genau wie grimmig Camel damals geschaut hatte und was er alles für das FBI machte. Nach Shus Tod wollte sie keinen neuen Partner, am Ende war sie froh, dass es Camel gewesen war. Er half ihr als sie anfangs auf der Suche nach dem Mann mit der Narbe im Gesicht war und stellte kein einziges Mal ihren Verstand in Frage. Trotzdem stellte sich ihr so langsam die Frage, warum er das alles tat. War es das schlechte Gewissen, das er hatte? Mitleid? Oder mochte er sie wirklich?

Zum Glück würde Shu erst am frühen Nachmittag zu James gehen um ihm die neusten Erkenntnisse in Sachen Observation mitzuteilen. Aber sie wollte sie nicht verpassen. Und egal was beide Männer sagen würden, sie wäre dabei.

James kannte bereits das Ergebnis ihrer Recherche. Hatte er es auch schon Shu mitgeteilt? Wenn ja, dann wäre dieser sicher nicht sehr erfreut, dass sie keine Eintrittskarte bei den Shibungis erhalten hatten. Obwohl Jodie nicht mehr krankgeschrieben war und es ihrer Schulter besser ging, wurde sie das Gefühl nicht los, sich wieder und wieder beweisen zu müssen. Warum sah sie nun auch jeder FBI Agent als Opfer? Sie fühlte sich in der Zeit zurück versetzt.

Es war ihr erster Tag im Büro. Gerade erst hatte Jodie ihre Ausbildung in Quantico abgeschlossen und war nach New York gekommen. Die älteren Kollegen im Büro sahen sie mit diesem ganz speziellen Blick an. Sie kannten ihren Vater und sie wussten, was dieser geleistet hatte. Und dann stellten die Agenten fest, dass Jodies Vater nicht mehr am Leben war. Sofort sahen sie das Opfer in ihr und hatten Mitleid. Jodie bemerkte bereits bei ihren ersten richtigen Aufträgen, dass diese nur dazu da waren um ihr Selbstvertrauen aufzubauen. Es brachte nichts. Als sie die Wahrheit heraus fand, schmälerte es ihr Selbstbewusstsein. Und so dringend brauchte sie kein Erfolgserlebnis. Jodie war schon damals nicht auf den Kopf gefallen. Sie wusste wie man sich wehrte und durchsetzte. Irgendwann hatte sie sich ihren eigenen Ruf erarbeitet. Aber kaum passierten Fehler, kam sie sich wieder wie damals vor. Die Blicke aller Agenten waren auf sie gerichtet und sie konnte nichts dagegen tun. War sie selber auch so, wenn einer der anderen Fehler machte? Vor Jahren als die Agenten aus Japan kamen, hatten sie die Blicke gesenkt und ärgerten sich über ihren Fehler. Natürlich hatte Jodie auch kurz zu der Truppe gesehen, aber sie erinnerte sich auch daran, dass sie nicht Mitleid mit ihnen empfunden hatte. Shu gehörte natürlich auch zu den Agenten. Allerdings war keiner bei ihm auf die Idee gekommen, ihm mitleidige Blicke zu schenken.

Jodie seufzte leise, schnappte sich dann ihre Handtasche und ging in das Gebäude. Sie grüßte den Wachmann und machte sich sogleich auf den Weg nach oben. Oben angekommen, klopfte sie an der Bürotür ihres Vorgesetzten und trat ein. „James?“

James nickte. „Setz dich“, fing er an und wies auf den freien Platz neben Akai.

Aus dem Augenwinkel sah Jodie zu Shu. Er sah müde aus. Aber das war auch kein Wunder. Wahrscheinlich hatte er die Observation bis 8 Uhr durchgeführt und war anschließend nur kurz nach Hause gefahren. Es stellte sich die Frage, ob er später noch Schlaf nachholen würde oder nicht. Am liebsten wollte Jodie etwas sagen, aber sie wusste, dass es nichts brachte. Wahrscheinlich war es Angesichts ihrer Lage auch gar keine gute Idee. Schon einmal sprach sie ihn wegen der Augenringe an. Und damals endete es nicht positiv.

„Ich habe Akai bereits von deinen Informationen erzählt“, sprach James ruhig.

„Es gibt leider nichts Neues. Auf die Hilfe von Professor Agasa sollten wir nicht zählen“, fügte sie an.

„Das wäre auch nicht sinnvoll. Ich möchte so wenig Zivilisten hineinziehen. Wenn erstmal bekannt wird, dass er uns half, könnte er schon bald das nächste Ziel der Organisation sein.“

„Hast du Neuigkeiten für uns?“, wollte Jodie dann wissen.

Akai schien gelangweilt. Es war kein Wunder wenn man daran dachte, welche Fähigkeiten er besaß. Shu war ein guter Scharfschütze, hoch intelligent und konnte es mit der Organisation aufnehmen. Jahrelang war er ihren Angriffen entgangen und hatte ein sehr sensibles Gespür für den Feind entwickelt. Ein reiner Beschattungsauftrag war eine Verschwendung der Ressourcen. Andererseits wer sollte diese sonst durchführen? Und würde sich Akai auf fremde Ergebnisse verlassen?

„Ich kann nun mit Sicherheit ausschließen, dass beide Ehepartner für die Organisation arbeiten“, sprach Akai ruhig. „Wäre dies der Fall, hätten sich die Beiden bereits darüber ausgetauscht.“

„Also wissen wir das…was wir vorher schon wussten“, murmelte Jodie leise. „Was ist mit den hochrangigen Mitgliedern? Können wir nun schon einschätzen, ob wir auf einen Treffen werden?“

„Das ist noch nicht sicher. Nur weil es sich bei Frau Shibungi um ein niederes Organisationsmitglied handelt, muss das noch lange nicht heißen, dass sich andere Mitglieder zurück halten.“

„Schon…aber…“ Jodie war verärgert. Warum konnten sie die Organisation nicht einfach finden und dingfest machen? Es musste ja nicht sofort sein und es musste auch nicht direkt mit dem Boss auf dem Silbertablett sein. Trotzdem sollte es bald sein. Zu viel Jahre waren vergangen. Zu viel Opfer hatte es gegeben. „Lassen wir es nun ruhen und warten, dass sie sich wieder blicken lassen?“

Akai grinste. „Wir führen den ursprünglichen Plan durch.“

„Den ursprünglichen Plan?“, murmelte Jodie leise.

„Geld ist Macht“, kam es von James.

„Ja, ich weiß…und wenn wir die Geldquelle zum Versiegen bringen, mischen wir sie ein wenig auf“, führte Jodie aus. „Also werden nun die Konten gesperrt?“

„Zu auffällig. Am Ende fällt es auf Herrn Shibungi zurück. Und da dieser nicht für die Organisation tätig ist, wird er die Begegnung wohl kaum überleben.“

„Das wäre wohl auch der Fall, wenn die Organisation sein ganzes Geld hat“, warf Jodie ein.

„Wir können ihn schützen“, kam es dann von James. „Wenn er es möchte.“

„Und was wollen wir tun?“ Sie sah zu Akai.

„Rein zufällig bekam ich heute Nacht mit, dass im Unternehmen eine neue Kraft gesucht wird.“

„Was für ein Glück für uns“, schmunzelte Jodie.

„Wie mans nimmt“, entgegnete James.

„Und welcher Agent soll in die Firma eingeschleust werden?“ Jodie blickte zu Shu. „Du wahrscheinlich nicht, oder?“

„Mich kennt die Organisation. Ich bin selbst bei den niederen Mitgliedern bekannt“, antwortete Akai ruhig. „Und selbst wenn nicht, mich würden sie sicher nicht einstellen. Frauen sind der Branche bevorzugter als Agenten, die nicht immer gut gelaunt und fröhlich herum laufen.“

„Deswegen haben wir uns überlegt, dass du die Stelle antrittst.“

Jodie sah mit großen Augen zu James. „Ich?“

„Traust du dir das nicht zu?“

„Doch, ich trau es mir zu. Aber mich kennt die Organisation doch auch.“

„Vermouth kennt dich. Bei den anderen Mitgliedern bist du noch nicht bekannt. Zumindest nicht so sehr. Anders als bei Akai halten sie dich nicht für allzu gefährlich. Deswegen möchte ich dich einsetzen. Außer du hast Zweifel.“

„Keine Zweifel“, entgegnete Jodie. Bereits in ihrer Ausbildung hatte Jodie zu Übungszwecken eine neue Identität angenommen und war erfolgreich. Dazu sollte man nicht vergessen, dass sie eine ganze Weile als Englischlehrerin in Japan tätig war. Dass Vermouth alles durchschaute war letzten Endes doch nicht überraschend. Vermouth war intrigant und hatte über sie recherchiert.

„Gut. Die Stelle ist noch nicht offiziell ausgeschrieben. Deswegen darf deine Bewerbung nicht auffallen“, erklärte Akai.

Jodie nickte. „Ich kann es als Initiativbewerbung verkaufen und mich in den nächsten Tagen schon vorstellen“, schlug sie vor.

„So machen wir das.“

„Was ist mit dem Wissen über den Pharmabereich?“

„Mach dir darüber keine Gedanken, Jodie.“ James musterte sie. „Ich werde dafür sorgen, dass dir das nötige Wissen in den nächsten Tagen beigebracht wird.“

„In den nächsten Tagen?“

„Ich habe einen Bekannten der im Pharmabereich arbeitet. Er wird sich bestimmt freinehmen können. Ich bitte ihn morgen früh hier zu sein.“

„Gut…dann bin ich das auch. Soll ich mich sonst noch irgendwie vorbereiten?“

James wirkte nachdenklich. „Wir können hier nicht auf alle Ressourcen der Staaten zugreifen“, begann der Agent. „Deswegen werden wir deine Bewerbung selbst schreiben.“

„Meine…Bewerbung?“

„Ist das ein Problem?“

„Nein…nein…das schaff ich schon.“

„Kannst du bis morgen eine Art Template-Dokument erstellen?“

„Natürlich.“
 

Jodie saß zu Hause auf dem Sofa und starrte ihren Laptop an. Bewerbung. Wann hatte sie das letzte Mal eine Bewerbung schreiben müssen? Es war mindestens zehn Jahre her, wenn nicht sogar mehr. Jodie rief das Text-Dokument auf, speicherte die leere Vorlage und lieferte sich ein Blickduell mit ihrem Laptop.

Der Laptop hatte gewonnen.

Jodie hatte keine Idee gehabt wie sie diese Bewerbung schreiben sollte. Was hatte sich alles geändert? Was musste sie nun beachten? Sollte sie einfach darauf losschreiben?

Jodie füllte zuerst die Adressfelder aus, dann das Feld für das Datum und grübelte. Das brachte alles nichts. Jodie entschied die Internetsuchmaschine mit einzuschalten und ließ sich mehrere Anschreiben zeigen.

„Toll“, murmelte sie. Wie sollte sie das gefundene verwenden? Mittlerweile schrieb man detailliert was man in den vergangenen Jahren berufstechnisch machte…natürlich passend auf die Stelle die man wollte. „Dann mach ich mal…“

Sie schrieb einfach drauf los. Es war besser als nichts. Ob es passte oder nicht würde James erkennen. Die gesamte Bewerbung dauerte länger als Jodie gedacht hatte. Stunden später konnte sie sie erst an James schicken. Nun hieß es abwarten. Abwarten und Tee trinken…
 

***
 

Shuichi zog das vibrierende Handy aus der Hosentasche. Er sah auf das Display und grinste. „Akai“, sprach er in den Hörer.

„Hier ist Conan“, sagte der Junge.

„Ich hab mich schon gefragt, wann du anrufst.“ Shuichi sah auf die Uhr. „Der Professor hat lange durchgehalten.“

Conan seufzte. „Sagen Sie mir, dass Sie keine Wetten darauf abgeschlossen haben…“

„Hab ich nicht“, entgegnete Akai. „Was willst du wissen?“

„Worum geht es? Was wollte Frau Starling vom Professor wissen? Haben Sie eine Spur zu der Organisation? Ist es jemand den wir alle kennen?“, sprudelte es aus Conan heraus.

Akai schmunzelte. „Mach dir keine Sorgen“, fing er an.

„Aber…“

„Du solltest uns vertrauen. Solange wir noch keinen Schritt weiter sind, kannst du uns nicht helfen. Lass uns das machen.“ Dann legte er auf. Shuichi steckte das Handy wieder in die Tasche und sah nach vorne. Er runzelte die Stirn. Nun war Conan auf Jodies Spur. Und Jodie war Conan auf der Spur. Wenn sie nicht aufpassten, würde Jodie noch tiefer graben. Und sie würde etwas finden. Etwas, das sie nur noch mehr in Gefahr bringen würde. Aber wenigstens würde sie bald beschäftigt werden.

06.12.

Shuichi gähnte. Er sah auf die Uhr.

6:45 Uhr.

Und im Hause der Shibungis begann bereits ein reges Treiben. Sota war als erstes wach, schlurfte ins Badezimmer und machte sich fertig. Danach war Sayaka dran Und während sich seine Frau fertig machte, hatte der Geschäftsmann bereits den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet.

Leider konnte Shuichi nicht ins Haus hineinblicken ohne sich verdächtig zu machen, aber anhand der Unterhaltung erkannte er schnell, dass Sota jemand war der morgens herzhaft frühstückte und mit vollem Mund sprach während Sayaka nur einen Kaffee oder Tee zu sich nahm.

Sayaka seufzte auf. „Hast du schon über unser gestriges Gespräch nachgedacht?“

Sota nickte. „Ich weiß, es ist schwer für die Mitarbeiter. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit und zum Jahresende. Es wird viel von ihnen verlangt und wir wollen ja auch einen guten Jahresumsatz vorweisen“, fing er an. „Aber ich kann nicht zaubern, Sayaka. Neue Mitarbeiter wachsen nicht auf Bäumen. Und selbst wenn es genügend Menschen gibt, die den Job machen würden, wir müssen erst jemanden finden, der auch geeignet dafür ist. Ich kann die Stelle ja nicht der erstbesten Person geben.“

„Das ist mir schon klar“, antwortete sie. „Aber wenn wir zum nächsten Jahr noch immer niemanden gefunden haben…du weißt selbst, dass die Mitarbeiter das nicht auf Dauer mit machen. Das Arbeitspensum ist einfach zu hoch. Gerade wenn sich einer der Mitarbeiter im Außendienst befindet, bleibt die Arbeit für mindestens ein bis zwei Tage liegen. Wir müssen uns schnell eine Lösung einfallen lassen.“

Sota sah sie eindringlich an. „Ich lass die Anzeige zum 01.01. schalten, in Ordnung?“

Sayaka aber rührte sich nicht. Er seufzte. „Gut. Wir machen es anders. Die Anzeige wird in den nächsten Tagen im Netz landen. Wir werden offiziell einen Mitarbeiter zum Jahresanfang suchen. Wer natürlich eher anfangen könnte, den bevorzugen wir, wenn die Qualifikation auch stimmt. Zeitgleich dazu werden wir die Mitarbeiter auch in die Suche einbinden. Vielleicht kennt einer jemanden, der ganz dringend eine Stelle braucht. Sollte dies der Fall sein, werden wir diesen nehmen. Und ich werde mich mit alten Mitarbeitern in Verbindung setzen. Vielleicht suchen sie noch eine Stelle und sind bereit, wieder zu uns zurück zu kommen.“

„Hört sich gut an“, gab Sayaka von sich.

„Mach dir keine Sorgen, Liebes, ich hab alles im Griff.“
 

***
 

Jodie hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Sie war von ihrer Bewerbung nicht überzeugt gewesen und James hatte sich noch nicht zurück gemeldet. Weder am Abend zuvor noch am heutigen Morgen. Wahrscheinlich hatte sie auch alle Fehler gemacht, die man nur machen konnte. Die Anforderungen hatten sich schließlich geändert. Aber dafür hatte sie wenigstens ihre Erfahrungen als Englischlehrerin zu bieten.

Jodie klopfte an die Bürotür.

„Herein.“

Sie atmete tief durch und trat ein. Die Überraschung war Jodie ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie Shu erst für den Nachmittag erwartete, war er bereits da. „Ist irgendwas passiert?“, wollte die Agentin wissen und setzte sich.

„Wie man es nimmt“, antwortet Akai. „Die Mitarbeiter sind zu Shibungi gekommen. Sie können die momentane Arbeit nicht ohne neuen Kollegen stemmen.“

„Oh. Und das heißt?“

„Die Shibungis wollen nun versuchen die Stelle so schnell wie möglich zu besetzen, auch ohne offizielle Ausschreibung. Die Mitarbeiter sollen zunächst im Bekanntenkreis nachfragen. Parallel dazu fragt Shibungi bei gefeuerten Mitarbeiten nach, ob diese noch Interesse haben.“

„Falls sie es schaffen über die Bekanntschaften die Stelle besetzen oder falls die Organisation eine weitere Person in die Firma hineinbringt, haben wir ein Problem.“

Jodie nickte. „Das heißt also, dass wir die Sache schneller vorantreiben, nicht wahr?“

„Ja. Das Bewerbungsschreiben habe ich heute Nacht noch durchgearbeitet und heute in den frühen Morgenstunden an die Firma geschickt.“

„Du hast…“ Jodie sah ihn überrascht an.

„Ich musste schnell handeln, nachdem Akai mir die Nachricht bereits per SMS schickte.“

„Wieso hast du mich nicht angerufen? Ich hätte auch noch an der Bewerbung schreiben können“, warf Jodie ein.

„Das war kein Problem, Jodie“, sprach James ruhig. „Für die Stelle hast du glücklicherweise den Vorteil, dass du Englisch in Wort und Schrift perfekt beherrscht. Im Pharmabereich ist sogar hier Englisch eine wichtige Voraussetzung. Anschließend habe ich deine Bewerbung so umgeschrieben, dass du früher bereits an der Universität einige Kurse im Bereich Pharmazie und Biologie belegt hast. Ein Praktikum hast du in dem Bereich ebenfalls absolviert. Die Bescheinigung stellt dir ein Bekannter von mir aus.“

Jodie hörte ihm schweigend zu. James hatte viele Bekannte. Eigentlich war es schon fast überraschend, da er für jeden Bereich die richtigen Leute kannte. Aber was am wichtigsten war: sie alle schienen James noch einen Gefallen zu schulden. „Der andere Bekannte kommt bestimmt auch gleich?“

„Ja“, nickte James. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Normalerweise antworten Firmen innerhalb von einer Woche auf Bewerbungen. Ab und an kann es sich hinauszögern. Aber wenn Medipharm dringend neue Mitarbeiter benötigt, kann ich mir gut vorstellen, dass sie vielleicht sogar noch heute anrufen. Ansonsten wirst du dich morgen einfach persönlich vorstellen gehen und unter Beweis stellen, dass du die richtige für diese Stelle bist.“

„Schon morgen“, murmelte Jodie. Das hieß, sie musste das gesamte Hintergrundwissen an einem Tag lernen. Wusste James eigentlich wie viel das war? Aber er vertraute ihr. Nur musste sie sich selbst vertrauen. „Wann genau findet der Crashkurs statt?“

„Gleich. Mein Bekannter befindet sich bereits im Konferenzzimmer.“

„Gut.“ Jodie stand auf. „Dann lasse ich ihn am besten nicht warten.“ Obwohl Jodie nervös war, hatte sie keine andere Wahl. Auch wollte sie nicht, dass ein anderer Agent ihren Auftrag bekam. Sie – nur sie allein – musste es schaffen.
 

Jodie lief die Treppen nach unten zum Konferenzzimmer und trat mit einem Klopfen ein. Sie grüßte ihren neuen „Lehrer“ und setzte sich. „Dann bringen Sie mir mal alles bei“, sprach sie.

Der Mann nickte. „Wir müssen zuerst einmal sehen, wie gut ihr Grundwissen ist“, sprach er ruhig. „Daher fangen wir mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen an.“

„Grundalgen?“

„Physik, Mathe, Biologie. Ich möchte wissen, was Sie noch von der Schulzeit wissen.“ Er reichte ihr ein paar leere Zettel. „Bereit?“

„Nichts“, wisperte Jodie leise und sah auf die Zettel. „Ja, ich bin bereit. Legen Sie einfach los.“

„Wie Sie bestimmt wissen, gibt es in den Naturwissenschaften verschiedene Basisgrößen und Maßeinheiten. Ich möchte diese nicht mit Ihnen durchgehen. Aber ich habe Ihnen den folgenden Zettel mitgebracht. Gängige Größen sind die Länge in Metern, die Masse in Kilogramm, die Zeit in Sekunde, die Temperatur in Grad Celsius. Agent Black hat in Zusammenarbeit mit Agent Akai aus den vorliegenden Informationen eine Art Stellenbeschreibung zusammen gestellt. Grundlegend dafür müssen Sie wissen, dass die Dichte einer chemischen Substanz von der Masse und vom Volumen abhängt. Sie beschreibt wie viel Masse ein Kubikzentimeter eines Körpers hat. Eines müssen Sie sich unbedingt merken: Ist die Dichte eines Stoffes größer als die Dichte von Wasser, die 1 Gramm pro Kubikzentimeter entspricht, dann sinkt der Körper ab. Andernfalls schwimmt er auf der Wasseroberfläche.“

Eifrig schrieb Jodie mit. Noch kam sie mit dem Stoff zurecht. Noch. Aber in einigen Stunden konnte es schon ganz anders aussehen.

„Gut, nun gehen wir einen Schritt weiter. Wichtig für Sie ist auch, dass Sie grob die verschiedenen Substanzklassen kennen. Dafür habe ich Ihnen die folgende Übersicht mitgebracht.“ Er reichte ihr einen Zettel.

Jodie hob die Augenbraue. Überall sah sie Buchstaben und Striche. Sie wusste schon warum sie keine Naturwissenschaft studieren wollte. Überall waren C´s, dann Striche, wieder C´s, weitere Striche, zwischendurch tauchten dann noch ein paar O´s und H´s auf dem Zettel auf.

„Alkohole, Aldehyde, Ketone, Carbonsäuren…“

Jodie hörte nur noch mit einem Ohr mit als er die nächsten Substanzklassen vorstellte und ihre Unterschiede zu den vorherigen mit unterschiedlichen Farben darstellte.

„Haben Sie das soweit verstanden?“

„Ich hoffe“, murmelte sie. „In wie fern muss ich das überhaupt wissen?“

„Das sind einfach ein paar Grundlagen.“ Der Mann lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen. Fragen dazu werden Ihnen im Vorstellungsgespräch bestimmt nicht gestellt. Es wäre trotzdem gut, wenn Sie sich merken können, welche Substanzklasse welche Endung besitzt. Manchmal ist es sinnvoll, wenn man in etwa weiß über welche Klasse jemand spricht.“

„Ja…gut…“, sprach Jodie und sah auf das Blatt. „Dann lern ich die Endungen eben. Ol wird mir in Bezug auf Alkohol schon mal helfen.“

„Wie Sie meinen“, gab der Mann von sich. „Mit größter Wahrscheinlichkeit werden Sie bei der Stelle mit der Mikrobiologie konfrontiert. Die Mikrobiologie ist die Lehre von den Mikroorgansimen. Mikroorganismen sind hauptsächlich Bakterien und Pilze. Die meisten dieser Organismen sind Krankheitserreger. Sie haben oft einen eigenen Stoffwechsel, eine Ausnahme sind Viren. Viren besitzen eine Hülle und eine Erbsubstanz, aber keinen eigenen Stoffwechsel. Ein Virus verbreitet sich mit Hilfe einer Wirtszelle. Bakterien liegen in zwei Grundformen vor. Einmal haben wir die Kugel wie beispielsweise die Streptokokken und die Stäbchen. Bakterien besitzen außerdem keinen Zellkern und sind von einer Zellwand umgeben. Diese Zellwand kann von einer Kapsel umgeben sein oder auch nicht. Aber wie kommt es nun zu einer Infektion?“

Jodie sah auf. „Die Erreger werden übertragen.“

Der Mann nickte. „Ja, das stimmt schon. Aber so eine Infektion passiert nicht von heute auf morgen. Es laufen verschiedene Schritte ab, die manchmal wenige Sekunden brauchen. Zunächst findet die Adsorption statt. Das bedeutet, dass das Virusteilchen zunächst an der Zellmembran andockt. Anschließend findet eine Penetration statt, also das Eindringen des Virusteilchens in die Zelle. Danach findet ein Uncoating statt, bei der die Nukleinsäure freigesetzt wird“, erzählte er. „Kommen Sie noch mit?“

„Jaja…reden Sie nur weiter“, entgegnete Jodie ruhig und schrieb weiter mit.

„Im nächsten Schritt erfolgt die Synthese neuer Viren. Danach setzen sich die neuen Viren zusammen und reifen. Am Ende können diese Viren freiwerden und sich weiterverbreiten.“

Jodie spürte den Blick auf sich. „Ist was?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Wenn Sie Fragen haben, scheuen Sie sich nicht davor.“

„Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.“ Jodie sah auf die Uhr. „Machen wir am besten weiter. Noch ist es zumindest verständlich.“

Er lächelte. „Ich versuche es auch so verständlich zu machen wie es nur geht“, antwortete er. „Zumal sicherlich von Ihnen erwartet wird, dass Sie es auch in verständlichen Worten wieder geben.“ Er räusperte sich. „Also wo waren wir…?“

„Sie haben mir von Bakterien und Viren erzählt und wie eine Infektion stattfindet.“

„Ah genau. Dann fangen wir nun mit der eigentlichen Pharmakologie an. Wie Sie sich sicher denken können, ist die Pharmakologie die Wissenschaft die die Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und dem Organismus beschreibt. Sie beschreibt außerdem die Wirkung fremder, aber auch körpereigener Stoffe auf den Organismus sowie die Nutzung von Pharmaka – chemische Stoffe, die als Heilmittel eingesetzt werden. Stellen Sie sich also nun vor, dass Sie ein Arzneimittel haben und es einnehmen. Was passiert dann?“ Er sah zu Jodie.

„Wenn es eine Tablette ist, wird sie geschluckt und löst sich im Magen auf. Dann setzt innerhalb der nächsten halben Stunde die Wirkung ein. Manchmal auch später.“

„Soweit richtig. Ich erkläre Ihnen nun, was dabei genau passiert. Die Wirkung des Arzneimittels im menschlichen Körper ist nichts anderes als das Ergebnis verschiedener, sehr komplexer Vorgänge. Diese Vorgänge lassen sich in drei Phasen einteilen. Die pharmazeutische Phase umfasst die Applikation, den Zerfall der Arzneiform sowie die Auflösung des Arzneimittels. Die pharmakokinetische Phase beschreibt den Einfluss des Körpers auf einen Wirkstoff, also die Aufnahme, die Verteilung, die Verstoffwechselung und die Ausscheidung. Oh, ehe ich es vergesse, das sollten Sie unbedingt mitschreiben“, sagte er. „Die dritte Phase ist die pharmakodynamische Phase, sie beschreibt den Einfluss des Wirkstoffes auf den Körper, wo, wie und warum die Wirkung überhaupt zustande kommt.“

Er wartete einen Moment ab und nahm einen Schluck Wasser. Wenigstens war Jodie eine geduldige Schülerin und nicht schon nach einer Stunde abgeschreckt oder gelangweilt. „Also Sie nehmen nun das Arzneimittel ein. Dieses Arzneimittel zerfällt dann im Magen-Darm-Trakt und das Arzneimittel löst sich auf. Es ist wichtig, dass der Arzneistoff in gelöster Form vorliegt. Nur so kann er von der Schleimhaut des Magens oder Darms aufgenommen werden. Die Geschwindigkeit der Aufnahme in das Innere des Körpers hängt von verschiedenen Eigenschaften des Arzneimittels ab. Um diese Eigenschaften zu variieren verwendet man in einer Tablette nicht nur den Wirkstoff. Neben dem Wirkstoff spielen auch die Hilfsstoffe in einem Arzneimittel eine große Rolle. Man darf nicht vergessen, dass die ganzen Arzneistoffe nicht mit einem bis fünf Gramm eingesetzt werden. Meistens sprechen wir hier vom Milligramm-Bereich. Damit diese Mengen auch handlich sind, werden sie mit den Hilfsstoffen gestreckt. Werden nun wasserlösliche Füllstoffe verwendet, dann erfolgt der Zerfall des Arzneimittels schneller als wenn unlösliche Substanzen verwendet werden. Außerdem gilt, dass der Einsatz von reaktionsträgen Hilfsstoffen zu einer langsameren Freisetzung des Wirkstoffes führt. Auch Bindemittel können den Zerfall und die Auflösung des Wirkstoffes verzögern, da dadurch die Arzneiform länger zusammen gehalten wird. Also wir haben nun das Arzneimittel aufgenommen und es befindet sich nun im Magen-Darm-Trakt. Um durch die Zellmembran hindurch zu kommen muss eine Resorptionsbarriere durchschritten werden. Aufgrund der dicken und wasserunlöslichen Schicht können fettlösliche Stoffe leichter die Membran passieren und in das Innere der Zelle gelangen. Unser Arzneimittel befindet sich nun also im Inneren der Zelle bzw. in der Blutbahn. Über die Blutbahn kann der Arzneistoff schließlich in die verschiedenen Gewebe verteilt werden. Die Verteilung ist abhängig von der Größe, der Löslichkeit und anderen chemischen Eigenschaften, von der Durchblutung der Organe und vom Gewebe sowie von der Durchlässigkeit der Membranen im Körper. Das alles ist wichtig, damit der Arzneistoff nicht ungewollt in andere Orte gelangt, beispielsweise dem Gehirn. Sobald sich also unser Arzneistoff in der Blutbahn befindet, stellt sich mit der Zeit ein Gleichgewicht ein, da sich Blut und Gewebe immer im Stoffaustausch befinden. Ist das soweit verständlich?“

Naja, geht so.

Jodie nickte. „Im Moment ja.“ Sie sah auf das, was sie sich aufschrieb und hoffte, dass es am Abend noch immer so verständlich war.

„Gut, also der Arzneistoff befindet sich im Körper und kann wirken. Bevor wir auf die Wirkung kommen, gehen wir den Weg zu Ende. Der Körper ist bestrebt, dass die Wirkung von Fremdstoffen beendet wird und diese Stoffe ausgeschieden werden. Diesen Vorgang bezeichnet man als Metabolisierung oder aber als Biotransformation. Die Metabolisierung bezeichnet die Verstoffwechselungen der Substanzen während die Biotransformation von der Umwandlung spricht. Durch die Biotransformation kann die Wirkung des Arzneistoffs auch verändert werden. Hier können Sie sich merken, dass es möglich ist, dass unwirksame Stoffe zu wirksamen Stoffen umgewandelt werden. Problematisch wird dies, wenn harmlose Stoffe in giftige Verbindungen umgewandelt werden und den Tod zur Folge haben. Ebenso ist es möglich, dass die wirksamen Verbindungen stärker oder schwächer werden. Sie können natürlich auch unwirksam werden. Und was ein Vorteil ist, es können giftige Stoffe auch in wenig giftige Stoffe umgewandelt werden. Sie sehen, der menschliche Körper kann mit den unterschiedlichen Arzneistoffen großes Vollbringen. Die umgewandelten Stoffe können nun über die Niere als Urin ausgeschieden werden. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Ausscheidung über die Ausatmungsluft oder über die Haut passiert.“

„Das hört sich ja alles nicht so schwer an“, entgegnete Jodie.

„Ist es auch nicht“, antwortete ihr Gegenüber. „Aber wir sind noch lange nicht fertig.“

„Echt?“ Jodie sah auf ihren Zettel. „Was kommt denn noch? Wir sind doch alles durchgegangen.“

Er musste lachen. „Es gibt ein paar Sachen die Sie vergessen haben. Wir müssen noch die Pharmakodynamik durchsprechen. Sie beschreibt, welche Veränderungen im Organismus durch den Wirkstoff ausgelöst werden. Dabei gibt es sowohl erwünschte als auch unerwünschte Wirkungen. Hierbei gilt zu klären, ab wann eine unerwünschte Wirkung auftritt. Deswegen schauen wir uns die Dosis des Arzneistoffs an. Die gewünschte Wirkung soll natürlich ohne schwerwiegende Nebenwirkungen erzielt werden. Dies ist dadurch möglich, dass eine Überdosierung vermieden wird. Sie kennen bestimmt Fälle in denen Menschen zu viel Schlaftabletten nahmen und nie wieder aufwachten. Das liegt daran, weil eine Überdosierung statt fand. Auf allen Arzneimitteln finden Sie immer die Angabe über die Einzeldosis und Tagesdosis. Dazu gibt es die Schwellendosis, das ist die kleinste Dosis bei der ein Effekt auftrifft. Wichtig ist auch die therapeutische Breite. Diese spiegelt den Sicherheitsbereich des Arzneistoffs in seiner Anwendung wider. Je größer die therapeutische Breite ist, umso ungefährlicher ist das Arzneimittel. Leider ist es auch möglich, dass der Mensch irgendwann eine Toleranz gegen den Wirkstoff aufbaut. Danach hat man zwei Möglichkeiten. Entweder man erhöht die Dosis oder man ändert das Medikament. Wie finden wir also nun heraus, dass unser Arzneimittel auch keinen Schaden anrichtet?“, wollte er wissen.

„Untersuchungen?“, kam es von Jodie.

Er nickte. „Man führt klinische Studien durch. Diese sind dafür da um sichere Daten zur Eignung aber auch zu der Sicherheit des Arzneimittels zu liefern. Klinische Prüfungen dürfen nur von einem Arzt geleitet werden und müssen detailliert festgehalten werden. Außerdem muss eine Ethikkommission die Studie genehmigen und mit überwachen. Um eine Zulassung für ein Arzneimittel zu erlangen, müssen die vier Phasen eingehalten werden. In der ersten Phase wird der Wirkstoff an gesunden Probanden eingesetzt. Hierbei stehen die Sicherheit und die Verträglichkeit im Vordergrund. Danach wird das Mittel an den Patienten getestet um zu sehen, dass das Mittel auch weiterhin unbedenklich ist. Man sucht außerdem nach der kleinsten, wirksamen Tagesdosis sowie nach der höchsten. Im Anschluss führt man die gleichen Untersuchungen an einer Vielzahl von Patienten durch und startet Vergleichsprüfungen mit schon vorhandenen Arzneimitteln die verwendet werden und mit einem Placebo. Und wenn alles gut geht, bekommt man schließlich die Zulassung, muss aber weiterhin mögliche Nebenwirkungen oder Langzeitwirkungen an die Überwachungsbehörden kommunizieren.“

„Mhmm hört sich alles nicht so leicht an“, entgegnete Jodie ruhig.

„Ist es auch nicht. Mitunter dauert das alles mehrere Jahre und ist dann erfolgreich oder eben nicht erfolgreich. Und die klinische Studie ist für das Fertigprodukt. Aber wenn man soweit ist und eine Zulassung für sein Produkt erhalten hat, kann man sich glücklich schätzen. Das Mittel ist dann für eine ganze Weile geschützt, sodass Nachahmerprodukte nicht kurz darauf auf den Markt kommen. Außerdem sind die Produkte für mindestens fünf Jahre verschreibungspflichtig. Wie ich von Agent Black erfuhr, handelt es sich bei dem Unternehmen aber um eines, welches freiverkäufliche Arzneimittel herstellt und verkauft. Da müssen Sie sich um die ganzen Studien keine Sorgen machen. Ich denke auch, dass Ihnen die Kollegen dann alles weitere erzählen können.“

„Es hörte sich ja gar nicht so schwer an“, gab Jodie zu.

„Das ist es auch nicht. Aber es kommt noch eine Menge Wissen hinzu. Und ich soll Sie nur so vorbereiten, dass Sie morgen bestehen werden, sollten Sie etwas Pharmazeutisches erzählen.“

„Das schaff ich schon…irgendwie.“ Jodies Kopf rauchte.

„Gut. Dann machen wir weiter“, sagte er. „Wir sind noch lange nicht fertig…“
 

***
 

Jodie trat aus dem Aufzug, verabschiedete sich kurz von dem Wachmann und trat dann nach draußen. Es war bereits dunkel. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.

18:05 Uhr.

Sie streckte sich. Langsam setzten die Kopfschmerzen ein. Sie rieb sich die Schläfe und ging auf ihren Wagen zu. Sie fühlte sich wieder in ihre Schulzeit zurück versetzt. So viel wissen und so viel können. Zum Glück musste sie keinen Test schreiben. Mündlich sah die Sache schon anders aus. Sie konnte sich artikulieren, egal welche Frage man ihr stellte. Und im Notfall hätte sie sich einfach um Kopf und Kragen geredet. Am Ende wäre schon etwas Gutes heraus gekommen.

„Jodie.“

Die Gerufene blickte nach hinten. „Sollte ich noch in dein Büro kommen?“, wollte sie wissen.

James schüttelte den Kopf. „Mach dir darüber keine Gedanken. Du kannst ruhig Feierabend machen. Ich wollte nur nochmal mit dir wegen morgen sprechen.“

Jodie sah ihn fragend an. „Ich dachte ich geh einfach zum Unternehmen und stell mich vor.“

„Das schon. Hast du auch die passenden Anziehsachen für ein Vorstellungsgespräch?“

Jodie sah ihn irritiert an.

„Deine Sachen sind ja soweit in Ordnung. Allerdings sind die Japaner immer ein wenig…zugeknöpfter“, entgegnete er.

„Ah, jetzt weiß ich, was du mir sagen willst“, sprach sie. „Mach dir keine Sorgen. Ich fahr gleich noch ins Einkaufszentrum und besorge mir Sachen, die sagen: Jodie Starling, seriös.“

07.12.

Jodie sah sich das Ergebnis ihrer Einkaufstour an. Eigentlich hatte sie ja genug Sachen in ihrem Kleiderschrank hängen. Sowohl in Japan als auch in ihrer Wohnung in den Staaten. Und Schuhe. Sie hatte so viele von ihnen. Verschiedene Sorten und verschiedene Farben. Am liebsten waren ihr allerdings Turnschuhe oder Stiefel. Es mussten allerdings Stiefel mit einem normalen Absatz, der auch beim Laufen nicht hinderlich war, sein. Dazu trug sie gern eng anliegende Sachen. Ein hübsches Kleid, das bis knapp über die Knie ging und ihren Körper betonte.

James hatte Recht, wenn er annahm, dass diese Kleidung nicht angemessen war. Gerade bestimmte Reize durfte sie bei dem Vorstellungsgespräch nicht zeigen. Außer die andere Person war dafür empfänglich.

Jodie musste sich vollkommen normal verhalten. Geschlossener. Zum Glück hatte sie bei ihrer Tour ein paar gute Sachen erstanden, sodass eigentlich nichts gegen das Gespräch sprechen durfte. Jodie sah auf die Uhr und zog sich anschließend um. Im Wohnzimmer fuhr sie ihren Laptop hoch und druckte die Unterlagen aus. Dann ging sie noch einmal ihren Lebenslauf durch.

Die meisten Daten und Fakten blieben erhalten. Sie war noch immer Jodie Starling, wurde in den Staaten geboren und hatte dort ihre Schulausbildung absolviert. In ihrem veränderten Leben ging sie nicht zum FBI sondern belegte einige Kurse im pharmazeutisch-biologischem Bereich und hatte sich anschließend von einer Stelle zur nächsten gehangelt. In Zuge dessen war es auch möglich für einige Monaten bei einem Pharmaunternehmen zu arbeiten, wo sie sich um sämtliche Kundenanforderungen und –anfragen kümmerte. James hatte die Sache gut durchdacht. Auch ohne großes Wissen konnte man eine solche Aufgabe erfüllen. Man musste nur wissen, wo man recherchierte oder wen man fragen konnte. Durch den Bekannten von James – der ihm zufällig noch einen Gefallen schuldete – wurde die Arbeitsstelle mit einem guten Arbeitszeugnis beendet. Jodie hoffte inständig, dass diese Art der Erfahrung ausreichend war um für die Stelle in die engere Auswahl zu kommen und um sie schließlich zu bekommen. Nun musste sie den Boss des Unternehmens nur noch von sich überzeugen.

Jodie packte ihre Handtasche und nahm nur das nötigste mit. Dann machte sie sich auf den Weg.
 

Jodie überprüfte ihre Schminke im Rückspiegel ihres Wagens.

Perfekt.

Sie lächelte und stieg aus. Als erstes sah sie sich um. Bereits als sie herfuhr, erkannte sie in welchem Wagen die Agenten saßen. Es war erleichternd, dass diese im Notfall draußen standen und ihr zu Hilfe eilen würden. Wobei sich Jodie fragte wie sie sich bemerkbar machen könnte. James verzichtete absichtlich auf Abhörgeräte, da die Firma zum einen selbst mit Kameras ausgestattet war und zum anderen, weil keiner wusste, ob die Geräte des FBIs nicht einem Störsender einen Hinweis gaben.

Jodie schloss die Wagentür und ging zum Gebäude. Es war größer als sie erwartete. Sie blieb davor stehen und betrachtete es eindringlich.

Medipharm stand auf dem großen Schild über der Eingangstür. Nun wo sie wirklich davor stand, wirkte das Gebäude auch wenig einladend. Und es lag abseits der anderen Firmen. So als müsste man es isolieren. Jodie schüttelte den Kopf. Jetzt lag es an ihr.

Jodie öffnete die Tür und ging in das Gebäude. Sie folgte dem ausgelegten Teppich bis sie zum Empfangstresen kam. Jodie wartete einen Moment bis die Frau zu ihr hoch sah.

„Guten Morgen“, grüßte Jodie. „Ich möchte mit Herrn Shibungi reden.“

„Guten Morgen“, antwortete die Frau. Das Schild auf dem Tresen wies sie als Aiko Kawasaki aus. Und wie Jodie feststellte, handelte es sich auch um die Frau. Das FBI recherchierte gründliche. Aiko Kawasaki stammte aus einer einfachen Familie und absolvierte vor mehreren Jahren eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Nachdem das kleine Hotel, aufgrund von Besuchermangel, geschlossen wurde, sah sie sich auf dem Markt um und landete schließlich bei Medipharm. Für das Unternehmen war sie bisher fünf Jahre tätig. Ihre polizeiliche Akte war makellos und auch sonst gab es keinen Hinweis darauf, dass sie mit der Organisation arbeitete. „Herr Shibungi ist außer Haus. Haben Sie einen Termin bei ihm?“

Außer Haus? Jodie wusste es besser. Das FBI war Shibungi hier her gefolgt und bestätigte dessen Anwesenheit im Unternehmen. Außer Haus hieß dann wohl so viel wie: Ich kenne Sie nicht und bevor ich Sie zum Chef lasse, muss ich wissen wer Sie sind.

„Nein, aber ich würde mich freuen, wenn er sich trotzdem ein wenig Zeit für mich nehmen würde“, antwortete Jodie ruhig.

Frau Kawasaki überlegte. Dann klickte sie auf ihrem PC herum und rief den Terminplaner ihres Bosses auf. „Ich kann Ihnen einen Termin in einer Woche anbieten. Am 14.12. um 15:30 Uhr?“

Jodie seufzte leise und zog dann die Bewerbungsmappe aus ihrer Tasche hervor. „Ich möchte mich hier um eine Stelle bewerben“, begann sie. „Ich weiß, es ist unüblich, dass jemand vorbei kommt, aber ich möchte einen persönlichen Eindruck hinterlassen.“ Sie schob die Mappe rüber. „Besteht nicht doch die Möglichkeit, dass sich Herr Shibungi noch heute ein wenig Zeit für mich nimmt?“

„Hören Sie“, sie stockte und öffnete die Mappe. „Frau Starling, es ist nicht so einfach einen Termin zu bekommen. Gerade in der Zeit kurz vor dem Jahreswechsel müssen wir uns auf den Jahresabschluss vorbereiten. Sie können gerne auf einem der Stühle hinter Ihnen Platz nehmen und warten. Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, dass es heute noch möglich ist.“

Jodie lächelte. „Danke. Ich weiß Ihre Mühen zu schätzen.“ Jodie drehte sich um und ging zu den Stühlen. Sie setzte sich und würde warten. Egal wie lange es dauerte. Nach einer Weile tat Jodie, als würde sie die Zertifikate, die an der Wand hingen, lesen. Aus dem Augenwinkel sah sie wie die Empfangsdame eine Weile am Computer herum klickte und Anrufe entgegen nahm. Einige leitete sie weiter. Andere würgte sie mehr oder minder ab. Kurz erlaubte sie sich einen Blick auf die Uhr. Es durfte nicht so aussehen, dass sie sich langweilte oder ärgerte.

„Ja, mach ich“, sprach Aiko in den Hörer und legte auf. Sie sah zu Jodie. „Frau Starling? Kommen Sie bitte mit.“ Aiko Kawasaki erhob sich und führte Jodie zu den Treppen. Sie ging mit ihr nach oben und blieb in der oberen Etage vor einer Bürotür stehen. Aiko klopfte an und öffnete kurz darauf die Tür. Sie wandte sich wieder zu Jodie. „Nach Ihnen.“

Jodie nickte und ging in den Raum.

Sota Shibungi stand auf. Er reichte Jodie zum Gruß die Hand. „Setzen Sie sich bitte, Frau Starling.“

Jodie tat wie ihr aufgetragen wurde. „Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit nehmen, Herr Shibungi.“ Das also hatte die Empfangsdame in der letzten halben Stunde getan: Bewerbung eingescannt und an ihren Boss verschickt.

„Sie wollen sich also hier bewerben. Wie kommen Sie darauf, dass wir eine Stelle zur Ausschreibung haben?“, wollte Shibungi wissen.

„Ich habe es gehofft“, fing Jodie an. „Ich bin auf Ihr Unternehmen gestoßen und habe ein wenig zu Ihrer Firma recherchiert. Es hörte sich nach dem an, was ich mir vorstellen kann. Deswegen habe ich Ihnen direkt meine Bewerbung mitgebracht. Ich hatte diese bereits auch per E-Mail verschickt, aber ich dachte mir, dass ein persönliches Gespräch besser ist, zumal ich Sie dann direkt von mir überzeugen kann.“

„Mhmm…mal sehn, was wir für Sie machen können“, fing er an. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Wenn es Ihnen keine Umstände macht, würde ich eine Tasse Kaffee bevorzugen.“

Shibungi drückte auf einen Knopf an seinem Tisch. „Aiko? Zwei Tassen Kaffee.“ Dann wandte er sich wieder zu Jodie. „Dann…erzählen Sie doch etwas über sich.“

Jodie nickte. „Gerne. Mein Name ist Jodie Starling, ich bin 28 Jahre alt und ich habe meinen Abschluss in New York gemacht. Nach meinem erfolgreichen Studienabschluss habe ich aufgrund der schweren Arbeitssituation unter anderem in einem namhaften Pharmaunternehmen gearbeitet. Dort habe ich mich hauptsächlich um die Betreuung und Auswertung von Kundenanfragen gekümmert. Als ich schließlich nach Japan kam, war ich eine Weile als Englischlehrerin tätig, suche aber nun wieder eine Aufgabe, die mich richtig fordert.“

„Und Sie denken, dass Sie diese hier finden?“ Die Tür ging auf und die Dame vom Empfang kam mit zwei Tassen Kaffee wieder.

„Danke“, sagte Jodie ruhig und blickte wieder Herrn Shibungi an. „Ja, da bin ich mir sicher. Wie Sie meinen Zeugnissen entnehmen können, habe ich schon damals einige pharmazeutische Kurse belegt. Nachdem ich auf Ihrer Firmen-Website war, weiß ich, dass Sie freiverkäufliche Arzneimittel auf den Markt bringen. Dies würde sich zu meiner bisherigen Tätigkeit in den Staaten gut ergänzen. Natürlich wachse ich mit meinen Aufgaben und ich bin bereit mehr zu tun als die Kundenbetreuung.“

„Mhmm, ich verstehe. Wie würden Sie reagieren, wenn ein älterer Kollege Sie auf einen Fehler aufmerksam macht?“

„Ich würde ihm danken“, fing Jodie an. „Im ersten Moment wäre es für mich selbst sehr ärgerlich, aber es ist erforderlich. Gerade in dieser Branche können die noch so kleinsten Fehler zu großen Problemen führen.“

„Arbeiten Sie lieber im Team oder alleine?“

„Das ist immer abhängig von der Situation. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass beide Arbeitsweisen sehr effektiv sein können, wenn sie richtig eingesetzt werden müssen. Routineaufgaben im Tagesgeschäft würde ich eher alleine erledigen. Wenn es aber darauf ankommt an neuen Projekten zu arbeiten und Lösungen zu suchen, dann ist die Arbeit in einem Team viel leistungsfähiger.“

„Wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie ihre eigenen Aufgaben hätten und es keine Teamarbeit gibt, wie würden Sie darauf reagieren?“, fragte Shibungi.

„Ich kann mir das ehrlich gesagt nicht so wirklich vorstellen. Gerade in dieser Branche kann es doch immer zu neuen Projekten kommen…Sie stellen Produkte für verschiedene Kategorien her. Der Größe nach zu urteilen, wird sich nicht eine Person um alles kümmern. Da ich annehme, dass es schon mal Änderungen in den Regularien gibt, denke ich auch, dass sich die verschiedenen Bereiche sicher irgendwann zusammen setzen werden“, sprach Jodie ruhig. „Und ich nehme an, dass nicht jeder ein Einzelbüro hat, sodass ich den Kontakt zu Kollegen haben würde mit denen ich gegebenenfalls über Probleme oder meine Tätigkeiten sprechen kann. Auch daraus können sich neue Ansätze entwickeln.“

Shibungi runzelte die Stirn. „Wie sieht es mit Stress aus?“

„Stress…“, wiederholte Jodie. „Ich weiß, dass es bestimmt nicht immer dazu kommen wird, dass der Feierabend pünktlich gemacht wird und es ist kein Problem für mich, dann auch länger zu arbeiten. Für mich ist es allerdings wichtig, dass ich meine Prioritäten in meinem Aufgabenbereich kenne und dadurch meine Zeit richtig plane. Dabei plane ich lieber ein wenig mehr Zeit ein um noch Luft für Unvorhersehbares zu haben, aber wenn es mal nicht klappt, geht die Welt nicht unter.“

„Machen Sie Sport zum Ausgleich oder andere Tätigkeiten?“

„Ich geh laufen. Je nachdem wie es die Zeit zulässt. Im Sommer genieße ich gern die Morgenstunden, wenn alles frisch ist. In der Winterzeit tendiere ich eher dazu am Abend laufen zu gehen. Dabei kann man gut einen klaren Kopf kriegen.“

„Wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass Sie mit der Arbeit um 8 Uhr morgens beginnen und an den meisten Tagen erst um 19 Uhr aufhören würden, wie würde Ihre Umwelt darauf reagieren?“

„Meine…Umwelt?“ Jodie sah ihn überrascht an. „Meine Freunde würden wissen dass mir der Job wichtig ist, wenn ich länger Arbeite als nötig. Aber ich nehme an, dass Ihre Arbeit auf einen festen Partner abzielt. Momentan wartet niemand auf mich, wenn ich abends nach Hause komme.“

Shibungi blickte in Jodies Lebenslauf. „Sie sind vor einigen Jahren von New York nach Tokyo gezogen. Hatte das berufliche Ambitionen?“

„Nein“, kam es sofort von Jodie. „Mein damaliger Partner war Japaner und er wollte wieder in die Heimat. Ich bin mitgegangen…“

„Und dann geblieben?“

Jodie nickte. „Ich wollte nicht einfach aufgeben und wieder zurück in die Staaten gehen. Deswegen habe ich, um mein japanisch zu verbessern, an der Teitan-Oberschule als Englischlehrerin angefangen.“

„Warum haben Sie die Arbeit dort beendet?“

„Die Stelle war nur befristet“, antwortete Jodie. „Nach den Schulferien wurde der Vertrag seitens der Schule nicht verlängert. Unter anderem lag es auch an den Eltern, die einfach ein falsches Bild von der amerikanischen Kultur haben.“

„Sie meinen wegen der Vorurteile?“

„Leider ja. Eltern waren besorgt, dass ich den Unterricht nicht ernst nehmen und mich in knappen Kleidern vor die Kinder stellen würde. Sämtliche Versuche meinerseits führten aber zu keiner veränderten Meinung.“

Shibungi musterte Jodie. „Aus welchen Gründen sollte ich Sie dann einstellen?“

Jodie tat, als würde sie nachdenken. „Ich habe bereits Erfahrungen in dem Bereich sammeln können und ich bin jederzeit bereit mich weiterhin fortzubilden und auch Auffrischungskurse vor Beginn der Stelle zu belegen. Ich behaupte Mal, dass mein Englisch in Wort und Schrift perfekt ist.“ Sie schmunzelte und steckte Shibungi damit an. „Ich weiß, dass Englisch gerade in den Naturwissenschaften Voraussetzung ist und ich weiß auch, dass sich viele Japaner noch immer damit schwer tun. Mit mir haben Sie diese Probleme nicht.“

„Ihre Englischkenntnisse sind wirklich von Vorteil…“, stimmte er ihr zu. „Ab wann würden Sie sich in der Lage fühlen hier anzufangen?“

„Ich würde gern vorher noch einige Sachen regeln. Aber an sich könnte ich Ihnen bereits ab nächster Woche zur Verfügung stehen. Es wäre auch machbar, dass ich bereits ab morgen starte.“

„Mhm…“

„Das war nicht das was sie hören wollten, nicht wahr?“

„Nein nein…ich überlege nur…“

„Es gibt eine freie Stelle, nicht wahr?“

Er nickte.

„Aber Sie sind noch nicht ganz von mir überzeugt.“

„Überzeugen Sie mich mehr.“

Jodie sah ihn an. „Wenn es um meine Eignung geht, kann ich Ihnen auch den Vorschlag unterbreiten, dass ich erst einmal als Praktikantin ein paar Schnuppertage mache. Ich denke, dass kann nichts schaden. Dann bekomme ich einen Einblick in die Stelle und Sie können danach die Kollegen fragen, wie ich mich gemacht habe.“ Jodie ließ einige Sekunden verstreichen. „Wir können es doch auch so machen, dass ich ab Morgen zum Probearbeiten komme und wenn Sie zur Monatsmitte feststellen, dass ich mich gut mache, geben Sie mir den Vertrag.“

„Mhmm….sie würden ab morgen anfangen?“

„Ja…das krieg ich schon hin. Wenn Sie eine Stelle für mich haben, würde ich diese wirklich sehr gerne antreten. Und mit dem Probearbeiten haben Sie nichts zu verlieren. Sie können auch weitere Gespräche stattfinden lassen, aber geben Sie mir die Chance Ihnen zu beweisen, dass ich es kann.“

Sota Shibungi stand auf. „Ich führe Sie einmal durch die Firma. Noch ist allerdings nichts entschieden.“

Jodie seufzte innerlich. Er war noch immer nicht überzeugt. „Gerne“, sagte sie und folgte ihm. Sie gingen in das erste Stockwerk, wo Jodie einen kurzen Blick auf die Produktion warf.

„In welchem Bereich würden Sie lieber arbeiten? Herstellung oder Regularien?“

„Mein Favorit wären die Regularien. Aber ich wäre mir auch für eine Arbeit in der Herstellung nicht zu schade.“

„Hier geht’s lang.“

Jodie folgte ihm und während sie sich mit einigen Männern und Frauen bekannt machte, war sie froh, dass kein Hintergrundwissen abgefragt wurde. Anschließend brachte Sota Shibungi sie nach unten. Er zeigte ihr verschiedene Büroräume. In einem blieb er stehen. „Sollten wir Sie in Erwägung ziehen, würden Sie hier arbeiten.“

Jodie sah sich um. „Schön groß.“

Er nickte. „Das Büro ist von insgesamt vier Mitarbeitern besetzt. Eine Mitarbeiterin arbeitet nur in Teilzeit und der andere Kollege kommt Projektbezogen in die Firma.“

„Wer würde mich einarbeiten?“

„Frau Tadashi. Momentan befindet sich diese auf einer Dienstreise. Sie arbeitet seit rund drei Jahren im Unternehmen und kennt sich mit der gesamten Thematik gut aus.“

„Ich verstehe“, murmelte Jodie. „Gibt es hier auch Abteilungsleiter oder wären Sie mein direkter Vorgesetzte.“

„Ich wäre es“, antwortete er. „Bei Fragen steht Ihnen auch meine Frau zur Verfügung.“

„Können Sie mir einen typischen Arbeitsalltag in diesem Bereich beschreiben?“

Shibungi lachte. „Mit einfachen Worten: Sie kommen her, Sie arbeiten, Sie gehen nach Hause.“ Er ging wieder zum Büro zurück und setzte sich auf seinen Stuhl. Aus seinem Schrank zog er einen Zettel raus. „Die Stelle wollten wir im nächsten Monat ausschreiben.“

Jodie nahm das Blatt und las sich die Anforderungen durch.

„Denken Sie, Sie kommen damit klar?“

„Ja“, antwortete sie. „Es ist das, was ich gesucht habe. Ich habe keine Probleme damit mich um die unterschiedlichen Kundenanfragen zu kümmern“, sprach sie.

„Sie werden natürlich noch andere Tätigkeiten übernehmen. Ich werde mich mit meiner Frau absprechen und Sie am Abend anrufen. Hat mich gefreut, Frau Starling.“
 

***
 

Sayaka betrat das Büro und sah ihren Mann an. „Du wolltest mich sprechen“, sagte sie und setzte sich auf den Platz vor seinem Tisch.

Sota war vertieft in die Bewerbung und machte am Rand einige Notizen. Er blickte nach oben und lächelte. „Hier.“ Die Bewerbung schob er über den Tisch und beobachtete ihre Reaktion.

Sayaka blätterte langsam die Unterlagen durch. „Oh“, murmelte sie. „Eine Freundin oder Bekannte von einem Mitarbeiter?“, wollte sie dann wissen. „Oder hat sie vor meiner Zeit bereits hier gearbeitet?“

„Weder noch“, antwortete er ruhig. „Hat sich initiativ hier beworben. Da sie auch vor Ort war, hab ich gleich mal ein Vorstellungsgespräch mit ihr geführt.“

„Mhmm“, murmelte Sayaka. „Ich hatte angenommen, wir würden es zusammen führen.“ Sie blätterte weiter. „Sie scheint Erfahrungen zu haben.“

„Ein wenig. Sie hat in vielen verschiedenen Bereichen gearbeitet. Mir macht es Sorgen, dass sie unser Unternehmen in paar Monaten wieder verlässt“, warf er ein.

„Dann suchen wir in der Zwischenzeit weiter. Und wenn sie wirklich kündigt, können wir die Stelle schnell erneut besetzen. Du weißt, dass wir unbedingt eine neue Kraft brauchen. Wenn das so weiter geht, schaffen die Mitarbeiter das Pensum zum Jahresende nicht. Und hier steht, dass sie ab sofort kann. Wir sollten gucken was bei ihr ab sofort heißt.“

„Sie könnte ab morgen. Wir könnten bis zum Jahresende ihre Arbeit hier als eine Art Praktikum durchgehen lassen. Dann sieht sie, ob es was für sie wäre und wir müssen sie nicht bezahlen“, entgegnete er.

„Und du glaubst, sie lässt sich darauf ein?“

„Es war ihr Vorschlag.“

Sayaka wurde hellhörig. Sie schlug die Mappe zu und sah ihren Mann an. „Unbezahlte Kraft. Kann sofort anfangen“, zählte sie die Vorteile auf. „Warum versuchen wir es nicht einfach? Biete ihr an, dass es morgen früh schon los geht. Und wenn es auf einmal ein Problem für sie darstellt, dann wissen wir wenigstens, dass ihr nichts an der Stelle liegt.“

Sota nickte. „Gut.“

Und ich kann sie im Auge behalten.
 

***
 

Jodie zog ihre Pumps aus und massierte sich die Zehen. „Wie Frauen auf so was laufen können“; murmelte sie.

„Du läufst auch in deinen Stiefeln“, warf Akai ein.

„Das ist auch was anderes. Stiefel sind Stiefel“, entgegnete die Agentin ruhig.

„Wie war das Gespräch?“, wollte James wissen.

„Weiß nicht. Ich würde sagen recht gut. Aber ich denke, er war noch nicht ganz von mir überzeugt.“

„Warum nicht?“

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht passte es ihm nicht, dass ich unverheiratet bin“, sprach sie ruhig. „Ich habe ihm angeboten, dass ich ab Morgen schon Probeweise arbeiten kann und er mich festeinstellt, wenn ich mich gut mache.“

„Wann wollte er sich melden?“

„Irgendwann im Laufe des Tages.“ Jodie sah auf die Uhr. Nun hieß es warten…
 

Zwei Stunden später klingelte endlich ihr Handy und brachte die erlösende Nachricht.

„Starling“, sprach sie.

„Shibungi hier. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich mit meiner Frau über die Stelle gesprochen habe. Wir möchten es gerne versuchen und würden es sehr begrüßen, wenn Sie ab morgen zum Probearbeiten kommen würden. Wenn sich die Kollegen positiv über Sie äußern können wir den endgültigen Vertrag abschließen. Der wäre dann allerdings zum 01.01.“

„Also würde ich bis zum Monatsende als Praktikantin bei Ihnen arbeiten?“, wollte Jodie wissen.

„Ja. Ich denke, dass ist in unser beider Sinne. Falls es Ihnen nicht gefällt, haben Sie die Möglichkeit das frühzeitig zu äußern.“

„Ja, gut…das Angebot nehme ich gerne an“, sagte die Agentin. „Um wie viel Uhr soll ich in die Firma kommen?“

„Um 9 Uhr sind die Kollegen da“, entgegnete er. „Melden Sie sich einfach am Empfang.“

08.12.

Jodie saß am Küchentisch und trank eine Tasse Kaffee. Sie ging ihre Notizen von der pharmazeutischen Nachhilfe durch und bereitete sich auf ihren ersten Arbeitstag im Unternehmen vor. Als das Handy klingelte, sah Jodie misstrauisch auf dieses. Sie nahm es hoch und blickte auf das Display.

Shu?

Jodie war verwundert, nahm dann aber das Gespräch entgegen. „Guten Morgen“, sprach sie.

„Morgen“, antwortete er. „Du hast heute deinen ersten Tag bei Medipharm“, fügte er an.

„Ich weiß“, schmunzelte sie. „Ich hab es geschafft.“ Jodie war stolz.

„Du wirst trotzdem auf dich aufpassen“, fing er an. „Wir können dich im Gebäude nicht beobachten und auch nicht auf dich aufpassen. Wenn es zu gefährlich wird, ruf mich an“, fügte er an.

Jodie lächelte. Er machte sich Sorgen um sie. „Ich kann auf mich aufpassen, Shu. Ich bin ein großes Mädchen.“

„Sei einfach vorsichtig. Du kannst noch den Auftrag abbrechen.“

„Shu! Ich hab schon mal verdeckt ermittelt.“

„Damals warst du an einer Schule. Durch die Schüler warst du in Sicherheit. Keiner hätte es gewagt dir dort ein Haar zu krümmen. Jetzt bist du schutzlos, den ganzen Tag in einem Büro mit wenigen Personen. Und wenn du zum Chef gerufen wirst, kann dir auch was passieren. Dann ist keiner da, der irgendwas mit bekommt.“ Es ärgerte ihn, dass sie so handeln mussten. Es war sowieso schwer in Japan zu ermitteln, da sie keine Befehlsgewalt hatten. Bisher lief die Sache immer gut. Sie hatten die Polizei auf ihrer Seite und wurden von diesen auch in die Ermittlungen mit einbezogen. Dennoch durften sie ihr Glück nicht ausreizen.

„Du musst dir um mich keine Sorgen machen“, kam es dann von Jodie. „Unsere Männer sitzen in Zivilfahrzeugen und beobachten das Gebäude. Ich weiß, dass wir keine Abhörgeräte verwenden können. Aber ich bin trotzdem nicht ängstlich und ich behalte meine Umgebung im Auge.“

„Sobald dein Arbeitstag zu Ende ist, meldest du dich bei mir. Ich möchte keine SMS von dir erhalten. Ein Anruf ist Pflicht.“

Jodie war perplex. „Ähm…okay….“

„Gut. Schönen Arbeitstag.“ Er legte auf und Jodie blickte verwirrt auf ihr Handy.
 

***
 

Noch immer fühlte sich Jodie großartig. Sie hatte die Stelle an Land gezogen und konnte wieder zeigen, was in ihr steckte. Und dann war da noch Shu der sich Sorgen um sie machte. Es war ein gutes Zeichen, auch wenn sie ihren Kollegen nur ungern in Sorge versetzen wollte. Shu musste für den Abend fit genug sein. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Nicht wegen ihr.

Jodie schüttelte sofort den Kopf. Jetzt ließ sie sich ablenken. Sie schob die Gedanken bei Seite und trat durch die Eingangstür von Medipharm. Mit einem Lächeln ging sie auf die Empfangsdame zu. „Guten Morgen“, begrüßte sie sie. „Ich konnte mich gestern gar nicht mehr richtig vorstellen. Mein Name ist Jodie Starling. Ich habe heute hier meinen ersten Arbeitstag und soll mich melden.“

„Guten Morgen“, antwortete Aiko Kawasaki. „Einen Moment.“ Sie griff nach dem Hörer und rief im Büro an. „Guten Morgen, Kasumi. Frau Starling ist hier…“ Sie wartete. „Ja…ist gut.“ Aiko legte auf und sah zu Jodie. „Einen Moment.“

Jodie nickte und wartete. Zehn Minuten später sah Jodie die Tür aufgehen. „Frau Starling?“

„Jodie Starling“, stellte sie sich vor und reichte der Fremden die Hand.

„Kasumi Tadashi. Ich kümmere mich um die Qualitätssicherung in der Arzneimittelthematik. Herr Shibungi hat mich heute Morgen über Ihre Anwesenheit informiert. Sie fangen also mit einem Praktikum bis zum Jahresende an und werden, wenn es gut geht, übernommen.“ Sie musterte Jodie. „Dann hoffen wir mal, dass Sie übernommen werden. Folgen Sie mir bitte.“

Jodie ging mit ihr mit und sah sich im Flur um.

„Wie Sie sicher schon gestern beim Gespräch gesehen haben, sind wir ein mittelgroßes Unternehmen mit zwei Etagen. Über uns findet die Produktion statt. Dort sind weitaus mehr Mitarbeiter als hier unten. Nachher bekommen Sie noch einen ausführlichen Rundgang mit Herrn Hidako. Wir hier unten sind mit rund 15 Mitarbeitern aufgestellt“, erzählte Kasumi ruhig.

„15 Mitarbeiter für die gesamte regulatorische Abteilung ist nicht schlecht“, gab Jodie von sich.

„Wenn es nur so wäre. Wir hier unten vereinen insgesamt vier Abteilungen. Es gibt einmal den Vertrieb, geleitet von Herrn Momoji. Herr Hidako leitet die Abteilung in der es um die Logistik und die Beschaffung von unseren Rohstoffen geht. Außerdem gibt es noch die Forschung und Entwicklung die von Frau Osamu geleitet wird. Und natürlich zu guter Letzt unsere regulatorische Abteilung. Wir haben keinen Leiter, da die unterschiedlichen Produktkategorien auch verschiedene Ansprüche und Voraussetzungen mit sich bringen.“ Kasumi kam an dem Büro an. „Herr Shibungi hatte mir erzählt, dass Sie sich gestern schon den Platz ansehen konnten.“

Jodie nickte. „Ja“, entgegnete Jodie als die Tür geöffnet wurde.

„Mittlerweile sind alle da. Dann stelle ich Sie mal vor. Es ist ganz normal, wenn Sie sich die Namen nicht sofort merken können“, fügte Kasumi an. „So ging es mir an meinem ersten Arbeitstag auch.“

„Da bin ich aber froh.“ Jodie sah in die Runde. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, kam es im Kollektiv.

„Das ist Frau Starling, sie hat ihren Abschluss in den vereinigten Staaten von Amerika gemacht und soll uns nun bis zum Jahresende unterstützen. Wenn alles gut geht, arbeitet sie ab dem nächsten Jahr fest mit uns zu sagen.“

„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit“, sprach Jodie und verbeugte sich leicht.

„Der junge Herr hier drüben ist Aki Susumu. Eigentlich ist Herr Susumu als externer Mitarbeiter hier eingestellt und nimmt eine Beratertätigkeit ein. Aufgrund des letzten Personalwechsels hat er fest die Aufgaben in der regulatorischen Abteilung von Medizinprodukten und Kosmetikprodukten übernommen. Die junge Dame auf dem Platz neben ihm ist Emi Fushigi. Sie kümmert sich um die regulatorischen Belange bei den Nahrungsergänzungsmitteln. Für die Arzneimittel bin ich tätig, genau wie Sie nun auch. Das hier wird ihr Arbeitsplatz sein.“

Jodie nickte und stellte ihre Tasche einfach auf dem Tisch. „Hat es einen bestimmten Grund warum für die Arzneimittel zwei Mitarbeiter benötigt werden?“

Kasumi schmunzelte. „Bis vor einem Jahr waren für jeden Bereich zwei Mitarbeiter vorgesehen. Leider mussten wir irgendwann auf die Minimal-Mitarbeiteranzahl umsteigen, aber wir sind wieder auf der Suche um die Kollegen zu entlasten. Außerdem sind die regulatorischen Anforderungen an Arzneimitteln viel höher als die Anforderungen an Medizinprodukten, Kosmetik oder Nahrungsergänzungsmitteln. Bei uns ist es auch wichtig, dass wir die Rohstofflieferanten in regelmäßigen Abständen besuchen müssen. Das ist natürlich sehr zeitaufwendig, sodass ich nicht alle Aufgaben erledigen kann“, erzählte Kasumi ruhig. „Sie haben sich schon mal um die Kundenanfragen gekümmert, nicht wahr?“

„Das hab ich“, stimmte Jodie dem zu.

„Gut, sehr gut…“, sagte die Andere. „Ich möchte gerne einen klaren Schnitt bei uns in der Arbeit machen. Das bedeutet, dass Sie sich künftig um die ganzen Kundenanfragen wie auch Reklamationen kümmern. Dazu ist es notwendig, dass unsere Produkte auch in den Markt freigegeben werden. Das wäre auch Ihre Aufgabe.“

„Gibt es dafür extra Vorgänge, die ich mir ansehen müsste?“

„Ja.“ Kasumi ging an einen Schrank. „Wir haben hier verschiedene Formblätter für die verschiedenen Tätigkeiten. Wenn Sie sich irgendwann langweilen, können Sie diese auch gerne lesen.“ Kasumi zog ein paar Blätter heraus und breitete sie vor Jodie aus. „Kundenanfragen sind ganz einfach. Unser Vertrieb bekommt die Anfrage rein und verteilt sie an die richtigen Personen. Wenn Sie eine falsche Anfrage kriegen, leiten Sie sie einfach an die richtige Person weiter. Es kann schon mal passieren, dass in der Hektik etwas unter geht. Wenn Sie also die Anfrage bekommen haben, lesen Sie sich durch und überlegen wie Sie diese bearbeiten können. Fast immer hilft Recherche. Wenn nicht, können Sie für spezifische Anfragen auch die Rohstofflieferanten anschreiben. Die Kontakte zu diesen kriegen Sie dann von mir.“ Kasumi überlegte kurz. „Und wenn Sie schließlich eine Antwort auf die Anfrage haben, schicken Sie diese an den Vertrieb zurück. Wir haben hier die Regel, dass unsere Abteilung nicht selbst mit dem Kunden in Kontakt tritt.“

„Alles klar“, nickte Jodie.

„Dann Reklamationen. Für Reklamationen füllen Sie immer“, das letzte Wort wurde extra betont. „das Formblatt aus und heften es anschließend zum Produktordner. Es ist ganz einfach. Jeder Vorgang bekommt eine Vorgangsnummer. Wenn Sie den Computer hochfahren, finden Sie auch eine Tabelle. Dort werden alle Reklamationen eingetragen und Sie sehen auch, welche Vorgangsnummer als nächstes kommt. Dann füllen Sie weiterhin aus, wann Sie die Reklamation erhalten haben, welches Produkt betroffen ist und was der Kunde zu bemängeln hatte. Anschließend überlegen Sie in welche Kategorie die Reklamation eingeteilt werden kann. Wir haben 1, 2 und 3. Kategorie 1 sind nicht schlimme Sachen wie Mängel an der Verpackung, Kategorie 3 sind halt schwerwiegende Folgen für den Patienten beispielsweise der Tod. Am Anfang werden sie oft grübeln. Mit der Zeit wird die Einteilung leichter. Wenn das Blatt ausgefüllt ist, schauen Sie ob Sie selbst eine Stellungnahme dazu schreiben können, weil die Problematik schon bekannt ist oder Sie schreiben die Kollegen von oben an. Auch hier gilt, dass Sie selbst keinen Kontakt zum Kunden haben. Und wenn das alles fertig ist, können Sie die Reklamation abheften.“

„Gab es schon mal schwere Fälle?“

„Leider ja“, seufzte Kasumi. „Wir hatten mal ein kleines Kind, welches unter Atemnot litt nachdem es zu viele ätherische Öle eingeatmet hat. Daraufhin haben wir als Konsequenz das Alter für die Benutzung hochgestuft.“

„Hört sich ja nicht gut an…also wegen dem Kind.“

„Das war es auch nicht. Unsere Produkte sind freiverkäuflich, daher sollten sie auch so nebenwirkungsarm wie möglich sein. Trotzdem kommt es immer mal wieder vor, dass unsere Kunden einfach nicht nachdenken. Wir hatten Fälle wo einfach der Beipackzettel nicht gelesen wurde und dann wurde natürlich eine höhere Menge eingenommen, weil sie denken: viel hilft viel“, entgegnete Kasumi ruhig. „Naja…da muss man einfach drüber stehen.“

„Ich verstehe“, murmelte Jodie. „Und es bringt wohl auch nichts, wenn man bestimmte Hinweise größer macht.“

„Das können wir gar nicht. Das Layout steht schon lange fest und wir haben auch nicht unendlich viel Platz. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass Änderungen immer mit Kosten und einem enormen Arbeitsaufwand verbunden sind.“

„Guten Morgen.“

Kasumi sah zur Tür. „Guten Morgen.“ Dann sah sie zu Jodie. „Das ist Herr Hidako. Er wird Sie nun erstmal weiter durch die Firma führen.“

Jodie nickte. „Guten Morgen, Jodie Starling.“ Sie reichte ihm die Hand.

„Morgen. Dann wollen wir mal.“ Er ging mit Jodie nach draußen. „Mein Name ist Ryu Hidako. Ich arbeite jetzt seit gut 15 Jahren für das Unternehmen und habe damals als Logistiker hier angefangen. Mittlerweile bekleide ich den Leitungsposten in dem Bereich Logistik und Lieferkette. Unsere Bereiche überlappen sich ab und an, wenn irgendwelche Änderungen in der regulatorischen Kette stattfinden. Dennoch können Sie jederzeit zu mir kommen, wenn Sie Probleme haben oder Hilfestellungen benötigen. Ich kenne mich zwar nicht so im Arzneimittelbereich aus, aber durch die Erfahrung ist auch vieles machbar.“ Er räusperte sich und brachte Jodie in ein Büro. „Das ist unser Vertriebsbüro mit den Kollegen Shibuya, Miyamoto und Kagira. Die drei kümmern sich hier um die Kunden. Kundenanfragen, Reklamationen die dann in Ihren Bereich fallen, aber sie kommunizieren auch mit den Kunden über neue Produkte, Preiserhöhungen und allem.“ Er trat nach draußen und ging in das nächste Büro. „Das sind die Kollegen meiner Abteilung: Minato, Furukawa und Naragi. Wenn Sie einmal Probleme bezüglich der Rohstoffe haben, fragen Sie ruhig hier an. Wir tun dann was wir können“, erzählte er.

Jodie folgte ihm nickend von einem Büro in das nächste. „So und hier sind wir bei der Forschung und der Entwicklung, mit den Kollegen Hibiko, Akio und Sawaka. Die drei arbeiten eng mit unserer zweiten Etage zusammen und sind immer auf der Suche nach neuen Ideen und Umsetzungen. „Frau Ri hat heute ihren letzten Tag und geht anschließend in Mutterschaftsurlaub.“ Hidako trat mit Jodie nach draußen und brachte sie dann wieder zu ihrem Büro. „Kasumi?“

„Komme.“ Die Frau ging zu Jodie. „Die Tour ist vorbei?“

Jodie nickte.

„Gut, dann machen wir weiter. Ich habe Ihnen ein paar Dokumente ausgedruckt.“ Kasumi ging zurück an den Schreibtisch. „Das ist ein Formular für Ihre Einarbeitung. Sie brauchen einmal den Rundgang im Unternehmen, was glücklicherweise nun statt fand. Außerdem müssen sie noch eine Schulung machen damit Sie auf dem aktuellen Stand sind. Danach gibt es nur Kleinigkeiten. Wenn die erste Reklamation kommt, kümmern wir uns gemeinsam darum und machen nachher noch die Marktfreigaben. Es ist wichtig, dass unsere Produkte auch immer frei gegeben werden. Dafür werden Sie von oben immer ein Analysenzertifikat bekommen und kontrollieren ob die Erwartungen eingehalten werden. Wenn dies der Fall ist, geben Sie die Ware im System frei. Sobald dies erfolgt ist, kann die Ware an den Kunden geliefert werden. Wir versuchen die Termine immer im wöchentlichen Takt einzuhalten, aber das geht leider nicht immer. Manche Produkte müssen sofort raus, andere können noch warten…darüber werden Sie immer informiert. Sie bekommen entsprechend von den Kollegen E-Mails in denen die Dringlichkeit erwähnt wird und dann machen Sie es halt. Wichtig ist, dass Sie bevor Sie nach Hause gehen, nachfragen ob es noch ein Produkt mit hoher Dringlichkeit gibt. Wenn Sie Pech haben müssen noch einige im System freigegeben werden und Ihr Feierabend verzögert sich daraufhin. Ist ein wenig unschön, aber es ist kein dauerhaftes Problem.“

„Ich würde sagen wir machen unsere Mittagspause?“

„Gerne“, sprach Jodie.

„Wir haben hinten eine eigene Küche und können dort kochen oder uns Essen liefern lassen. Oben gibt es eine Kantine, die aber nur für die Mitarbeiter in der Produktion tätig ist. Da unsere Küche nicht allzu groß ist, haben wir mittlerweile, man kann sagen, fast feste Essenszeiten. Die Kollegen aus dem Vertrieb fangen mit dem Essen gegen 12 Uhr an. Wir selber gehen immer so gegen 12:30 Uhr hin, nach uns sind dann die anderen Kollegen dran. Es macht nichts, wenn Sie durch Termine mal am Essen gehindert werden und später gehen…aber wir wollen einfach vermeiden, dass eine Überbevölkerung in der Küche stattfindet. Haben Sie etwas zum Essen da?“

„Heute nicht, nein. Ich nahm an, dass es eine Kantine gibt.“

„Das ist kein Problem. Wir haben genug Läden in der Nähe, sodass Sie sich etwas holen können. Ich würde sagen, heute aus Ausnahme, holen wir Ihnen etwas aus der Kantine.“

„Ich dachte die ist nicht für uns?“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen. Irgendwelche Sachen die Sie nicht gern essen?“

„Nein, ich bin nicht allergisch und auch nicht wählerisch.“

„Gut, bis gleich.“ Kasumi verließ das Büro und Jodie blickte auf ihre beiden Kollegen. „Und…wie lange arbeiten Sie hier schon?“

Susumu sah zu ihr. „Fünf Jahre.“

„3 Jahre“, antwortete Emi.

„Macht Ihnen die Arbeit Spaß?“

„Es ist stressig, aber ja…“

„Seh ich genau so.“

Beide sind gleichermaßen Schweigsam, dachte sich Jodie. „Wo sind denn die Toiletten?“

Emi stand auf. „Ich zeig sie Ihnen.“

Jodie folgte der Frau auf den Flur. „Sie brauchen aber einen Schlüssel.“

„Wo krieg ich den her?“

Emi seufzte. „Aiko hat die Schlüssel. Sagen Sie Kasumi, dass Sie noch welche brauchen.“ Emi holte ihren eigenen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Ungeduldig wartete sie dann vor der Tür.

„Da bin ich wieder“, kam es von Jodie, die Emi anschließend wieder in das Büro folgte. Wenn es hier den ganzen Tag so ging, konnte es ja noch lustig werden.
 

***

Jodie streckte sich und massierte sich die Hand.

„Ein wenig anstrengend, nicht?“

Sie nickte. „Ich sitz nicht jeden Tag so lange vor einem Computer.“

„Man gewöhnt sich daran“, entgegnete Kasumi ruhig. „Uns stehen auch jährlich Untersuchungen beim Betriebsarzt zu. Dort können Sie sich dann auch die Augen, den Rücken und die Hände untersuchen lassen.“

„Nicht schlecht“, meinte Jodie. Mittlerweile waren nur noch sie und Kasumi im Büro. Emi arbeitete Halbtags wie sie feststellte und Aki musste sich nicht an bestimmte Zeiten halten. Aufgrund seiner Tätigkeit als externer Mitarbeiter konnte er kommen und gehen wann er wollte.

„Und wie finden Sie ihren ersten Tag bis jetzt?“

Jodie tat nachdenklich. „Ganz gut“, antwortete sie dann. „Ich merke, dass ich noch einiges lernen muss, aber ich bin guter Hoffnung, dass ich damit klar komme“, fügte sie an.

„Das hört sich gut an“, lächelte Kasumi. „Wie Sie gesehen haben, hat sich hier einiges durch die personelle Umstrukturierung geändert, sodass wir mehr zu tun haben. Aber wenn Sie erst einmal richtig eingearbeitet sind, kommen wir wieder vorwärts. Sie haben Glück, dass heute keine kundenseitigen Anfragen gekommen sind. Das war doch ein ruhiger Tag.“

„Selbst wenn, ich habe kein Problem unter Stress zu arbeiten, wenn es mir Spaß macht.“

„Macht es Ihnen denn Spaß?“

„Ich weiß, dass das eine Fangfrage ist. Jede Antwort von mir wäre nun falsch“, warf sie ein.

Kasumi kicherte. „Stimmt. Tut mir leid.“

„Das muss es nicht.“

„Haben Sie noch viel zu tun?“, wollte sie dann wissen.

„Ich muss noch ein paar Waren freigeben“, antwortete Jodie ruhig. „Ich bin wohl ein wenig langsam.“

„Das pendelt sich bald ein. Irgendwann haben Sie ein Auge für die Werte und wissen, wie die Spezifikationen liegen, sodass sie nicht immer einen Zettel zur Hilfe nehmen müssen.“

„Und wie ist das, wenn ich Mal länger Überstunden machen muss als die anderen?“

„Das passiert. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Die Produktion über uns arbeitet im Schichtsystem. Oben sind also immer noch Kollegen. Wir schließen dennoch ab 20 Uhr die Tür. Der letzte der von uns noch hier ist, stellt außerdem den Alarm an. Das wissen auch die Kollegen und stellen dann auch entsprechend den Alarm an oder aus. Wenn Sie jetzt länger hier sind, sagen wir, Sie sind um 18 Uhr noch da, wissen aber, dass die meisten um 17 Uhr gehen, dann gehen Sie n och eine Runde durch die untere Etage und vergewissern sich, dass sie auch wirklich alleine sind“, erklärte sie. „Wenn das der Fall ist, können Sie den Alarm ganz normal scharf stellen; so wie ich es Ihnen gezeigt habe. Und wenn Sie merken, dass Sie schon um 15 Uhr keine Arbeit mehr haben und von den Kollegen oben auch nichts kommt, können Sie auch ruhig Feierabend machen. Die Zeit gleichen Sie ja irgendwann aus, sobald es stressig wird.“

„Ist gut.“ Jodie sah auf die Ware die noch im System war. Mit einigen Mausklicks gab sie diese frei, überprüfte ihren Posteingang und telefonierte mit den Kollegen aus der oberen Etage. Es gab nichts mehr, das sie tun konnte. Jodie fuhr ihren Computer herunter und streckte sich.

„ Dann wünsch ich Ihnen einen schönen Feierabend“, kam es von Jodie. Sie schnappte sich die Tasche und ging raus. Langsam ging Jodie zu ihrem Wagen. Sie achtete darauf langsam zu gehen und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Wagen sah sie kurz auf ihr Handy, steckte es aber wieder ein und fuhr los. Nachdem sie in die Parklücke vor der Wohnung reinfuhr, zog sie erneut ihr Handy raus. Sie rief ihre Anrufliste auf.

Shu und James.

Jodie wählte zuerst die Nummer von Shu. Es dauerte eine Weile bis sich der Agent meldete.

„Wo bist du?“, sprach er in den Hörer.

„Dir auch ein ,Hallo´“, entgegnete sie. „Ich bin jetzt auf dem Parkplatz vor meiner Wohnung“, fügte sie an.

„Wieso dauerte es heute so lange?“, wollte er dann wissen.

„Naja ich musste doch alles kennen lernen. Sie haben mir die Firma gezeigt und ich lernte die Mitarbeiter kennen. Nur weil heute mein erster Tag war, heißt das nicht, dass sie mich schonen. Ich musste gleich richtig arbeiten. So was dauert halt eben. Und dann wollte ich nicht direkt vor der Firma telefonieren.“

„In Ordnung. Wie war der Tag?“

„Och ganz angenehm. Wie gesagt, ich habe alles kennen gelernt und mit der Arbeit angefangen. Allerdings konnte ich noch nicht nach Unterlagen gucken oder Sayaka Shibungi kennen lernen“, antwortete sie. „Wahrscheinlich wird es noch eine Weile dauern.“

„Gut. Mach nichts, was dich verdächtig macht.“

„Hatte ich nicht vor, Shu“, sprach sie. „Und du fährst jetzt zur Observation.“

„Ja.“

„Dann…pass auf dich auf.“

09.12.

Shuichi saß alleine im Büro von James. Er gähnte. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Kaum dass die Observation abgeschlossen war, fuhr er zum Büro. Shuichi war ein wenig angespannt. Es gefiel ihm immer noch nicht, dass Jodie den ganzen Tag über alleine in der Firma von Sota Shibungi war. Auch wenn einige Agenten vor den Ausgängen des Gebäudes parkten, war Jodie schutzlos. Keiner wusste, was im Gebäude vor sich ging. Sie hätten niemals auf ein Abhörgerät verzichten dürfen. Sie hätten nie auf das Abhörgerät verzichten dürfen. Aber es hätte sie möglicherweise auffliegen lassen und damit war keinem geholfen.

Und er konnte sie auch nicht beschützen. Durch seine eigene Tätigkeit war er auf längeren Zeitraum nicht für eine weitere Aktivität einsatzfähig. Eine 24-Stunden-Überwachung war nur für wenige Tage möglich. Wann das FBI allerdings Ergebnisse erhielt, stand in den Sternen. Deswegen ärgerte er sich auch im Allgemeinen sah es Shu nicht gern, wenn Personen die ihm was bedeuteten und ihm nahe standen für solche Aufträge eingesetzt wurden. Natürlich sollte er über den Dingen stehen. Und nach außen hin, war dies auch der Fall. Im Inneren hingegen… brodelte es. Bei seinen nächtlichen Observationen schob er die Gedanken um Jodie bei Seite. Nachts war sie in Sicherheit. Während des Tages hingegen – Zeiten wo er schlafen musste - schreckte er schon mal aus einem Albtraum hervor. Dass Jodie es nach all der Zeit immer noch schaffte, dass er sich sorgte, zeigte ihm immer noch wie viel sie ihm bedeutete. Und nun war sie wieder in der Firma, auf sich allein gestellt und musste sehen, wie sie klar kam.

Natürlich vertraute er ihr. Sie war eine der wenigen Personen denen er bedingungslos vertraute. Das machte die Sache aber nicht besser. Shuichi kannte Jodie. Sehr gut sogar. Er konnte sie nicht einfach so zu Hause einsperren und dafür sorgen, dass sie sich nicht in Gefahr brachte. Shu kannte auch ihre Intention gut. Hätte die Organisation ihren Vater damals nicht erschossen, wäre Jodie nie in dessen Fußstapfen getreten. Sie hätte ein anderes Leben und vielleicht wären sie sich nicht einmal begegnet. Aber es kam nicht dazu. Jodie war allein auf der Welt und wollte die Person, die dafür verantwortlich war, finden und verhaften. Nichts und niemand konnte sie von ihren Plänen abbringen. Ihre Sturheit war etwas, was er schon immer an ihr mochte, aber gleichzeitig auch hasste. Sie setzte sich selbst der Gefahr aus und dann konnte ihr keiner mehr helfen.

James betrat sein Büro. „Da sind Sie ja schon“, sagte er. „Wollen Sie einen Kaffee?“

„Gern“, nickte der Agent und wartete erneut. Ungeduldig tippte er mit dem Finger auf die Stuhllehne. Die wenigen Minuten die James draußen war, kamen ihm wie Stunden vor. Als er anschließend seinen Kaffee in den Händen hielt, blickte er in die schwarze Flüssigkeit. „Neuigkeiten von Jodie?“

James nahm nun Platz und nickte. „Sie hat ihren ersten Arbeitstag gut überstanden“, erzählte er. „Haben Sie gestern nicht mit ihr telefoniert?“

„Doch. Hätte sein können, dass es wieder was Neues gibt“, entgegnete er. „Was hat sie Ihnen alles erzählt?“

„Die Firma ist nicht spektakulär. Sie hat sich aber einen gewissen Ruf erarbeitet und scheint – von dem was Jodie erfahren hat – keine Geschäfte mit der Organisation zu machen. Aber es ist noch zu früh um irgendwas dazu zu sagen.“

Shuichi nickte. „Erzählen Sie mir von Jodies Tag.“ Er schloss die Augen und versuchte sich alles vorzustellen.

„Wie gesagt. Es war keine große Sache. Sie wurde von ihrer Kollegin nett empfangen. Anschließend wurde ihr von einem anderen Kollegen die Firma gezeigt. Direkt danach wurde Jodie in ihre neuen Aufgabengebiete eingearbeitet.“

Akai überlegte. „Was soll sie dort machen?“

„Sie ist hauptsächlich für die unterschiedlichen Kundenanfragen zuständig. Das bedeutet, dass sie unter anderem Reklamationen bearbeitet und entsprechend auch Änderungen des Produktes weiter nach oben gibt. Außerdem ist sie nun dafür zuständig, dass die Produkte auch in den Markt kommen.“

„Ich dachte, die sind schon im Markt.“

„Ja und nein. Das Produkt ist zwar auf dem Markt, aber jedes Mal wenn das Produkt nachproduziert wird, muss es neu freigegeben werden. Mit den vorliegenden Materialien wird immer nur in einer bestimmten Größe eine Menge an Produkt hergestellt. Sagen wir es handelt sich um 20.000 Packungen. Irgendwann sind die Packungen aufgebraucht und es muss nachgelegt werden. Die nächsten Packungen müssen dann erst von Jodie freigegeben werden. Sie prüft dabei außerdem, dass die ganzen Anforderungen an das Produkt erfüllt sind“, erklärte James.

„Verstehe“, murmelte Akai. „Also hat sie eine Stelle gefunden bei der wir uns keine Sorgen machen müssen, dass sie es aufgrund ihres nicht Pharmaziewissens nicht schafft.“

„So ist es“, nickte James. „Wir hatten wirklich viel Glück gehabt, dass ausgerechnet diese Stelle besetzt werden musste. Das haben wir Ihnen zu verdanken. Hätten Sie nicht erfahren, dass eine Stelle frei ist, hätten wir nie handeln können.“

„Schon gut“, entgegnete Shu ruhig. „Wie viel Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen?“

„Rund 15-20 unten in den ganzen regulatorischen Abteilungen und nochmal 20-25 Mitarbeiter oben in der Produktion.“

Akai dachte nach. „Wie sieht es dort oben aus?“

„Das wissen wir nicht. Jodie hatte bislang noch keinen Zugang zur Produktion. Da sie dort auch neu ist, wollte sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.“

„Also wissen wir nichts über die Mitarbeiter dort.“

„Nein. Jodie hat mir eine Liste mit den Namen aller Mitarbeiter der ersten Etage aufgestellt. Im Laufe des Tages wird die Überprüfung abgeschlossen sein und wir können erahnen, ob unter ihnen ein Mitglied der Organisation ist.“

„Ich dachte, die Mitarbeiter wurden bereits überprüft.“

„Natürlich“, kam es von James. „Wir überprüfen sie erneut. Doppelt hält besser. Es kann immer dazu kommen, dass sich die Aktenlage verändert. Vielleicht wird gerade jetzt einer unvorsichtig. Selbst wenn wir kein weiteres Mitglied ausmachen können, können wir sehen, dass Jodie in Sicherheit ist. In Produktion aber…Jodie konnte nicht verifizieren wer dort arbeitet. Wir haben eine Liste und die Namen darauf bereits überprüft.“

„Was uns trotzdem wenig nützt, sollte dieses Mitglied in der Produktion sitzen…mit Zugang zu Chemikalien. Und Sie wissen ja, dass man mit Chemikalien einiges anstellen kann“, warf Akai ein.

„Natürlich. Aber es wäre von Jodie nicht ratsam, wenn sie sich direkt Einblick nach oben holt. Wie gesagt, es wäre viel zu auffällig wenn sie direkt am ersten oder am zweiten Tag die Produktion sehen will und wieder und wieder deswegen nachfragt.“

„Kann sich Jodie Zutritt zum Büro des Geschäftsführers verschaffen?“, wollte Akai dann wissen.

„Theoretisch ja. Die Tür ist immer offen und bleibt auch offen, selbst wenn der Geschäftsführer nicht da ist. Problematisch ist es allerdings, weil das Büro in der oberen Etage liegt. Um dorthin zukommen muss sie an der Empfangsdame vorbei. Die Empfangsdame geht in der Regel um 17:15 Uhr nach Hause. Jodie könnte sich danach Zugang verschaffen, aber da die Türen immer geöffnet sind, glaube ich nicht, dass wir Beweismaterial finden“ James runzelte die Stirn. „Wir haben noch keinen Überblick über mögliche Überwachungskameras. Jodie konnte bislang nur eine im Eingangsbereich ausmachen. Aber das heißt nichts. Mittlerweile ist die Technik so klein, dass wir vieles nicht mit bloßem Auge erkennen.“

„Wenn Jodie dabei erwischt wird, wie sie nach Unterlagen im Büro des Geschäftsführers sucht, könnte das das Aus für diese Mission sein“, nickte Akai. „Wie sinnvoll ist Jodies Einsatz dort? Wenn sie den ganzen Tag in einem Büro sitzt, bekommt sie wohl kaum was mit.“

„Wir haben Glück. Jodies Büro ist eines der ersten. Jeder muss an ihrer Tür vorbei laufen. Jodie wird ab und an gezielt einen Blick auf die Besucher werfen. Die Türen seien oft einfach geöffnet, da die Kollegen sich kein Gefühl der Trennung geben wollen…oder so was in der Art.“

„Mhmm…“, murmelte Shuichi. „Ich glaube zwar nicht, dass jemand wie Gin oder Vermouth dort auftaucht, aber man weiß ja nie.“

James nickte. „Geben wir Jodie einfach Zeit.“

„Finden Sie es richtig, dass wir Jodie nicht abhören?“, wollte er dann wissen.

„Jodie hat schon Schlimmeres geschafft. Vergessen Sie nicht ihren Einsatz in der Schule als sie oft mit Vermouth zu tun hatte“, warf er ein.

„Da war sie auch in der Öffentlichkeit und die Chance, dass noch ein weiteres Mitglied vor Ort ist, war sehr gering. In der Firma ist die Öffentlichkeit weitestgehend nicht vorhanden. Und wie Sie schon sagten, wir wissen nicht, ob nicht noch einer für die Organisation arbeitet. Ich halte es für gefährlich dort. Mein Gefühl sagt mir dass irgendwas nicht stimmt.“

James seufzte leise. „Das Problem bei Abhörgeräten besteht darin, dass sie auf einer bestimmten Frequenz senden. Wir wissen nicht, ob die Firma nicht ein Gerät hat, mit dem sie unser Abhörgerät aufspüren können. Damit würde Jodie nur in Gefahr bringen. Außerdem können Kopfhörer sehr leicht von Kollegen entdeckt werden. Und jeder der Krimis im Fernsehen sieht, könnte Knopfkameras oder Kamerakugelschreiber leicht entdecken. In diesem Fall möchte ich kein Risiko eingehen.“

Akai nickte. „Was ist mit den Agenten, die draußen positioniert sind?“

„Sie befinden sich in Zivilfahrzeugen. Immer zwei Agenten die die Ausgänge im Blick haben. Sollte Jodie ihre Hilfe benötigen, kann sie über die Wahl der Schnelltasten sofort einen von ihnen anrufen. Wenn Jodie wirklich in Gefahr ist, bekommen sie es am ehesten mit. Der Vorteil an Jodies Büro besteht auch darin, dass ihres in der Nähe eines Ausganges liegt. Unsere Agenten können immer mal wieder einen kleinen Blick ins Büro erhaschen.“

Shuichi schien nicht wirklich überzeugt. „Wie geht es Camel?“

„Viel besser. Er wird morgen entlassen, muss sich aber noch schonen. Ich möchte ihn nicht so schnell für eine solche Mission einsetzen.“

Akai verengte die Augen. „Es wäre mir lieber wenn Camel auf sie aufpasst.“

James überlegte. „Camel ist nicht einsatzfähig. Ich weiß, er würde sofort in den Dienst zurück kehren, wenn er hört, dass es um Jodie geht. Wir können aber nicht riskieren, dass er sich gleich wieder in Gefahr bringt. Allein dafür würde Jodie uns ziemlich lautstark anmeckern. Und wenn sie es zu früh bemerkt, wird sie sich nicht mehr auf den Auftrag konzentrieren.“

Shu knurrte missmutig. „Sorgen Sie dann dafür, dass ein guter Agent auf die Sachen angesetzt wird. Ich will nicht, dass Jodie in einigen Tagen im Krankenhaus liegt.“

„Glauben Sie mir, Akai, das gleiche möchte ich auch nicht“, sprach James. Er seufzte. „Gerade in dieser Zeit ist es so schwer für sie. Alles was passiert ist, fand im Winter statt…“

„Jodies Eltern sind im Winter gestorben.“

James nickte. „Ich weiß es noch als wäre es erst gestern gewesen.“ James schloss die Augen. „Wir waren jung und erst seit einigen Jahren beim FBI. Wir haben damals Streichhölzer gezogen um zu bestimmen, wer für den Dienst außerhalb zuständig ist und wer mit Vermouth Kontakt aufnimmt. Damals hab ich angenommen, dass ich verloren habe, aber in Wahrheit war er es. Wir trafen uns in regelmäßigen Abständen um über den aktuellen Stand zu sprechen“, begann James ruhig. „Er hat damals mit Vermouth Kontakt aufgenommen als diese einen neuen Bodyguard gesucht hat. Sie fing an ihm zu vertrauen. Das nutzte er aus und sammelte viele Informationen gegen sie. Obwohl das FBI schon damals ein sehr gutes Aktenarchiv besaß, hatte er die Sorge, dass sie uns infiltrierten. Er schrieb die Akten, füllte sie und versteckte sie bei sich zu Hause. Bei jedem Treffen holte er sie heraus und wir füllten sie zusammen mit den Neuigkeiten. Als wir uns dann an jenem Abend wieder treffen wollten, stand das Haus im Flammen. Wir legten den Zeitpunkt immer so, dass Jodie nichts bekam. Sie schlief immer friedlich in ihrem Bett. Und jedes Mal wenn ich sie sah, wurde ich wieder daran erinnert, warum ich FBI Agent wurde. Und dann sah ich Jodie draußen auf der Straße. Sie hielt zwei Packungen Saft in der Hand. Sie hätten sie damals sehen müssen. Sie war stolz, weil sie es selbst geschafft hatte, einkaufen zu gehen. Sie dachte nicht einmal an den Ärger der ihr noch blühte, wenn ihr Vater davon wusste.“

„Jodie war schon immer ein stures und schlaues Mädchen“, murmelte Shu.

„Oh ja, das war sie. Wir wussten gar nicht, dass sie sich den Weg gemerkt hatte. Ich ging zu ihr und sprach sie an. Sie war damals doch noch so unschuldig und dann erzählte sie mir, dass ihr Vater Besuch hatte. Ich wusste natürlich, dass für den Abend kein Besuch angesetzt war, außer meiner natürlich. Als ich beim Haus ankam, brannte es lichterloh. Ich konnte es nicht fassen…und dann war da auf einmal Jodie. Sie war mir hinterhergelaufen und hielt sich an meinem Hosenbein fest. Ich werde nie vergessen wie bitter sie weinte. Ihre Stimme, die nach ihren Eltern ruft, verfolgt mich noch immer in meinen tiefsten Albträumen“, erzählte James.

Akai senkte den Kopf. Jodie hatte ihm die Geschichte genau so erzählt. Allerdings ging es viel eher über ihre Emotionen und ihren Schmerz. Nun hörte er die andere Seite von James. Und auch hier spiegelte sich ein gewisser Schmerz wieder. Jodie war dem Tod nur knapp entkommen. Sie hätte zu Hause sein sollen und ihrem Bett liegen müssen. Im Schlaf hätte sie nichts mitbekommen. Aber stattdessen stand sie im Schlafanzug im Arbeitszimmer ihres Vaters und sah Vermouth direkt in die Augen. In ihrer kindlichen Unschuld glaubte sie, dass er noch schlief und wollte ein braves Mädchen sein. Vermouth hätte sie auf der Stelle umbringen können, aber sie verschonte ihr Leben und hoffte, dass die Flammen den schmutzigen Auftrag beendeten. Keiner rechnete damit, dass Jodie zwar bei der Leiche ihres Vaters saß, aber Durst bekam und deswegen Trinken holte. Da entdeckte sie, dass sie keinen Saft mehr im Haus hatten. Und nur weil sie für ihren Vater neuen kaufen wollte, überlebte sie.

„Ich dachte, es könnte nicht schlimmer kommen. Aber wissen Sie was dann war? Ein Kollege fragte mich, ob Jodie die Person gesehen hat, die für das Feuer verantwortlich war. Und das war der Moment an dem ich wusste, dass Jodies Leben für immer ruiniert sein würde.“

„Sie musste ins Zeugenschutzprogramm…“

„Ja…und da sie ein Kind war, brauchte sie eine Familie. Aber niemand war gut genug für sie, deswegen kam sie zu mir. Zu ihrem eigenen Schutz musste ich sie damals auf ein Internat schicken. Das Schulgeld tat mir nicht weh. Es war eher die Vorstellung, dass Jodie ganz weit weg ist und ich nicht auf sie aufpassen konnte. Letzten Endes fanden das FBI und ich einen Kompromiss. Die Schule wurde rund um die Uhr von Agenten überwacht. Jodie hatte ein ruhiges Leben. Keiner war hinter ihr her. Und was macht sie? Sie geht zum FBI. Sie hat es mir damals als Kind erzählt und von da an hab ich daran gearbeitet, dass sie diesen Weg nicht einschlägt. Ich dachte die ganze Zeit wirklich, dass Jodie andere Berufswünsche hatte. Ich glaube sogar, sie hat mich absichtlich angelogen und mir das über ihre Zukunft erzählt, was ich hören wollte.“ James seufzte. „Und ich war so dumm und glaubte es auch noch. Die Quittung bekam ich später. Einer der Ausbildungsleiter in Quantico hielt mir Jodies Bewerbung vor die Nase. Sie hat die ganzen Jahre heimlich trainiert und Kurse belegt, die sie brauchte um für das FBI eine interessante Bewerberin zu sein. Was bin ich eigentlich für ein Agent gewesen? Jodie hat quasi bei mir gelebt und ich habe nicht einmal bemerkt, was sie die ganze Zeit über geplant hatte.“

Shu sah James an. „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich kenne Jodie, wenn sie sich etwas vorgenommen hat, macht sie es auch. Das gilt auch, wenn sie alles heimlich vorbereiten muss. Jodies Ziel stand bereits in ihrer Jugend fest. Sie hätte auch in Timbuktu studieren können oder am Nordpol. Sie wäre so oder so FBI Agentin geworden. Und daran hätten Sie nichts ändern können. Hätten Sie ihr nur Steine in den Weg gelegt, wären Sie möglicherweise ihr Feind geworden oder sie hätte kein Wort mehr mit Ihnen gewechselt. Seien Sie froh, dass Sie in Ihrer Nähe war, auch wenn Sie nichts bemerkten. Aber sind wir da anders? Vergessen Sie nicht, dass wir mein Überleben vor ihr geheim hielten.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht. Jodie ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist intelligent und sie hat Ziele im Leben. Ich will aber nicht, dass diese Ziele sie ihr Leben kosten. Es war schon damals knapp gewesen, als sie mit Vermouth am Hafen war. Hätten Sie nicht rechtzeitig eingegriffen…“

„Ich hätte Jodie nie sterben lassen. Nicht so“, sprach Shu ruhig.

„Ich habe mittlerweile gelernt, dass ich Jodie nicht im Weg stehen kann. Ich muss sie ihre eigenen Fehler machen lassen. Nur so kann sie voran kommen. Ich vertraue Jodie. Sie sollten das auch machen. Sie wissen, dass sie den Auftrag erledigen wird.“

Akai nickte. „Mir macht es eher Sorgen, was passiert, wenn die Organisation erfährt, dass Jodie weiter gegen sie ermittelt.“

„Das Risiko müssen wir eingehen. Jodie wird sich zu wehren wissen und uns informieren können. Daran müssen sie glauben.“

„Glauben ist etwas, was mir nicht reicht.“ Akai musterte seinen Vorgesetzten. „Sie haben erwähnt, dass Jodie mehrere schlimme Dinge im Winter widerfahren sind. Was noch?“

„Was?“ James sah ihn überrascht an. „Der Tod ihrer Eltern war schlimm“, entgegnete er. „Und nicht zu vergessen, dass Agent Camel vor einigen Wochen angeschossen wurde. Und wir haben einige Agenten in den Wintermonaten verloren.“

Shuichi schüttelte den Kopf. „Dann sagen Sie es mir eben nicht.“ Er stand auf. „Rufen Sie mich, wenn etwas ist.“

James sah ihm nach. Er seufzte. James erinnerte sich nur zu gut an den 13. Januar. Ein Freitag der Jodies Leben veränderte. Freitag, der 13. Januar war Shus offizielles Todesdatum. Und er hatte den Plan gebilligt. Die ganze Zeit wusste er, dass der Agent noch am Leben war und trotzdem spielte er Jodie etwas ganz anderes vor. Es tat ihm so weh zu sehen, wie sie darunter litt. Nicht nur Jodies Rufe und ihr Weinen hielten ihn nachts wach, es war auch ihr trauriger Blick, wenn sie durch die Straßen ging und an Akai dachte. Der Winter war definitiv nicht Jodies Jahreszeit. Und auch wenn James wusste, dass sie die Sache gut machte, die Sorge um Jodie war einfach zu groß. James sah zu der Tür. Akai war wieder gegangen. So war er eben. Wenn es nichts mit dem Auftrag zu tun hatte, bohrte er nicht weiter nach.
 

***
 

Sota krabbelte ins Bett. Er legte den Arm um seine Frau und drückte sie an sich.

„Und wie macht sich die Neue?“, wollte Sayaka wissen. Sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen.

„Besser als gedacht“, antwortete er. „Kasumi findet, dass sie sich nicht gerade schlecht anstellt. Auf jeden Fall besteht Potential nach oben“, fügte er an.

„Dann denkst du wirklich daran, sie ab Januar zu übernehmen?“

„Wenn sie es nicht versaut, dann ja.“ Er sah sie an.

„Ich komm am Montag auch wieder in die Firma.“

Er lächelte. „Dann kannst du dir ja auch selbst einen Einblick über sie machen“, sprach er.

Sayaka nickte. „Komm, lass uns jetzt schlafen. Wir haben uns ein freies Wochenende verdient.“

10.12.

Gin ärgerte sich. Waren doch für die kleinen Aufgaben andere Mitglieder der Organisation verantwortlich. Und eigentlich übernahm Wodka federführend die Beschaffung von Geldmaterialien. Aber kaum mischte dieser irgendwo mit, musste Gin wie immer einspringen und alles retten. Wieso er ausgerechnet Wodka zu seinem Partner bekommen hatte, konnte nur der Boss verstehen. Das einzige was für den dicklichen Mann sprach, war die Tatsache dass er kein Gewissen besaß und die Menschen genau so kaltblütig erledigte wie der Rest der Organisation. Nichts desto trotz war Wodkas fehlende Intelligenz manchmal ein Problem.

Eddy P. Vane B.

Würde Wodka nicht andauernd mit ihm zusammen zu den Orten fahren, wäre er sicher nicht einmal in die Nähe der Orte gekommen. Und was machte er dann? Er stand überrascht da. Nur in den seltensten Fällen dachte er über die Konsequenzen nach. Nie kam er auch nur auf die Idee, dass man ihn erwischen könnte. Und wenn es soweit war, zeigte er sich unwissend und wusste nicht, was er tun sollte.

Gin verachtete diese Eigenschaften von seinen Kollegen. Entweder sie arbeiteten wie Maschinen, kalte Killer, oder sie ließen es ganz sein. Er konnte niemanden gebrauchen der ihn daran hinderte aufzusteigen. Obwohl Gin nicht nur den ahnungslosen Menschen eine tierische Angst einjagte, war er in Wahrheit nicht viel mehr als ein bedeutungsloses Organisationsmitglied.

Bei einigen Aufgaben hatte er das sagen, musste aber immer Rücksprache mit anderen – höheren – Mitgliedern halten und durfte erst nach deren Freigabe agieren. Es sollte nicht so sein. Nur der Boss sollte sein Vorgesetzter sein und nicht noch viele andere Mitglieder. Wenigstens war er Vermouth soweit es ging los geworden. Weil sie in der Vergangenheit zu viele Fehler machte und nicht mehr allzu zuverlässig war, war sie niemand den Gin respektieren musste. Und sie hatte auch nicht mehr das Recht ihm auch nur einen Befehl zu erteilen.

Vermouth.

Wenn er an sie dachte, wollte er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Wie oft war seine Waffe bereits auf ihr Gesicht gerichtet gewesen? Und kein einziges Mal zuckte sie zusammen. Er erkannte keine Angst in ihrem Ausdruck. Sie war selbstsicher und wusste, dass er ihr nicht schadete. Zumindest noch nicht. Aber sollte der Boss je den Befehl geben, Vermouth zu eliminieren, so wäre er der erste.

Gin saß in seinem Wagen. Porsche. 365A. Sein Lieblingsmodell. Es hatte ihm zahlreiche Dienste erwiesen, besaß durchschusshemmendes Glas und beschleunigte binnen weniger Sekunden auf 180. Er verschränkte die Arme, schloss die Augen und wartete. Er hasste es auf andere Personen angewiesen zu sein. In der Organisation brachte man es nur zu etwas, wenn man auch in der Lage war alleine und selbstständig zu arbeiten. Beides traf auf Gin zu. Und trotzdem wurde er seinen Partner einfach nicht los. Was dachte sich der Boss nur? Er verdiente die Beförderung. Er verdiente es mehr zu tun.

Stattdessen spielte er Babysitter für Wodka. Wodkas Quote lag bei 50%. Es gab viele Aufträge die sein Partner meisterte, es gab aber auch einige bei denen er fast gefasst wurde. Und dann wurde Gin auf den Plan gerufen. Er rettete ihn. Immer und immer wieder. Er war der, der immer alles regelte. Ein Babysitter.

Angst und Schrecken. Das konnte er. Seit er bei der Organisation tätig war, bewies er sich täglich aufs Neue. Er machte sich einen Namen und spielte in einer höheren Liga mit. Und was brachte es ihm? Rein gar nichts. Andere Mitglieder stiegen schneller auf. Bourbon war einer von ihnen.

Bourbon war noch nicht lange bei der Organisation. Ein paar Jahre – bei weitem weniger als Gin. Aber Bourbon war noch gefürchteter und bekam vom Boss viel mehr Befehlsgewalt. Was war an dem Knaben so besonders, dass der Boss ihm eine gewisse Freigabe erteilte? Aber er würde bald fallen. Seine Zusammenarbeit mit Vermouth würde ihm das Genick brechen.

Vermouth.

Die Frau war unberechenbar. Sie machte was sie wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht einmal wenn diese in den eigenen Reihen lagen. Die große Schauspielerin die – seines Wissens nach – auch noch nicht lange bei der Organisation war. Allerdings hatte sie das Glück und war der Liebling des Bosses. Nur dadurch erlangte sie eine hohe Position. Die große Schauspielerin. Sie hatte ein Händchen für die verschiedensten Rollen. Selbst ohne große Vorbereitung konnte sie eine Person bis zur Perfektion nachahmen. Vermouth wusste genau was von ihr verlangt war und was sie tun musste um ihr Ziel zu erreichen. Trotzdem gehörte sie nur zu denen, die es sonst nicht eigenständig geschafft hätten. Ihr Talent war nicht einmal annähernd ausreichend für ihre hohe Position. Gin traute ihr nicht. Das hatte er noch nie. Vermouth war eine Schlange. Um ihre eigene Haut zu retten, würde sie jeden opfern. Aber auch Gin war so. Fast. Er hätte die Opfer selbst erschossen, damit sie nichts ausplaudern konnten. Vermouth ließ sie nur zurück. Gin freute sich auf den Tag an dem er ihr ins Gesicht schießen konnte. Ihr der großen Chris Vineyard. Andauernd saß sie in seinem Wagen auf der Rückbank und rauchte genüsslich während sie die beiden Organisationsmitglieder wie ihre Chauffeure behandelte. Sollte sie nun Bourbon auf die Nerven gehen.

Und dann war da noch Kir. Auch sie stand auf seiner Abschussliste. Zuerst ließ sie sich vom FBI gefangen nehmen. Sie hätten sie erledigen sollen, als sie die Möglichkeit dazu hatten. Aber die Organisation hatte andere Pläne. Kir kam wieder zurück und lockte Akai in die Falle. Sie brachte ihn um und er sah alles per Videoaufzeichnung mit. Live. Und wie sah die Wahrheit aus?

Akai hatte überlebt. Irgendwie. Kir tat als wüsste sie nicht wie das ging. Sie stellte sich ahnungslos. Aber er hatte dieses Flackern in ihren Augen gesehen. Sie log. Dennoch blieb sie noch bei ihnen. Vor erst. Aber schon bald würde sie das gleiche Schicksal erleiden wie die anderen Verräter.

Hondo. Scotch. Akai.

Akai war der einzige von der Liste, der noch am Leben war. Der Mann hatte mehr Leben als eine Katze. Immer war er ihnen einen Schritt voraus und blieb im Hintergrund wenn es nötig war. Gin knurrte. Er hasste Akai. Und ein Großteil der Organisation hatte Angst vor dem FBI Agenten. Selbst der Boss. Gin konnte sich vorstellen, wie sein Boss auf Akais Todesnachricht reagiert hatte. Und dann kam Akai wieder zurück. Und wieder schlotterten dem Boss die Beine.

Er ist der Einzige, der uns zu Fall bringen kann.

Das hatte der Boss damals gesagt. Aber nichts war geschehen. Akai tauchte wieder auf und der Boss überlegte sich die nächsten Schritte. Dabei wünschte sich Gin nichts sehnlicher als den Agenten endlich umzubringen. Wenn er doch nur endlich den Auftrag bekam…

Verräter waren eine Plage. Sie gehörten eliminiert. Und es war eine Schmach für die Organisation weil sie diese nicht sofort erkannten. Wenigstens gehörte Wodka nicht zu den Verrätern. Und wenn doch, dann stellte er sich mehr als dumm an. Gin erinnerte sich noch sehr gut an seinen ersten Auftrag mit Wodka. Obwohl sich dieser zu Beginn sehr kühl und kaltschnäuzig gab, stellte er fest, dass alles nur Fassade war. Wodka wollte nur seinen Auftrag erledigen und seinem Partner gefallen.

Ab und an bekam Wodka die Leitung kleinerer Aufträge übertragen. Meistens waren es Geldgeschäfte. Bei seinem ersten vereinbarte er ein Treffen im Tropical Land. Und weil Gin ein Auge auf seinen Partner werfen sollte, musste er mit der Achterbahn fahren. Gin wusste, dass Wodka diesen Spaß haben wollte. Erst mit der Begründung dadurch einen Überblick über den Park und die Zielperson zu haben, stimmte Gin der Fahrt zu.

Achterbahnfahren war ihm zu kindisch. Kindisch und langweilig. Während sich die anderen während der Fahrt in die Hosen machten, saß er einfach nur da. Und dann passierte der Mord. Alle fürchteten sich auf einmal. Fast alle. Selbst Wodka war für einen Moment verängstigt. Gin hingegen hatte schon alles gesehen. Mord war Mord. Egal wie man es anstellte. Aber er musste zugeben, dass das Mädchen sehr einfallsreich vorging. Nichts desto trotz war es zu auffällig. Sie wären bedachter vorgegangen. Vorsichtiger und bei weitem schmerzvoller.

Dann musste Wodka auch noch während der Fallaufklärung herumschreien – als wollte er gefasst werden. Und fast wären sie wegen ihm aufgeflogen. Der Oberschüler hatte in ihren Augen Tod gelesen und war ihnen schließlich gefolgt. Ein Fehler für ihn.

Wenigstens konnte sein Partner eine Sache gut: Autofahren. Dabei konnte Gin entspannen oder am Laptop recherchieren. Manchmal sah er sich auch Videos an. Opfer oder Informationen. Wie oft hatte er das Video von Akais Tod angesehen? Jedes Mal war er hin- und hergerissen zwischen der Befriedigung dass der Agent tot war und dem Ärgernis, dass Kir die Schuld daran trug.

Die Fahrertür ging auf und Wodka setzte sich auf seinen Platz. „Da bin ich, Aniki“, sprach er. „Tut mir leid für die Verspätung.“ Wodka warf einen schwarzen Aktenkoffer auf den Rücksitz und schnallte sich an.

Gin sah aus dem Augenwinkel zu ihm. „Fahr los.“

Der Mann in Schwarz gehorchte. Er startete den Motor, betätigte den Blinker und fuhr aus der Tiefgarage heraus. „Der Auftrag ist ohne Probleme abgelaufen“, erzählte er.

„Aha“, gab Gin von sich.

„Der Kerl hat ohne Kommentar bezahlt. Jetzt glaubt er, dass wir ihn endlich in Ruhe lassen“, fügte Wodka an. „In ein paar Tagen wird er eine neue Forderung erhalten. Ich würde nur zu gern sein Gesicht sehen, wenn er den Umschlag aufmacht.“

Gin schwieg weiterhin.

„Aniki?“

„Fahr zum Lager.“

Wodka nickte. „Wir kriegen aber langsam Probleme mit Shibungi.“

Nun hatte er Gins volle Aufmerksamkeit.

„Sie bezahlt. Aber sie bekommt Gewissensbisse. Ich habe sie beobachtet.“

„Will sie aussteigen?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Wodka. „Es wäre möglich. Aber sie weiß, dass ihr Mann dann in Gefahr ist.“

„Wenn sie Ärger macht, knall sie ab.“ Kalt machen war unter anderem eine Spezialität von ihr.

„Eh?“ Wodka sah ihn an.

„Mach dir nicht in die Hose“, kam es von Gin.

Wodka fuhr in das Lagergebäude. „Was wollen wir hier, Aniki?“

Gin schwieg.

Wodka beobachtete ihn. Manchmal wusste er nicht was er sagen durfte und was nicht. Oder wann er überhaupt sprechen durfte. Gin hatte zwei Seiten. Manchmal war er gesprächig. Manchmal nicht. Dann konnte er ein Arsch sein oder ein weniger-Arsch. Oft dachte Wodka daran einfach den Mund zu halten, aber die Worte kamen schon immer über seine Lippen.

Gin schloss die Augen und wartete.

Ein Motorrad rollte neben den Wagen. Die Fahrerin klopfte an die Fensterscheibe. Gin ließ diese herunter. „Du bist zu spät“, raunte er.

Vermouth nahm den Helm von ihrem Kopf und legte ihn beiseite. Ihr blondes Haar fiel über ihre Schulter herunter. Sie musterte ihren Gegenüber. „Merk dir eines, Gin, Frauen kommen nie zu spät.“

Gin verengte die Augen. „Wenn du das sagst.“

„Gut, dann lassen wir es mit dem Austausch von Nettigkeiten.“ Vermouth sah zu Wodka. Dann blickte sie wieder zu Gin. „Warum sollte ich hier her kommen?“, wollte sie wissen. „Falls es um Kir geht, habe ich keine Hinweise, dass sie uns hintergeht.“

„Kir ist erst einmal Nebensache“, gab er von sich.

„Gut, ich hab nämlich keine Lust mehr die Drecksarbeit zu machen. Wenn du wissen willst, ob sie uns verraten hat oder nicht, engagier niedere Mitglieder“, entgegnete die Frau. „Meine Zeit ist zu kostbar um sie mit Kir zu verschwenden.“

„Vermisst dich dein kleiner Toy-Boy?“

„Eifersüchtig?“

„Bei weitem nicht“, antwortete das Organisationsmitglied.

Vermouth blickte wieder zum Wagen. Diesmal sah sie direkt in den Innenraum. „Sieht so aus, als hätte unser Wodka ein wenig Geld abgezwackt“, sprach sie.

Wodka nickte sofort. „Der Kerl hat problemlos bezahlt und denkt, wir würden ihn nun in Ruhe lassen“, antwortete er. „Da kennt er uns aber schlecht. In einigen Tagen wird er sein blaues Wunder erleben. Und dann hinterlässt er uns aus Angst sein ganzes Vermögen.“

„Hast du in den Koffer geschaut und nachgesehen, dass das Geld wirklich drin ist?“

Sofort nickte er. „Natürlich.“

„Kameras und Wanzen sind auch auszuschließen?“

„Ja“, antwortete er. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“, zischte er dann.

„Das sage ich lieber nicht“, entgegnete sie. „Soll ich den Alten danach vom Angesicht der Erde fegen?“

„Nein“, warf Wodka ein. „Wir können ihn danach noch gebrauchen.“
 

„Wie du meinst…“ Vermouth hatte nicht gerade viel Lust gehabt sich mit ihm zu unterhalten. „Also Gin, warum hast du mich hier her bestellt?“

„Warum heute so bissig, meine Liebe?“

Vermouth verengte die Augen.

Steck dir dein Liebe sonst wo hin.

„Sag mir was du willst oder ich fahr wieder los. Ich hab besseres zu tun als mit euch ein Kaffekränzchen zu halten.“

Gin grinste. Er kannte Vermouth gut und es bereitete ihm eine wahre Freude wenn sie sich aufregte. „Sayaka Shibungi.“

„Sayaka“, wiederholte sie. „Soll mir der Name was sagen?“

„Eh…Aniki…“, Wodka wurde hellhörig.

„Sie arbeitet für uns.“

„Aha“, murmelte Vermouth. „Und weiter?“

Gin schnaubte. „Dachte ich mir“, sagte er und lehnte sich nach hinten. Er verschränkte die Arme. „Sie ist mehr oder minder Wodka unterstellt und kümmert sich um die Geldbeschaffung. Wir haben sie auf Sota Shibungi angesetzt. Ihm gehört das Unternehmen Medipharm, nur falls es dir was sagt. Er macht sein Geld mit den ganzen Arzneimitteln im Laden. Sayaka heftete sich an seine Fersen und heiratete ihn.“

„Wie nett von ihr.“

Gin grinste süffisant. „Wie es ausschaut, möchte sie sich bald von uns trennen. Ihr scheint nicht ganz wohl zu sein, wenn sie andauernd ihren Mann beklauen muss.“

„Ach wirklich? Die Arme.“

Gin öffnete das Handschuhfach und zog eine dünne Akte heraus.

„Wieso erledigt Wodka sie nicht einfach?“, fragte sie.

„Es gibt noch einiges an Geld, das wir gut verwenden können. Sayaka soll noch eine Weile für uns arbeiten.“

„Aber wir können ihren Mann erledigen“, warf Wodka ein.

„Nein“, antwortete Gin. „Er hat einen Ehevertrag. Einer unserer Kontaktmänner konnte diesen in die Finger bekommen. Es gibt eine Klausel. Sollte er durch Mord gestorben sein während die Ehe keine zwei Jahre standhielt, erbt Sayaka nichts. Das ganze Geld wird stattdessen für irgendeinen wohltätigen Quatsch gespendet.“

Vermouth schmunzelte. „Was für eine gelungene Ablenkung von den üblichen Opfern. Scheint als hätte der Gute mitgedacht und ist für alle Gelegenheiten gewappnet.“

„Sie erbt nur, wenn der Tod eine natürliche Ursache hat.“

„Wie lange müssen wir noch warten, bis wir handeln können?“

„Zu lange.“ Gin sah Vermouth an. „Sie hatte bisher noch keinen direkten Kontakt mit Wodka und weiß nicht, wie er aussieht.“

„Wir haben telefoniert.“

„Wie gesagt, sie hat ihn nie gesehen und wird ihn entsprechend auch nicht identifizieren können. Sie weiß nichts von unseren verdeckten Namen. Ein Gang zur Polizei bringt ihr deswegen nichts.“

„Wie vorteilhaft für uns“, spottete Vermouth. „Ich soll sie also auf Kurs bringen.“

„Du hast es schnell begriffen“, kam es von Gin.

Vermouth sah ihn missgelaunt an. „Ich bin nicht deine Untergebene. Vielleicht möchte ich den Auftrag nicht machen.“

„Das wäre aber sehr schade. Der Boss setzt auf dich.“ Gin reichte ihr die Akte. „Sayaka Shibungi muss wieder zurück auf den Kurs gebracht werden. Sie soll begreifen, dass es ihr nichts bringt, uns zu verlassen und dass wir sie dann mit dem Tod bestrafen. Vielleicht nehmen wir uns sogar ihren Ehemann zuerst vor.“

„Wie böse wir doch sind“, kam es dann von Vermouth. Sie blätterte die Akte kurz durch. Wenigstens wurden die wichtigsten Eckdaten aufgeführt. Und nachdem was sie gerade so las, war es ein einfaches Unterfangen. Vermouth sah zu Wodka. „Wieso zieht er nicht den Karren aus dem Dreck?“

„Karren?“, Wodka sah sie fraglich an.

„Sag es nicht, Gin“, kam es dann von ihr.

„Wenn ich du wäre, würde ich sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontieren.“ Ein Grinsen legte sich auf Gins Gesicht. „Deine Spezialität.“

„Nun wird es interessant.“ Vermouth überlegte gespielt. „Das Hauptziel besteht also darin, dass sie weiterhin für uns Geld besorgen soll“, sprach sie.

Gin nickte.

„Tja, wie schlecht für sie, dass sie sich ausgerechnet mit uns angelegt hat.“

„Menschen die ihr Leben hassen, sind sehr leicht zu manipulieren“, antwortete Gin.
 

***
 

Sayaka wälzte sich im Bett hin und her. Sie öffnete die Augen und starrte an die Decke. Aus dem Augenwinkel sah sie zu ihren Mann. Sein Atem ging regelmäßig. Er war ruhig. Aber er wusste auch nicht das, was sie wusste. Er kannte nur die Sayaka die sie vorgab aber nicht die, die sie wirklich war.

Langsam setzte sie sich auf. Sie seufzte und stand auf. Sayaka ging rüber in sein Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch und starrte in den schwarzen Bildschirm seines Computers. Sie hasste sich.

Ich kann das nicht mehr.

Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. Warum hörte es nicht auf? Wie konnte sie sich nur in diese Schwierigkeiten bringen? Und warum ließen sie sie nicht in Ruhe. Es sollte ein Auftrag sein. Aus einem wurden zwei, dann drei, dann vier…und dann sollte sie Sota heiraten. Anfangs sträubte sie sich dagegen. Er war nicht ihr Typ. Sie zog es trotzdem durch, weil man ihr die Pistole auf die Brust setzte. Leben oder Sterben.

Sie entschied sich für das Leben. Und was hatte sie nun davon? Sayaka seufzte leise. Mittlerweile hatte sie sich in ihren eigenen Ehemann verliebt. Aber es setzte ihr immer wieder zu, ihn anlügen zu müssen. Wie gern wollte sie ihm die Wahrheit sagen. Aber dann wäre auch sein Leben in Gefahr. Noch hatte sie es unter Kontrolle. Und solange es genug Geld auf dem Konto gab, waren sie sicher.

Sayaka hasste es, wenn sie ihnen Geld überweisen musste. Je länger sie in der Firma tätig war, desto mehr Geld wollten sie. Es waren aber immer noch Zahlungen die nicht auffielen.

Sayaka fuhr den Rechner hoch. Sie loggte sich mit ihren eigenen Zugangsdaten ein und sah sich alte Bilder an. Bilder von glücklicheren Zeiten. Sie wusste, dass sie einen enormen Fehler beging. Ihr Leben war verwirkt.

Das Symbol ihres E-Mail Programms blinkte. Sie klickte es an. Die Nachrichten luden. Die oberste warf sie aus der Bahn.

Betreff: Unsere Vergangenheit.

Sayaka klickte die Nachricht an.

Komm morgen um 10 Uhr zur Tiefgarage von Medipharm.

Sie schluckte. Ein persönliches Treffen. Bisher hatten sie nie ein solches ausgemacht. Sayaka zitterte. Das Treffen konnte nichts Gutes verheißen. Sie musste sich vorbereiten und zuerst zuschlagen.

Dir werd ich es noch zeigen.

11.12.

Vermouth legte die Akte von Sayaka Shibungi auf ihr Bett. Sie war nicht spektakulär und hatte ein fast einfaches Leben geführt. Natürlich fielen Aspekte auf die sie benutzen konnte und wollte. Ihre Männer hatten bei der Sammlung der Informationen gute Arbeit geleistet. Wenn Vermouth es beurteilen musste, waren sämtliche Informationen vorhanden die sie brauchte. Die Fotos erleichterten ihr die Arbeit. So musste sie nicht selbst recherchieren und konnte sofort loslegen. Noch am Abend schrieb sie der guten Sayaka eine E-Mail.

Vermouth setzte sich auf ihr Bett und schlug die erste Seite der Akte auf. Sayaka Shibungi. Geboren als Sayaka Mikage. Langweilig und uninteressant. Sie war gelernte Bankkauffrau, wollte nach ihrer Ausbildung aber etwas erleben und reiste durch die Welt. Die Welt endete schnell als sie als erste Station die heißen Quellen von Hokkaido auswählte. Dort wurde sie schließlich rekrutiert und blieb ein Jahr im Verborgenen. Sie beschaffte das Geld bis sie schließlich wieder nach Tokyo geschickt wurde.

Das einzige was für Sayaka sprach, waren ihre Verluste in der Kindheit. Mit sieben Jahren starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Traurig – aber so etwas passierte nun einmal und Vermouth hatte kein Mitleid mit ihr. Sie wusste, dass es immer schlimmer kommen konnte. Und sie selbst meckerte auch nie. Sayaka und ihr älterer Bruder Shion kamen damals zu ihrer Großmutter, die sich liebevoll und aufopferungsvoll um die beiden Kinder kümmerte. Dann aber segnete auch die Großmutter das zeitliche und der ganze Trauerprozess begann von vorne. Sayaka aber hatte diesmal Glück. Ihr Bruder hatte Wochen vorher die Volljährigkeit erreicht und beantragte das Sorgerecht für sie. Da Sayaka zum damaligen Zeitpunkt bereits zur Oberschule ging und nur noch zwei Jahre von ihrer eigenen Volljährigkeit entfernt war, überließ man sie nur dankend ihrem Bruder. Eigentlich hätte Sayaka wissen müssen, wie man sich um sich selbst kümmerte, stand sie nur schlecht auf eigenen Beinen. Immer wieder brauchte sie jemanden der auf sie aufpasste und der sie von Dummheiten fernhielt.

Vermouth musste grinsen als sie wieder zu diesem Teil der Akte kam. Sie erfüllte alle Voraussetzungen um von der Organisation rekrutiert zu werden. Sie war einfach zu manipulieren und man konnte sie einfach mit dem großen Geld locken. Man musste ihr nur eine bessere Zukunft versprechen. So machte es die Organisation oft. In regelmäßigen Abständen holten sie sich die Akten von Kindern und Jugendlichen die im Kinderheim aufwuchsen oder die besonders vielen Schicksalsschlägen ausgesetzt waren. Viele davon arbeiteten mittlerweile bei ihnen: Gin, Korn, Rum…

Die Organisation passte den richtigen Augenblick ab. Und schon hatten sie ihre Krallen um den Neuling geschlungen, ließen ihn nicht mehr los und benutzten ihn bis zum bitteren Ende. Der Boss hatte ein gutes Auge was die neuen Rekruten anging. Er erkannte schnell ob jemand tauglich war oder nicht. Die, die ihn überzeugen konnten, hatten Glück und wurden schneller befördert. Die anderen kümmerten sich um Kleinigkeiten wie Geld oder Informationen.

Dennoch kam es in seltenen Fällen vor, dass ein potentielles Mitglied ablehnte. Aber auch dafür war bereits vorgesorgt. Die Person bekam zwei Tage zum Nachdenken und wurde erneut aufgesucht. Stand die Ablehnung trotzdem fest, lebte die Person keine fünf Minuten weiter. Sie ließen es wie Selbstmord aussehen. Das war der Vorteil an denen, die den schwersten Schicksalsschlägen ausgesetzt waren. Einen Selbstmord bei dieser Personengruppe glaubte die Polizei schnell. Und wenn nicht, sorgte ein Organisationsmitglied dafür.

Bei Sayaka und ihrem Bruder Shion war die Sache ein wenig holpriger. Shion war schon seit der Kindheit immer die moralische Stützte seiner Schwester. Er hatte ein gutes Herz und glaubte immer an ein Happy End. Nie hätte er zugelassen, dass Sayaka der Organisation bei trat. Und sie wussten schon damals, dass Sayaka das Angebot mit ihm besprechen würde. Sie traf nie eine Entscheidung alleine. Dazu hatte sie keinen Schneid. Viel lieber verließ sie sich auf die Meinung ihres großen Bruders. Die Organisation aber wollte sich kein Mitglied wie Sayaka entgehen lassen. Die junge Frau hatte Potential und wäre – zumindest für den Anfang - eine gute Investition.

Einen Trumpf hatte die Organisation noch. Sayaka wollte eine große glückliche Familie haben. Und genau als diese gaben sie sich aus. Wäre da nicht ihr Bruder gewesen, hätten sie leichtes Spiel. Dem Problem entledigten sie sich schnell. Es war genau das, was Vermouth gefiel – Shion Mikage starb Wochen nach Sayakas Geburtstag bei einem Autounfall. Ganz theatralisch und alleine. Damit hatte die Organisation freie Bahn. Sie lockten Sayaka, versprachen ihr das, was sie wollte und am Ende kam das Mädchen wirklich mit Kusshand zu ihnen. Sie schwor ewige Treue und wollte die neue Familie nicht enttäuschen. Sayakas Moralvorstellungen wurden schon sehr bald von der Organisation untergraben. Moral – wer brauchte die schon, wenn die eigene Familie andauernd bei Unfällen ums Leben kam und der Unfallgegner straffrei aus der Sache heraus ging?

Die Organisation wusste eben genau was sie machen mussten. Sie hatten Macht. Genug Macht um Sayaka eine neue Geschichte zu geben. Sie bildeten sie aus und zeigten ihr, wie sie am besten das Geld beschaffen musste.

Die Organisation plante ihr Vorgehen immer weit voraus. So war es auch kein Zufall, dass der Unfallwagen mit der Marke eines Firmenbesitzers übereinstimmte. Durch einen schnellen Wechsel des Kennzeichens stand schnell der Firmenbesitzer im Vordergrund. Und Sayaka war begierig ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es war ihre persönliche Rache.

Hätte sich Sayaka auch weiterhin an die Pläne der Organisation gehalten, wäre ihr alles erspart geblieben. Sayakas neues Ziel bestand in der Geldbeschaffung von Medipharm. Sie sollte langsam machen und immer nur kleine Beträge abzweigen. Die Firma lief gut und solange dies der Fall war, konnte die Organisation nur davon profitieren. Sayaka Mikage wurde als Assistenz des Geschäftsführers eingesetzt. Die ersten Wochen verliefen glatt. Und dann bemerkte die Organisation die Blicke des Mannes. Er hatte sich verliebt, begehrte sie und wollte sie haben. Sota war das perfekte Opfer. Anfangs gefiel es Sayaka nicht mit ihm ins Bett zu gehen. Aber wozu gab es Schlafmittel? Wenn sie es richtig anstellte, schlief er ein, ehe er ihr auch nur ein Haar krümmen konnte. Trotzdem dauerte es, bis Sota sich selbst seine Gefühle eingestand und sich auf sie einlief. Er war kein hübscher Bursche und wusste, dass Geld auf Frauen einen gewissen Charme hatte.

Sota Shibungi hatte die Firma nicht geerbt und war nicht einfach so in das Geld rein gerutscht. Er hatte sich hochgearbeitet. Er war ein kleiner Student mit Träumen. Nach dem Studium arbeitete er noch zwei Jahre bei einem anderen Unternehmen, wurde wegen des schleppenden Geschäftes aber entlassen und hatte von der Abfindung seine Firma gegründet. Sie lief besser als die anderen. Er hatte das gefunden, was der Stadt fehlte. Ein Pharmaunternehmen das keine Apotheken belieferte. Während alle anderen den Menschen helfen wollten und neue Substanzen entwickelten, reichte es ihm, sein Geschäft mit weniger wirksamen Mitteln zu bestreiten. Mitteln, die er der Menschheit zur Verfügung stellte und die auch eine gewisse Wirksamkeit aufwiesen.

Sota war nicht auf den Kopf gefallen. Er konnte sich noch nicht auf Sayaka – die um einiges besser aussah als er – einlassen. Trotz Stellung im Unternehmen bekam Sayaka nur begrenzten Zugang zu dem Geld. Jede Transaktion musste sie begründen. Aber dann hatten sie ihn soweit. Auch nach ihrer gemeinsamen Nacht zur Weihnachtsfeier, die in Wahrheit gar nicht stattfand, machte Sayaka ihm schöne Augen. Der Heiratsantrag folgte Monate später. Ein weiteres halbes Jahr später flossen die Beträge. Die Organisation konnte sehr geduldig sein.

Vermouth lachte über Japaner. Ehre. Sie vergnügten sich mit Hostessen und dachten da nicht an die Ehre. Aber waren es andere Frauen – Schwestern, Tanten, Freunde – wurde die Ehre wieder wichtig. Hätten solche Männer eher nachgedacht, wären sie nicht in der Bredouille gelandet. Nun hieß es nur noch warten. Der Ehevertrag und das Testament von Sota Shibungi änderten die Situation schlagartig. Zwei Jahre mussten sie warten um ihn los zu werden. Zwei ganze Jahre. Nicht einmal die Hälfte der Zeit war vergangen. Die Organisation merkte aber, dass die Fassade um Sayaka zu bröckeln begann. Sota kümmerte sich zu gut um sie. Sie zog mit ihm in ein Haus, wurde jeden Sonntagmorgen mit einem Frühstück am Bett begrüßt und auf Händen getragen. Er massierte ihr die Füße nach einem harten Arbeitstag und kuschelte sich an sie, wenn sie unter Migräne litt. Er war genau das, was sie nicht brauchen konnten. Er gab ihr Geborgenheit und Zuflucht. Sayaka bekam Skrupel. Bei einer Geldübergabe wollte sie den Auftrag beenden. Aber da kannte sie die Organisation schlecht. Es endete erst, wenn es der Boss wollte. Nicht vorher und auch nicht nachher.

Wodka hatte sie eine Weile beobachtet. Während sie am Computer saß und die Überweisung fertig machte, verharrte sie. Ihre Hand zitterte als sie auf den Button kam und diesen anklickte. Bei jedem Anruf zuckte sie zusammen. Sayaka war kaum tragbar. Und doch konnte sie sich ihr nicht so einfach entledigen. Stattdessen musste sie wieder auf Kurs gebracht werden. Nun musste Vermouth ran und ihr zeigen, was passierte, wenn man sich nicht an die Regeln der Organisation hielt.

Die Schauspielerin stand auf und ging an ihren Kleiderschrank. Sie besaß viele. Mann, Frau, groß, klein, blond, braun, weiß, schwarz. Alles war dabei. Sie konnte jede Rolle spielen. Und sie wusste auch ganz genau, wer sie heute war…
 

***
 

Agent Benett saß auf der Fahrerseite seines Wagens. Er gähnte. Die Tagschicht teilte er sich mit seiner Kollegin. An Wochenenden fuhren sie immer mit zwei Wagen. Einer der vor dem Haus parkte und einer, der die Zielperson verfolgen konnte. Benett lehnte sich nach hinten und zog das Handy heraus. Er wählte eine Nummer die er schon so oft in das Mobiltelefon eingab, dass er sie auswendig kannte.

„Sir? Der Wagen von Sayaka Shibungi fuhr soeben in die Tiefgarage der Firma ein“, sprach er.

„Danke. Beobachten Sie weiterhin die Lage. Und Benett? Keine Aktionen. Nur beobachten und warten“, entgegnete James in den Hörer.

„Natürlich. Was ist mit den anderen Agenten?“, wollte er wissen.

„Die Teams beschatten das Unternehmen weiterhin.“ Gerade am Wochenende brauchten sie viele Agenten und mussten in noch mehr Schichten arbeiten als sonst. „Warten Sie auf weitere Befehle.“

„Ja, Sir.“ Benett legte auf und sah weiter zur Einfahrt von der Tiefgarage.

James saß in seinem Büro. Er runzelte die Stirn. Sie waren ihnen schon so nah, dass er eine Festnahme riechen konnte. Die Agenten waren erfahren. Aber reichte es für das, was er befürchtete? Wenn die Organisation in der Firma auftauchte, konnte es schnell zu einem Kugelfeuer kommen. Keiner wusste mit wem sich Sayaka traf und wie gefährlich die Person war. War es nur ein Mitglied? Zwei? Drei? Vier?

James sah auf die Uhr. Akai würde schlafen. Mittlerweile erstattete er direkt nach der Observation einen kurzen Report wenn die Sache dringend war. Sayaka schien aufgewühlt zu sein. Sie verbrachte eine schlaflose Nacht und nun stand sie in der Tiefgarage der Firma und traf sich mit einem Unbekannten. Obwohl er es lassen sollte, wählte er die Nummer von Akai.

„Was gibt es, Black?“, wollte der Agent wissen.

„Die Zielperson hat sich heute Morgen vom Haus fort bewegt. Sie befindet sich nun in der Tiefgarage von Medipharm“, antwortete James.

„Ist Jodie in der Nähe?“

„Nein. Jodie ist zu Hause und schreibt einen Bericht über die vergangenen Tage.“

„Gut“, kam es von Akai. „Seit wann ist die Zielperson in der Firma?“

„Gerade eben erst eingetroffen.“ Wer war eigentlich der Boss? James oder Shu?

„Sind unsere speziellen Freunde auch vor Ort?“

„Bisher nicht“, sagte James. „Wir können auch nicht sagen mit wem sich Sayaka Shibungi trifft…“

„Und ob sie sich mit jemanden trifft. Sie könnte weiteres Geld abzwacken oder Jodie in Verdacht haben. Vielleicht durchsucht sie ihren Arbeitsplatz oder kontrolliert die Büros nach irgendwelchen Wanzen. Sagen Sie Jodie, dass sie vorsichtig sein soll, wenn sie am Montag zur Arbeit geht. Unsere Agenten sollen die Lage weiter beobachten. Wenn es etwas Neues gibt, informieren Sie mich. Ansonsten melde ich mich wieder bei Ihnen.“ Akai legte auf.
 

***
 

Sayaka wartete im Wagen. Sie war absichtlich eine gute dreiviertel Stunde durch die Stadt gefahren um mögliche Verfolger abzuschütteln. Jetzt wo die Organisation den Druck verstärkte, fühlte sie sich permanent verfolgt. Selbst das Knarren der Dielen im Haus versetzte sie in Panik. Sie kannte nicht einmal ihre Gesichter. Warum hatte sie sich nur auf das damalige Angebot eingelassen? Sie war jung und verletzlich. Hatte sie überhaupt eine andere Wahl?

Sayaka seufzte. Sie stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Das Licht in der Tiefgarage flackerte. Nervös blickte sie auf die Uhr.

Wer auch immer du bist, komm endlich heraus.

Sie wartete ungeduldig und tippte mit der Schuhspitze auf dem Boden herum.

„Warum so nervös, Sayaka.“

Diese Stimme.

Sie war so vertrau und doch fremd. Sayaka drehte sich um. Ihr Gesicht wurde blass. „S…h…hio…n…“, wisperte sie. „Nein…das…du…das kann nicht…nein…nein du…bist…“

„Tod?“, fragte er.

Sie brachte kein Wort über die Lippen.

„Ja, das bin ich auch. Und das ist deine Schuld.“

Sayaka schluckte.

„Ganz recht Sayaka“, sprach er. „Du hast zuerst unsere Eltern ermordet. Weißt du noch? Damals als wir Kinder waren. Du wolltest unbedingt das Spielzeug-Pony haben, aber Papa brachte dir das falsche mit.“

Tränen rannen über ihr Gesicht.

„Und weil du die ganze Zeit geweint hast, hat Mama ihn überredet, noch einmal in den Laden zu fahren. Sie wollte diesmal dafür sorgen, dass du auch das richtige Pony bekommst. Aber sie sind nie wieder zurück nach Hause gekommen. Nicht wahr?“

Sayaka nickte. „Ich…wollte das nicht…“, wimmerte sie leise.

„Und was war mit mir, Sayaka?“

Sayaka fand keine Worte.

„Erinnerst du dich nicht mehr?“

„Das…es war ein Unfall“, wisperte sie.

„Ein Unfall? Wirklich? Hast du mich vorher nicht angeschnauzt?“

Sayaka wich nach hinten. Sie schüttelte den Kopf und legte sich die Hände auf die Ohren. Sie wollte nichts hören. Und auch nicht mehr sehen. „Unfall…“

Shion ging zu ihr. Er legte seine Hand auf ihre. „Sieh mich an, Sayaka.“

Sie gehorchte. „Bitte…Shion…“, murmelte sie. „Ich wollte das nicht…Du bist mein Bruder“, wimmerte sie. „Wir haben…gestritten…wenn ich gewusst hätte, dass du dann den Autounfall hast…Es tut mir so leid…so leid…“

Shion schmunzelte. „War es so schwer das zu sagen?“, wollte er wissen. „Ich dachte schon, du würdest deine Familie vergessen. Jetzt wo du mit diesem Sota zusammen bist.“

Sayaka schluckte. „Sota ist…mein Mann…“

„Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass du ihn nur geheiratet hast um an sein Geld zu kommen. Ist es nicht so, Sayaka?“

„Ich…das…“ Sie sah zur Seite. „Das war vielleicht am Anfang so….“

„Aber jetzt nicht mehr?“

„Ich liebe ihn.“

„Ihn oder sein Geld?“

„Ihn.“

„Och ist das süß.“ Seine Stimme veränderte sich.

Sayaka blickte auf. „Wer bist du?“, wollte sie leise wissen.

„Kannst du dir das nicht denken?“ Vermouth legte ihre Hand auf das Kinn der Frau und zog dieses hoch. „Hast du wirklich gedacht, dass du uns einfach so austricksen kannst?“, kam es von ihr. „Du und deine Gefühle. Als ob das nicht offensichtlich ist“, schnaubte sie.

„Ich…“

„Was? Willst du dich entschuldigen?“, fragte sie. „Was willst du, Sayaka?“

„Ich will ihn nicht…benutzen…“

„Oh. Das tut mir jetzt aber für dich leid“, grinste Vermouth. „Du willst ihn nicht benutzen. Das hättest du dir eher überlegen sollen, findest du nicht auch?“

„Ich...“ sie schluckte. „Damals wusste ich das doch nicht“, warf sie ein.

Vermouth verdrehte die Augen. „Natürlich wusstest du es nicht. Du bist ja auch nur ein kleines dummes Mädchen, nicht wahr? Aber du musst lernen, dass wir nicht immer deine Fehler ausbügeln können.“

Sayaka sah sie geschockt an. „Was habt…“

„Was denkst du wohl?“, kam es von Vermouth. Sie sah sie verächtlich an. „Stell dir nur mal vor, der falsche Betrag landet bei uns? Oder dein Mann bekommt zufällig mit, wie du das Geld abzweigst? Was dann, Sayaka? Wobei das schlimmste wäre doch, wenn die Bremsen von seinem Auto auf einmal versagen würden, nicht?“

„Nein…das…das tut ihr nicht…“

„Oh, nicht? Du weißt nicht, wozu wir in der Lage sind. Aber du kannst es gern darauf ankommen lassen. Du müsstest ja nun genug Kontakt zu den Bestattungsunternehmen gehabt haben um zu wissen, was du tun musst“, grinste Vermouth.

„Nein…“, Sayaka wirkte energisch. „Ihr tut ihm nichts.“

„Mhmm? Du stehst nicht in der Position um mir Befehle zu geben.“

„Ich tu, was ihr wollt. Aber tut ihm nichts.“

„Das hört sich doch gut an.“ Vermouth sah sie an. „Vergiss nie meine Worte.“ Sie stand auf und bewegte sich zum Ausgang.

Sayaka schluchzte. Sie umarmte sich selbst.

Ich kann das nicht mehr. Ich will nicht mehr.

Sie sah sich um. Shion bzw. die fremde Frau war weg. Die Organisation beobachtete sie. Sayaka schluckte. Sie hätte es von Anfang an wissen sollen. Sie wusste, wer auf sie angesetzt wurde.
 

***
 

Sayaka kam aufgebracht zu Hause an. „Sota“, rief sie. Sie sah sich um. Wo war er? Warum war er nicht in der Küche und kochte? Sie lief in das Arbeitszimmer. „Sota?“ Er saß an seinem Schreibtisch, der Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Sofort bekam sie es mit der Angst zu tun. Hatten sie ihre Drohung wahr gemacht? Sie ging sofort zu ihm und legte die Finge an seinen Hals. Er atmete. Sayaka war sofort erleichtert.

Sota öffnete die Augen. „Sayaka“, sprach er ruhig. „Was ist los?“

Sie schüttelte den Kopf. „Alles gut.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich liebe dich.“

„Sayaka was ist los?“, wollte er erneut wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Schon gut“, sprach sie leise.

„Sayaka…“

„Ich hab Mist gebaut.“

Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest. „Schon gut. Was ist los?“

„Ich…“, sie sah ihn an. „Bitte…wir müssen weg…können wir nicht einfach ein paar Wochen Urlaub machen?“

„Urlaub?“ Er sah sie fragend an.

„Irgendwo…nur bis zum nächsten Jahr. Bitte Sota…“
 

***
 

„Shu…es ist spät und ich muss morgen früh wieder im Büro sein“, nörgelte Jodie.

Shuichi sah sie an. Sie saßen in Jodies Wohnung. Akai, Jodie und James.

„Es gab heute ein sehr interessantes Gespräch bei den Shibungis“, meinte Shu. „Aber wenn du nicht willst, erzähl ich es dir eben nicht.“

Jodie seufzte. „Das ist gemein“, murmelte sie leise. „Gut…jetzt bin ich neugierig.“

Akai grinste. „Sayaka Shibungi kam sehr aufgebracht nach Hause“, begann er. „Sie hatte sofort nach ihrem Mann gesucht. Die Art, wie sie es tat, ließ nur darauf schließen, dass irgendwas passiert war. Am Vormittag war sie in der Tiefgarage der Firma. Sie traf sich mit jemanden, den unsere Leute noch nicht identifizieren konnten.“

„Die Organisation.“

Akai nickte. „Mit großer Wahrscheinlichkeit.“

„Hat sie ihm von der Organisation erzählt?“, wollte Jodie wissen.

„Hat sie nicht“, entgegnete er. „Aber vielleicht tut sie es noch irgendwann“, gab er von sich. „So wie sich Sayaka anhörte, war sie in Sorge, dass er umgebracht wurde. Wir können daraus schließen, dass sie bedroht wurde.“

„Gut möglich“, murmelte Jodie.

Shu blickte zu Jodie. „Du solltest dich nicht wundern, wenn du hörst, dass die Shibungis Urlaub machen.“

„Sie wollen Urlaub machen?“

„Sayaka wollte unbedingt ganz schnell weg.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jodie.

„Wenn Sayaka ihren Mann wirklich liebt und gemerkt hat, dass die Arbeit für die Organisation nicht mehr das wahre ist, wird sie versuchen so schnell wie möglich aus Japan zu verschwinden. Deswegen müssen wir ihnen zuvorkommen.“

„Hört sich machbar an. Soweit ich gehört habe, kommt sie Morgen wieder in die Firma. Ich werde mich einfach in der Mittagspause bei ihr vorstellen und ihr reinen Wein einschenken.“

Akai nickte. „Wie gut, dass wir dich in die Firma einschleusen konnten“, sagte er. „Wenn sie morgen kommt, bietest du ihr unsere Hilfe an. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen an dem wir mit offenen Karten spielen sollten.“

12.12.

Jodie hatte sich den Wecker extra früh gestellt. Sie fühlte sich großartig, strotzte vor Energie. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass dem FBI in so kurzer Zeit der Durchbruch gelang. Sie waren ihrem Ziel schnell näher gekommen, hatten die Firma infiltriert und hörten bei den Shibungis jede Unterhaltung mit an. Letzteres war verwerflich, diente aber einem höheren Zweck. Nur so gelang es ihnen heraus zu finden, dass sich Sayaka mit einem von ihnen getroffen hatte. Sie war eingeschüchtert und plante ihre Flucht. Jetzt war das FBI dran. Sie mussten ihren nächsten Zug machen. Und schneller sein als die Organisation. Wer wusste, ob diese nicht auch schon von den Fluchtplänen wusste.

Sayaka war ihr Einstieg. Sie würden ihr Sicherheit anbieten können. Dafür musste sie nur reden. Sie benötigten nicht viel. Es reichte, wenn Sayaka Namen wusste oder ihnen ihr Telefon gab. So konnten sie auf den nächsten Anruf der Organisation warten, ihn lokalisieren und Stunden später vor ihrem Versteck sein. Jodie spürte, dass es diesmal klappte.

Damit es nicht auffiel, fuhr sie wie gewohnt zur Arbeit. Jodie betrat mit einem Lächeln auf den Lippen das Bürogebäude. „Guten Morgen“, grüßte sie Aiko am Empfang und ging zu ihren Räumlichkeiten. „Guten Morgen“, entgegnete sie erneut. Sie stellte ihre Tasche auf den Tisch und setzte sich.

„Guten Morgen. Ihnen scheint es heute ja sehr gut zu gehen.“

Jodie sah ihre Kollegin Kasumi überrascht an. „Eh…“, murmelte sie. Sie hatte recht. Dabei wollte sich Jodie ganz normal Verhalten. Jodie nickte. „Ich hab irgendwie gute Laune. Ein alter Freund von mir kommt mich zur Weihnachtszeit besuchen. Er wollte unbedingt Japan zu Weihnachten kennen lernen“, log sie. „Wir haben uns gefühlt eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

„Ja, das kenn ich nur zu gut“, antwortete Kasumi. „Ich komm ursprünglich aus Osaka. Ich weiß, es ist nicht so weit weg wie die Staaten und ich könnte mit einer schnellen Bahnfahrt oder Autofahrt wieder dort sein, aber ich finde nie die Zeit dafür.“

„Wenn Sie Ihre Familie so vermissen, warum ziehen Sie nicht zurück?“

Kasumi seufzte. „Das ist nicht so einfach möglich. Ich hab hier einen guten Job. In Osaka hätte ich nichts. Als ich damals direkt nach dem Studium eine Stelle gesucht hab, sah es sehr mau aus“, entgegnete sie. Und auch wenn ich sie vermisse, tut mir auch der Abstand gut. Sie kennen das bestimmt auch. Wenn man zu sehr aufeinander hockt, giftet man sich irgendwann an.“

Jodie nickte.

„Dafür bewundere ich Sie.“

„Mich?“

„Entschuldigung…Herr Shibungi hat mir erzählt, dass Sie zusammen mit Ihrem Freund hier her kamen. Naja Ex-Freund…“, murmelte sie.

„Ach das, ja…“

„Und nachdem Sie sich getrennt haben, blieben Sie hier. Sie gaben nicht auf und konnten wahrscheinlich auch kaum die Sprache. Das bewundere ich.“

„Jetzt bringen Sie mich aber wirklich in Verlegenheit“, antwortete Jodie.

„Dann sollten wir uns am besten ablenken. Wie wäre es mit Arbeit?“
 

***
 

Jodie streckte sich. Sie sah auf die Uhr. „Mittagspause“, sagte sie leise. Sie sah zu ihrer Kollegin. „Macht es Ihnen heute etwas aus, wenn ich schon früher in die Pause gehe?“

Kasumi blickte auf die Uhr. „Kein Problem. Sind Sie verabredet?“

„So ähnlich. Ich muss noch mit jemanden telefonieren.“ Jodie stand auf und nahm das Handy aus ihrer Handtasche. Sie sah kurz auf das Display und steckte es in ihre Hosentasche. „Bis später.“

Im Flur zog sie das Handy wieder raus. Sie sah auf die Kurzmitteilung. Gerade als sie sie lesen wollte, hörte sie einen Kollegen nach ihr rufen.

Jodie drehte sich um. „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir benötigen ganz dringend die Freigabe für eines unserer Medizinprodukte. Die Unterlagen werden Ihnen nach dem Essen vor liegen. Könnten Sie diese dann mit oberster Priorität behandeln?“

Sie nickte. „Natürlich. Machen Sie sich keine Gedanken.“

„Danke.“

Jodie sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Das kannte sie. Gerade noch wollte man etwas anderes machen, wurde aber von einem Kollegen um einen Gefallen gebeten. Auch beim FBI war es so. Sie würde sich aber später darum kümmern. Jodie durchquerte den langen Flur und kam am Empfangstisch vorbei. Aiko saß nicht an ihrem Platz. Das war gut. So gab es keine Zeugen. Trotzdem sah sich Jodie um, ehe sie die Treppen in die zweite Etage ging und vor dem Büro von Sayaka stand. Sie klopfte an.

Jodie wartete einen Moment. Auf der Gegenseite regte sich nichts. War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Sie klopfte erneut an. Nachdem wieder keine Reaktion kam, drückte sie die Klinke langsam nach unten und öffnete die Tür. „Frau Shibungi?“

Das Büro war leer. Die Agentin knurrte leise. Der Anfang verlief schon mal großartig. Die Arbeit hätte sie sich auch ersparen können und direkt zum Haus fahren. Jodie holte ihr Handy raus. Nun las sie die Nachricht.

Shibungi ist zu Hause.

„Verdammt“, murmelte sie leise. Hätte sie die Nachricht doch nur eher gelesen, hätte sie den Arbeitstag nicht durchgezogen. Sie wäre direkt zu Sayaka nach Hause gefahren. Jodie ging die Treppen nach unten und kam am Empfang vorbei. Aiko saß wieder an ihrem Platz. „Wissen Sie ob Herr oder Frau Shibungi heute noch ins Büro kommen?“

Aiko sah sie an. Dann blickte sie auf ihren Computer, klickte sich rum und sah wieder zu Jodie hoch. „Herr Shibungi hat heute Termine außerhalb“, antwortete sie. „Frau Shibungi hat sich kurzfristig heute noch frei genommen.“

Jodie biss sich auf die Unterlippe. Sayaka war bereits in der letzten Woche nicht in der Firma. Heute sollte ihr erster Tag nach dem Urlaub sein. Sollte. War es aber nicht.

„Frei? Ich dachte sie kommt heute aus dem Urlaub wieder zurück.“

Aiko zuckte mit den Schultern. „Sie muss wissen ob sie zur Arbeit kommt oder nicht“, kam es dann. „Scheinbar ging es ihr heute morgen nicht so gut. Deswegen wollte sie noch einen Tag zu Hause bleiben.“

„Mhmm…okay…danke.“

„Soll ich Frau Shibungi etwas ausrichten?“, fragte Aiko nach.

Jodie schüttelte den Kopf. „Nein nein, nicht nötig. Das reicht auch noch bis morgen oder übermorgen“, sagte sie. Jodie ging zurück zu ihrem Büro. Es war keiner da. Nach allem was sie von Shu wusste, war es kein gutes Zeichen.

„Da sind Sie ja wieder“, kam es von Kasumi.

„Hab meine Handtasche vergessen“, log sie. Sie nahm diese und ging wieder nach draußen. Jodie achtete darauf langsam zu gehen. Ihre Kollegen sollten keine Auffälligkeiten an ihr feststellen. Sie ging nach draußen zu ihrem Wagen und fuhr los. Sogleich steckte sie ihr Handy an die Freisprechanlage und wählte die Nummer ihres Kollegen.

„Ich weiß Bescheid“, sprach Akai in den Hörer.

Jodie seufzte. „Ich hab die Nachricht zu spät gesehen. Sonst wäre ich nicht einmal in die Firma gekommen.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Sayaka ist heute Morgen los gefahren und nach einer Stunde wieder zurück nach Hause. Du konntest nicht vorhersehen, das sie doch nicht kommt.“

„Das nicht, aber ich hätte Zwischendurch wenigstens auf mein Handy gucken können.“ Jodie sah in den Rückspiegel, danach nach links und bog ab.

„Und was hättest du dann gemacht? Wärst du einfach weg gefahren?“, wollte Shu wissen.

„Ja. Ich hätte gesagt, dass es mir nicht gut geht und wäre gefahren“, kam es sogleich von ihr. „Wäre ich doch bloß direkt am morgen zu ihr gegangen.“

„Dann wäre es auffällig geworden“, warf Akai ein. „Wie willst du ihr erklären woher du ihre Adresse hast?“

„Mir wäre schon etwas eingefallen. Wenn es sein müsste, hätte ich gesagt, das ich sie aus dem Büro habe.“

„Und du glaubst, dass die Empfangsdame die Adresse einfach so weitergibt?“, fragte er schließlich. „Damit wäre sie sofort ihren Job los.“

„Dann halt aus dem Telefonbuch. Oder ich sah die Adresse mal durch Zufall.“

„Aha“, murmelte er. „Was hast du jetzt vor?“

„Ich bin im Wagen“, fing sie an. „Und auf dem Weg zum Haus der Shibungis.“

„Was?“

„Ja, ich weiß. Aber die anderen Agenten passen dort auf mich auf. Und wenn die Organisation dort auftaucht, bin ich nicht allein. Ich muss mit ihr reden und ich muss wissen, ob sie überhaupt zu Hause ist. Wenn sie abhauen wollte und heute nicht zur Firma kam, wird sie bestimmt schon Pläne schmieden. Woher weißt du, dass sie uns nicht austrickst? Vielleicht ist sie ja auch gar nicht mehr dort.“

„Jodie…“

„Jetzt halt mir keine Predigt. Ich hör den Motor deines Wagens. Du bist genau so wie ich unterwegs.“

„Wenn du dort bist, pass auf. Wir wissen nicht, ob die Organisation nicht auch das Haus abhört. Sei bei der Wahl deiner Worte vorsichtig.“

„Keine Sorge. Ich hatte nicht vorgehabt alles heraus zu brüllen“, sprach sie. Jodie stellte ihren Wagen am Seitenrand ab. „Shu, ich bin jetzt da. Ich melde mich, wenn ich mit ihr gesprochen habe.“

„Sei vorsichtig“, mahnte er sie.

Jodie schmunzelte. „Bin ich doch immer.“ Sie legte auf und steckte das Handy in ihre Handtasche. Jodie stieg aus ihrem Wagen aus. Sie warf einen kurzen Blick auf das Zivilfahrzeug das das Haus beobachtete. Sie nickte den Agenten kurz zu und ging dann zur Haustür.

Jodie wollte gerade die Klingel betätigen, als sie stockte. Die Tür stand offen. Nun war ihr mulmiges Gefühl an die Oberfläche gekommen. Es konnte einfach nichts Gutes heißen. Aber warum hatten die Agenten im Wagen nichts bemerkt? Sie hätten wenigstens eine Meldung machen können. Oder hatten sie es getan und sie sah einfach nichts aufs Handy?

Jodie wusste, dass sie unter keinen Umständen in das Haus gehen sollte. Aber irgendwas in ihr sah es anders. Die Agentin kam zum Vorschein. Sie musste heraus finden, was passiert war. Ob es Sayaka gut ging und ob die Tür nur versehentlich offen stand. Jodie atmete tief durch. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und legte es um ihre Hand. Damit öffnete sie die Tür. Jodie achtete darauf keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Jodie gefror das Blut in den Adern. Der Flur war verwüstet. Jacken lagen auf dem Boden. Sie entdeckte einen kleinen Blutfleck. Instinktiv zog Jodie ihre Waffe aus der Handtasche. Es waren mindestens zwei Menschen im Haus. Sayaka und ihr Angreifer. Es gab einen Kampf. Die Spuren waren deutlich. Vorsichtig ging sie weiter. Der nächste Blutfleck hatte die Form eines Handabdrucks. Er war auf der Treppe. Jodie sah nach oben. Sayaka wollte hoch. Vielleicht war sie noch dort. Vielleicht auch nicht. Der Abdruck war verstrichen. Jodie stellte sich die Situation vor.

Sayaka lief vom Flur zur Treppe. Dort stolperte sie und landete mit den Händen auf dieser. Dann stand jemand hinter ihr, zog sie möglicherweise am Bein nach hinten. Sayaka wehrte sich. Vielleicht trat sie ihren Angreifer und lief weiter.

Jodie sah sich um. Sie entdeckte weitere Tropfen von Blut. Die Spur zog sich zur Küche. „FBI“, rief sie als sie den Raum betrat. Sofort erblickte Jodie die große Blutlache in der Küche. Alles sah nach einem weiteren Kampf aus. Die Tischdecke war weggerissen, die Stühle lagen umgekippt auf dem Boden genau wie das Besteck und einige Töpfe. Sayaka hatte sich mit allem gewehrt, was sie hatte. Das Küchenfenster war zerbrochen. Auch dort fand sie blutige Abdrücke.

War Sayaka durch das Fenster entkommen? Jodie näherte sich diesem. Es war zerstört. Der Angreifer konnte sie rausziehen und wegbringen. Aber warum hatten die Kollegen nichts bemerkt? Warum saßen sie noch immer im Wagen und taten nichts?

Jodie ging zurück zu der Blutlache. Sie kniete sich hin. Betrachtete das Blut. Vorsichtig berührte sie das Blut mit ihren Fingerspitzen. Es war warm. Jodie wusste, das es ein Fehler war. Sie berührte den Tatort. Aber sie musste ganz sicher sein.

„Waffe auf den Boden und Hände über den Kopf.“

Sie zuckte zusammen. Langsam tat Jodie was ihr befohlen wurde. Sie legte die Waffe auf den Boden und hob die Hände hoch. Sie verschränkte sie an ihrem Hinterkopf.

„Und nun langsam aufstehen und zu mir drehen. Ich will keine hektischen Bewegungen.“

Jodie kannte die Stimme. Ein Hauch von Erleichterung legte sich über sie. Sie stand auf, und drehte sich um. „Inspektor Takagi.“

„Miss Jodie“, sprach er.

Die Beiden blickten einander ungläubig an.

„Was machen Sie hier?“, kam es zeitgleich von beiden.

„Darf ich meine Hände wieder runter nehmen?“, fügte Jodie dann an.

Takagi nickte. „Und jetzt erzählen Sie mir mal, was Sie hier zu suchen haben.“

Jodie sah ihn an. Nun brachte ihr Lügen nichts mehr. Die Polizei war vor Ort und würde bald auch die Mitarbeiter der Firma befragen. Es waren nur Stunden ehe heraus kam, das sie nun für Medipharm arbeitete. So konnte sie auch gleich mit der Wahrheit – mit der halben Wahrheit – heraus rücken. Kooperation war immer besser. „Meine Vorgesetzten in den Staaten baten mich darum, mich in der Firma Medipharm ein wenig umzuhören. Zu diesem Zweck habe ich mich dort beworben und werde bis zum Endes des Jahres Probearbeiten. Sota Shibungi, der Besitzer dieses Hauses, hat die Firma vor einigen Jahren gegründet. Seine Frau, Sayaka Shibungi, hatte sich für heute krank gemeldet. Mein Ziel für heute lag darin mit ihr ins Gespräch zu kommen. Deswegen habe ich mich entschieden, hier her zu kommen. Als ich draußen am Eingang stand, bemerkte ich, dass die Tür offen ist. Es war mein Instinkt der mir sagte, dass ich nach dem Rechten gucken soll. Ich sah das Blut und kam schließlich hier in die Küche. Dann waren Sie auch schon da“, erklärte sie.

„Ihre Waffe müssen wir trotzdem zur Untersuchung mitnehmen“, entgegnete Takagi.

„Natürlich.“

„Sie können hier nicht durch…“

Shuichi schob sich an dem Polizisten vorbei. Ein Blick von ihm reichte aus, damit dieser nach hinten wich. Heute war nicht mehr mit ihm zu spaßen. Akai erblickte Jodie und ging zu ihr. „Was ist passiert?“, wollte er wissen.

„Und Sie sind? Wie sind Sie eigentlich rein gekommen?“, wollte Takagi von ihm wissen.

„Inspektor“, meldete sich der Polizist zu Wort. „Er ist einfach an uns vorbei gelaufen.“

„Und warum haben Sie ihm dann nicht den Weg versperrt?“

„Er…“ Der Polizist druckste herum. „Er sah nicht gerade so aus, als würde ihm das was ausmachen.“

Takagi sah zu Akai. Sein Blick war finster. Finsterer als bei den anderen Menschen. „Ich muss Sie bitten…“

„Vergessen Sie es. Ich fasse am Tatort nichts an.“ Akai drehte sich um und sah zu der Blutlache. „Da ich kurz nach Ihnen hier her kam, zähle ich nicht zu den Verdächtigen. Ihre Leute können bestätigen, dass ich vorher nicht im Haus war“, fügte er an. „Und wie ich das gerade überblicke, ist Jodie momentan die einzige Hauptverdächtige. Sie kniete wahrscheinlich mit der Waffe in der Hand neben der Blutlache. Durchsuchen Sie ihre Tasche. Sie werden kein Blut daran finden. So wie die Situation aussieht, fand ein Kampf statt. Jodies Haare sind allerdings nicht durcheinander.“ Shuichi kniete sich hin. „Das Blut hier unten hat einen hellen Rotstich. Es ist feucht glänzend und klebrig. Das Blut hier ist definitiv frisch. Nicht getrocknet und nicht dunkel.“ Akai sah sich um. „Sayaka Shibungi ist nicht mehr hier. Mit diesen Indizien kann es Jodie nicht gewesen sein. Sie ist weder von Blut besudelt, noch hätte sie die Möglichkeit die Frau rauszubringen und wieder hier her zu kommen. Nach der Menge zu urteilen, kann sich Sayaka nicht selber heraus geschleppt haben. Sie hätte dazu nicht die Kraft. Sie hätten zumindest mehrere Bluttropfen an Jodie finden müssen. Behandeln Sie das Blut also mit einer hohen Priorität. Da Jodie außerdem kurz vor Ihnen hier her kam, kann sie unmöglich Zeit gehabt haben um Beweise zu entsorgen.“

Takagi stand mit offenem Mund da. Er räusperte sich. „Dennoch müssen wir diesen Fall nach den Vorschriften verfolgen.“ Takagi holte sein Notizbuch heraus. „Ich brauche Ihren Namen und Ihre Adresse.“

„Shuichi Akai“, sprach er gelassen und gab ihm dann die Adresse. „Wenn Sie mich überprüfen lassen wollen, machen Sie das nur. Sie können aber auch mit meinem Boss sprechen: James Black.“

„James Black“, murmelte Takagi und sah ihn verdutzt an. „FBI?“

„Er ist mein Kollege.“ Jodie blickte zu Shu. „Ja, ich weiß, er sieht manchmal grimmig aus, ist aber hoch kompetent. Er hat eine hohe Aufklärungsrate.“

Akai zog Jodie zur Seite. „Du hast genug gesagt“, sprach er. „Wie es aussieht, bist du die einzige Verdächtige. Außer wir können noch anderen Besuch benennen, was meiner Meinung nach sehr schwer wird.“ Selbst wenn sie zugaben, dass das FBI das Haus beschattete, Besuch in den letzten Stunden gab es keinen. Zumindest keinen der registriert wurde.

Jodie nickte.

„Es gibt keine Leiche. Ein Vorteil für dich. Oder Nachteil, je nachdem wie man es dir auslegen möchte“, sagte er. „Wenn das Blut wirklich von Sayaka stammt, müssen wir hoffen, dass sie wieder auftaucht. Wer auch immer sie hat, wird sie möglicherweise nicht wieder gehen lassen. Und wenn du großes Pech hast, wird der Fall als Mord verhandelt.“

„Es sei denn wir finden Beweise die dagegen sprechen“, kam es dann von Takagi. Er sah zu Jodie. „Sie werden sicher verstehen, dass wir mit allen Beteiligten noch einmal sprechen müssen.“

„Natürlich.“

„Und in der Zwischenzeit werden wir Ihre Waffe, ihre Kleidung, die Handtasche und das Blut untersuchen.“

Jodie nickte.

Ein Polizist kam mit Wechselsachen herein. „Inspektor.“

Takagi nahm die Sachen entgegen und sah wieder zu Jodie. „Sie müssen diese hier anziehen und uns Ihre Sachen überlassen.“

„In Ordnung“, sagte Jodie. Sie ging in den Nebenraum und zog sich um. Da hatte sie sich ja was eingebrockt. Jodie sah an sich runter. Sie trug ein braunes Sweatshirt und die passende Sporthose dazu. Nicht gerade etwas in dem sie auch draußen herumlaufen wollte. Sie hatte aber keine andere Wahl und kam zu der Gruppe zurück. Ihre Sachen reichte sie an Takagi der sie sofort in eine Beweistüte steckte.

„Gibt es noch etwas, das Sie mir mitteilen müssen?“, wollte der Inspektor wissen.

„Außer das ich unschuldig bin?“

„Verstehe.“

„Sehen Sie einen Grund warum Jodie in Haft kommt?“, fragte Shuichi. „Ich würde es begrüßen Jodie nach Hause zu bringen.“

Takagi sah ihn nachdenklich an. „Heute zumindest nicht.“ Er wandte sich an Jodie. „Sobald Sie das Land verlassen, werden wir Sie in Gewahrsam nehmen, Miss Starling. Bleiben Sie für uns erreichbar, in Ordnung?“

„Ja, Sie können sich auf mich verlassen.“

„Komm.“ Shu nahm ihr Handgelenk und zog sie nach draußen. Er schwieg.

Jodie seufzte. „Kommt jetzt die Predigt?“

„Du weißt selbst wie unverantwortlich es von dir gewesen ist einfach in das Haus zu gehen. Die Organisation hätte auf dich warten können. Und was dann? Du wärst ihnen direkt in die Falle gelaufen.“

„Mir ist aber nichts passiert“, warf sie ein.“ Und die Agenten die das Haus bewachen und abhören, wären mir schon zur Hilfe gekommen.“

„Meinst du?“ Shuichi ging zu dem Zivilfahrzeug. Er klopfte an die Scheibe aber nichts passierte. Dann öffnete er die Tür. Die Agenten saßen mit geschlossenem Auge da. „Sie schlafen. Ich habe James bereits verständigt. Wie es aussieht, wurde ihnen ein Schlafmittel verabreicht.“ Akai sah in den Wagen. „Sie holten sich vorhin den Kaffee aus dem Backshop. Wenn dort das Schlafmittel war, dann gute Nacht…“ Shuichi sah sie mahnend an. „Du hättest die Beiden überprüfen sollen, ehe du ins Haus bist.“

„Ich hab den Wagen gesehen, okay? Ich nickte ihnen zu, aber ich dachte, wenn ich nun zu ihnen gehe, wäre es viel zu auffällig“, warf Jodie ein. „Wenn die Organisation hier war, hätten sie möglicherweise gleich zugeschlagen. Dann hätte ich die beiden Agenten auch in Gefahr gebracht.“

„Und es ist besser wenn du dich dafür in Gefahr bringst?“

„Shu…“, murmelte sie.

„Fahr nach Hause, Jodie. Du musst dich ausruhen und wir sehen morgen weiter. Geh normal zur Arbeit. Du bist unschuldig. Zeig ihnen nicht, dass dir die Verdächtigungen etwas aus machen.“
 

***
 

Takagi sah Sota Shibungi an. Der Geschäftsmann kam spät nach Hause. Er wusste nicht was vor sich ging und war überrascht gewesen die Spurensicherung und die Polizei in seinem Haus vorzufinden. Sofort wurde er von der Sorge um Sayaka überschüttet.

„Herr Shibungi?“ Takagi ging zu ihm.

Der Angesprochene nickte. „Wo ist Sayaka?“

„Wir haben Ihre Frau noch nicht finden können“, antwortete der Inspektor. „Können Sie mir sagen welche Termine Ihre Frau heute hatte?“

„Heute?“ Er schluckte. „Keine. Sie sollte eigentlich in der Firma sein. Was ist passiert? Wo ist sie?“

„Scheinbar hat es sich Ihre Frau heute morgen anders überlegt und blieb zu Hause. Wir haben noch keine Spur von ihr. Hatte sie Feinde?“

„Nein. Sie wurde von jedem gemocht.“

„Welche Blutgruppe hat Ihre Frau?“

Sota schluckte. „B negativ.“ Er schluckte. „Oh Gott…Sie haben ihr Blut gefunden. Ist sie…ist sie…“

„Das wissen wir noch nicht“, kam es von Takagi. „Wir lassen das Blut im Labor untersuchen. Wenn wir mehr wissen, werden wir Ihnen Bescheid geben.“

Sota nickte. „Wie konnte das passieren?“, wollte er wissen. „Wieso waren Sie nicht früher hier?“

„Wir erhielten einen Notruf. Wir konnten den Anrufer noch nicht identifizieren. Er sagte, er hätte eine fremde Person in ihrem Haus gesehen und einen Schrei gehört. Er sprach vom Mord. Deswegen bin ich mit meinen Leuten hier.“

„Warum hat der Anrufer meiner Frau nicht geholfen?“

„Angst. Oder er wusste nicht, was er tun sollte. Menschen handeln in Gefahrensituationen nicht immer mit klarem Kopf.“

„Was…was geschieht jetzt?“

„Sie müssen erst einmal ins Hotel. Wir können den Tatort frühestens morgen freigeben. Halten Sie sich bitte für weitere Befragungen bereit.“

„Aber natürlich.“

„Herr Shibungi. Noch eine Frage. Sie sagten, Ihre Frau hatte heute keine Termine. Wissen Sie ob sie sich heute mit Frau Jodie Starling treffen wollte?“

„Frau Starling?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein…sie arbeitet bei uns. Das war es aber auch schon. Meine Frau kennt sie nicht. Frau Starling ist erst seit einigen Tagen bei uns. In der Zeit hatte Sayaka Urlaub. Sie wären sich erst heute begegnet.“

„Ich verstehe. Sie haben sie vor kurzem eingestellt. Wie hat Ihre Frau darauf reagiert?“

„Eigentlich ganz gut. Ich zeigte ihr die Bewerbung und da wir dringend jemanden brauchten, stimmte Sayaka zu. Aber ich glaube sie war ein wenig eifersüchtig. Sie müssen wissen, Frau Starling ist eine große blonde Frau. Sie entspricht nicht dem üblichen Bild eines Japaners. Denken Sie, dass Frau Starling etwas damit zu tun hat?“

„Wir müssen in alle Richtungen ermitteln“, meinte Takagi.

„Aber warum ausgerechnet meine neuste Mitarbeiterin? Ich versteh nicht…Inspektor, was wird hier gespielt?“

„Als wir hier ankamen, haben wir Frau Starling vor der Blutlache vorgefunden.“

13.12.

Jodie hatte am Abend nur kurz mit James gesprochen. Er versicherte ihr die Sache zu regeln. Wie das aussah, wusste sie noch nicht. Jodie musste einen kühlen Kopf bewahren. Sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Sie ärgerte sich. Sie war in die Falle der Organisation getappt. Sie war dumm. Eine Anfängerin. Ihr Adrenalin schoss in die Höhe. Nur deswegen war sie reingegangen. Warum konnte sie nicht auf Shu warten?

Ob Shu nun böse auf sie war? Nie wäre er einfach so in das Haus gegangen. Er hätte sich abgesichert. Er hätte nachgedacht. Jodie seufzte während sie sich anzog und sich im Spiegel betrachtete. Wie sollte sie den Tag zu Ende bringen? Und was war mit Sayaka?

Die Agenten des Vortages wurden zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Ihnen ging es gut. Natürlich ärgerten sie sich, weil sie durch das Schlafmittel betäubt waren und nichts mitbekamen. Jodie hätte genauso reagiert. Aber in Wahrheit machte sie es nur Schlimmer. Sie seufzte. Jodie wollte nicht in die Firma fahren, so tun als wäre alles in Ordnung und arbeiten. Jodie wollte…sie wusste selber nicht was sie wollte. In ihrem Kopf herrschte absolute Leere.

Jodie zog ihre Jacke an und nahm die Handtasche. Langsam ging sie die Treppen nach unten. Sie ging zu ihrem Wagen und legte die Hand an die Scheibe. Sie seufzte erneut. Eigentlich hätte sie nun in das Büro des FBIs fahren und dort recherchieren sollen. Jodie öffnete die Fahrertür und stieg ein. Sie steckte ihr Handy in die Freisprechanlage und war irritiert über das Klingeln. Jodie nahm den Anruf entgegen und startete den Motor.

„Shu“, sprach sie ruhig. „Gibt es irgendwas Neues?“, wollte sie wissen.

„Du solltest dich jetzt auf den Weg in die Firma machen.“

Jodie sah nach draußen. War er dort? Beobachtete er sie? „Wo bist du?“, fragte sie.

„In der Nähe“, antwortete er. „Mach dir darüber keine Gedanken. Fahr zur Firma und arbeite.“

Jodie seufzte und fuhr los. „Das hatte ich vor.“

„Gut. Wenn du jetzt fernbleiben würdest und die Mitarbeiter über das Verschwinden von Sayaka Shibungi aufgeklärt werden, rückst du nur noch mehr in den Fokus. Sie würden dich sofort als Schuldige abstempeln.“

„Und wenn ich im Büro sitze und sie es dann erfahren, werde ich das nicht sein?“

„Auch dann bist du es“, sprach Shuichi. „Aber du zeigst ihnen, dass du keine Angst hast nur weil du verdächtigt wirst. Sie werden erkennen, dass du für dein Recht kämpfst und nicht einfach den Schwanz einziehst.“

Jodie musste lachen. „Stimmt…was kann mir schon passieren? Sie können mich höchstens schneiden und ignorieren.“

„Das überlebst du schon“, warf der Agent ein. „Ich vermute eh, dass du heute deinen letzten Tag haben wirst. Wenn ich Sota Shibungi wäre, würde ich dich nicht länger in meiner Firma beschäftigen.“

„Von mir aus. Ich werde der Stelle nicht nachweinen“, sprach Jodie leise.

„Mach dir um deine Sicherheit keine Sorgen. Ich pass auf dich auf.“

Jodie lächelte. Es tat gut das zu hören. Und schon sorgte er dafür, dass es ihr besser ging. Shu wusste genau welche Knöpfe er bei ihr drücken musste. „Gut, dann hören wir uns später. Ich bin gleich da und geh direkt rein. Bis dann.“ Sie legte auf und parkte ihren Wagen. Das Handy steckte sie in die Handtasche und ging auf die Firma zu.

Einen Moment blieb sie draußen stehen. Sie sah sich um, blickte dann aber wieder zur Eingangstür.

Geh jetzt rein, befahl sie sich und setzte sich in Bewegung.

„Guten Morgen“, grüßte sie die Empfangsdame. Diese erwiderte ihren Gruß, sodass Jodie gleich in ihr Büro ging und sich setzte. Die anderen Kollegen waren noch nicht da. Aber sie wusste, dass es mächtig Ärger gab. Am Vortag kam sie nach dem Mittagessen nicht wieder. Und die Arbeit blieb liegen…wahrscheinlich musste Kasumi alles erledigen. Jodie fühlte sich schlecht, aber sie konnte es nicht mehr ändern. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch vergessen, dass sie im Büro gebraucht wurde.

Kasumi kam einige Minuten nach Jodie in das Büro. „Morgen.“ Sie hörte sich schlecht gelaunt an.

„Guten Morgen. Kasumi, hören Sie, es tut mir wirklich leid, dass ich gestern nicht mehr zurück kam. Irgendwie haben sich die Ereignisse überschlagen und ich konnte mich nicht mehr melden.“

„Besprechen Sie das mit dem Chef.“

Jodie seufzte. „Ich weiß, dass Sie wütend auf mich sind…“

„Oh ja, das bin ich. Ich musste Ihre Arbeit machen. Denken Sie, ich habe nichts zu tun?“

„Nein…ich…“

Die Bürotür ging auf. Aiko Kawasaki kam herein. „Frau Starling? Kommen Sie bitte mit, Herr Shibungi möchte Sie sprechen.“

Jodie nickte. „Hat er gesagt worum es geht?“

Aiko schüttelte den Kopf. „Ich weiß von nichts.“ Sie ging nach draußen, die Treppe hoch und brachte Jodie zum Büro. Aiko klopfte an und betrat den Raum. Sie sah zu Jodie. „Bitte, setzen Sie sich.“

Jodie sah zum Geschäftsführer. „Sie wollten mich sprechen?“ Sie ging zum Platz vor seinem Tisch und setzte sich. „Sind Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden?“

Sie beäugte sie misstrauisch. „Sagen Sie, Frau Starling, warum wollten Sie unbedingt in meiner Firma anfangen?“

„Das hatte ich doch im Vorstellungsgespräch gesagt“, fing sie an. „Ich möchte mich neuen Herausforderungen widmen.“

„Mhmm…“

„Herr Shibungi? Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Die Polizei war gestern in meinem Haus. Aber das wissen Sie ja schon, immerhin waren Sie auch dort, nicht wahr? Und deswegen frage ich Sie erneut: Warum wollten Sie in meiner Firma anfangen? Ging es von Anfang an um meine Frau? Wollten Sie ihr was antun?“

„Ich wollte mit Ihrer Frau reden“, antwortete Jodie.

„Worüber?“ Er verengte die Augen.

„Ich sah sie am Sonntag ziemlich aufgelöst in der Stadt. Ich erkundigte mich nach ihrem Befinden aber sie wiegelte ab. Und da Ihre Frau gestern nicht zur Arbeit erschien, wollte ich mich noch einmal nach ihr erkundigen.“

Sayaka war gestern wirklich nervös.

Shibungi schien nicht überzeugt. „Wissen Sie, was merkwürdig ist?“

Jodie schüttelte den Kopf. „Das werden Sie mir bestimmt gleich sagen.“

„Seit Sie hier sind – gut so viele Tage sind es nicht – hatten Sie gar keinen Kontakt mit meiner Frau. Sie hatte Urlaub. Sie konnten sie nicht kennen lernen. Und dann sehen Sie sie in der Stadt und wissen wer Sie ist? Und dann suchen Sie sie noch am nächsten Tag auf?“

„Ich hab Ihre Frau in Ihrem Büro auf den Bildern gesehen. Ich bin jemand, der sich Gedanken über seine Mitmenschen macht. Wie gesagt, ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist.“

„Sagen Sie mir die Wahrheit. Warum wollten Sie die Stelle wirklich haben?“

„Bitte?“ Jodie seufzte. Sie drehten sich im Kreis.

„Nun wo ich Zeit zum nachdenken hatte, fiel mir einiges auf. Sie bewarben sich bei uns zu einem sehr guten Zeitpunkt. Wir suchten wirklich einen Mitarbeiter, wollten die Stelle aber erst für den Januar ausschreiben und sie zwischenzeitlich mit einem bereits gefeuerten Kollegen besetzen. Und dann tauchen Sie hier auf. Zufällig direkt am nächsten Tag und bewerben sich.“

Jodie zuckte mit den Schultern. „Ich finde es nicht verwerflich, dass ich mich beworben habe. Von der freien Stelle habe ich erst im Gespräch erfahren. Und bei einer anderen Firma wäre ich ebenso beharrlich gewesen“, sprach sie.

„Woher hatten Sie unsere Adresse? Ich weiß, dass Aiko diese nicht heraus gibt.“

Jodie sah ihn an. „Als ich an meinem ersten Tag noch Zeit übrig hatte, habe ich im Computer auf das interne Netz zugegriffen und mir einige Sachen durchgelesen. Unter anderem alte Präsentationen. Dabei kam ich auf den Antrag für die Herstellungserlaubnis. Für diese mussten Sie Ihre private Adresse angeben. Sie war einprägend.“

Sota sah sie an. Er schwieg.

„Ich weiß, dass Sie einiges zu verarbeiten haben. Sie fanden die Polizei gestern in Ihrem Haus und Ihre Frau ist verschwunden. Das viele Blut spricht für einen Kampf. Und weil man Ihnen berichtete, dass ich ebenfalls vor Ort war, halten Sie mich für den Täter. Aber Sie müssen mir glauben, ich habe mit der Sache nichts zu tun.“

„Wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie Ihnen glauben?“

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete Jodie ehrlich.

„Die Polizei hat noch keine Beweise die gegen Sie sprechen. Ich habe gestern mit Ihnen gesprochen und von Ihrem Arbeitsverhältnis bei mir erzählt. Sie wollen jeder Spur nachgehen, werden aber erst richtig tätig, wenn Sie die Leiche meiner Frau gefunden haben.“

Jodie schwieg.

„Wenn es sich um das Blut meiner Frau handelt, wurde Sie schwer verletzt. Ich habe gestern mit der Spurensicherung gesprochen. Bei der Menge von Blut, ist Sayaka heute tot, außer sie wird rechtzeitig behandelt.

„Herr Shibungi…“, fing Jodie an. „…ich weiß, dass Sie Ihre Frau dringend finden wollen und aus dem Grund versuchen mir ein schlechtes Gewissen zu machen, damit ich Ihnen den Aufenthaltsort nenne. Aber ich kann nur noch einmal sagen, dass ich mit dem Verschwinden Ihrer Frau und dem Angriff nichts zu tun habe. Ich bin unschuldig.“

„Können Sie das beweisen?“

Ja, wollte Jodie heraus schreien.

„Nein.“

„Gut. Bis die Sache geklärt ist, werden Sie hier nicht mehr arbeiten“, sprach er. „Mir sind die Hände gebunden, da das Ermittlungsverfahren noch läuft und weder Ihre Schuld noch Unschuld bewiesen sind. Ich kann Sie zwar nicht feuern, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es um meine Frau geht, kann ich Sie beurlauben. Nehmen Sie Ihre Sachen und geben Sie den Schlüssel Frau Kawasaki zurück.“

Jodie stand auf. „Ich kann nur einmal betonen, dass ich es nicht war. Ich hoffe wirklich, dass der wahre Täter gefunden wird und dass es Ihrer Frau gut geht.“ Jodie ging nach draußen. Sie folgte der Treppe in das Erdgeschoss und seufzte. Am Empfang blieb sie stehen und sah überrascht zu Takagi. „Inspektor“, murmelte Jodie.

Takagi wandte sich um. Er nickte ihr zu. „Wir befragen nun alle Angestellten.“

„Sie haben sie also gestern nicht mehr gefunden?“

„Leider nicht“, sprach er leise.

„Wenn Sie meine Hilfe brauchen, bin ich telefonisch für Sie erreichbar.“ Jodie ging an ihm vorbei und öffnete die Tür zu ihrem Büro. Bald würde es die ganze Firma erfahren. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis sie für alle der Sündenbock war. Jodie setzte sich an den Computer. Sie schloss alle Anwendungen, fuhr den Computer runter und packte ihre Handtasche. Aus dem Augenwinkel sah sie zu Kasumi. „Es tut mir wirklich leid. Ich wurde fürs erste freigestellt“, sprach sie. „Es ist nicht, weil Sie mit dem Boss über mich gesprochen haben. Den Grund werden Sie nachher von Herrn Shibungi erfahren. Aber ich möchte, dass Sie wissen, dass mir die kurze Zusammenarbeit mit Ihnen wirklich sehr gefallen hat.“

Kasumi sah sie perplex an. „Eh…ja…gleichfalls…“, murmelte sie. „Ist die Polizei deswegen hier?“

Jodie schüttelte den Kopf. „Frau Shibungi ist verschwunden. Man hat in ihrer Küche enorm viel Blut gefunden.“

„Oh Gott…Arme Frau Shibungi. Hat man schon eine Spur?“

„Momentan nicht. Sie verdächtigen mich, weil man mich gestern im Haus der Shibungis vorfand.“

„Aber Sie waren es doch nicht?“ Man hörte die Skepsis heraus.

„Ich war es nicht. Das Blut war frisch und ich war den ganzen Vormittag über hier. Das ist alles ein großes Missverständnis…“ Jodie stoppte. Sie vernahm den Blick der Kollegin. Sie glaubte ihr nicht.

Super gemacht, Jodie. Toll.

„Naja…wie gesagt. Deswegen bin ich nun freigestellt und muss Sie mit der Arbeit allein lassen. Tut mir wirklich leid.“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.“

Jodie nickte. „Die Polizei ist nun hier und wir Sie alle wahrscheinlich befragen. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber bitte sagen Sie die Wahrheit und bitte stellen Sie keine Mutmaßung an, die sich nachher als falsch erweisen könnten.“

Kasumi sah sie an. „Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Sie jetzt nach Hause gehen.“

„Natürlich…“ Sie wusste, dass sie nun den Stempel Schuldig auf der Stirn trug. Hätte sie doch bloß nichts gesagt. Jodie ging nach draußen. Sie begegnete dem Blick des Polizisten und seufzte leise.

Sie ging nach draußen. Konnte der Tag eigentlich noch schlimmer werden? War das möglich? Jodie zog ihr Handy aus der Hosentasche heraus und wählte Shus Nummer. Obwohl sie nichts getan hatte, fühlte sie sich schuldig. Unendlich schuldig. Der Auftrag war vorbei und sie stand im Fokus der Ermittlungen.

„Feierabend oder gefeuert?“, fragte der Agent.

Jodie seufzte. „Sowohl als auch“, meinte sie. „Er hat mich suspendiert.“ Jodie blieb vor ihrem Wagen stehen und schloss die Augen. „Sie halten mich für schuldig.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Shibungi wirkte am Morgen sehr aufgebracht“, entgegnete Akai.

„Ihm kann ich es nicht einmal verdenken“, murmelte Jodie. „Aber die Kollegen…sie sehen mich an und ich sehe in ihren Augen, dass sie mir nicht glauben. Das fühlt sich so…unwirklich an.“

„Du warst bisher auch noch nie eine Verdächtige. Lass dich davon nicht unterkriegen. Es ist egal was andere von dir denken. Du weißt, dass du nichts getan hast. Und wir wissen das auch. Es ist nur eine Frage der Zeit bis es auch der Rest in der Firma weiß.“

„Du hast ja recht…“, sagte sie leise. „Habt ihr schon neue Erkenntnisse bei der Suche nach Sayaka Shibungi gesammelt?“

„Nein. Keine Spuren. Aber auch keine Leiche.“

„Glaubst du, sie lebt noch?“, wollte Jodie wissen.

„Irgendwo muss sie ja sein. Gestern Nachmittag sah das Haus nach einem halben Schlachtfeld aus“, antwortete er. „Sie kann nicht einfach so verschwunden sein. Interessanterweise hörte die Blutspur am Fenster auf. Normalerweise wäre das das Indiz dafür, dass die Leiche nicht bewegt wurde. Aber ohne Leiche ist diese Argumentation nicht stützbar. Die Frage ist natürlich, wenn sie weggeschliffen wurde, was ist passiert? Wo ist das Blut, das geflossen wäre? Würde es vom Täter entfernt? Wenn ja, warum dann auch nicht das restliche Blut? Dazu ist es merkwürdig, dass die Spurensicherung nach Verwendung von Luminol keine weiteren Blutflecke fand – zumindest keine frischeren.“

„Kann es daran liegen, dass ich in dem Moment rein kam und der Täter dann abgetaucht ist?“

„Möglich. Aber wenn dem so wäre, wärst du ein noch viel besseres Bauernopfer. Er hätte die Leiche oder den Körper nicht bewegen müssen. Du hättest dich über sie gebeugt, sie berührt und schon wären deine Fingerabdrücke auf ihrer Kleidung und das Blut an deinem Körper. Ob du wirklich bei irgendwas gestört hast, können wir erst sagen, wenn wir wissen, was wirklich vorging.“

„Und mit mehr, meinst du…?“

„Ich werde mich nachher im Haus ein wenig umsehen. Die Polizei hat es als Tatort gesperrt. Sota kann frühestens morgen zurück nach Hause. In der Zwischenzeit werde ich gucken, was ich machen kann.“

„Was ist, wenn dich jemand sieht? Die Polizei beobachtet das Haus doch bestimmt auch“, warf Jodie ein.

„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich weiß, was ich tu.“

„Shu…“, murmelte sie leise.

„Mir passiert nichts, Jodie“, entgegnete er. „Fahr nach Hause und ruh dich dort aus. Wenn ich Neuigkeiten habe, melde ich mich schon.“ Dann legte er auf.
 

***
 

Inspektor Takagi sah Aiko Kawasaki eindringlich an. „In welchem Verhältnis standen Sie zu Sayaka Shibungi?“, wollte er wissen.

„Sie war die Frau von meinem Chef“, antwortete Aiko. „Sie hat vor knapp zwei Jahren in der Firma als Assistentin des Geschäftsführers angefangen. Nach einem Jahr verlobte sie sich mit ihm und vor einem guten halben Jahr haben beide geheiratet. Frau Shibungi kümmert sich hier um alles, was an Aufgaben noch so anfällt, wenn sie unser Chef nicht machen konnte. Ansonsten assistiert sie ihm.“

„Sie war also so eine Art zweite Geschäftsführerin?“

„Was? Nein. Das wollte ich nicht damit sagen. Das wollten die beiden aber auch gar nicht. Frau Shibungi nahm einfach nur Termine entgegen, die ihr Mann nicht wahrnehmen konnte. Sie hörte sich dann an, was besprochen wurde und gab ein paar Einzelheiten selbst wieder. Das war aber alles mit ihrem Mann abgesprochen. Entscheidungen durfte sie keine treffen. Soweit ich weiß, wollten die beiden auch gar nicht, dass Frau Shibungi eine leitende Position einnimmt.“

Takagi sah sie nachdenklich an. „Wissen Sie, ob Frau Shibungi irgendwelche Feinde hatte?“

„Feinde?“ Aiko überlegte. „Nein, da fällt mir keiner ein.“

„Gab es Mitarbeiter die sauer auf sie waren?“

„Nein.“

„Sie kam vor zwei Jahren in das Unternehmen und heiratete den Chef. Wäre es möglich, dass sich der ein oder andere ein wenig – sagen wir – ausgeschlossen oder nicht gewürdigt fühlte?“

„Wie bitte?“

„Gibt es Mitarbeiter die gern selber auf dem Posten von Ihrem Chef gewesen wären und als mögliche Nachfolger in Betracht kamen, aber nun durch seine Frau nicht mehr in den Genuss kommen werden diese Stelle zu bekleiden?“

Aiko sah ihn skeptisch an. „Ich weiß es nicht. Im Laufe der Zeit haben uns natürlich viele Mitarbeiter verlassen. Ich kann Ihnen gerne eine Liste zusammen stellen. Aber mir fällt keiner ein, der ein persönliches Interesse an der Geschäftsführer-Position hatte.“

„Verstehe. Und wie kamen die Mitarbeiter damit klar, dass Herr Shibungi heiratete?“

„Jeder hat sich für ihn gefreut.“ Sie räusperte sie. „Der Chef ist niemand der Frauen magnetisch anzieht. Und wenn es um Frauen geht die er mag, ist er eher der zurück haltende Typ.“

„Mhmm… Ist Ihnen sonst noch etwas Besonderes aufgefallen?“

Sie überlegte. „Naja…gestern hat sich Frau Starling, unsere neue Mitarbeiterin, nach Frau Shibungi erkundigt. Sie wollte sie wohl sprechen. Nachdem ich ihr sagte, dass diese nicht hier ist und Herr Shibungi Termine außerhalb hat, bekam ich mit, wie sie weg fuhr. Jetzt wo ich darüber nachdenke, ist das doch etwas merkwürdig.“

„In wie fern merkwürdig?“, fragte Takagi.

„Frau Starling arbeitet erst seit einigen Tagen bei uns“, erzählte die Empfangsdame. „Sie hatte bisher auch gar keinen Kontakt mit Frau Shibungi. Aber ausgerechnet gestern wollte sie unbedingt mit dieser sprechen. Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich sehr dringend gewesen ist.“

„Und deswegen ist sie dann zu dem Haus gefahren?“

„Sie ist…woher hatte sie seine Adresse?“

„Hat sie diese nicht von Ihnen?“

Aiko schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Ich gebe keine privaten Daten nach außen. Nicht einmal von Mitarbeiter zu Mitarbeiter“, antwortete Aiko. „Oh mein Gott, hat sie etwa…?“

„Das ist noch nicht bewiesen, Frau Kawasaki. Und solange wir nicht wissen, was vorgefallen ist, möchte ich auch keine Vermutungen anstellen“, erwiderte Takagi. „Wie kam Frau Starling an die Stelle hier?“

„Hat Ihnen das Herr Shibungi nicht gesagt?“, stellte Aiko eine Gegenfrage. „Frau Starling war Anfang der letzten Woche hier. Sie stand mit einer Bewerbung vor meinem Tisch und wollte unbedingt ein Vorstellungsgespräch mit dem Chef. Ich ließ sie eine Weile warten, scannte die Unterlagen und schickte sie per E-Mail raus. Der Chef bat mich später, Frau Starling zu ihm zu bringen. Nach dem Gespräch teilte er mir, dass er die Sache noch mit seiner Frau besprechen würde. Und am nächsten Morgen sah die Welt schon ganz anders aus. Frau Starling sollte bis zum Ende des Jahres bei uns zur Probe arbeiten und dann ab Januar fest angestellt werden.“ Aiko dachte nach. „Aber jetzt wo ich darüber nachdenke…wir hatten eigentlich gar keine Stelle ausgeschrieben.“

„Nicht?“

„Nein. Das läuft bei uns etwas anders ab. Natürlich hatten wir eine freie Stelle, weil eine Kollegin das Unternehmen verlässt. Aber normalerweise werden zuerst die Mitarbeiter gefragt ob sie alte Kollegen oder Studienfreunde haben, die vom Profil her passen könnten. Danach werden gefeuerte Mitarbeiter gefragt und wenn das auch nichts gebracht hat, wird die Stelle im Internet ausgeschrieben. Ich habe gesehen, dass wir die Stelle erst in ein paar Wochen ausschreiben wollten. Wie gesagt, Frau Starling stand dann einfach hier. Damals dachte ich nur noch: Wow, das ist ja wirklich gutes Timing. Und wie sie aussieht, möchte sie die Stelle unbedingt haben.“ Aiko sah Takagi an. „Denken Sie, dass es von Anfang an geplant war?“ Sie schluckte. „Oh Gott…die arme Frau Shibungi.“ Ihr rannen die Tränen über die Wange. „Sie müssen…sie finden…und Frau Starling überführen…bitte…“

14.12.

Shu saß im Büro von James. Er sah seinen Vorgesetzten schlecht gelaunt an. „Haben Sie etwas über Sayaka Shibungi raus gefunden?“

„Nein“, antwortete James ruhig. „Ich habe Männer auf die Bahnhöfe und Flughäfen angesetzt. Wenn Sayaka selbst versucht das Land oder die Stadt zu verlassen, bekommen wir es mit. Wenn sie hingegen entführt worden ist, sieht die Sache ein wenig schwerer aus. Ich gehe davon aus, dass ein Entführer nicht an belebte Orte mit ihr geht.“

„Eher unwahrscheinlich“, nickte Akai. „Falls wirklich ein Gewaltverbrechen vorliegt.“

„Sie glauben also nicht daran?“

„Nicht wirklich. Die Menge an Blut die gefunden wurde weist auf eine sehr schwere Verletzung hin. Wenn alles Sayaka Shibungi zugeordnen wird, kann man davon ausgehen, dass die Menge zum Tode führt. Es sei denn sie ist entkommen und konnte rechtzeitig Hilfe kriegen. Aber dann wäre sie bereits im Krankenhaus und die Polizei hätte sie gefunden“, antwortete Shuichi. „Es ist natürlich auch möglich, dass das Blut nicht zu Sayaka gehört sondern zu ihrem Angreifer. Dann können wir aber davon ausgehen, dass sie früher oder später versuchen wird mit ihrem Mann Kontakt aufzunehmen. Ich habe sicherheitshalber die Observation heute Nacht aufrecht erhalten. Es kam zu keiner Kontaktaufnahme. Das ist in Anbetracht der Lage nicht verwunderlich. Wenn ich eine verängstigte Frau bin, die für die Organisation arbeitet und die versucht mich umzubringen, würde ich erst ein paar Tage warten, ehe ich mich bei irgendwem melde. Unschön für Jodie, aber so ist es leider. Außerdem war ich vorher noch einmal im Haus und hab mir den Tatort angesehen.“ Akai räusperte sich. „Wir befürchten ja bereits länger, dass die Polizei von der Organisation infiltriert wurde. Der Tatort war unverändert. Mir sind auch keine neuen Spuren aufgefallen.“

„Dann haben wir momentan nichts, was Jodies Unschuld beweist“, murmelte James. „Allein wegen der Unschuldsvermutung wird sie nicht bestraft werden können. Aber wenn die Presse erst einmal Wind davon bekommt und es auch noch in die Staaten weiter getragen wird, kann es ihre Karriere verbauen“, sprach er.
 

***
 

Inspektor Takagi sah seinen Vorgesetzten – Inspektor Megure – an. Er stand in dessen Büro und wartete. „Inspektor?“, fragte er nach einer Weile.

Megure seufzte. Er schlug die Akte des Falles zu und blickte Takagi an. „Gut gemacht, Takagi.“

„Danke, Inspektor. Aber…“ Takagi zögerte.

„Was aber?“

„Ich bin nicht froh über das, was ich heraus gefunden habe“, antwortete dieser. „Bei der Befragung der Mitarbeiter von Medipharm kam eindeutig heraus, dass die Shibungis sehr beliebt und von allen gemocht werden. Sie haben auch gesagt, dass Jodie Starling erst seit wenigen Tagen im Unternehmen ist und noch keiner weiß, wie sie einzuschätzen ist. Es gibt aber zwei Sachen die alle ausgesagt haben: Frau Starling hatte bisher noch gar keinen Kontakt zu Sayaka Shibungi und jeder würde Frau Starling zutrauen im Affekt jemanden zu verletzten. Letztes ist meiner Meinung nach dadurch entstanden, weil sie Ausländerin und neu ist.“

Megure hatte stillschweigend zugehört. „Die Meinungen der Kollegen sind nicht ausschlaggebend um Frau Starling zu verhaften und in Untersuchungshaft zu bringen.“

„Zum Glück“, murmelte Takagi leise.

Megure räusperte sich. „Wir dürfen aber auch nicht aufgrund von Emotionen und der Tatsache, dass wir sie kennen, ein Auge zu drücken. Wir müssen wie Polizisten denken und den Fall genau so behandeln, wie wenn Frau Starling eine fremde Person wäre.“

Takagi nickte. „Aber Sie wissen genau so gut wie ich, dass sie es nicht gewesen ist.“

„Was ich weiß und was ich nicht weiß, spielt keine Rolle.“

Der Inspektor seufzte. „Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass die Beweise manipuliert sind?“ Er stockte. „Nein, nicht manipuliert. Ich meine, sie sehen nicht zufällig aus. So als würde jemand wollen, dass wir Frau Starling ins Visier nehmen.“

„Deswegen müssen Sie die Wahrheit heraus finden“, antwortet Megure. „Aber Sie dürfen unsere Arbeit dabei nicht behindern. Und bitte keine Extrabehandlungen. Behandeln Sie sie wie jede andere Person auch.“ Megure sah ihn an. „Was wissen wir über den anderen FBI Agent?“

„Nicht wirklich viel, Inspektor“, sprach Takagi. „Er ist bisher einmal in Erscheinung getreten. Das war allerdings als Zeuge bei einer Busentführung. Die Entführer wollten das er und Dr. Araide mit ihnen die Kleider wechseln. Am Ende ist alles zum Glück gut ausgegangen. Frau Starling war ebenfalls in dem Bus. Ansonsten haben wir keine Informationen zu ihm. Ich hab versucht mehr über ihn heraus zu finden, aber das FBI hat alle Akten unter Verschluss.“

„Ich verstehe“, entgegnete Megure.

„Deswegen möchte ich jetzt zu Frau Starling fahren. Ich hoffe, dass Herr Akai ebenfalls dort ist. Dann kann ich beide befragen. Und ich muss sie wegen dem Video befragen.“

„Machen Sie das. Und Takagi?“

„Ja?“

„Ich bin froh, dass Sie vorher zu mir gekommen sind und über Ihren Standpunkt sprachen.“

Takagi lächelte leicht und ging nach draußen. Er wusste, dass Jodie keine Täterin war. Nicht nur, weil er sie kannte und mit ihr zusammen arbeitete, es war ihre Art und sein Gefühl. In Megures Augen sah er den gleichen Zweifel den er selber auch hatte. Aber mit Zweifel alleine konnte man keine Anklage abwenden.

Takagi war sich sicher, dass irgendjemand Jodie als Sündenbock hinstellen wollte. Die Frage war nur wer es auf sie absah.
 

***
 

Takagi klingelte an der Haustür. Er wartete. Als die Tür aufging, war er für einen Moment überrascht. „Guten Tag. Ich wollte zu Frau Starling.“

James trat zur Seite. „Kommen Sie rein“, sprach er und führte den Inspektor in das Wohnzimmer.

Jodie saß auf dem Sofa. Sie sah müde aus. Sie hatte in der Nacht kein Auge zu gemacht, was nicht unwahrscheinlich war in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich für die Entführung verantworten sollte. Wäre Takagi an ihrer Stelle gewesen, hätte er auch kein Auge zu gemacht.

„Inspektor Takagi.“ Jodie stand auf und reichte ihm die Hand. „Setzen Sie sich doch.“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich muss Sie bitten, mich auf das Revier zu begleiten.“

Jodie schluckte. „Haben Sie Frau Shibungi gefunden?“

„Ich würde das gern im Revier mit Ihnen besprechen. Es tut mir leid, aber um nachher auf der sicheren Seite zu sein, müssen wir nun nach Vorschrift handeln.“

James tätschelte Jodies Arm. „Schon gut. Fahr ruhig mit dem Inspektor. Ich komm nach.“

„Okay…“, murmelte Jodie. Sie ging in den Flur und zog sich die Jacke sowie ihre Schuhe an.

„Braucht Sie einen Anwalt?“, wollte James wissen.

„Sagen wir es mal so: Es kann nichts schaden.“

James nickte. „Warten Sie mit dem Verhör bis ich da bin.“

„Natürlich“, kam es von Takagi.
 

***
 

Takagi führte Jodie direkt in das Verhörzimmer. Während der Fahrt und auch auf dem Gang schwieg er. Nur die wichtigsten Worte hatte er mit ihr gewechselt. Wäre es anders gewesen und er hätte Jodie irgendwie gewarnt, wäre ihm der Fall um die Ohren geflogen. Vielleicht hätte er ihn sogar verloren oder man hätte später die Glaubhaftigkeit in Zweifel gezogen. Takagi blieb vor dem Zimmer stehen. Er öffnete die Tür und sah zu Jodie. „Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte er und wies auf die Stühle. „Setzen Sie sich.“

Jodie sah sich um. Der Raum war recht spartanisch eingerichtet. In der Mitte stand ein Tisch in weiß. An beiden Seiten standen jeweils zwei Stühle. An einer Wand hing ein Spiegel. Die Räumlichkeiten ähnelten denen vom FBI. Jodie wusste genau was es hieß. Zwei Ermittler konnten Fragen stellen, sogar mehr wenn sie standen. Die verdächtige Person oder der Zeuge nahm auf der anderen Seite platz. Daneben saß der Verteidiger. Auf der anderen Seite des Raumes – hinter dem Spiegel – standen meistens andere wichtige Personen: Polizisten, Staatsanwälte, Zeugen. Sie konnten das Gespräch beobachten und wenn man mit ihnen verkabelt war, das Verhör in eine bestimmte Richtung lenken.

Jodie setzte sich und sah den Inspektor an. „Dann fangen wir an“, sagte sie.

„Noch nicht. Ihr Boss möchte auch dabei sein. Wir werden noch etwas warten.“

„Verstehe“, murmelte sie leise. Jodie tippte ungeduldig auf dem Tisch herum. Als wenige Minuten später die Tür aufging, verspürte Jodie einen Hauch von Erleichterung. Sie drehte sich um. Als sie James sah lächelte sie. Die unbekannte Person neben ihm beäugte sie kritisch.

Takagi ging auf beide Männer zu und reichte ihnen die Hand. „Ich bin Inspektor Takagi“, stellte er sich dem Fremden vor. „Bitte, setzen Sie sich doch. Wir können dann mit dem Verhör anfangen.“

„Tanaka“, antwortete der Mann. Er setzte sich auf den Stuhl neben Jodie. James zog den Stuhl neben Takagais Platz zu sich und nahm an Jodies linken Seite Platz. „Das ist Herr Tanaka. Er ist Anwalt, dein Anwalt. Ich habe ihn während der Fahrt in groben Teilen in deinen Fall eingewiesen.“

Jodie sah den Anwalt an. „Jodie Starling“, sprach sie. „Vielen Dank.“ Sie sah zu James. „Dir auch danke.“

„Dann können wir anfangen?“, wollte Takagi wissen.

Herr Tanaka nickte. „Nur zu.“

„Zuerst einmal muss ich Sie darüber aufklären, dass wir das Gespräch aufzeichnen. Wenn Sie damit einverstanden sind, sagen sie: ja.“

„Ja.“

Takagi zog das Aufnahmegerät zu sich. „Jodie Starling bestätigte die Aufnahme des Verhörs.“ Er sah zu Jodie. „Also Frau Starling, Sie haben sich bei dem Unternehmen Medipharm beworben?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Ich habe eine Bewerbung am 6. Dezember raus geschickt. Danach dachte ich mir, dass es nicht schaden kann, wenn ich die Bewerbung persönlich abgebe. Manchmal kann man ja auch mit potentiellen Kollegen in Kontakt kommen oder man kriegt direkt ein Vorstellungsgespräch“, antwortete Jodie.

„Woher wussten Sie von der freien Stelle? Laut Sota Shibungi wurde keine Stelle ausgeschrieben.“

„Es war eine Initiativbewerbung. Ich habe einfach mein Glück versucht. Im Gespräch erzählte mir Herr Shibungi dann, dass tatsächlich eine Stelle frei ist. Wir hatten ein gutes Vorstellungsgespräch.“

„Und danach haben Sie die Stelle bekommen?“

„Naja nicht ganz“, kam es von Jodie. „Herr Shibungi war sich noch unsicher. Auf der einen Seite brauchte er dringend einen neuen Mitarbeiter und auf der anderen Seite wollte er nicht eine schnelle Entscheidung treffen. Und da er noch nicht vollends von mir überzeugt war, schlug ich vor, dass ich zum Probearbeiten komme. Er wollte es aber erst mit seiner Frau besprechen, rief mich aber am gleichen Abend noch an und sagte mir zu. So sollte ich schließlich bis zum Jahresende dort Probearbeiten.“

„Und dann haben Sie also direkt am nächsten Tag angefangen?“

„Ja, genau. Ich hatte Zeit und konnte deswegen sofort los legen.“

„Stimmt es, dass Sie sich vorgestern in der Firma nach Frau Shibungi erkundigt haben?“, wollte Takagi wissen.

„Ja, das habe ich“, sagte sie ruhig. „Ich wollte mit ihr sprechen und stellte in der Firma fest, dass sie nicht erschienen ist. Aus dem Grund hab ich bei Frau Kawasaki nachgefragt.“

„Und warum wollten Sie mit ihr sprechen?“

„Am Sonntag sah ich sie sehr aufgewühlt durch die Stadt gehen. Ich verlor sie dann aber aus den Augen und als ich dann am nächsten Tag wieder in der Arbeit war, wollte ich mich nach ihrem Befinden erkundigen.“

„Woher wussten Sie, dass die Frau die sie sahen Frau Shibungi ist? Soweit ich gehört habe, war Frau Shibungi in Ihrer ersten Woche noch im Urlaub, sodass Sie gar keine Gelegenheit gehabt haben, mit ihr zu sprechen.“

„Das ist richtig“, nickte Jodie. „Wir haben in unseren Computern natürlich den Zugang zu dem internen Netzwerk. Mir wurde gesagt, dass ich mich durch die verschiedenen elektronischen Ordner durchklicken kann, wenn ich die Zeit habe. Das tat ich dann auch und stieß so auf ein Foto von Frau Shibungi. Deswegen erkannte ich sie.“

„Ich verstehe“, murmelte der Inspektor. „Und als Sie erfuhren, dass Frau Shibungi nicht da ist, was haben Sie gemacht?“

„Ich dachte zuerst, dass ich mit ihrem Mann sprechen könnte, aber da hatte Frau Kawasaki auch schon erwähnt, dass dieser nicht im Haus ist. Deswegen bin ich zum Haus der Shibungis. Die Tür stand auf. Das alarmierte mich. Deswegen bin ich langsam rein und sah mich um. Das Blut machte mich stutzig und ich erkannte, dass ich aufpassen musste. Ich sah mich um und folgte den blutigen Abdrücken zur Küche. Als ich dort auf die Blutlache stieß, standen Sie auch schon da.“

Takagi überlegte. „Mhmm…verstehe…“, sagte er. „Also damit wir uns richtig verstehen. Sie sind eigentlich FBI Agentin und in Japan machen Sie Urlaub oder besser gesagt, Sie nehmen sich eine Auszeit. Ab und an helfen Sie trotzdem dem FBI, wenn sich amerikanische Täter oder Opfer in Japan aufhalten oder aber wenn es um Recherchen geht?“

„Genau“, sagte sie. „Das FBI möchte mich in den Staaten wieder einsetzen. Deswegen geben sie mir ab und an kleine Aufträge.“

„Warum Medipharm?“, wollte Takagi dann wissen.

Jodie sah kurz zu James. Dieser nickte. „Medipharm stellt unter anderem freiverkäufliche Arzneimittel her und ist in Japan damit sehr erfolgreich. Nun ist es in dieser Branche üblich, dass diese Arzneimittel nur innerhalb eines Landes vertrieben werden dürfen. Alle anderen Länder sind unzulässig. Das FBI ist einem anonymen Hinweis nachgegangen. Und ich sollte überprüfen, ob Medipharm heimlich seine Produkte in die Staaten schickt und dort vertreibt“, antwortete Jodie. Das war die offizielle Version.

„Aber Sie können mir jetzt nicht sagen, was Sie heraus gefunden haben?“

„Inspektor.“ Jodie sah ihn an. „Ich arbeitete in der Firma seit gerade mal zwei Tagen. So viel habe ich in dieser Zeit nicht in Erfahrung bringen können. Über meinen Tisch sind zumindest keine Geschichten ins Ausland gelaufen.“

„Ich verstehe“, sprach Takagi. „Eines möchte ich dann doch noch wissen. Wie sind Sie an die Adresse der Shibungis gekommen?“

„Wir haben die Adresse im Vorfeld ermittelt. Eine Art Absicherung für den Notfall. Hätte ich etwas heraus gefunden, bestünde immer die Möglichkeit, dass man mich verschleppt oder im Haus niederschlägt. Unter den Umständen wüssten meine Kollegen, wo man mich zuerst suchen sollte.“

„Denken Sie, dass Frau oder Herr Shibungi etwas damit zu tun haben?“

„Das wissen wir nicht“, antwortete Jodie. „Wie gesagt, wir stehen mit den Ermittlungen erst am Anfang. Die Möglichkeit besteht natürlich auch, dass sich nicht der Geschäftsführer um den Vertrieb ins Ausland kümmert. Es könnte jeder aus der Firma sein.“

„Ich frage mich, was das mit dem Verschwinden von Frau Shibungi zu tun hat und warum wir so viel Blut fanden.“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Inspektor. Falls der anonyme Hinweis den wir bekamen der Wahrheit entspricht, könnte es sein, dass Frau Shibungi auch dahinter kam. Ansonsten kann ich nur Mutmaßungen anstellen. Aber die bringen uns nicht weiter. Wir müssen Frau Shibungi finden.“

„Wenn ich ehrlich bin, sprechen die Indizien nicht gerade für Sie.“

Jodie seufzte leise. „Ich weiß. Ich habe gegen die Firma ermittelt. Man könnte mir anlasten, dass ich Frau Shibungi verdächtigt habe und es dadurch zum Kampf kam. Gerade weil ich auch noch die Adresse hatte, wirke ich erst Recht verdächtig.“

Takagi nickte. „Außerdem haben Sie, seit Sie in Japan sind, gelogen“, begann Takagi. „Sie wurden hier als Englischlehrerin eingestellt. Keiner wusste, dass Sie für das FBI gearbeitet haben. Sie haben eine Waffe bei sich geführt ohne japanischen Waffenschein. Und Sie sind hier geblieben. Aber jedes Mal wenn wir Sie antreffen, ermitteln Sie in irgendeinen Fall für das FBI, weil sie darum gebeten werden. Oder Sie sind zufällig Zeuge eines Mordes und helfen uns dabei. Man könnte Ihnen das alles anlasten.“

„Ich weiß, dass es nicht gut für mich aussieht. Damals wurde ich freigestellt und wollte in Japan neu anfangen. Deswegen trat ich die Stelle als Lehrerin an. Ich fühle mich hier wohl und habe auch einige Freunde hier. Das ich wieder zum FBI zurück kehre, war auch für mich nicht selbstverständlich.“

„Das mag sein“, entgegnete Takagi. „Es gibt da aber noch eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen will. Bei unserer ersten Begegnung stellten Sie sich als Jodie Saintemillion vor. Ihre Papiere waren auf Saintemillion ausgestellt. Nachdem wir heraus fanden, dass Sie für das FBI arbeiten, änderten Sie ihren Namen auf Starling. Das haben Sie uns nie erklärt.“

Jodie sah auf den Tisch. „Starling ist mein richtiger Nachname…mein Familienname“, murmelte sie. „Saintemillion ist auch mein richtiger Nachname.“

Takagi sah sie fraglich an. „Können Sie das genauer erklären?“

„Inspektor, was hat das mit dem Fall zu tun?“, wollte James wissen.

„Es geht hier um die Glaubwürdigkeit. Bisher haben wir nur Lügen gefunden.“

James räusperte sich. „Die Sache mit dem Nachnamen kann ich aufklären. Jodie bekam als kleines Mädchen eine neue Identität unter der sie jahrelang lebte. Ihre Eltern wurden vor rund 20 Jahren ermordet. Ihr Elternhaus wurde daraufhin verbrannt. Jodie war die einzige Überlebende. Sie hatte den Täter gesehen und das FBI musste handeln. Jodie wurde damals direkt ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.“

Takagi stand der Mund offen. „Das wusste ich nicht“, murmelte er leise. „Dann war Saintemillion der Name Ihrer neuen Familie?“

„Nein“, kam es gleich von James. „Das FBI hat den Namen ausgesucht. Wir konnten für Jodie damals kein geeignetes Elternpaar finden. Aus dem Grund kam sie zu mir. Es war zu auffällig, Jodie den Namen Black aufnehmen zu lassen. Aus dem Grund entschieden wir uns für Saintemillion. Diesen behielt sie solange bis wir sicher waren, dass der Täter gefasst wurde.“

„Das war jetzt der Fall?“

„Ja. Jodie hat damals in den Staaten alles auf den Kopf gestellt um den Mörder ihres Vaters zu finden. Leider wurde dieser vor 20 Jahren nicht gefunden. Sie stieß auf eine heiße Spur und arbeitete viel zu verbissen an dem Fall. Deswegen wurde sie vorübergehend suspendiert. Mittlerweile konnte der Täter gefasst werden und befindet sich in FBI Gewahrsam. Dadurch war es Jodie wieder möglich ihren richtigen Namen anzunehmen“, erklärte James. „Und wir wissen, dass Jodie sich gut selbst verteidigen kann.“

Takagi sah Jodie wieder an. „Es gibt etwas, das ich Ihnen bisher verschwiegen habe. Warten Sie bitte.“ Takagi stand auf. Er ging raus und kam nach einer Weile mit einem rollenden Fernsehschrank und Video zurück. Takagi legte dieses ein.

Das Video wurde abgespielt. Es zeigte Jodie und Sayaka Shibungi. Einen Ton gab es nicht. Man sah ganz deutlich, dass beide Frauen miteinander gestikulierten – sich stritten. Und dann stieß Jodie die Frau gegen ein Auto, das in der Garage parkte.

„Das bin ich nicht.“

„Haben Sie eine Zwillingsschwester?“

Jodie biss sich auf die Unterlippe. „Nein.“ Sie wusste genau, wer ihre Rolle in dem Video spielte. Und sie hasste es. Sie hasste sie. Am liebsten wäre Jodie wie eine Furie aufgesprungen und hätte ihren Unmut raus geschrien. Aber sie hielt sich zurück. Sie durfte nicht auf den Trick der Organisation hereinfallen.

Das Video lief weiter. Man sah Sayaka auf dem Boden sitzen. Kauernd. Flehend. Eingeschüchtert sah sie Jodie an.

„Sie haben sich in dem Video mit dem Opfer gestritten und sind anschließend handgreiflich geworden. Anschließend sieht Frau Shibungi sehr verängstigt zu Ihnen“, entgegnete Takagi.

„Ich war das aber nicht…“ Jodie sah zu James. „James…“

„Ich weiß“, nickte dieser. „Mir scheint es so, als hätte sich jemand als Jodie ausgegeben und versucht ihr nun die Tat in die Schuhe zu schieben. Wurde das Video auf Echtheit überprüft?“, wollte James wissen.

„Nicht zu vergessen die Überprüfung ob das Video aus anderen Szenen zusammen geschnitten wurde“, fügte Tanaka an.

„Wir haben das Video aus dem Archiv von Medipharm, sagte Takagi. „Die Tiefgarage wird überwacht. Das Video stammt vom Wochenende, genau gesagt vom Sonntag. 14:30 Uhr. Haben Sie ein Alibi für diese Zeit?“

„Am Sonntag war ich zu Hause…alleine…“ Jodie wusste, was das hieß. Sie hatte kein Alibi und es gab ein Video, welches gegen sie sprach.

„Ich verstehe.“

„Muss ich jetzt…hier bleiben?“, wollte Jodie wissen.

Takagi runzelte die Stirn. „Als Ausländerin besteht bei Ihnen Fluchtgefahr. Die Beweise sind sehr belastend. Sie ließen sich aber nie etwas zu Schulden kommen und arbeiten auf der gleichen Seite wie die Polizei – auch wenn Sie andere Mittel verwenden. Auf dem Video sehen wir nur, dass es einen Streit zwischen Ihnen und Frau Shibungi gab. Es beweist keine Tat. Sollten sich die Beweise gegen Sie aber verstärken oder sollten Sie versuchen zu fliegen, muss ich Sie verhaften.“ Takagi sah sie an. „Mehr kann ich nicht für Sie tun. Sie können jetzt gehen. Sobald ich mit Ihnen reden muss, melde ich.“

„Ist gut…“ Jodie wirkte niedergeschlagen. Sie stand auf und ging mit James und dem Anwalt – der die ganze Zeit schwieg – nach draußen. „Was soll ich jetzt machen, James?“

James sah den Anwalt an.

„Sie werden kein Geständnis ablegen“, sagte er. „Für mich ist die Sache ganz klar. Die Indizien gegen Sie haben sich verstärkt. Aber dennoch ist die Polizei in der Beweislast und muss zeigen, dass Sie am Tatort waren und wirklich etwas damit zu tun haben. Aus dem bisherigen Bericht konnte ich ersehen, dass sich kein Spritzer Blut an Ihrer Kleidung befand. Wenn nicht noch so ein Video auftaucht, sollten wir die Sache noch retten können.“

„Das hört sich doch gut an“, kam es von James.

Jodie nickte. „Was ist mit dem FBI?“

„Wir stehen hinter dir. Mach dir darüber keine Sorgen. Akai ermittelt und sucht Beweise.“

15.12.

Jodie wollte raus aus dem Albtraum. Sie wollte aufwachen und ein ganz normales Leben haben. Nun aber war sie frustriert. Fühlte sich gedemütigt und vorgeführt. Vermouth wusste genau welche Strippen sie ziehen musste. Erneut war ihnen die Schauspielerin einen Schritt voraus. Und erneut spielte sie die Rolle der Jodie Starling.

Nun gab es keinen Zweifel mehr daran, dass Sayaka Shibungi die Organisation kannte und für sie arbeitete. Die Szene im Video wirkte echt. Zu echt. Und trotzdem wies Sayaka ihren Mann nicht ein. Theoretisch hätte man sie dafür feuern können. Jodie ließ das ganze Verhör noch einmal Revue passieren.

Es lief nicht so schlecht, hatte James während der Rückfahrt gesagt. Nicht schlecht konnte vieles bedeuten. Es hieß aber auch, dass es nicht gut war. Wenigstens blieb ihr vorerst die Untersuchungshaft erspart. Jodie wusste, dass es auch anders hätte ausgehen können. Eigentlich war es Takagi zu verdanken, dass er sie nicht gleich wegsperrte. Sie war, wie er richtig sagte, Ausländerin. Was hielt sie davon ab einfach zu verschwinden? Aber so war Jodie nun einmal nicht.

Und nun hatten sie den Hinweis auf die Organisation. Es war wie in einem Déjà-vu. Sie hatten die Spur, aber die Organisation war ihnen einen Schritt voraus. Schon wieder.

Während des Verhörs hätte sie Takagi schlecht die Wahrheit sagen können. Die Organisation war gefährlich und wenn sie die Polizei – von der sie wussten, dass sie von der Organisation infiltriert wurde - die Wahrheit sagte, waren alle in Gefahr. Jodie hatte keine andere Wahl als zu Lügen. Eine Lüge nach der anderen. Es war die Alibi-Story die James entwickelte falls einer seiner Agenten in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen geriet.

Und wie hätten sie der Polizei von Vermouth erzählen sollen? Fakt war, dass Vermouth niemand anderer als Chris Vineyard – eine berühmte Schauspielerin – war. Wer hätte ihnen das geglaubt? Außerdem gab es nicht viele Menschen die hinter die Fassade der Schauspielerin blicken konnten. Sie hätten sich das Video angesehen und nur Jodie erkannt. Die wenigstens wussten mit wem sie es wirklich zu tun hatten. Vermouth war schon immer ein Biest gewesen.

Jodie wusste nicht viel über die Vergangenheit der Schauspielerin. Nur eines machte sie stutzig. Die Abdrücke von Chris Vineyard passten zu den Abdrücken die auf der Brille von Jodies Vater gefunden wurde. Das war unmöglich. Chris musste zum Zeitpunkt der Ermordung in einem ähnlichen Alter wie Jodie gewesen sein. Aber die Fakten konnte man nicht leugnen.

Erst als Jodie mit neuen Ermittlungen anfing und die Schauspielerin ins Visier nahm, stieß sie auf eine alte Akte ihres Vaters. Das FBI hatte sie archiviert und in dem hintersten Kämmerlein versteckt. Die Akte war dünn und enthielt kaum Informationen. Allerdings erfuhr Jodie ein paar Details. Ihr Vater arbeitete damals verdeckt und ermittelte gegen Sharon Vineyard. Sie war ein Mitglied der Organisation was bis dahin noch nicht verifiziert wurde. Ihr Vater ließ sich als persönlicher Beschützer einstellen und war dabei eine große Aktensammlung aufzubauen. Die Akten behielt er zusammen – wollte sie erst fertig stellen, ehe er sie in die Hände des FBI gab.

Papa, was machst du da?, hatte Jodie ihn an einem Abend gefragt. Ihr Vater nahm sie dann auf den Schoss und zeigte ihr, die damals noch leere, Akte. Er erklärte ihr wie er vorging, wenn er diese füllte. Jodie sah ihm eine Weile zu, fand die Sache dann aber langweilig und ging zum Spielen in ihr Zimmer.

Nun war er tot. Die Akten verbrannt. Und Vermouth trieb weiterhin ihr Unwesen. Die Erinnerungen an ihren Vater machten Jodie traurig. James musste der Polizei von ihrer Hintergrundgeschichte erzählen. Trotzdem schmerzte es ungemein. Jodie versuchte die Erinnerungen immer zu verdrängen. Aber jedes Mal kamen sie wieder hoch. Manchmal in ihren Albträumen, manchmal aber auch in den schönsten Träumen.

Jodie wusste schon warum sie die Winterzeit nicht mochte. Andauernd geschahen Ereignisse die sie aus der Bahn warfen. Zuerst war da der Tod ihrer Eltern. Dann starb Shuichi am 13. Januar – offiziell. Und nun stellte die Organisation sie als Sündenbock hin. Sie durfte zu Hause sitzen und warten. Sie hasste es. Es war nicht ihre Art. Sie wollte etwas tun. Selber ermitteln.

Das alles war eine reine Katastrophe. Der Auftrag fing so gut an – schon fast zu gut. Sie hatten eine Spur und wie es schien, war diese richtig. Aber nun war alles vorbei.

Und dann war da noch Takagi. Er ahnte etwas. Sie spürte es. Aber erwartete er wirklich, dass sie alle Karten auf den Tisch legte? Da konnte der Inspektor lange warten. Sie würde ihm nie die Wahrheit sagen – außer der Befehl würde direkt vom Boss kommen. Nein, Jodie würde ihn nicht in Gefahr bringen.

Allein schon als Takagi seinen Beruf ergriff, wusste er, worauf er sich einließ, dass er in Gefahr geraten würde und sein Leben andauernd bedroht werden würde. Wüsste er aber von der Organisation, würde er irgendwann paranoid, würde sich immer umsehen und hinter jeder Person ein Mitglied vermuten.

Wahrscheinlich hatte er damit sogar größtenteils Recht. Leider führte die Organisation kein Buch mit den Namen ihrer Mitglieder. Sie hatten was das anging nichts. Wobei nichts so eine Sache war. Das FBI war nicht untätig. Sie hatten recherchiert und eine grobe Liste mit Personen aufgestellt. Kein Name konnte bestätigt werden. Das FBI hatte schon vor Jahren vermutet, dass die Organisation sehr weit verstreut war. Ärzte, Anwälte, Polizisten, Richter und noch mehr hochrangige Positionen. Nie konnten sie etwas beweisen.

Jodie zog ihren Laptop heraus. Sie startete ihn und öffnete den Internet-Browser. Wenn sie schon nicht draußen recherchieren konnte, konnte sie es wenigstens zu Hause tun. Sie lehnte sich nach hinten und machte sich auf die Suche nach Artikeln über den Fall. Natürlich würde die Presse Bescheid wissen. Sie wurden magisch von Neuigkeiten angezogen. Jodie wurde sehr bald fündig.

Der erste Artikel drehte sich um das Verschwinden von Sayaka Shibungi. Natürlich ließ die Presse keinen Zweifel daran, dass die Mitarbeiter der Firma besonders beleuchtet wurden. Zum Glück ließen sie die Namen weg. Dennoch war es offensichtlich, dass eine Ausländerin – wie sie im Artikel beschrieben wurde – etwas mit dem Fall zu tun hatte.

Jodie seufzte. Sie wusste, wer einmal mit negativen Schlagzeilen in der Zeitung stand, hatte ein großes Problem. Man konnte nur schwer rehabilitiert werden und man musste sich immer wieder von neuem beweisen. Der Ruf war dann hinüber, alles was man sich erarbeitet hatte, war weg. Gerade als Gesetzeshüter war man Anfeindungen ausgesetzt. Jeder Täter und jeder Anwalt der Zeit hatte ein wenig zu recherchieren, würde darauf stoßen. Sie würden es immer wieder einsetzen und argumentieren, dass es keine Vertrauensgrundlage zum besagten Gesetzeshüter gab. Oft würde es heißen, dass man selber Täter war und die Schuld einem anderen in die Schuhe schieben wollte. Außerdem war man immer den Blicken der Kollegen ausgesetzt. Es waren Blicke die einen leisen Zweifel an der Wahrheit ließen.

Jodie las einen Artikel nach dem nächsten. Im letzten ging es um mögliche Verhaftungen. Der Reporter schrieb von Personen die befragt wurden und auch von hinreichenden Beweisen. Er forderte die sofortige Verhaftung der Verdächtigen. Dass die Beweise aber zweideutig waren, wurde mit keinem Wort erwähnt. Wenn Jodie allerdings nicht aufpasste, würde sie bald im Gefängnis landen.
 

***

James runzelte die Stirn. Er legte die Zeitung auf den Tisch, nahm seine Kaffeetasse und nippte daran. „Es sieht nicht gut für Jodie aus“, sagte er.

„Ich habe die Artikel auch alle gelesen“, antwortete Camel. „Alle Zeitungen schreiben, dass Sayaka Shibungi eine nette und sehr liebenswürdige Frau ist. Sie fordern, dass die Suche nach ihr ausgeweitet wird und wollen die Mitmenschen zur Hilfe bewegen.“

James nickte. „Mein Kontakt bei der Zeitung hat mir heute Morgen erzählt, dass Sota Shibungi ein Interview gab. Er ruft ebenfalls zur Mithilfe auf und fleht um das Leben seiner Frau. Er hat auch so eine Art Finderlohn ausgesetzt. Jeder der ihm hilfreiche Hinweise liefert, wird von ihm Geld bekommen. Er lässt nichts unversucht. Shibungi macht auch keinen Hehl daraus, dass er Jodie für die Täterin hält. Noch wird ihr Name aus der Zeitung raus gelassen. Aber wenn er eine andere Redaktion aufsucht, weiß ich nicht, ob sie Jodie nicht an den Pranger stellen werden. Ich habe außerdem mit Jodies Anwalt gesprochen. Wir können nichts machen. Wenn wir uns eine Verfügung holen, werden sie sofort misstrauisch. Wir wären wohl für eine, vielleicht zwei Ausgaben sicher. Danach kommt die Argumentation mit der Pressefreiheit und die Aufhebung unserer Verfügung. Was im Anschluss passiert, muss ich bestimmt nicht erwähnen.“

„Sie würden sich gleich auf Jodie stürzen“, murmelte Camel leise. „Was machen wir, wenn die Presse ihren Namen öffentlich macht?“

„Wir hoffen zuerst, dass die Presse es nicht macht, da Jodies Schuld nicht bewiesen ist. Sollte es dennoch dazu kommen, wird sich der Anwalt darum kümmern. Die Vorgesetzten in den Staaten habe ich auch schon informiert. Jodie drohen keine Konsequenzen.“

„Gut“, sagte Camel. „Weiß sie, dass ich nun auch in die Ermittlungen involviert bin?“ Eigentlich sollte sich Camel zu Hause ausruhen. In Anbetracht der Tatsache, dass es um Jodie ging und sie jeden Agenten brauchten, war Camel frühzeitig wieder im Dienst.

„Bisher nicht. Aber ich denke es ist für Jodie hilfreich, wenn wir keine weiteren Agenten einschalten.“ James sah nun zum anderen Agenten im Raum. „Wir kennen Jodie und wir wissen, dass sie nichts getan hat.“

„Und wenn wir der Polizei von der Organisation und unserer Vermutung erzählen, werden wir nur belächelt. Vielleicht wird der ein oder andere unsere Geschichte glauben und von Zweifeln geplagt, sich immer umsehen und ihre eigenen Kollegen als Mitglieder der Organisation betiteln. Und wenn sich dann noch die Organisation einschaltet und die Polizisten im Revier ausschalten will, können Sie sich bestimmt vorstellen, was dann los ist“, entgegnete Akai.

„Wir müssen schleunigst Sayaka Shibungi finden“, meinte James. „Ich habe mit Inspektor Takagi gesprochen. Das Blut im Haus entspricht der Blutgruppe der Frau. Die DNA-Analyse ist noch am laufen. Aber ich habe keinen Zweifel, dass es ihr Blut ist. Das heißt aber auch, dass sie sehr schwer verletzt war. Mit einer solchen Wunde kann sie nur überleben, wenn sie sofort verarztet wird. Ansonsten ist sie binnen weniger Stunden tot.“ James runzelte die Stirn. „Wenn sie von der Organisation geholt wurde, besteht die Möglichkeit, dass sie entweder tot ist oder behandelt wurde.“

„Je nachdem was sie mir ihr vorhanden. Wenn sie sie behandeln, können wir davon ausgehen, dass es keinen offiziellen Ärztebericht geben wird.“

„Wieso würden sie ihr überhaupt helfen?“, wollte Camel dann wissen.

„Folter“, antwortete Akai. „Sie würden sie pflegen und sich anschließend an ihren Mann ran machen. Wie damals als sie meinen Tod filmten, werden sie es wieder machen und Sayaka das Band vorspielen. Natürlich nur dann, wenn sie wirklich in ihren Fängen ist.“

Camel nickte verstehend. „Und wenn sie das nicht ist?“

„Dann suchen wir sie“, kam es von James. „Ich habe bereits einige Agenten am Flughafen und an den Bahnhöfen stationiert. Wenn sie dort ein Ticket löst, bekommen wir es mit. Außerdem erhalten wir Zugriff auf die Kameras. Natürlich haben wir dem Security-Personal erzählt, dass die Agenten für ein privates Unternehmen arbeiten und von Herrn Shibungi beauftragt wurden. Mir macht es allerdings Sorgen, dass sie auch mit einem Auto ganz einfach die Stadt verlassen haben könnte. Außerdem wissen wir nicht, ob sie sich nicht einer optischen Veränderung vollzog. Sie könnte ihre Haare abschneiden, Kontaktlinsen tragen, ihre Kleidung komplett austauschen…Es wird nicht einfach. Die Frage ist aber, welchen Grund Sayaka hatte um selbst zu verschwinden und warum sie dann eine so blutige Spur hinterließ.“

„Am Morgen war es still im Haus“, fing Shuichi an. „Wenn sie geflohen ist, kann das nur einen Grund haben: Die Organisation will sie aus dem Weg schaffen.“

„Und was ist mit Ihrem Mann?“, fragte Camel.

„Das ist eine gute Frage. Sie liebt ihn. Vielleicht wird sie auch früher oder später wieder bei ihm auftauchen. Am besten wir beobachten das Haus und seine Firma weiter“, sagte Shuichi. „Das Zeitfenster können wir glücklicherweise gut eingrenzen. Ich beendete die Observation um 8:30 Uhr. Jodie kam etwa gegen 12 Uhr an. Dazwischen liegen einige Stunden die wir rekonstruieren müssen.“

„Wir haben das Haus doch verwanzt“, warf Camel ein. „Ist in der Zwischenzeit nichts zu hören gewesen?“

„Die Agenten erinnern sich nicht mehr daran“, sagte James. „Die Aufnahmen sind verschwunden.“

„Wissen wir wenigstens wie sie betäubt wurden?“

„Ja, in ihrem Kaffee befand sich ein Schlafmittel“, antwortete Black. „Agent Benett hat wie immer kurz vor der Mittagspause zwei Coffee to go aus einer Bäckerei geholt. Im Restkaffee konnten wir das Schlafmittel nachweisen. Außer der Kassiererin war keiner vor Ort. Wir haben das Band überprüft. Man sieht es ganz deutlich. Die Kassiererin kann sich aber nicht daran erinnern. Sie gab an, dass sie selbst irgendwann müde wurde und sich dann hinten hinlegte. Wir denken, dass hier Vermouth ihre Finger im Spiel hatte.

„Und wir wissen auch, dass Vermouth sich vor kurzem als Jodie ausgab. Damit können wir darauf schließen, dass Vermouth mit Sayaka gemeinsame Sache macht“, kam es von Akai. „Sie können sich ja vorstellen wie Jodie es findet, dass Vermouth ihre Identität ein weiteres Mal annahm. Wenn sie jetzt hört, dass sie mit Sayaka zusammen arbeitet, nimmt es kein gutes Ende.“

Camel nickte. „Sie wird ungemein wütend sein“, sagte er. „Wissen wir eigentlich schon was mit der Aussage von Jodie bezüglich der Arbeit ist? Wenn sie bis kurz vor 12 Uhr dort war und wir das Video besorgen wo sie die Firma verlässt, können wir ihre Unschuld beweisen.“

„Ich hab noch nichts gehört. Ich rufe nachher Inspektor Takagi an“, entgegnete James. „Wenn ich ehrlich bin, mache ich mir Sorgen, dass in einigen Tagen ein Video auftaucht auf dem Jodie Sayaka Shibungi wirklich etwas antut.“

Shuichi nickte. „Damit muss man wohl rechnen. Und da Jodie arbeiten war, ist ihr Alibi nicht sehr aussagekräftigt. Wir wissen, dass sie wirklich arbeiten war. Und genau so wissen wir, dass Jodie nicht dazu fähig ist einem anderen Menschen grundlos etwas anzutun. Fakt ist auch, dass nur wir wissen, dass die Organisation, allen voran Vermouth, versucht Jodie etwas anzuhängen. Wie wollen wir das beweisen? Und wir sollten Jodies Kollegen nicht vergessen.“

„Die können doch bestätigen, dass Jodie bis zur Mittagspause arbeiten war“, warf Camel ein.

„An dem Tag war nur eine Kollegin mit Jodie zusammen im Büro.“ James beugte sich nach vorne, stützte sich mit den Ellbogen am Tisch ab und legte seinen Kopf auf die Hände. „Wir müssen in Betracht ziehen, dass diese Kollegin Jodies Alibi nicht bestätigt. Das gleiche gilt für die Empfangsdame.“

„Nicht zu vergessen, dass wir noch nicht wissen, ob ein Mitarbeiter nicht auch noch zur Organisation gehört. Außerdem ist Vermouth da draußen. Sie könnte anstelle der richtigen Person an der polizeilichen Befragung teilnehmen. Falls Sota Shibungi der Ansicht ist, dass Jodie schuldig ist, kann er seinen Angestellten ins Gewissen reden“, fügte Akai an.

„Das ist doch nicht fair…“, murmelte Camel.

„Das Leben ist selten fair.“

„Ich hab auch mit Jodies Anwalt über die aktuelle Situation gesprochen. Er sieht die Situation als unkritisch an. Die Beweislast ist noch nicht hoch genug. Solange Jodies Schuld nicht bewiesen ist, haben wir Glück. Sie würde aufgrund der Unschuldsvermutung einer Haftstrafe entgehen. Aber sobald noch mehr Beweise dazu kommen kann sich alles wieder wenden“, meinte James.

„Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Die Organisation wird jetzt nicht aufhören. Sie wissen, dass Jodie involviert ist. Und wie könnten sie uns mehr schaden? Bald wird es noch schlimmer werden und sie werden ihre Trümpfe ausspielen, Beweise manipulieren und sich um Zeugen kümmern“, entgegnete Akai. „Sollte Jodie jemals das Gefängnis von innen und auf der Seite einer Verurteilten sehen, wird sie das zerstören“, fügte er an.

„Dann müssen wir mehr als unser bestes geben und Sayaka Shibungi so schnell wie möglich finden.“ James seufzte.

„Und wir müssen heraus finden, ob ihr Mann von der Organisation wusste. Aber selbst wenn er es nicht tat, durch Sayaka wird er im Fokus stehen.“

„Nicht zu vergessen, dass wir heraus finden müssen, warum Sayaka das alles getan hat.“

Shuichi sah James an. „Sie hat sich in Sota verliebt und sie musste das Geld für die Organisation besorgen. Wenn sie ein schlechtes Gewissen bekommen hat, wird sie versuchen auszusteigen. Der Organisation entkommt man nur durch den Tod. Sie wollte ihn vortäuschen und zeigen, dass man ihre Leiche verschwinden ließ. Ich frage mich, ob es geplant war, dass jemand zu dem Zeitpunkt im Haus ist. Sollte ihr Mann das Blut finden und unter Verdacht geraten? Oder hatte sie vorgehabt, dass jemand anderes im Haus aufgegriffen wird? Wenn sie von der Organisation zuerst gefunden wird, werden sie nicht lange fackeln. Sie werden sie töten, die Beweise fingieren und Jodie als Bauernopfer präsentieren.“

„Was ist mit dem Geld der Shibungis?“, fragte Camel.

„Entweder sie haben bereits genug oder sie werden weiter machen. Sie können natürlich auch Sayakas Leben gegen einen Batzen Geld eintauschen und beide umbringen oder sie ersetzen den Geschäftsführer durch Vermouth, ändern das Testament und holen sich das Geld“, antwortete Shu.

„Und was machen wir jetzt? Wir können doch nicht einfach nur rumsitzen, das Haus und Firma sowie Bahnhof und Flughafen beobachten?“ Camel ballte die Faust. „Das bringt uns nicht weiter.“

„Da gibt es noch was.“ Shuichi sah die beiden an. Dann zog er aus einer Tasche eine Box heraus. Er stellte sie auf den Tisch.

„Was ist das?“ Camel sah irritiert auf die Kiste.

Akai öffnete sie.

„Sie haben unsere Abhörgeräte entfernt?“, wollte James wissen.

„Ja und nein“, kam es von Akai. „Ja, ich habe sie hier her gebracht. Nein, die Kiste ist nicht von mir.“

„Eh…“ Camel sah noch einmal in die Kiste. „Und was ist das für ein kleines…Gerät?“

„Es stammt nicht von uns“, begann der Agent. „Es ist ein kleiner Störsender. Die Technik ist wirklich sehr gut. Ich nehme an, dass die Organisation den Sender entwickelt hat. Wenn wir diese Wanzen jetzt abhören wollen, hören wir nichts. Bringen wir den Sender oder die Wanzen weg, hören wir wieder etwas.“

„Aber das heißt ja…“

„Ganz genau“, nickte Shu. „Sie hat gewusst, dass wir sie abhören. Ich hoffe aber, dass sie die Organisation dahinter vermutete.“

„Wieso sollte sie das tun?“, kam es wieder von Camel.

„Die Organisation hört gern ihre Mitglieder ab. Vor allem wenn sie neu sind oder nichts zu sagen haben“, antwortete Akai.

„Gut das du die Wanzen geholt hast“, sagte Camel dann.

„Die Polizei hat das Haus noch nicht komplett auf den Kopf gestellt. Ich dachte mir schon, dass wir nicht auffallen wollen. Bei unserem Glück momentan hätten sie Jodie für die Wanzen verantwortlich gemacht. Im Übrigen war keine an den vorgesehenen Plätzen.“

„Was?“ James wurde bleich.

„Sie waren in der Kiste im Kleiderschrank von Sayaka. Ich bin noch einmal die letzten Berichte von Benett und Fayden durchgegangen. In der gesamten Zeit gab es keine Auffälligkeiten. Keine Gespräche. Was aber, wenn die Wanzen über den Tag in die Kiste zum Störsender gelegt wurden? Dann war unser ganzer Aufwand umsonst.“

„Und alle Gespräche die geführt worden sind, waren gestellt oder von Sayaka in eine bestimmte Richtung gelenkt“, fügte Camel an. „Glauben wir, dass Sota auch von den Wanzen wusste?“

„Selbst wenn, wir können das vernachlässigen. Er wird nichts sagen, da er sich ansonsten selber verdächtig macht. Die Polizei würde Fragen stellen und wissen wollen, was er tat um abgehört zu werden.“

„Aber wie bringt uns das jetzt weiter? Was wollen wir wegen Jodie machen?“

„Wir sammeln Beweise für ihre Unschuld“, entgegnete Akai ruhig. „Ich werde ein paar meiner Quellen anzapfen.“ Mit den ersten Personen hatte er bereits gesprochen. Viele blieben noch übrig, sodass er den richtigen Zeitpunkt abpassen musste. Shuichi sah zu James. „Am besten Sie sprechen noch einmal mit dem Anwalt und schauen, dass nicht noch mehr Beweise gegen Jodie gefunden werden. Halten Sie auch die Presse aus der Sache raus.“

James nickte. Dann wandte er sich an Camel. „Und Sie kümmern sich um Jodie. Jodie vertraut Ihnen und ich möchte sie in der schweren Zeit nicht alleine lassen. Sie sind jetzt für ihren Schutz verantwortlich.“

Camel nickte. „Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

16.12.

Jodie saß auf dem Sofa. Sie zog ihre Füße zu sich heran und betrachtete den Artikel in der Zeitung. Sie seufzte. Obwohl wieder kein Name genannt wurde, ließ die Zeitung kein gutes Haar an ihr. Die Menschen hassten sie. Wenn es so weiter ging, würde die Polizei tätig werden. Sie würden den Fall mit einem ganz anderen Blickwinkel betrachten, sie würden versuchen ihr Angst zu machen, würden versuchen ein Geständnis aus ihr heraus zu locken und vielleicht würden sie irgendwann damit Erfolg haben. Es war nun eben so, dass sie im Fokus der Ermittlungen stand. Es gab keinen Feind, keinen Liebhaber – niemanden der Sayaka Shibungi etwas Böses tun wollte.

Mittlerweile war auch der Zeitung bekannt, dass sie unbedingt die Arbeitsstelle wollte. Leider stellten sie es sehr unrealistisch dar. Angeblich hatte sie gebettelt und gefleht. In einem anderen Artikel hatte sie geweint und in einem dritten mit dem Geschäftsführer geflirtet. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie sie als Stalker abgestempelt wurde.

Jodie rechnete jeden Moment mit dem Besuch der Polizei. Fast hätte sie die Polizei selber angerufen. Takagi versprach zwar, dass er sich melden würde, tat es bisher aber nicht. Und sie konnte doch nicht allein zu Hause herum sitzen und untätig sein. Selbst James bestand darauf, dass Jodie nichts machte. Sie sollte keinem Polizisten in die Arme laufen, der sie für schuldig hielt und jede Handlung ihrerseits als Vertuschungsversuch ansah. Jodie fühlte sich so hilflos. Sie wollte schreien.

Langsam stand sie auf und ging an das Fenster. Sie sah nach draußen. Die Stadt sah so friedlich aus. Keiner bemerkte das, was die Organisation Tag für Tag anstellte. Keiner.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild und seufzte. Die angebliche Täterschaft setzte ihr zu. Sie aß unregelmäßig, verspürte kaum Hunger und wenn Jodie ehrlich war, wollte sie einfach nur noch schlafen. Schlafen und aus dem Albtraum erwachen. Immer wenn sie sich fragte ob es noch schlimmer werden konnte, rief sie sich in Erinnerung, dass die Organisation dafür sorgen würde. Als es an der Tür klingelte, zuckte sie erschrocken zusammen. Nur langsam begab sie sich zu ihrer Haustür. Sie nahm das Telefon der Freisprechanlage in die Hand. Ihre Stimme zitterte. „Hallo?“, sagte sie leise.

„Hier ist Camel, lässt du mich rein?“

Jodies Herz setzte für einen Moment aus. Dann schlug es wieder normal. Camel. Er war hier. Er war gekommen. Extra wegen ihr. „Ja…“ sie betätigte den Summer und wartete dann. Als Camel vor ihrer Haustür stand und erneut klingelte, spähte sie zuerst durch das Guckloch ehe sie die Tür öffnete. „Camel…“

„Hey. Ich hab gehört, du bist in Schwierigkeiten.“

Jodie lächelte leicht. Sie schnellte nach vorne und umarmte ihn. „Ich bin so froh, dass du da bist“, murmelte sie leise.

„Autsch…“

Jodie ließ von ihm ab. „Oh verdammt…tut mir leid, ich hab nicht mehr an die Schulter gedacht.“

„Schon gut. So sehr tut es nicht weh.“

„Na komm rein“, sagte sie. „Möchtest du einen Kaffee?“

„Ja, gern“, nickte er. Er trat ein und ging ins Wohnzimmer, während Jodie in die Küche trat. Camel setzte sich und wartete.

Fünfzehn Minuten später kam Jodie mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen Kaffe, Milch, Zucker und Kekse standen. Sie stellte es auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. „Du hast dich hoffentlich nicht selbst entlassen.“

„Nein, hab ich nicht“, sprach er. „Der Arzt fand, dass alles in Ordnung war. Meine Werte sind gut und es spricht nichts dagegen, dass ich weiterhin im Krankenhaus bleiben muss.“

„Das ist schön. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht. Wobei du wahrscheinlich eine ganze Weile nicht arbeiten kannst…“

„Das ist nicht so schlimm“, antwortete der Agent. „Es stehen noch ein paar Stunden Physiotherapie an und dann ist alles wie vorher.“

„Und Schmerzmittel?“

„Muss ich keine mehr nehmen. Zum Glück.“

Sie nickte. „Warum hast du eigentlich nicht gesagt, dass du aus dem Krankenhaus entlassen wirst? Ich hätte dich abgeholt.“

„Du hattest genug um die Ohren“, sprach er ruhig. „Außerdem hat mich Black abgeholt.“

„Oh…“

„Ich hab von den neuesten Ereignissen gehört. Black hat mir anschließend den Rest erzählt“, sagte er.

Jodie seufzte. „Die Presse hat ein paar Artikel veröffentlicht. Täglich kommen immer mehr rein. Die im richtigen Zeitungsformat machen mir noch nicht so viel Sorgen. Aber wenn man sich die im Internet ansieht…“ Sie blickte auf den Boden. „…ich habe mir einen Alert für die Internetnachrichten eingerichtet. Wenn ich abends alle Artikel gelesen habe und am nächsten Tag aufstehe, gibt es schon mindestens fünf neue Einträge. Sie kennen zwar meinen Namen nicht, zerreißen mich aber in der Luft.“

Camel nickte. „Ein paar Artikel habe ich auch gelesen. Sie lassen Sayaka Shibungi wie eine Heilige dastehen und fordern zur Suche nach dem Täter auf.“

„Ja, ich weiß. Ich frage mich auch, wann sie meinen Namen erwähnen werden. Wenn es soweit ist, kann ich meine Arbeit hier wohl vergessen. Und wer weiß, ob sich das nicht auch noch bis in die Staaten herum spricht. Wobei…wahrscheinlich weiß es dort eh schon jeder.“

„Ach Jodie“, murmelte Camel leise. „Ich habe mit Black gesprochen. Sobald dein Name auftaucht, wird sich der Anwalt darum kümmern. Solange deine Schuld nicht bewiesen ist, haben sie keine Handhabe deinen Namen damit in Verbindung zu bringen. Außerdem hat er mit unseren Vorgesetzten in den Staaten gesprochen. Sie wissen, dass du unschuldig bist. Und das, was hier gerade passiert, wird keinen Einfluss auf deine berufliche Karriere haben.“

„Hmm…verstehe…“, kam es von ihr. „Aber es war doch meine Schuld. Warum war ich nur so dumm gewesen und bin in das Haus rein? Ich habe doch gesehen, dass die Tür offen ist. Aber ich habe nicht die Polizei informiert. Ich habe nicht einmal Shu angerufen. Ich…ich habe nur daran gedacht, dass drinnen ein Verbrechen stattfand und bin rein. Alleine. Ich bin in die Falle gelaufen…wie eine Anfängerin.“

Camel sah sie bedrückt an. „Du bist doch keine Anfängerin.“

„Aber so kommt es mir nun mal seit Wochen vor“, entgegnete sie. „Seit Wochen habe ich das Gefühl, dass sich die Organisation auf meine Kosten amüsiert. Und dann wurden wir beide noch angeschossen. Dich hat es am Schlimmsten erwischt. Ich habe nicht aufgepasst. Wir sind direkt in eine Falle gelaufen. Und jetzt, einen Monat später, laufe ich wieder in eine Falle.“

„Jodie…“

„Nein, Camel“, sprach sie energisch. „Es ist die Wahrheit. Ich war mit den Gedanken woanders und habe nicht auf die Situation geachtet. Ich habe nicht daran gedacht, dass es eine Falle sein könnte. Ich habe einfach nicht an die Organisation gedacht. Du weißt doch wie es ist, wenn man nach seinem Versagen wieder zum Dienst zurück kommt. Alle Agenten schauen dich an. Manche voller Mitleid und andere sind einfach nur enttäuscht. Dieses Mal sollte es anders werden. Ich wollte es allen zeigen und ihnen beweisen, dass ich der Aufgabe würdig bin. Aber wieder gebe ich der Organisation die Chance mich für ihre Zwecke zu benutzen.“

„Das hätte aber jedem passieren können“, warf Camel ein. „Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, wäre ich sofort in das Haus gestürmt und hätte versucht die Bewohner zu retten.“ Er sah sie an. „Und ich bin mir sicher, dass Akai das auch getan hätte.“

„Shu hätte vorher überlegt und dann gehandelt. Er…“, sie hielt für einen Moment inne. „…er hätte gewusst, dass es sich um eine Falle handelte und hätte Vorkehrungen getroffen. Aber trotzdem, Danke.“

„Gern. Da gibt es noch etwas. Wegen der Ermittlungen…“

Jodie nickte verständnisvoll. „Ich bin davon entbunden bis es Neuigkeiten gibt. Das weiß ich schon.“

„Oh. Ja, gut…wir wollen nicht, dass du wieder in den Fokus gerätst.“

„Und in der Zwischenzeit bist du mein Alibi.“

Er nickte und kratzte sich am Hinterkopf. „Außer du möchtest, das ich gehe.“

„Nein. Das ist nicht nötig. Wie sieht der Plan aus?“, wollte sie dann wissen.

„Wir versuchen weiterhin deine Unschuld zu beweisen und sammeln stichhaltige Indizien. Black kümmert sich außerdem darum, dass dein Name aus der Presse heraus gehalten wird. Akai sucht den Kontakt zu seinen Informanten und versucht es auf diesem Weg.“

Jodie musste schmunzeln. „Was für James seine Bekannten sind, sind für Shu seine Informanten.“

„Hmm?“

„Naja, egal was ist, James hat immer einen Bekannten in der Hinterhand. Und immer schuldet ihm dieser Bekannte einen Gefallen. Bei Shu ist es das gleiche, nur nennt er sie Informanten.“

„Ach so…ja stimmt. Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, entgegnete Camel.

„Aber mal wieder zum Ernst der Lage. Was machen wir, wenn wieder ein Video auftaucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Organisation jetzt aufhört. Außerdem geht Vermouth doch regelrecht in ihrer Rolle als Jodie Starling auf.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.

„Wir werden einen Weg finden um das zu verhindern. Vermouth wird…“

„Was? Irgendwann aufhören mich zu imitieren? Das glaube ich langsam nicht mehr. Wir wissen beide, dass man sie nicht aufhalten kann. Sie tut was sie will. Und wenn sie sich als ich ausgeben will, dann wird sie es auch machen. Der einzige Weg besteht darin, dass wir sie verhaften. Aber ich nehme mittlerweile nicht mehr an, dass wir das so einfach schaffen werden.“

„Jodie.“ Camel sah sie verwirrt an. „Du darfst nicht aufgeben. Wenn du jetzt die Flinte ins Korn wirfst, dann hat sie ihr Ziel erreicht.“

„Ich gebe nicht auf. Ich weiß, dass ich sie eines Tages verhaften kann. Aber ich weiß auch, dass es nicht in den nächsten Wochen oder Monaten geschehen wird.“
 

***
 

Sota Shibungi saß in seinem Arbeitszimmer. Die Spurensicherung der Polizei hatte sein Haus wieder freigegeben. Die Küche wurde gereinigt und nichts wies auf ein Verbrechen hin. Sie hatten keine neuen Spuren oder Erkenntnisse. Sayaka war immer noch verschwunden. Das Haus kam ihm ohne sie vollkommen leer vor. Morgens konnte er sich nicht zur Arbeit aufraffen. Er wollte suchen und nicht warten. Aber in Wahrheit wusste er nicht weiter. Die ganze Zeit saß er einfach nur rum und wusste nichts mit seiner Zeit anzufangen.

Er durchforstete einige Lieblingsplätze seiner Frau, fand sie aber nicht. Sie war wie vom Erdboden verschwunden und der Täter war noch da draußen. Der Täter – Jodie Starling, sie war die Einzige, die in seinen Augen etwas mit dem Vergehen zu tun haben konnte. Sie fing neu in der Firma an, bettelte nahezu um die Stelle, wollte Sayaka im Büro sprechen und wurde anschließend in seinem Haus aufgefunden. Jodie Starling lag schon auf dem Präsentierteller und trotzdem entschied die Polizei anders. Sie taten nichts.

Das Haus wirkte vollkommen leer ohne sie. Sota beugte sich nach vorne, stützte die Hände auf seinen Armen ab und schloss die Augen. Was würde er nicht alles tun um sie noch ein einziges Mal zu sehen, um ihren Duft einzuatmen und sie wieder zu spüren. Sie war sein ein und alles. Sein Leben. Alles würde er für sie tun. Egal was es auch war.

Aber nun war sie weg. Und er fühlte sich hilflos. Warum konnte nicht einmal eine Lösegeldforderung eingehen? Warum wurde er so auf die Folter gespannt?

Sayaka war schon vor ihrem Verschwinden merkwürdig. Sie wirkte eingeschüchtert, verängstigt. Und als Jodie Starling in ihrer Firma anfing, war sie wieder komisch. Direkt nachdem Jodie eingestellt wurde, entschied sich Sayaka für einige Tage Erholung. Sie nahm Urlaub und wollte sich von den Strapazen entspannen und es sich gut gehen lassen. Damit sah er keinen Vorsatz dahinter.

Sota ärgerte sich. Er war auf Jodie herein gefallen. Sie gab sich als jemand aus, der in Japan beruflich neu Fuß fallen wollte. Und er war gewillt gewesen ihr diese Chance zu geben. Nun kannte er ihre wahre Intention. Sie hatte es nur wegen Sayaka auf die Stelle abgesehen. Aber welche Verbindung bestand zwischen den beiden Frauen?

Sota zog die Schublade an seinem Schreibtisch auf. Er betrachtete seine Waffe. Jetzt war die Zeit gekommen. Er brauchte Schutz. Für sich und für die Zeit, wenn Sayaka wieder zurück kam. Da die Polizei nichts tat, musste er handeln.

Polizei, dachte er verächtlich. Sie würden Sayaka nicht einmal finden, wenn sie im Nebenraum saß. Was taten sie schon? Sie warteten und hofften, dass seine Frau wieder von alleine auftauchte. Als müsste jemand mit den Fingern schnipsen. Natürlich hatte er auch mitbekommen, dass Jodie zur weiteren Vernehmung aufs Revier musste. Am Ende aber stolzierte sie wieder raus. Sie war immer noch frei. Frei und schlau. Aber irgendwann musste sie einen Fehler machen. Sollte sie sich in Sicherheit wähnen, dann aber würde er zuschlagen und heraus finden, was mit seiner Frau passiert war.

Sota seufzte. Auch seine Rachepläne brachten Sayaka nicht wieder. Er tippte auf der Tastatur vor seinem Computer und rief den letzten Artikel über seine Familie auf. Die Presse machte Druck. Sie taten alles was sie konnten. Aber es reichte nicht. Die Polizei musste endlich aufwachen.

Es klingelte an der Tür. Sota schloss die Schublade mit seiner Waffe und ging nach unten. Er öffnete die Tür. Der Besucher war weg. Er blickte sich um. Rechts. Dann links. Er seufzte.

Klingelstreiche. Na wartet ihr Kinder, dachte er wütend. Als ob er nichts Besseres zu tun hatte. Gerade als er die Tür schließen wollte, fiel sein Blick auf die Fußmatte. Langsam beugte er sich nach unten und hob den Din A5 Umschlag auf.

Lösegeldforderung, sagte er sich. Er schnellte nach vorne, machte zwei Schritte nach draußen und sah sich erneut um. Er sah keinen. Sota verengte die Augen, ging wieder rein und schloss die Tür. Er musste Ruhe bewahren. Wenn sie Lösegeld wollte, hieß es, dass seine Frau am Leben war. Sota lief schnell die Treppen nach oben und setzte sich wieder auf den Stuhl in seinem Arbeitszimmer. Er öffnete den Umschlag. Eine DVD fiel heraus. Sota sah sich den Umschlag ganz genau an, untersuchte ihn auf jede Kleinigkeit die merkwürdig sein konnte, fand aber keinen Hinweis. Er wusste, dass er eigentlich die Polizei kontaktieren sollte. Aber da diese eh nichts tun würde, konnte er sich das Geschenk alleine ansehen.

Sota öffnete das DVD-Laufwerk an seinem Computer und legte die DVD ein. Gespannt sah er auf den zunächst schwarzen Bildschirm. Dann begann der Film, die erste Szene setzte an.

Er erkannte den Ort. Es war seine Firma. Ihr Eingangsbereich. Er musste schlucken. Schweiß lief über seine Stirn.

Mehrere Sekunden passierte nichts. Die Kamera war so ausgerichtet, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von dem bot, was sich im Eingangsbereich abspielte. Aiko Kawasaki war nicht mehr drauf. Man sah nur den Anfang ihres Empfangtisches. Sota runzelte die Stirn. Aus dem Augenwinkel sah er zur Uhrzeit.

8:55:59 – 12.12.2016

Jodie betrat die Firma. Er spürte die Anspannung die in der Luft lag. Aber es passierte nichts. Sota spulte nach vorne. Immer wieder kamen Mitarbeiter in die Firma. Es war nichts Verdächtiges. Er spulte soweit bis er Jodie wieder sah. Dann stoppte er das Band und sah auf die Uhrzeit.

11:16:42 – 12.12.2016

Das war der Beweis. Jodie gab an kurz vor der Mittagspause das Büro verlassen zu haben. Und er wusste, dass ihre Abteilung nicht so früh mit dem Essen anfing. Seine Mitarbeiterin und Jodies Kollegin im Büro konnte keine Zeit bestätigen. Sie war sich unsicher und gab an, dass Jodie mehrfach nach draußen gegangen war. Auch Aiko konnte keine Angabe zu der Zeit machen. Aber hier hatte er nun alles schwarz auf weiß stehen.

Geduldig wartete er weiter ab. Jodie kam nicht mehr zurück. Die Zeitangabe lief weiter. Wieder spulte er nach vorne. Sie kam nicht mehr wieder.

Das ist es.

Es war sein Durchbruch. Diesen Beweis konnte die Polizei nicht mehr entkräften. Jodie fuhr viel eher zu seinem Haus. Sie hatte genug Zeit um Sayaka zu überraschen, mit ihr zu kämpfen, seine Frau verschwinden zu lassen und sich wieder umzuziehen.

Plötzlich gab es ein Rauschen im Bild. Sota sah erschrocken zu diesem. Die Szene sprang. Diesmal filmte die Kamera aus der Tiefgarage. Sota sah auf die Uhr.

8:25:32 – 12.12.2016

Sayaka parkte ihren Wagen. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Gerade als Sayaka die Tür schloss, stand Jodie hinter ihr. Mehrere Minuten konnte Sota sehen, wie sich ihre Münder bewegten. Ihre Mimiken waren hart und angespannt. Sie diskutierten – stritten. Das war der Moment an dem Sota seine Sicherheitsvorkehrungen verfluchte. Um die Privatsphäre seiner Mitarbeiter zu schützen, wurden sämtliche Videos ohne Ton aufgenommen. Nur zu gern hätte er gewusst über was die beiden Frauen sprachen.

Eines aber war sicher: Sayaka hatte Angst. Panik. Jodie entfernte sich während Sayaka langsam zu Boden sank. Sie kniete wie ein Häufchen Elend am Boden, zog dann zitternd ihr Handy aus der Handtasche und telefonierte einen Moment. Ihr Gesicht war tränengeflutet. Als sie auflegte und das Handy wieder wegsteckte, hievte sie sich irgendwie hoch, öffnete die Wagentür und fuhr davon.
 

***
 

Aufgeregt kam Sota Shibungi bei der Polizei an. Obwohl er eigentlich warten sollte, stürmte er direkt nach oben und platzte in das Büro von Inspektor Megure.

„Ich muss mit Ihnen reden.“

Takagi kam wenige Sekunden später in das Büro. „Inspektor Megure…tut mir leid, ich konnte ihn nicht aufhalten.“

„Schon gut. Worum geht es?“ Megure sah zu Shibungi.

„Ich habe hier den Beweis.“ Sota legte den Umschlag mit der DVD auf den Tisch.

„Den Beweis wofür?“, wollte der Inspektor wissen.

„Das Jodie Starling am Verschwinden meiner Frau schul ist.“

Megure sah ihn überrascht an. Er öffnete den Umschlag und zog die DVD heraus. „Woher haben Sie diese?“

„Ich habe mir zu Hause das Überwachungsmaterial angesehen.“

„Sie lassen Ihre Wohnung überwachen?“

„Nein“, antwortete Sota. „Die Firma. Wir haben zwei Kameras. Eine steht auf den Eingangsbereich gerichtet und die andere befindet sich in der Tiefgarage“, fügte er an.

Megure wurde hellhörig.

„Es ist nicht wie Sie denken, Inspektor. Die Kameras nehmen ohne Ton auf. Und die Mitarbeiter wurden darüber informiert.“

„Verstehe.“ Megure sah auf die DVD. Er klickte auf seinem Computer rum und konnte anschließend die DVD einlegen. Schweigend sah sich Megure das Szenario an.

„Jodie Starling verließ um kurz nach 11 Uhr meine Firma. Sie kann innerhalb von zehn Minuten bei meinem Haus gewesen sein. Ihre Kollegen trafen mehr als 90 Minuten später ein. Wenn sie alles geplant hat, hatte sie genug Zeit um Sayaka weg zu bringen und sich dann umzuziehen. Und sie hat kein Alibi für die Zeit dazwischen.“

Megure sah zu Sota. „Es gibt allerdings keinen Beweis, dass sie Ihrer Frau wirklich etwas angetan hat.“

Sota verengte die Augen. Er ballte die Faust. „Was brauchen Sie denn noch?“, zischte er wütend. „Ich präsentiere Ihnen hier die Beweise und Sie halten sie immer noch für Unschuldig? Was für inkompetente Polizisten sind Sie eigentlich?“

„Herr Shibungi“, mahnte der Inspektor. „Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber wilde Verdächtigungen bringen uns nicht weiter.“

„Dann schauen Sie sich dieses Video noch einmal an. Sie hat kein Alibi und war am Tatort.“

„Wir gehen allen Hinweisen nach“, antwortete Megure ruhig.

„Verdammt noch mal! Verhaften Sie sie endlich. Sie war es. Daran bleibt kein Zweifel. Das ist der Grund warum sie sich überhaupt bei meiner Firma beworben hat. Es war von Anfang an geplant.“

„Herr Shibungi, bitte, wir tun alles was wir können um Ihre Frau zu finden.“

Sota knurrte. „Und was haben Sie jetzt vor?“

„Wir ermitteln weiter.“

„Na großartig“, sagte er. „Sehen Sie sich die Presse an“, fing er an. „Die tun wenigstens etwas. Vielleicht sollte ich mich auch an die Presse wenden.“

Megure sah ihn an. „Wollen Sie mich erpressen?“

„Nein, das will ich nicht. Ich will, dass Sie endlich Ihre Arbeit tun. Ich habe Ihnen die Beweise geliefert. Was brauchen Sie noch?“

„Herr Shibungi, ich versichere Ihnen, dass wir unsere Arbeit machen. Wir sitzen rund um die Uhr an dem Fall und versuchen das Verschwinden Ihrer Frau aufzuklären.“

Es reichte ihm nicht. „Wie Sie wollen“, fauchte er und verließ wütend das Büro.

Megure sah ihm kopfschüttelend nach. Dann blickte er zu Takagi. „Wie sehen Sie das, Takagi?“, wollte er wissen.

„Die Beweise haben sich verhärtet. Wir haben gesehen, dass sich die beiden Frauen scheinbar gestritten haben. Sayaka Shibungi wirkte sehr ängstlich. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frau Starling dazu fähig ist.“

„Das geht mir genau so.“ Megure seufzte. „Aber wir müssen einsehen, dass Herr Shibungi recht hat. Wir können die Beweise nicht ignorieren.“

„Und das bedeutet?“

Megure sah auf die Uhr. „Ich besorge den Haftbefehl. Bringen Sie sie morgen früh hier her. Sie kommt in Untersuchungshaft.“

17.12.

Jodie sah auf die Uhr.

8:10. Du hast schon mal länger geschlafen, sagte sie sich selbst. Sie ging in die Küche, kochte Kaffee und deckte den Frühstückstisch. Sie goss sich bereits eine Tasse ein und trat an das Küchenfenster. Draußen begann der Schnee. Die Stadt war friedlich. Fast hätte sie all ihre Sorgen vergessen.

Das monotone Schnarchen von Camel – der auf dem Sofa schlief – holte sie aber wieder in die Realität zurück. Obwohl sie nicht allein war, fühlte sie sich einsam. Sie wollte, dass das alles aufhörte. Sie wollte nachts wieder in Ruhe schlafen und nicht immer daran denken müssen, was man ihr vorwarf. Außerdem konnte sie das mulmige Gefühl in ihrer Bauchgegend nicht los werden. Wie viele neue Alerts würde sie heute wohl haben?

Wann hörten sie endlich auf? Wieso fanden sie keine neue Geschichte die sie breit treten konnten? Warum war sie auch nur so hinter ihr her. Jodie biss sich auf die Unterlippe. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würden sie nie Ruhe geben.

Als es an der Tür klingelte, zuckte Jodie zusammen. Außerdem hörte sie ein Gähnen. Jodie ging durch den Flur zur Haustür. Sie nahm das Telefon der Freisprechanlage in die Hand. „Ja?“

„Guten Morgen, Inspektor Takagi hier. Könnten Sie mich rein lassen?“

„Inspektor“, murmelte sie. „Natürlich.“ Sie betätigte den Summer. Jodie atmete tief ein.

„Was ist passiert?“

Sie drehte sich überrascht um und sah Camel an. „Gott, Camel, musst du mich so erschrecken?“, wollte sie wissen.

„Tut mir leid…das war keine Absicht.“

„Schon gut. Ich wusste ja, dass du hier bist.“ Sie sah wieder zur Tür. „Inspektor Takagi kommt gleich.“

Es klingelte erneut an der Tür. „Das wird er sein“, sagte Jodie. Sie versuchte nicht eingeschüchtert zu wirken. Dennoch öffnete sie die Tür mit einem sehr schlechten Gefühl. „Inspektor Takagi, guten Morgen, kommen Sie doch rein.“

Der Inspektor nickte und trat ein. „Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung.“ Er sah an Jodie vorbei. „Oh. Agent Camel, guten Morgen.“

„Guten Morgen“, sprach der Agent.

„Inspektor“, fing Jodie an. „Haben Sie Neuigkeiten wegen Sayaka Shibungi? Ist sie wieder aufgetaucht?“, wollte sie dann wissen.

Takagi schüttelte den Kopf. „Es tut mir wirklich sehr leid. Es ist uns allen nicht leicht gefallen.“ Er zog einen Zettel aus seiner Jackentasche und gab ihn Jodie.

Sie wurde bleich. „ich…ich werde verhaftet…?“

„Ja“, sagte Takagi. „Wir haben weitere Beweise. Wir können…wir dürfen Sie jetzt nicht mehr frei rumlaufen lassen. Es ist erst einmal die Untersuchungshaft. Noch ist alles offen.“

Jodie schluckte.

„Ich habe dafür gesorgt, dass Sie in Einzelhaft kommen. Ich möchte das jetzt gern ohne großes Aufsehen machen, kommen Sie bitte mit?“

„Ja…natürlich…brauch ich irgendwas?“

„Ihr Anwalt wird Ihnen die Sachen mitbringen. Machen Sie sich keine Sorgen.“

„Ist gut…“, murmelte sie. Jodie blickte zu Camel. „Kannst du…?“

„Ich informiere Black und Akai.“

„Danke. Und sag ihnen, dass ich das durchsteh. Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen.“
 

***
 

Gin saß an seinem Laptop. Er studierte die veröffentlichten Artikel. Sowohl die von Zeitungen als auch die der Internetportale. Bei jedem Artikel kämpfte Gin mit seinem Würgereflex. Sie alle beschrieben Sayaka als Heilige. Etwas das sie wahrlich nicht war. Trotzdem waren alle Artikel sehr eintönig, was nur an einer Sache liegen konnte: Die Polizei hatte keine neuen Beweise.

Und wo nichts war, konnte nichts Neues veröffentlicht werden. Aber Gin kannte die Medien. Sie würden weiter forschen. Und wenn nicht, würde er dafür sorgen.

Gin knurrte. Diesmal würde er das FBI nicht so einfach davon kommen lassen. Jodie Starling war zwar niemand der ihnen gefährlich werden konnte, doch sie hatte die falsche Wahl getroffen.

Wer hätte gedacht, dass Sayaka uns doch noch nützlich sein wird.

Ihr Verschwinden rief einige Menschengruppen auf den Plan: Polizei, Presse, FBI. Wer aber nicht hören wollte, der musste fühlen. Und Sayaka war ein Risiko für die Organisation. Die Tatsache war alles andere als zu übersehen. Sayaka baute Gefühle auf wo sie keine haben durfte. Die Gefahr dass sie ausstieg und irgendwann alle mit in den Abgrund riss, war zu hoch. Sie musste eliminiert werden. Vor allem dann, als bekannt wurde, dass sich auch das FBI in der Firma breit machte und alles haargenau unter die Lupe nach.

Sayaka konnte man nicht mehr trauen. Auch wenn sie nicht viel wusste, konnte die Organisation nicht zulassen, dass auch nur eine Person einfach so ausstieg. Nur der Tod war das Ende. Eine andere Möglichkeit hatten die Mitglieder nicht. Die Organisation musste nun hart durchgreifen. Sie hatten so viele Verräter, so viele Menschen die ihnen auf der Nase herum tanzten – sie alle mussten bestraft werden. Es war eine Schmach für sie, dass gerade die Personen ein recht hohes Ansehen bei der Organisation genossen. Und einer von ihnen lief noch draußen frei herum. Allein deswegen musste Gin schon sorgen, dass Sayaka Shibungi für immer schwieg.

Gin gab zwar Vermouth den Auftrag sich um Sayaka zu kümmern, trotzdem war er sich im klaren, dass es schwer war die Frau unter Kontrolle zu halten. Vor allem dann, wenn das FBI ihre Nase hinein steckte. Und er traute der Schauspielerin nicht. Vermouth spielte ein falsches Spiel. Sie betrog und log wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekam. Sie war alles andere als vertrauenswürdig. Irgendwann würde der Boss die Wahrheit auch noch erkennen.

Natürlich setzte Gin sein Vertrauen nicht in Vermouth. Er selbst hatte auch die Akte von Sayaka gelesen und war Vermouth am nächsten Tag gefolgt. Er konnte durch ihre Verkleidung hindurch sehen und wusste, welche Rolle sie spielte. Aus sicherer Entfernung – sowohl vor dem FBI als auch vor den Kameras – beobachtete er das Szenario.

Na, schnüffelst du mir nach?, hatte Vermouth gefragt, als sie ihn endlich erblickte. Natürlich war er für sie absichtlich auffällig. Sie sollte wissen, dass er da war und sie beobachtete.

Aber eines musste er ihr lassen. Sie wusste, wie sie Sayaka Angst einjagen konnte und in die Ecke drängte. Gin hatte fast keinen Zweifel mehr an der Loyalität der Frau gehabt. Fast.

Am nächsten Tag verschwand Sayaka rein zufällig. Sie fuhr nicht zur Arbeit. Stattdessen blieb sie zu Hause. Und genau dort verlor sich ihre Spur.

Ich? Was soll ich damit zu tun haben?, wollte Vermouth im Anschluss von ihm wissen. Sie tat als wüsste sie nichts.

Für alle andere wäre es einfach nur Zufall, aber Gin glaubte nicht an Zufälle. Besonders nicht wenn sie sich wie jetzt häuften. Aber solange er Vermouth nichts beweisen konnte, musste er die Füße still halten. Gin saß in seinem Wagen. Er stand weit genug von Medipharm entfernt. Er würde nicht auffallen. Er stieg aus und ging einige Schritte in die Richtung des Unternehmens. Die Agenten im Zivilfahrzeuge erspähte er schnell. Akai war nicht in der Nähe. Das spürte er.

Gin blieb stehen und zog sein Handy aus der Manteltasche. Er unterdrückte die Nummer und rief als potentieller Kunde am Empfang in der Firma an. Gin wusste welche Knöpfe er drehen musste, schon bald hatte er die Aufmerksamkeit der Empfangsdame, die sich mehrfach aber entschuldigte. Sota Shibungi war nicht in der Firma. Er nahm sich einige Tage frei. Dennoch versicherte sie ihm, dass der Geschäftsführer zurück rufen würde. Gin sagte ein paar zufällige Zahlen ehe er auflegte.

Gin schüttelte den Kopf. Es brachte nichts an die vergangenen Tage zu denken. Er musste sich wieder auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Er aktualisierte das Fenster an seinem Laptop. Er knurrte und fuhr zurück zum Gebäude. Noch immer wurde keine Nachricht eingespeist, dabei hätte es eigentlich der Fall sein sollen. Außer…

Wodka kam in den Raum. Er sah seinen Partner an. „Ich konnte sie nicht finden“, sprach er.

Gin klappte den Laptop zu und drehte sich um. „Wo warst du?“

„Auf dem Friedhof. Dort wo ihr Bruder und ihre Eltern liegen. Die vergangenen Wochen hat sie das Grab ihres Bruders häufiger besucht.“

„Was ist mit dem Peilsender?“, wollte Gin wissen.

Wodka schüttelte den Kopf. „Das Handy blieb im Haus. Immer wenn wir es überprüfen, werden wir wieder dorthin geführt. Sie muss es liegen gelassen haben“, folgerte er. „Nach dem Friedhof bin ich zu ihrem alten Elternhaus und dem Haus ihrer Großmutter gefahren. Dort war sie auch nicht.“

Gin nickte. „Was ist mit dem Auftrag den ich dir gegeben habe?“

„Der ist erledigt“, antwortete Wodka sofort.

„Und du bist dir sicher, dass dich keiner gesehen hat?“

„Ja“, meinte Wodka. „Ich habe alles so gemacht, wie du es gesagt hast.“

„Wirklich?“

„Natürlich, Aniki“, kam es von Wodka. „Ich habe einen Kurier bezahlt damit er den Umschlag auf die Türschwelle der Shibungis legt. Als ich mich mit dem Boten getroffen habe, hatte ich einen Trenchcoat an. Mein Gesicht war auf den Boden gedreht, sodass er denken musste, dass ich mich schäme. Ich gab an, dass ich meiner Geliebten etwas schicken müsste. Er nahm es mir ab, zumindest hat er sich nicht gewundert. Wahrscheinlich durfte er ähnliche Aufträge schon häufiger machen. Als er los gefahren ist, bin ich ihm unauffällig gefolgt. Ich habe ihn im sicheren Abstand beobachtet. Es lief alles nach Plan. Er hat den Umschlag auf die Fußmatte gelegt und dann geklingelt. Danach ist er wieder los“, erzählte Wodka.

„Was ist mit Shibungi?“

„Der ist einige Minuten später raus gekommen. Er sah sich draußen um. Aber ehe er rein ist, hat er den Umschlag gefunden und mit rein genommen.“

Gin grinste. „Gut.“

„Was war in dem Umschlag, Aniki?“, fragte Wodka.

„Eine DVD.“

„DVD?“

Gin klappte den Laptop wieder hoch und öffnete dann das Video. Er spielte es ab. „Schau genau hin.“

Wodka sah sich die Szenen zwischen Jodie und Sayaka gespannt an. Er war überrascht. „Das hätte ich dieser Starling gar nicht zugetraut.“

Gin blickte kühl drein. „Das ist Vermouth.“

„Ver…mouth…“, murmelte Wodka.

Gin grinste. „Schau auf das Datum.“

Wodka nickte. Dann wirkte er verwirrt. „Das ist ja vor ihrem Verschwinden.“

„Mach dir nicht in die Hose“, antwortete Gin. „Wir haben uns ein paar andere Aufnahmen von der guten Sayaka besorgt. Vermouth hat mit einem Double die Szenen nachgestellt. Und dann wurde schön geschnitten.“

Wodka lachte. „Nicht schlecht. Damit haben wir das FBI in die Pfanne gehauen.“ Wodka hustete und hatte sich wieder gefangen. „Aber was ist mit der Polizei und dem FBI? Die werden doch wissen, dass es sich um eine Montage handelt.“

„Selbst wenn sie etwas ahnen. Sie haben keine Orginale. Sie können nie und nimmer überprüfen was hier geschnitten wurde und was nicht.“

„Und was macht das FBI?“

„Das FBI wird sich natürlich denken können, dass Sayaka für uns tätig war. Aber sie werden keine Beweise finden und müssen verzweifeln. Ich hab gehört, dass das Frauengefängnis nicht gerade ein entspannter Ort sein soll.“

Wodka grinste. „Aber was ist mit den Mitarbeitern in der Firma? Werden die ihr kein Alibi geben?“

„Mach dir darum keine Sorgen“, antwortete Gin. „Wenn du die letzten Artikel gelesen hast, würdest du wissen, dass sich keiner mehr sicher ist, wann welcher Kollege das Büro verließ. Heute heißt es 12 Uhr, morgen ist es 11 Uhr.“

„Das wird dem FBI nicht passen.“

„Tja…das ist nicht unser Problem“, sagte Gin. „Wir müssen Sayaka finden ehe sie plaudert. Sie ist untergetaucht und es ist ihr gelungen uns an der Nase herum zu führen. Dafür muss sie bezahlen. Sie soll sehen, was es heißt wenn man sich die Organisation zum Feind macht. Wenn sie aussteigen will, soll sie es machen. Ich knall sie gern ab.“

„Ich halt die Augen weiterhin offen.“

Das war interessant.

Er grinste. Jetzt hatte er genug gehört. Nun konnte er handeln.
 


 

***
 

James sah Jodie an. Sie sah nicht gut aus. Jodie trug einen grauen Sportanzug und sah blass aus. Man merkte ihr kaum an, dass sie erst seit einigen Stunden unter Arrest war. Es wirkte als wären es Jahre.

„Wie geht es dir?“, wollte James von ihr wissen.

Jodie zuckte mit den Schultern. „Den Umständen entsprechen würde ich sagen“, antwortete sie. „Ich habe zum Glück eine Einzelzelle bekommen. Und bisher weiß keiner, dass ich zum FBI gehöre. Wie ich es mitbekommen habe, krieg ich Frühstück, Mittag und Abendessen immer in meine Zelle gebracht. Zwischendurch gibt es Zeiten wo ich mit den anderen Insassen in den Hof kann. Aber ich glaube, ich werde das in der nächsten Zeit nicht in Anspruch nehmen. Und ansonsten bleibe ich in meiner Zelle, liege auf dem Bett und starre die Decke an.“

„Das tut mir leid“, sagte er. „Wir arbeiten daran dich hier raus zu holen. Akai sucht nach Beweisen.“

„Bitte nicht über das Vergehen sprechen“, kam es abrupt vom Wachmann.

„Ich halt hier schon durch“, meinte Jodie ruhig. „Jetzt kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, wie es auf dieser Seite ist….das kann doch später für die Arbeit helfen…wenn ich selbst wieder Verbrecher verhöre…vorausgesetzt das FBI will mich noch.“

„Natürlich arbeitest du weiter für uns“, sprach James energisch. „Wir wissen, dass du unschuldig bist. Dein Anwalt wird heute auch noch mit dir sprechen. Er wird mich über alles auf den Laufenden halten.“

Der Wachmann räusperte sich.

„Akai und Camel werden dich bestimmt auch noch besuchen“, wechselte James das Thema. „Besonders Camel macht sich Sorgen um dich.“

„Tut mir leid“, murmelte Jodie. „Das wollte ich nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Camel dabei war, als ich…naja du weißt schon.“

„Mach dir darüber mal keine Gedanken. Wir kriegen das hin. Und wenn du wieder zu Hause bist, wirst du dich erst einmal richtig ausruhen und erholen. Und ich möchte keine Widerworte hören.“

„Dabei dachten wir, dass es mit Babysitter besser wird“, kam es leise von Jodie. „Das werde ich. Mit einem schönen heißen Bad. Und danach geht es ab ins Bett und dann wird geschlafen bis zum geht nicht mehr.“

„Das ist eine gute Idee.“ James lächelte. „Ich muss jetzt leider gehen, Jodie. Der Anwalt wartet bereits darauf, dass er mit dir sprechen kann.“

„Ist gut.“ Sie blieb sitzen. „Danke für deinen Besuch.“

James wollte sie umarmen, obwohl er wusste, dass es verboten war und dass es ihn seine Besuche kosten konnte. Stattdessen sah er sie nur herzlichst an. „Halte dich.“

„Mach ich“, murmelte sie leise.
 

Jodie wartete einen Moment. Ihr Anwalt betrat den Raum und setzte sich ihr gegenüber.

„Haben Sie heraus gefunden, warum mich die Polizei nun in Untersuchungshaft brachte?“

Tanaka nickte. „Es ist ein weiteres Video aufgetaucht“, sprach er.

„Oh nein…“ Jodie seufzte. Sie ahnte schlimmes.

„Mr. Black hat es bereits gesehen. Das Video zeigt Sie. Sie verlassen um kurz nach 11 Uhr Medipharm und kommen nicht mehr wieder.“

„Das war ich nicht. Ich bin erst eine Stunde später gegangen“, sagte Jodie vehement. „Das müssen Sie mir glauben.“

„Das tu ich. Aber was ich glaube und was nicht, ist für diesen Fall egal. Das Video ging noch weiter. Am Ende wurde eine Szene vom Morgen gezeigt. Frau Shibungi kam in die Firma. Sie haben auf sie gewartet. Sie haben sich gestritten. Man konnte keinen Ton hören, aber anhand der Mimik und der Gestik war es erkennbar.“

„Das war ich auch nicht. Ich parke nicht einmal in der Tiefgarage“, entgegnete Jodie. „Ich parke meinen Wagen immer draußen und geh dann rein.“

„Man sieht auch nicht, dass Sie Ihren Wagen parken. Man sieht nur, dass Sie auf Frau Shibungi warteten.“

Jodie seufzte. „Das ist doch nicht für eine Verhaftung ausreichend.“

„Nicht allein, das stimmt. Aber es besteht nun Fluchtgefahr.“

Jodie sah ihren Anwalt schockiert an. „Fluchtgefahr? Aber wie soll das gehen? Ich will doch nicht einmal in die Staaten.“

„Die Polizei erhielt einen Tipp. Ihnen wurde mitgeteilt, dass man Sayaka Shibungi am Flughafen fand und sie in den nächsten Flieger nach New York steigen will. Bei der Überprüfung der Passagierliste tauchte Ihr Name auf. Jetzt nimmt jeder an, dass Sie sich in die Staaten absetzen wollen“, erklärte Tanaka.

Jodie wurde bleich. „Das darf nicht…“ Sie schluckte und kämpfte mit den Tränen. „Ich habe nichts getan…ich weiß, das alles gerade gegen mich spricht, aber ich habe nichts getan.“ Jodie beugte sich nach vorne, stützte sich mit den Ellbogen ab und vergrub ihr Gesicht in den Handflächen. „Die Videos…der angebliche Streit…ich im Haus der Shibungis…mein Name auf der Passagierliste…alles spricht gegen mich.“

Tanaka nickte.

„Können wir das Video nicht analysieren lassen?“

„Das ist nicht einfach“, antwortete der Anwalt. „Wir haben nicht das Orginal. Laut meinen Aufzeichnungen befindet sich dieses nun bei der Polizei. Ohne einen hinreichenden Anhaltspunkt werden wir das Video nicht so einfach in die Hände bekommen. Wir müssten erst nachweisen, dass man Sie reinlegen will.“

„Und das ist nicht beweisbar“, murmelte sie.

„Ich glaube Ihnen und Mr. Black. Jemand möchte Sie als Bauernopfer hinstellen. Unter diesem Fokus nehme ich an, dass das Video welches nun auftauchte ebenfalls nicht das Orginal ist. Damit ist die Chance das wir noch Hinweise finden sehr gering.“

„Verdammt…und wie wollen wir dann meine Unschuld beweisen?“

„Wenn ich ehrlich bin, sehe ich dafür so gut wie gar keine Chance. Wenn Ihre Kollegen nicht bald etwas finden, müssen wir davon ausgehen, dass es zu einer Verurteilung kommt.“

Jodie schluckte.

„Die Indizien sind ausreichend damit die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt. Ein Unschuldiger würde nicht versuchen sich abzusetzen. Black hatte überlegt zu sagen, dass Sie von Ihren Vorgesetzten abgezogen worden sind. Aber damit würde sich das FBI nur strafbar machen wenn es in eine laufende Ermittlung so eingreift. Wir könnten es mit Schadensbegrenzung versuchen.“

„Schadensbegrenzung“, wiederholte Jodie leise. „Und was heißt das? Soll ich einfach gestehen?“

Tanaka nickte. „Sie müssen reumütig sein. Und sie müssen dem Gericht glaubhaft schildern warum Sie mit Frau Shibungi aneinander gerieten und natürlich auch warum sie dann im Haus waren. Wir könnten anführen, dass Frau Shibungi Sie nicht in der Firma wollte. Sie könnte es Ihnen bei Ihrem ersten Streit gesagt haben. Deswegen sind Sie wütend geworden. Und als Sie dann am Nachmittag noch einmal mit ihr reden wollte, nahm sie fälschlicherweise an, dass Sie nur an ihren Mann heran wollten. Das würde erklären warum der Streit ein wenig eskaliert ist. Frau Shibungi fürchtete sich und griff nach einem Messer. Sie wollte sich verteidigen. Sie sahen aber auch in dem Messer eine große Gefahr, wichen aus und wollten ihr dieses aus der Hand schlagen. Dabei kam es zum Unfall. Frau Shibungi zerstörte die große Fensterscheibe. Durch ihren Adrenalinschub kletterte sie aus dem Fenster und floh. Sie selbst kamen nicht mit dem Blut in Berührung und wollten gerade die Polizei rufen, als diese schon in der Tür stand. Außerdem haben Sie nicht von Anfang an kooperiert, weil sie an ihre Arbeit in den Staaten denken mussten. Wenn Sie das alles glaubhaft rüber bringen, könnten wir vielleicht einer Haftstrafe entgegen.“

„Und was ist, wenn in paar Monaten doch eine Leiche auftaucht?“

„Dann haben Sie nichts damit zu tun. Sie sahen nur, wie sie verschwand. Mehr nicht. Da die Polizei Sie in die Mangel nahm, konnten Sie folglich nichts machen. Außerdem wie sollen Sie jemanden umbringen, wenn Sie hier sitzen?“

„Weiß James von der Idee?“

„Nein. Noch nicht. Ich werde ihn natürlich über meinen Vorschlag in Kenntnis setzen.“

„Vorausgesetzt ich bekenne mich schuldig. Was würde mich für eine Strafe erwarten?“

Er runzelte die Stirn. „Wenn Sie einen gnädigen Richter bekommen, könnte es mit Bewährung enden. Aber ich möchte ihnen nicht viel Hoffnung machen. Im schlechteren Fall werden es bis zu 5 Jahre Gefängnis und im schlimmsten Fall bis zu 15 Jahre.“

Jodie schluckte. Sie wusste nicht einmal ob sie 2 Tage durchstand. Wie sollte es dann mit Jahren werden?

18.12.

Shuichi ging zurück zu seinem Wagen. Seit zwei Tagen war er bereits auf der Suche nach einer guten Quelle gewesen. Wie James oftmals seine Bekannten hatte, so hatte Akai seine Informanten. Bereits als er wieder nach Japan kam, machte er sich auf die Suche nach verlässlichen Quellen, sah sich in den verschiedenen Bars um, nahm Gassen in Augenschein und auch die Bahnhöfe. Durch seine Erfahrung wusste er bereits welche Gestalt als Quelle taugte und welche nicht. Akai hatte genug, mehr als man zählen konnte. Viele Informanten hieß aber auch, dass man sie nicht alle am gleichen Tag antreffen konnte. Am Tag war es nahezu unmöglich. Erst mit Einbruch der Dunkelheit hatte man eine Chance.

Leider war es ihm bisher nicht möglich jemanden aufzutreiben. Es war das erste Mal, dass seine Suche nach einem Informanten so schleppend voran ging. Normalerweise reichte es, wenn er das ein oder andere Foto herum zeigte oder einen bestimmten Namen nannte. Im Notfall griff er auf andere Hilfsmittel zurück. Einige Informanten tranken gerne, sodass er ihnen einfach nur ein alkoholisches Getränk ausgeben musste. Da Alkohol die Zunge lockerte, war es ein beliebtes Mittel der Wahl. Es gab aber auch Informanten die einen Platz zum schlafen brauchten. Wenn er konnte, half er und bezahlte – zumindest für eine Nacht – ein Hotelzimmer. Egal was er war, er fand immer eine Möglichkeit.

Allerdings war ihm das Glück nicht hold. Keiner hatte etwas gesehen. Keiner konnte ihm etwas sagen. Seine Suche war ergebnislos, die Zeit umsonst. Aber eines war klar. Ein Mensch konnte nicht einfach so vom Erdboden verschwinden. Jeder hinterließ Spuren und war auffindbar. Man brauchte nur einen Anhaltspunkt, eine Kleinigkeit die nicht ins Bild passte.

Es gab nur noch zwei Möglichkeiten: Die Organisation kümmerte sich um Sayaka oder Sayaka plante die ganze Sache länger. In Hinblick auf die gefundenen Wanzen wurde die zweite Option immer wahrscheinlicher.

Sein Bauchgefühl sagte ihm auch, dass Sayaka ihr Verschwinden geplant hatte und Jodie nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Akai wusste nur nicht ob der Anruf, der die Polizei zum Haus brachte echt oder nur Zufall war.

Shuichi öffnete die Wagentür und stieg ein. Er lehnte sich nach hinten und schloss kurz die Augen. Wenn sie bald keine Beweise fanden, hatte Jodie sehr schlechte Karten. Shuichi stieß ein Knurren aus. Er öffnete die Augen und sah auf die Uhr auf seinem Handy. Die Nacht war vorbei. Und noch immer war er keinen Schritt weiter. Es gab keine Neuigkeiten, weder von Camel noch von James. Akai steckte das Handy weg, schnallte sich an und startete den Motor seines neuen Autos. Auf direktem Weg fuhr er zum Büro. Er parkte, ging rein, grüßte kurz den Wachmann und fuhr anschließend mit dem Fahrstuhl nach oben. Akai wollte sich nicht ausmalen was für ein Albtraum das alles für Jodie war. Sie saß seit 2 Tagen in Untersuchungshaft und musste mit ansehen, wie immer wieder Beweise auftraten, die sie belasteten. Für Menschen die nicht in die Kategorie Gesetzeshüter fielen, war ein Aufenthalt in der Untersuchungshaft schon schwer. Wie sollte es dann für Jodie sein?

Wobei sie noch Glück hatte und in eine Einzelzelle kam und auch Besuch – außer ihrem Anwalt – empfangen durfte. Andauernd appellierte Camel an sein Gewissen. Er solle Jodie besuchen und ihr das Gefühl geben, dass sie nicht alleine war und dass er für sie da war. Natürlich war das der Fall. Doch jede Minuten die er abgelenkt war, war eine vergeudete Minute. Sein Besuch hätte nicht nur fünf Minuten gedauert. Er wäre länger geblieben und hätte damit Zeit verspielt. Jodie würde ihn schon verstehen. Vor allem nun, wo ihr Name auf der Flugliste auftauchte. Die japanische Polizei ging von einem Fluchtversuch aus. Das hätte er auch, wenn er nicht wüsste, dass Jodie nie so etwas tun würde.

Die Zeit lief ihnen davon. Das Rechtssystem war komplizierter als man dachte. Eine Verhandlung konnte in einigen Monaten stattfinden – was hieße, dass Jodie die ganze Zeit in Gewahrsam sein würde – oder sie wurde direkt in der ersten Januar-Woche angesetzt. Sie hatten nicht mehr viel Zeit um Jodies Unschuld zu beweisen. Aber auch das war eine Zumutung für Jodie. Sie würde nie mehr dieselbe sein, wenn sie aus der Haft entlassen wurde. Je länger sie in der Untersuchungshaft saß, desto schlimmer würde es werden. Er wollte sie jetzt nach Hause bringen.

Shuichi sah sich im Großraumbüro um. Viele Plätze waren unbelegt. Einige Agenten hielten noch an den amerikanischen Weihnachtsbräuchen fest und flogen zurück nach Hause. Nur die wenigen – er unter anderem – hatten keine Probleme über die Feiertage in Japan zu bleiben. Seine Familie konnte und wollte er nicht sehen. Sie zu Besuchen hieß sie in das Fadenkreuz der Organisation bringen. Lieber nahm er den Ruf des kühlen Agenten in Kauf.

Shuichi startete den Computer und rief den Internet-Browser auf. Anschließend ging er die letzten Zeitungsartikel durch. Sie berichteten immer noch über das Verschwinden von Sayaka Shibungi. Einige zeigten das Bild der jungen Frau und erzählten ihr bewegendes Schicksal: Verlust der Eltern, Großeltern und des Bruders. Das alles war dem FBI nicht neu. Sie überprüften jeden einzelnen Tod so gut sie konnten, sahen sich den Totenschein an und versuchte an die damalige Behandlungsakte zu kommen. Nichts ließ darauf schließen, dass am Wagen manipuliert wurde. Zumindest nicht auf Sayakas familiärer Seite. Beim Unfallgegner der Eltern sah es anders aus. Die Bremsen waren durchschnitten, der Wagen krachte in das andere Auto und führte zum Tod von vier Personen. Obwohl ermittelt wurde, konnte kein Täter gefunden werden. Der Fall wurde geschlossen. Bei Shion Mikage schien alles wirklich nur ein Zufall zu sein. Der Unfallgegner fuhr viel zu schnell und konnte dem Wagen nicht mehr ausweichen. Fremdeinwirkung war auszuschließen. Nun war es Sayaka selbst die mit ihrem Verschwinden für die Schlagzeilen sorgte.

Der unbekannte Täter wurde in der Luft zerrissen, beleidigt und nieder gemacht. Sie ließen kein gutes Haar an ihr. Man stellte sie als Monster dar, als jemand der sich an den Hals von Sota Shibungi warf und abgewiesen wurde. Jodie war die Verstoßene und handelte aus Rache. Aber wenigstens kannten sie weder einen Namen noch eine Adresse.

Shuichis Handy gab ein Geräusch von sich. Er zog es aus der Jackentasche und überprüfte eingegangene E-Mail. Mit der Maus klickte er wieder zurück und aktualisierte das Nachrichtenfenster. Er betrachtete den neuen Artikel, klickte ihn an und begann zu lesen. Mit einem Mal musste er schlucken.

Jodie S.

Sie wussten es. Sie hatten ihren Namen. Und sie hatten keine Angst diesen zu veröffentlichen. Wäre er wenigstens japanisch, stünden die Chancen besser. Da es nicht so viele Amerikaner in Japan gab, würde Jodie für eine lange Zeit im Gedächtnis bleiben. Akai tippte schnell auf seinem Handy herum und schickte James eine Nachricht. Jodies Name steht in der Zeitung.

Dann überprüfte er im Impressum den Nachrichtenverlag und wählte dessen Nummer. Nach zweimaligem Klingeln ging ein Mitarbeiter ran.

„Guten Morgen, Inspektor Shiratori hier. Verbinden Sie mich mit Herrn Naoki.“

„Bitte warten Sie, ich verbinde.“

Akai wartete.

„Hier Naoki. Was kann ich für Sie tun, Inspektor?“, wollte der Mann wissen.

„Es geht um Ihren neuen Artikel. Sie wissen, dass Sie die Namen über potentielle Verdächtige nicht einfach so veröffentlichen dürfen“, sagte er. „Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Sie unseren Ermittlungen damit schaden und dass Sie auch sich schaden, wenn die Unschuld der Frau bewiesen wurde.“

„Nach meinen Informationen sprechen sämtliche Beweise gegen die Frau“, entgegnete der Reporter. „Verbuchen Sie den Artikel unter Pressefreiheit.“

Akai knurrte. „Wenn das so ist, dann haben Sie bestimmt kein Problem damit, dass wir Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit vorladen werden.“

„Ach kommen Sie. Wie soll ich Sie behindern? Sie haben doch selbst die Beweise vorliegen. Und selbst wenn es Frau Starling nicht ist, wird sich der Täter in Sicherheit wiegen und Fehler machen. Vielleicht sollten Sie mir dafür danken. Im Übrigen werden wir natürlich Frau Starling rehabilitieren, sollte sich heraus stellen, dass sie nichts damit zu tun hat“, sprach Naoki.

„Wir wissen doch beide wie das abläuft. Ein Artikel der sich um ihre Unschuld dreht, wird maximal ein Dreizeiler sein und kaum gelesen werden. Ich hoffe Ihnen ist klar, dass Sie mit solchen Hetzartikeln das Leben einer unschuldigen Frau zerstören können“, warf Shuichi ein.

„Darf ich Sie zitieren, Inspektor, und Ihren Anruf als Stellungnahme werten?“

Shuichi wollte ihm ins Gesicht schlagen, stattdessen versuchte er ruhig zu bleiben. „Nein.“ Er legte auf und ballte die Faust. Das hatte er großartig hinbekommen. Shuichi wusste, dass Jodie nun noch mehr in den Fokus gerückt war.
 

***
 

James betrat das Großraumbüro. Er sah zu Akai. „Akai, in mein Büro.“

Shuichi stand auf und folgte seinem Vorgesetzten. Er setzte sich direkt auf den Stuhl. „Konnten Sie etwas wegen dem Artikel erreichen?“, wollte Shu wissen.

„Ja, aber es wird Ihnen nicht gefallen“, fing James an. „Der Artikel wurde aus dem Netz genommen. Allerdings lag die Klickrate ziemlich hoch. Ich hab den ganzen Vormittag damit verbracht bei den verschiedenen Lokalitäten anzurufen und ihnen untersagt Jodies Namen zu veröffentlichen. Mittlerweile gibt es bereits so viele, das ich bezweifel, dass es etwas gebracht hat.“

„Mhm.. Und was tun wir jetzt deswegen?“

James runzelte die Stirn. „Leider können wir nichts dagegen tun. Sobald ein neuer Artikel im Internet erscheint, werde ich per E-Mail informiert. Danach müssen wir weiter sehen.“

„Verstehe“, murmelte Akai. „Und was machen wir wegen den Beweisen die gegen Jodie auftauchten?“

„Welche Beweise?“ Camel kam ins Büro rein. „Entschuldigen Sie die Verspätung.“

„Schon gut. Setzen Sie sich“, sagte Black. „Es ist ein weiteres Video aufgetaucht. Sota Shibungi hat es höchst persönlich an die Polizei übergeben. Auf dem ersten Teil im Video sieht man Jodie. Sie verlässt Medipharm um kurz nach 11 Uhr. Damit hätte sie genug Zeit um sich um Sayaka im Haus zu kümmern.“

„Vermouth?“ Camel schluckte.

„Wir nehmen es an“, kam es von James. „Es könnte aber auch eine Fotomontage sein.“

„Sie sagten im ersten Teil. Was ist auf dem zweiten Teil zu sehen?“, wollte Camel wissen.

„Man sieht Jodie und Frau Shibungi in der Tiefgarage von Medipharm, am 12. Dezember, vor neun Uhr. Es gibt keinen Ton, aber die Mimik und Gestik ist sehr aussagekräftig. Man sieht wie Jodie Frau Shibungi anschreit und in Bedrängnis bringt. Als Jodie weg ist, sackt Frau Shibungi zitternd zusammen und steigt wieder in ihren Wagen. Die Polizei nimmt an, dass sie anschließend in der Firma anrief und sich den Tag noch frei nahm. In diesem Teil des Videos sind wir uns sicher, dass es sich bei dieser Jodie um Vermouth handelt.“

„Sie hat es schon wieder gemacht“, murmelte Camel leise. „Das wird Jodie nicht gefallen.“

„Ich weiß. Sie weiß es natürlich schon und hat sich alles andere als gefreut. Sie gibt sich tapfer.“

„Reichen die Videos als Beweismittel?“, fragte Camel schließlich.

„Leider ja. Normalerweise ist es mit Videobeweisen so eine Sache. Aber da die Mitarbeiter gewusst haben, dass sie gefilmt wurden, sollte es kein Problem geben dieses zu benutzen.“

„Haben wir eine Möglichkeit um das Video von unseren Spezialisten analysieren zu lassen?“

„Wir haben es versucht“, antwortete James. „Aber wir bekamen nur eine Kopie. Und in dieser können wir keine Montage erkennen. Wir brauchen das Orginal aus der Firma. Ich bezweifel, dass wir dieses bekommen werden.“

Shuichi knurrte leise. „Was für ein Zufall, dass das Video ausgerechnet jetzt auftauchte.“

„Laut der Polizei soll Shibungi zu Hause seine Überwachungsvideos gesichtet und die Dateien gefunden haben. Er sagt aus, dass er der Polizei das Orginal überlassen hat. Ob das stimmt oder nicht werden wir wohl nie erfahren.“

„Natürlich kriegen wir es nicht“, spottete Shu. „Er hält Jodie für schuldig. Er wird nicht zulassen, dass wir ihre Unschuld beweisen.“

„Was ist mit den Kollegen? Jodie hatte doch zu ihnen Kontakt“, sprach Camel.

„Inspektor Takagi hat alle Kollegen befragt. Sie waren sich nicht mehr sicher wann Jodie das Büro verlassen hat. Sie bestätigen nur, dass es vor der Mittagspause war.“ James seufzte.

„Großartig“, kam es von Akai. „Die Frau am Empfang hat auch nichts mitbekommen?“

„Sie sagt, dass sie nicht auf die Uhr geschaut hätte.“

„Das stinkt doch“, meinte Akai.

„Daran gibt es keinen Zweifel für mich.“ James sah zu Camel. „Es gibt noch einen anderen Beweis gegen Jodie“, fing James an. „Die Polizei hat einen Tipp bekommen, dass Sayaka Shibungi am Flughafen gesichtet wurde und nach New York fliegen will. Daraufhin wurden die Passagierlisten überprüft. Jodie stand auf einer drauf.“

„Und jetzt nimmt die Polizei an, dass Jodie fliehen wollte“, fügte Akai an.

Camel wurde bleich. „Nein…das…kann nicht…Sie würde…nicht…“

„Das wissen wir. Aber jeder Richter wird sich nur daran orientieren was ihm vorliegt.“ James sah zu Akai. „Haben Ihre Kontakte uns weiterhelfen können?“

Shuichi schüttelte den Kopf. „Keiner hat sie gesehen. In den letzten Tagen gab es auch keine Person die sich eine neue Identität verschaffen wollte.“

„Ich verstehe…Jodies Anwalt sagt, dass es für sie gar nicht rosig aussieht. Er schlägt uns vor, dass sich Jodie für schuldig bekennt.“

„Sie soll was?“, entgegnete Akai aufgebracht.

„Jodie soll zugeben, dass sie sich mit Sayaka Shibungi gestritten hat und es dann zu einem Unfall kam. Sie wollte ihr anschließend helfen, aber Sayaka lief weg.“

„Na toll“, zischte Shuichi. „Und will Jodie das machen?“

„Ihr ist nicht wohl dabei. Ich sehe es auch nicht gern. Aber wenn es zu einer Verurteilung kommt, drohen Jodie 15 Jahre, vielleicht sogar mehr. Wenn sie stattdessen ein Geständnis macht, könnte sich die Strafe mildern. Mit einem Richter der sie wirklich bestrafen will, kann sie immer noch bis zu 5 Jahre bekommen. Oder sie wird freigesprochen. Aber die Chancen dafür stehen nicht gut. Gerade weil man auch nicht nachweisen kann wie es wirklich war.“

Akai schluckte. Fünf Jahre waren lang. Mit der täglichen Routine würden ihr die Tage noch länger vorkommen. Jodie würde es nicht schaffen. Sie würde daran kaputt gehen. „Jodie wird sich nicht schuldig bekennen!“

„Ich kann Sie ja verstehen. Ich möchte auch nicht, dass sie das macht. Aber…“

„Aber was?“, wollte Shu wissen. „Dann wird ihre Strafe milder. Und was bringt uns das? Sie wird für etwas bestraft, was sie nicht getan hat. Das dürfen wir nicht zulassen.“ Er ballte die Faust. „Ist bereits bekannt, wann ihr Fall verhandelt werden könnte?“

„Nein, noch nicht. Im schlimmsten Fall dauert es noch einige Monate. Im besten Fall findet eine Verhandlung direkt nach Neujahr statt. Ich tendiere dazu, dass die Verhandlung im Januar stattfinden wird. Nun da Sayaka Shibungi eine Person der Öffentlichkeit ist, wird man versuchen den Fall so schnell wie möglich zu lösen und jemanden zu bestrafen. Mir behagt dieser Zeitdruck auch nicht, aber wir hatten sowieso vorgehabt, Jodie so schnell wie möglich aus der Haft zu holen.“ James musterte Akai. „Waren Sie schon bei ihr?“

„Dafür hab ich momentan keine Zeit. Und Jodie weiß das auch. Ich nutze jede Minute für die Suche nach Shibungis Frau.“

„Ich habe die letzten Artikel über den Fall gelesen. Jodies Name wurde erwähnt“, sprach Camel. „Wie gehen wir vor?“

„Ich kümmere mich darum“, entgegnete James. „Ich habe bereits Akai erklärt, dass der Artikel eine hohe Klickrate gehabt hat. Momentan sind aber alle Artikel mit Jodies Namen aus dem Netz entfernt. Ich kontrolliere es weiter.“

„Und was machen wir wenn jemand über Jodies Vergangenheit recherchiert?“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Das FBI wird schweigen. Ich habe heute Nacht auch mit Jodies ehemaligen Schulen und mit dem Dekan ihrer Universität telefoniert. Sie alle werden ebenfalls schweigen. Die Lehrer sowie alle Professoren wissen Bescheid. Genau so habe ich die Oberschule informiert und sie gebeten, kein Wort über Jodie zu verlieren. Alle waren sehr kooperativ“, antwortete James. „Die Lehrer werden natürlich die Schüler informieren und ihnen ein Gespräch mit der Presse über Jodie verbieten.“

„Was ist mit den Kindern wie Conan?“, kam es dann von Camel.

„Um Conan müssen wir uns keine Sorgen machen“, sprach Akai.

„So ist es“, nickte James. „Conan redet mit den anderen Kindern. Natürlich hat er uns gleich seine Hilfe angeboten.“

„Ich hoffe, Sie haben abgelehnt.“

„Natürlich.“
 

***
 

Shuichi kam aus dem Gebäude. Der Abend begann bereits, Dunkelheit setzte ein. Draußen zündete er sich seine Zigarette an. Der Tag war fast vorbei und er war noch immer kein Stück weiter. Gleich würde er wieder an zwielichtige Orte fahren und sich nach potentiellen Informanten umsehen. Shuichi stieß den Rauch aus und ging zu seinem Wagen. Aus der Hosentasche zog er den Schlüssel und drückte auf diesen. Sofort blinkten kurz die Scheinwerfer auf und entriegelten das Schloss. Akai verengte die Augen als er einen Gegenstand in seinen Scheibenwischern erblickte. Er zog das Handy heraus und nutzte dessen Licht als Taschenlampe. Skeptisch blickte er auf den Umschlag.

Er nahm ihn, öffnete die Tür und setzte sich rein. Shuichi öffnete den Briefumschlag und zog die DVD heraus. Er steckte sie wieder zurück und holte den beiliegenden Zettel heraus. Akai musste grinsen.

Er stieg wieder aus dem Wagen und ging zurück nach oben in das Büro. Ohne auf die anderen Agenten und die Etikette zu achten, trat er einfach in das Büro seines Vorgesetzten. „Wir müssen uns das ansehen.“ Akai legte den Umschlag auf den Tisch.

„Was ist das?“, wollte James wissen. Er runzelte die Stirn und zog den Umschlag zu sich.

„Ich nehme an, dass es sich um Beweise für Jodies Unschuld handelt“, sagte Shuichi.

James zog die DVD heraus. Dann ließ er das DVD Laufwerk seines Computers heraus fahren und legte die DVD ein. Akai kam um den Tisch herum und stellte sich hinter James. Beide sahen gebannt auf den Film.

Das Video begann mit der Szene von Medipharm. Es zeigte den Eingangsbereich sowie eine kleine Uhr an der Ecke. Wie in dem Video das der Polizei vorlag, verließ Jodie das Gebäude.

„Da.“

James sah auf die Uhr.

12:16:42 – 12.12.2016

„Eine Stunde später als auf dem Video bei der Polizei.“

James nickte. „Das reicht aus um einen Zwiespalt in den Beweismitteln aufzuweisen“, entgegnete er. „Die Polizei muss herausfinden welches Video das Orginal ist.“

„Sie werden es sicher merkwürdig finden, dass Herr Shibungi ihnen eins gab. Wenn wir Glück haben, wird er sich wegen Manipulation der Beweismittel verantworten müssen. Ich bin mir aber sicher, dass er damit nichts zu tun hat.“

James nickte. „Die Organisation hat ihm das falsche Video zukommen lassen. Für die Polizei wird es aber ausreichen um beide Videos zu vergleichen und mögliche Unterschiede zu erkennen. Vielleicht fallen dann auch Pixelfehler auf.“

„Ja. Aber schauen Sie mal in den Umschlag rein.“

„Hmm?“ James sah Akai an. Er nahm den Umschlag in die Hand und griff hinein. Dann blickte er auf den Zettel. „Interessant.“

„Nicht wahr?“

James legte den Zettel auf den Tisch. „Ich werde die Beweise der Polizei vorlegen. Mit dieser Buchungsbestätigung können wir nachweisen, dass Jodie keinen Flug gebucht hat.“

„Allerdings haben wir keine IP-Adresse vorliegen und können dementsprechend auch keinen in die Verantwortung nehmen.“

„Trotzdem“, fing James an. „Wie soll Jodie einen Flug gebucht haben, wenn sie zu der Zeit auf dem Präsidium zum Verhör war?“

„Shibungi wird damit argumentieren, dass einer von Jodies Freunden den Flug für sie buchte.“

„Das muss man erst beweisen. Und da es diesen Beweis nicht gibt, wird Jodie die Haft verlassen können. Sie wird zwar für das Rechtssystem immer noch als Täter in Frage kommen, aber diesmal wird es die Organisation bei weitem schwerer haben. Shibungi ist nun keine glaubhafte Quelle mehr. Unsere Karten stehen wieder besser. Wir müssen trotzdem Frau Shibungi finden.“

„Ich weiß“, sagte Akai. „Wie schnell können wir Jodie aus der Haft holen?“

James sah auf die Uhr. „Ich werde mich gleich noch auf den Weg ins Revier machen. Aber ich vermute, dass sie frühestens morgen früh entlassen wird.

19.12.

James saß zusammen mit Jodies Anwalt im Büro von Inspektor Megure. Megure räusperte sich. „Ich bin froh, dass Sie von sich aus hier her gekommen sind“, begann er. „Wir erhielten heute den Anruf von einem gewissen Herrn Naoki. Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Nein“, antwortete James. „Wer ist das?“

„Sie sollten Ihre Agenten fragen. Der Name wird bestimmt Agent Akai oder Agent Camel etwas sagen. Naoki ist Reporter und wollte mit Inspektor Shiratori über den Sayaka Shibungi sprechen.“

„Ich weiß nicht, was das mit meinen Männern zu tun hat.“

„Wie dem auch sei. Irgendjemand hat gestern Herrn Naoki angerufen, sich als Shiratori ausgegeben und ihm Fragen über den Fall gestellt. Dabei ging es vor allem um die Schuld sowie Unschuld von Frau Starling. Halten Sie das nicht für einen sehr großen Zufall?“, wollte Megure wissen.

James runzelte die Stirn. „Meine Leute haben damit nichts zu tun.“

„Und wie erklären Sie sich dann, dass Sie kurz darauf bei der Zeitung anriefen und die Löschung des Artikels forderten?“

„Ein reiner Zufall, Inspektor. Ich erhalte ständig Nachrichten auf meinem Handy wenn es neue Artikel zu diesem Fall gibt. So auch als Jodies Name gefallen ist. Natürlich habe ich mich anschließend darum gekümmert. Vielleicht sollten Sie in Erwägung ziehen, dass der wahre Täter anrief und überprüfen wollte, ob wir ihm nicht eine Falle stellen.“

Megure lehnte sich nach hinten. „Herr Black. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es keinen zweiten Verdächtigen in der Sache gibt. Die Beweise sprechen leider gegen Frau Starling. Das kann ich nicht leugnen.“

James beugte sich an seine Tasche und zog den Briefumschlag heraus. Er schob ihn über den Tisch. „Schauen Sie sich das Video an.“

Megure öffnete den Umschlug und holte die DVD heraus. Er drückte auf den Summer. „Schicken Sie Takagi rein“, sprach er und ließ das Laufwerk seines Computers heraus fahren. Er legte die DVD ein und wartete. „Woher haben Sie diese DVD?“, wollte er wissen.

„Sie wurde meinen Männern zugespielt. Wir konnten niemanden damit in Verbindung bringen.“

Es klopfte an der Tür. Takagi kam rein. „Sie wollten mich sprechen?“ Er sah in die Runde. „Oh. Guten Morgen.“

„Takagi kommen Sie her.“ Megure wartete einen Moment und spielte dann das Video ab. Takagi stand hinter ihm und konzentrierte sich auf die Bilder.

Jodie wurde eindeutig beim Verlassen des Gebäudes gefilmt. Anders als in Video 1 verließ sie das Unternehmen kurz nach 12 Uhr.

James räusperte sich. „Ich hoffe, Sie haben auf die Uhrzeit geachtet.“

Takagi nickte. „Nach 12 Uhr.“

„Es gibt nun zwei Videos auf denen Jodie das Unternehmen verlässt“, begann James. „Eines davon ist wahr, das andere nicht. Sie haben das erste Video von Sota Shibungi erhalten. Woher können Sie sicher sein, dass dieses nicht gefälscht ist?“

Megure sah zu James. „Woher wissen wir, dass Sie das Video hier nicht gefälscht haben?“

„Nichts desto trotz sind die Beweise die Jodie belasten nicht eindeutig. Das können Sie nicht ignorieren. Vor Gericht wird keines der Videos standhalten“, entgegnete James.

„Widersprüchliche Beweise können eine Verurteilung nicht rechtfertigen“, fing Tanaka an. „Um Herausfinden welches Video echt ist, müssten Sie beide Orginale bekommen. Ich nehme an, dass sowohl dieses Video wie auch das Video von Herrn Shibungi gebrannt worden sind. Damit ist es eigentlich schon unmöglich heraus zu finden, welches das richtige Video ist. Die Zeit, die dafür beansprucht werden würde, rechtfertigt die Untersuchungshaft meiner Mandantin nicht.“

„Es besteht leider immer noch Fluchtgefahr.“

„Auch das können wir entkräften.“ James reichte ihm einen Zettel. „Wie Sie sehen werden, handelt es sich hierbei um die Buchungsbestätigung des Tickets.“

Megure sah sich den Zettel an. „Hmm“, murmelte er.

„Schauen Sie bitte auf das Datum. Das Ticket wurde gebucht als Frau Starling gerade bei Ihnen zum Verhör war.“

Takagi sah nun auch auf das Blatt Papier. „Das stimmt.“

„Da wir nun auch wussten, wo das Ticket gebucht wurde, haben wir die betroffene Fluggesellschaft gebeten einmal in ihren Daten zu gucken. Sie werden noch heute im Laufe des Tages das Orginal erhalten“, erklärte James.

„Ich verstehe Sie ja…aber wie entkräften Sie die Tatsache, dass Frau Starling auch jemanden gebeten haben könnte, das Ticket zu buchen?“, wollte Megure wissen.

„Inspektor“, fing James an. „Ich bitte Sie. Sie sehen doch auch, dass alle Beweise die gegen Jodie sprechen nicht stichhaltig sind. Und Sie wissen auch, dass die Voraussetzungen für die Untersuchungshaft nun nicht mehr gegeben sind. Es liegt keine Fluchtgefahr vor. Wenn Sie unbedingt wollen, nehmen Sie ihr den Reisepass ab. Sie können auch gerne mit meinen Vorgesetzten in den Staaten sprechen. Jeder wird Ihnen bestätigen, dass Jodie nicht zurück beordert worden ist.“

Tanaka nickte. „Es liegt keine Verdunkelungsgefahr vor. Sie haben nun alle Beweismittel von uns erhalten und die Agenten werden weiter suchen um Frau Shibungi zu finden. In der Zwischenzeit müssen den Haftbefehl aufheben lassen.“

„Inspektor Megure?“, fragte Takagi.

„Herr Black“, kam es von Megure. „Wie Sie wissen, kennen wir Frau Starling. Und weder Takagi noch ich hielten es für möglich, dass Sie in dieser Sache involviert ist. Trotzdem ist es unsere Pflicht, sie wie eine ganz normale Verdächtige zu behandeln und alles was uns vorgelegt wird, in Frage zu stellen. Es ist richtig, dass die Beweise sehr zweideutig sind. Wir wissen auch, dass sich Frau Starling nichts zu Schulden kommen ließ. Dennoch können wir Ihnen nichts versprechen. Ich werde mit dem Staatsanwalt sprechen.“

„Danke.“
 

***
 

Jodie saß auf dem Bett in ihrer Zelle. Sie sah nicht gut aus. Dunkle Augenringe zierten ihr Gesicht. Jodie hatte schlecht geschlafen. Sehr schlecht. Die Betten waren hart und sie drehte sich andauernd von einer Seite auf die andere. In ihrem Kopf drehte sich alles um Sayaka Shibungi. Sie ging den 12. Dezember immer und immer wieder durch, stellte sich vor was passiert wäre, wenn sie anders gehandelt hätte. Jodie suchte nach einem Ausweg, kam aber immer wieder auf den Vorschlag ihres Anwaltes zurück. Das Schuldbekenntnis.

Warum sollte sie etwas zugeben, dass sie nicht verübt hatte? Sie war unschuldig. Die Beweise aber sprachen gegen sie. Wenn ihr Anwalt recht hatte, würde sie so oder so ins Gefängnis kommen. Entweder für über zehn Jahre oder für eine kürzere Anzahl. Es machte es aber nicht besser. Jodie wollte keinen Tag länger in der Isolation sein. Sie wollte frei sein, nach Hause gehen und sich keine Sorgen machen.

Sie sah sich um. Der kleine Raum war nicht optimal. Vier kahle Wände, ein Bett, eine Toilette und einen Tisch. Tagsüber starrte Jodie eine Wand an und wartete auf das Essen oder auf das Abstellen des Lichtes. Sie hörte wie der Schlüssel in der Tür umgedreht und diese geöffnet wurde.

„Kommen Sie bitte mit.“

Jodie nickte und stand auf. Sie folgte dem Polizisten bis zur Schleuse. Er schickte sie durch. Irritiert sah sich Jodie um.

„Frau Starling.“ Jodies Anwalt trat zu ihr heran. „Kommen Sie.“ Er schob sie nach vorne zum Pult. „Wir möchten bitte die Sachen meiner Mandantin holen.“

Der Polizist nickte, tippte etwas in seinen Computer ein und ging dann nach hinten.

„Was wird das?“, wollte Jodie wissen.

Tanaka lächelte. „Sie dürfen nach Hause.“

„Wirklich?“

„Natürlich. Darüber scherze ich nicht“, sprach er.

Der Polizist kam wieder und reichte Jodie eine durchsichtige Tüte. „Danke“, wisperte diese.

Tanaka schob Jodie zum Ausgang. „Sie sind zwar immer noch verdächtig, dürfen aber nach Hause gehen. Ihr Pass wird von der Polizei behalten damit Sie das Land nicht verlassen. Außerdem müssen Sie sich jeden Tag persönlich bei Inspektor Megure oder Inspektor Takagi melden.“

Jodie nickte. „Was ist passiert?“

„Es sind neue Erkenntnisse aufgetaucht.“ Tanaka räusperte sich. „Es gibt ein Video welches zeigt, wie Sie das Unternehmen kurz nach 12 Uhr verlassen. Außerdem gibt es die Buchungsbestätigung des Fluges. Und da Sie unmöglich während einer Vernehmung einen Flug gebucht haben können und die IP-Adresse nicht nachverfolgbar ist, wird die Untersuchungshaft aufgrund von nicht eindeutigen Beweisen aufgehoben. Wir müssen trotzdem alles dafür tun, dass wir Frau Shibungi finden und Ihre Unschuld beweisen“, erklärte er.

„Ich verstehe“, murmelte Jodie. „Gut, dass ich mich nicht für schuldig bekannt habe.“

„Selbst wenn Sie es getan hätten, hätten wir das Schuldeingeständnis erst kurz vor dem Prozess an den Richter weiter geleitet“, sagte er.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Ihre Kollegen suchen nach weiteren Beweisen. Und ich möchte Sie bitten, dass Se sich erstmal zurück halten. Ich weiß, es ist schwer und ich weiß, Sie wollen selber tätig werden, aber ich bitte Sie: Halten Sie die Füße still. Nichts darf danach aussehen, dass Sie den Fall beeinflussen wollen. Wir wollen schließlich nicht, dass Sie wegen Verdunkelungsgefahr wieder in Haft kommen.“

Sie seufzte. „Und was soll ich dann machen? Ich kann doch nicht die ganze Zeit zu Hause herum sitzen und nichts tun“, warf sie ein.

„Das müssen Sie. Oder Sie fragen Black, ob er Sie an einen anderen Auftrag setzt.“

„Das geht nicht.“ Sie hatten schließlich nur einen Auftrag.

„Wie sieht es mit der Firma aus? Ich musste damals meine Sachen schnell zusammen packen. Was wäre, wenn ich nicht alles mitgenommen hätte, was mir gehört?“

Er schüttelte den Kopf. „Vergessen Sie es. Sie gehen dort nicht hin.“ Er musterte Jodie. „Sie werden gleich abgeholt und fahren nach Hause.“

„Na gut…Einen Versuch war es Wert“, meinte sie. Sie kamen nach draußen. Jodie wusste nicht warum, aber irgendwie erwartete sie draußen einen wütenden Mob. Menschen die wollten, dass sie wieder zurück ins Gefängnis ging. Jodie atmete tief durch. „Dann wollen wir mal“, murmelte sie. Jodie kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete sie leicht. Jodie brauchte eine Weile um sich an die Umgebung zu gewöhnen.

„Ich muss jetzt auch wieder los.“

Jodie sah zu ihrem Anwalt. „Sie wollen gehen? Ich dachte wir fahren ins Büro und besprechen mit James wie wir nun weiter vorgehen“, gab sie von sich.

„Ich kümmere mich schon darum“, entgegnete er. „Sie werden abgeholt.“ Der Anwalt wies auf Shuichi.

Er stand angelehnt an seinen Wagen und rauchte eine Zigarette. Sein Blick blieb auf dem Gebäude haften. Erst als Jodie heraus kam, fixierte er sie.

„Shu“, murmelte Jodie leise.

„Steig ein“, sprach er und öffnete die Beifahrertür. Er sah zum Anwalt. „Und Sie kümmern sich um den Rest.“

Tanaka nickte.

Akai sah wieder zu Jodie. Jodie stieg langsam ein. Er ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und setzte sich. „Wie geht’s dir?“

„Jetzt wo ich draußen bin, schon besser“, antwortete Jodie. Sie sah auf die Straße. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das alles vermissen würde.“

„Wir sorgen schon dafür, dass du das Gefängnis nicht mehr von innen sehen wirst“, gab Shu von sich.

„Der Anwalt hat mir von dem zweiten Video erzählt. Und von der Buchungsbestätigung. Wie seid ihr daran gekommen?“

„Es wurde in einem Umschlag in meinen Scheibenwischer gelegt.“

Jodie sah ihn überrascht an.

„Wir wissen nicht, wer es war. Es stand kein Absender drauf, aber es ist klar, dass es sich da nur um die Organisation handeln kann. Ich vermute, dass Bourbon dahinter steckt“, sagte er.

„Was ist mit Kir?“

„Unwahrscheinlich“, antwortete Shuichi. „Sie wird immer noch von der Organisation beobachtet und darf sich keinen Fehler erlauben. Ob Bourbon es wirklich war, werde ich ein anderes Mal herausfinden.“

„Danke“, murmelte Jodie leise. Sie sah aus dem Fenster. „Die Organisation arbeitet gründlich. Wir werden kaum etwas finden, außer sie wollen es.“

Akai nickte. „Ich weiß. Aber auch sie machen irgendwann Fehler.“ Er parkte seinen Wagen. „Und ich bin mir sicher, dass Sayaka Shibungi irgendwann wieder auftauchen muss.“

„Bist du wirklich sicher? Wenn die Organisation ihre Finger im Spiel hat, wird das sicher nicht so schnell passieren.“

Akai schüttelte den Kopf. „Mittlerweile glaube ich nicht mehr daran, dass sie ihre Finger im Spiel haben. Sie nutzen das Verschwinden aus. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Entschluss, dass Sayaka uns alles nur vorspielte. Sie wollte verschwinden und du bist nur zufällig in die Schusslinie geraten. Da sie ihren Mann liebt und er zu Hause alleine ist und um sie trauert, verzweifelt ist, wird sie ihn früher oder später aufsuchen.“ Shuichi stieg aus und brachte Jodie in ihre Wohnung. Er schloss mit seinem Ersatzschlüssel auf, da Jodie den Schlüssel in der Tüte der Haftanstalt noch suchte. Shuichi ließ sie rein und folgte ihr. Er ging direkt ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Jodie tat es ihm gleich und stöhnte leise auf, als sie die weiche Unterlage spürte. Es tat so gut wieder zu Hause zu sein. Sofort fühlte sie sich geborgen. Neue Energie durchströmte sie.

„Tut mir leid…du weißt ja nicht wie unbequem die Betten in der Untersuchungshaft sind.“

„Leg dich ruhig hin.“

Jodie schüttelte den Kopf. „Nein, dafür hab ich später Zeit. Lass uns über die Shibungis reden. Du sagtest, sie hat ihn einfach so zu Hause gelassen.“

„Genau“, nickte er. „Wenn sie ihn so sehr liebt, wie ich vermute, wird sie demnächst bestimmt am Haus auftauchen. In der Zeitung wurde von deiner Verhaftung geschrieben.“

Jodie schluckte. „Sie haben…“

„Leider ja. Aber James arbeitet bereits daran“, gab er von sich. „Camel beobachtet in der Zwischenzeit das Haus der Shibungis. Sobald jemand auftaucht der nicht dorthin gehört, meldet er sich.“

„Okay“, murmelte Jodie. „Warum beobachtet ihr nicht die Firma?“

„Tun wir auch. Ich denke nicht, dass sie dorthin gehen wird.“

„Warum?“, wollte Jodie wissen.

„Sota Shibungi hat am Freitag Insolvenz angemeldet.“

Jodie riss die Augen auf. „Er hat was?“

„Die Firma ist insolvent. Wir haben unsere Recherchen auf die Konten ausgeweitet und dabei festgestellt, dass kaum noch Geld vorhanden ist. Shibungi hat es bemerkt und sofort gehandelt. Wenn sich die Presse darauf stürzt, kann es natürlich so aussehen, als wäre das Verschwinden seiner Frau damit gekoppelt. Deswegen hat er das Ruder selbst in die Hand genommen.“

„Aber das heißt ja, dass die Organisation das ganze Geld hat.“

„Nicht unbedingt“, meinte Shu ruhig. „Es kann natürlich auch sein, dass Sayaka das ganze Geld abgeräumt hat. Egal was es ist, die Organisation wird sich sehr bald einschalten.“

„Meinst du wirklich? Ohne, dass er es weiß?“, wollte Jodie dann wissen. „Würde er sie dann noch lieben?“

„Die Liebe geht ihre eigenen Wege“, antwortete Akai ruhig. „Wenn sie es ihm erklären kann und er ihr zuhört, kann er ihr verzeihen.“

„Und wie geht es weiter in diesem Thema?“

„Wie gesagt“, fing Akai an. „James kümmert sich weiter um die Presse. Camel beobachtet das Haus der Shibungis. Wir haben noch zwei Agenten die die Firma im Auge behalten. Die Nachtschicht am Haus werde ich übernehmen.“

„Habt ihr auch darüber gesprochen, was ich machen kann?“, wollte Jodie wissen.

„Du solltest dich vor allem erst mal ausruhen. Du siehst furchtbar aus.“

Jodie sah ihn an. Wenigstens log er nicht. „Ehrlich wie eh und je.“

„Was bringt mir Lügen?“

Jodie lächelte leicht. „Ich bin froh, dass es Sachen gibt, die sich nicht ändern“, meinte sie ruhig. „Ich bin nur ein wenig müde, mehr aber auch nicht.“

„Du hättest dir keinen Kopf machen sollen. So oder so hätten wir hätten dich da raus geholt. Eine Möglichkeit hätten wir immer gefunden.“

„Trotzdem“, sagte sie. „Natürlich wusste ich, dass ihr mich nicht im Stich lasst und weiter an dem Fall arbeitet, aber…es ist so…anders wenn man in Haft ist. Du stehst morgens auf, bekommst dann das Frühstück in deinen Raum gebracht und sitzt bis zum Mittagessen drinnen rum. Und dann geht es mit Mittagessen und Abendessen weiter. Die Zellen sind klinisch. Schreibtisch und Bett. Mehr nicht. Ich kann entweder die ganze Zeit im Bett liegen und nichts tun oder im Raum hin und her laufen. Natürlich bekam ich auch Ausgang, aber ich wollte mich dort nicht zeigen“, meinte Jodie. „Ich hab hier zwar noch nicht in vielen Fällen ermittelt, aber man kann nie wissen wer mich erkennt. Zum anderen wollte ich auch nicht, dass ich später jemanden noch treffe. Man würde mich dann immer mit dem Gefängnis in Verbindungen bringen. Treffe ich dann bei einem Fall auf sie, würden sie immer mit meiner eigenen Vergangenheit argumentieren. Und wer weiß, ob die Organisation nicht einen Insassen eingeschleust hat.“

„Und in einem noch schlimmeren Fall, hätten sie dich übel zugerichtet.“

„Daran wollte ich nicht denken“, murmelte Jodie. „Ich hätte mich gewehrt…und damit vielleicht noch einiges schlimmer gemacht.“

„Das wäre möglich.“ Shu sah sie aufmunternd an. „Du kannst stolz auf dich sein, weil du den Provokationen der Organisation standhalten konntest.“

„So gut fühlt sich das aber nicht an“, warf sie ein. „Wann musst du los?“

„Ich übernehme ab 20 Uhr.“

Jodie sah auf die Uhr. „Dann koch ich uns was. Du bist sicher am Verhungern und ich möchte nichts Gegenteiliges hören.“

„Na gut“, sagte Akai ruhig. „Tu dir keinen Zwang an.“

Jodie war eher eine mittelmäßige Köchin. Immer wenn sie zusammen aßen, gab es Fertiggereichte aus der Mikrowelle oder dem Herd. Gelegentlich war auch ein Besuch im Restaurant möglich. Mit einem Hauch von Unbehagen folgte Shuichi ihr in die Küche. Er wirkte überrascht, als Jodie das Kochbuch aus ihrem Schrank holte. Sie pustete den Staub ab und schlug es auf. Dann ging sie zu ihrem Kühlschrank und sah sich an, was sie noch an Zutaten da hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie zu Shu. „Ich hoffe, du hast nichts gegen ein leckeres Gemüsecurry.“

„Mach nur“, antwortete er.

Jodie ging wieder zum Buch, las sich durch was sie brauchte und begann schließlich. Sie atmete tief durch als sie das Küchenmesser ansetzte. Akai konnte an ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass sie das erste Mal so richtig kochte. Jodie setzte an und schnitt das Gemüse klein. Es waren ungleichmäßige Teile, aber sie schaffte es.

„Au“, murmelte sie leise und sah auf den Tropfen Blut, der aus ihrem Finger quoll. Sie legte das Messer auf das Brett, ging zum Wasserhahn und hielt ihren Finger unter das laufende Wasser.

Shuichi schmunzelte. „Du kannst mit jeder Waffe umgehen wenn du dich verteidigen musst, aber ein Messer beim Kochen und schon brauchen wir einen Sanitäter.“ Shuichi drehte den Wasserhahn zu, nahm Jodies Hand und drückte mit einem Küchentuch auf die Wunde. „Wenigstens hast du dir den Finger nicht abgeschnitten.“

Jodie fühlte sich wie ein kleines Kind. Aber wie sollte sie auch kochen lernen, wenn sie keine Mutter besaß, die es ihr beibrachte? Die Agentin schwieg und konzentrierte sich auf ihren Finger. Shu war ihr nah. Viel zu nah. „Bin halt keine Köchin“, murmelte sie leise. Sie wollte sich an ihn schmiegen. Einfach nur seien Nähe spüren und dann schlafen.
 

***
 

Shuichi zog sich die Jacke an und beobachtete Jodie. „Was wird das?“, wollte er wissen.

„Du wirst Camel gleich ablösen. Und ich komme mit.“

„Jodie“, mahnte er sie.

„Ich weiß. Aber ich kann nicht hier rumsitzen und nichts tun“, entgegnete die Agentin ruhig. „Und deswegen nimmst du mich mit. Ich werde dich auch nicht ablenken“, sagte sie.

Shu schien nicht überzeugt.

„Ich verspreche es. Ich sitze nur daneben und beobachte. Bitte, Shu.“

„Komm“, sagte er dann und ging zu seinem Wagen.

Nach einer halben Stunde kam er an. „Camel sitzt drüben in seinem Wagen.“

Jodie nickte. Camel stieg aus seinem Wagen und ging auf die beiden zu.

„Warte hier“, sprach Akai und stieg ebenfalls aus. Er sah zu Camel. „Und? Irgendwas Neues?“

„Nein“, antwortete der Gefragte. „Es kam niemand. Mich hätte es auch gewundert, wenn Sayaka Shibungi am Tag hier auftaucht.“

„Mich auch. Aber kann nie wissen“, entgegnete Akai.

Camel sah an ihm vorbei. „Ist das Jodie?“

„Sie wollte unbedingt mit.“

Camel ging zu dem Wagen und stieg hinten ein. Shuichi beobachtete ihn und setzte sich dann wieder auf die Fahrerseite.

„Ich bleibe auch.“

„Camel“, begann Akai.

„Wenn irgendwas passiert und Jodie alleine im Wagen sitzt, könnte die Organisation versuchen ihr wieder etwas anzuhängen. Mit mir hat sie ein Alibi.“

„Also gut.“ Shuichi sah wieder nach vorne und beobachtete das Haus.

20.12.

Kurz nach Mitternacht schlief Jodie ein. Ihr Kopf lehnte an der Fensterscheibe von Shus Wagen. Sie atmete ruhig. Aus dem Augenwinkel sah Shuichi zu ihr. Er lächelte leicht, wandte sich dann aber wieder nach vorne. Er blickte in den Rückspiegel. Camel gähnte und kämpfte gegen die Müdigkeit an, was auch nicht verwerflich war.

Camels Schicht begann bereits um 9 Uhr morgens und dauerte über zehn Stunden. Nun saß er immer noch bei ihnen, suchte nach Indizien und wollte für Jodie da sein. „Schläft sie?“, wollte er leise wissen.

Shuichi nickte. „Wurde auch Zeit“, gab er von sich. Er hatte schon lange bemerkt, dass Jodie keine Energie mehr hatte. Ihre Augenringe sprachen dafür. Trotzdem wollte sie unbedingt helfen. Shuichi wusste aber, dass es nur die halbe Wahrheit war. Jodie wollte nicht zu Hause sein. Nicht alleine, wie in der Haft. Sie brauchte jemanden, der nun an ihrer Seite war und bei dem sie sich geborgen fühlte. Und er erlaubte es ihr. Zumindest für den Augenblick.

Shuichi verschränkte die Arme. Er durfte das Ziel dieser Mission nicht aus dem Auge lassen. Er konnte sich nicht rund um die Uhr um Jodie kümmern. Nicht einmal dann, wenn sie in den letzten Tagen die Hölle auf Erden erlebte. Jetzt gab es etwas Wichtigeres. Sie mussten schnell weiter kommen ehe wieder Beweise auftauchten, die Jodies Schuld untermauerten und sie zurück in die Haft schickten.

Camel lächelte leicht. „Das war eine harte Zeit für sie.“

„Ich weiß“, sagte Shuichi.

„Als ich sie vorhin im Wagen sah, wirkte sie so zerbrechlich. Verletzlich. Ich versuche mir die ganze Zeit vorzustellen, wie es für sie gewesen sein muss.“

Shuichi blickte zum Haus. „Stell dir einen kleinen Raum vor. Du hast nur ein Bett, einen Tisch und eine Toilette. Wenn du Glück hast noch ein Waschbecken und einen Wasserhahn. Du sitzt von morgens bis abends in diesem einen Raum und bekommst alle acht Stunden etwas zu Essen. Das Bett ist hart, quietscht möglicherweise bei jeder deiner Bewegung. Du kannst nicht schlafen und starrst immer wieder die kahlen Wände an. Für manche Insassen ist das Gefängnis die reinste Isolation. Es gibt täglich einen Ausgang auf den Gefängnishof der in Anspruch genommen werden kann. Jodie entschied sich dagegen. Sie dachte an ihre Zukunft und verbrachte die letzten Tage vollkommen alleine.“

Camel sah ihn überrascht an. „Wieso ist sie nicht auf den Hof gegangen?“

„Sie hatte unter anderem Sorge, dass die Organisation jemanden geschickt hat, der Ärger macht. Hätte sich Jodie gewehrt und wäre dabei was passiert, hätte das Auswirkungen auf ihre mögliche Haftstrafe.“

„Oh“, murmelte Camel leise. „Arme Jodie…“

„Mach dir keine Sorgen um sie. Sie schafft das schon.“ Akai sah wieder zu Jodie. „Sie braucht nur ein wenig Zeit.“

Camel nickte. „Ich bin für sie da.“

Ich auch.

„Was ist mit dir? Wenn du schlafen willst, tu das. Ich habe lieber einen ausgeschlafenen Agenten hier als einen der so müde ist, dass er im äußersten Notfall einen Fehler macht.“

„Nein“, antwortete Camel sofort. „Ich halte die Augen weiterhin offen. Nach meiner morgigen Tagesschicht fahre ich nach Hause. Und du verbietest Jodie, dass sie mit mir beobachtet. Das ist zu gefährlich für sie.“

Akai schmunzelte. „Als ob Jodie darauf hören würde. Was ist mit morgen früh? Bist du wirklich in der Lage mit abzulösen.“

„Das bin ich.“ Er schluckte. „Ich habe schon weitaus weniger geschlafen.“

Akai schüttelte den Kopf. „Schlaf. Ich wecke dich, wenn es irgendwas gibt und ich dich wach brauche.“

„Aber…“

„Keine Widerworte. Ansonsten muss ich Jodie davon erzählen. Und sie wird dich sicher nicht so sanft dran nehmen wie ich.“

„Äh“, Camel wurde leicht verlegen. „Lieber nicht. Ich glaube, sie würde das nicht so eng sehen, da sie sich immer noch die Schuld für meine Schusswunde gibt.“

„Ich weiß“, sprach Akai. „Aber keine konnte ahnen, dass ihr in einen Hinterhalt geratet und sie euch über den Haufen schießen.“

„Das ist mir bewusst, aber sag das mal Jodie.“

„Sie kann manchmal ganz schön stur sein.“ Akai lächelte dabei. „Und was denkst du über die Schusswunde?“

„Naja…“ Camel sah nach vorne. „Jodie kann wirklich nichts dafür. Sie sind von hinten gekommen. Aber es ärgert mich natürlich, dass sie angeschossen wurde.“

„Wirklich interessant“, murmelte Shu. „Sie gibt sich die Schuld, dass du angeschossen wurdest und du gibst dir die Schuld, dass sie angeschossen wurde.“

„So ist das eben. Wir sollten aufeinander aufpassen, haben aber versagt.“

„Wie mans nimmt…“

„Ich weiß, was du mir sagen willst. Es hatte keiner Schuld daran. Und das sage ich ja auch andauernd. Aber was ich sage und was ich fühle ist unterschiedlich. Jodie soll einfach nur aufhören sich Gedanken deswegen zu machen. Sie hat auch Angst, was das FBI dazu sagt. Sie glaubt, sie wird nun von euch allen beobachtet. So als würdet ihr nur darauf warten, dass sie einen Fehler macht.“ Camel seufzte. „Sie hat Angst, dass du und Black sie für untauglich haltet und sie wieder zurück in die Staaten soll.“

„Ich weiß.“ Shuichi blickte in den Rückspiegel. „Genug geredet. Es ist zwei Uhr nachts. Wenn du mir bei diesem Fall weiterhin helfen willst, ruh dich aus und schlaf eine Weile.“
 

***
 

Shuichi gähnte. So langsam wurde auch er müde. Er warf einen Blick auf die Uhr.

6:45 Uhr

Er hätte sich eine Kanne Kaffee mitnehmen sollen oder irgendwas anderes. Aus dem Augenwinkel sah der Agent zu Jodie. Sie schlief weiterhin. Das Gesicht hatte sie in seiner Jacke fast vollständig vergraben.

Da der Motor seines Wagens nicht lief und folglich die Kälte einsetzte, deckte er Jodie mit seiner Jacke zu. Seine eigene Gesundheit war ihm nicht so wichtig, zumal es auch lange dauerte, bis er sich eine Erkältung zuzog. Sollte sie kommen. Er würde sie bekämpfen. Aber Jodie wollte er eine Infektion nicht auch noch zumuten. Dafür hatte sie bereits zu viel durchgemacht.

Shuichi sah wieder zum Haus. Der Bewegungsmelder ging an. Adrenalin strömte sofort durch seinen Körper. Er wurde wacher und beugte sich nach vorne. Eine Person mit langem Mantel, Hut auf dem Kopf und einer Sonnenbrille auf dem Gesicht ging auf das Gebäude zu. Akai zog das Fernglas aus dem Handschuhfach heraus und spähte hindurch. Es war ihm kaum möglich mehr zu erkennen. Die Umrisse hatten aber genug gesagt. Sein Gefühl kannte die Wahrheit. Sie war es.

Shuichi drehte sich nach hinten um. Er sah zu Camel und stieß ihn an.

„Was…?“

„Scht!“ Er hatte den Finger auf den Mund gelegt. „Sie ist da“, flüsterte er.

Camel wurde mit einem Mal wacher. Er setzte sich abrupt auf und sah zum Haus. Er konnte kaum etwas erkennen.

„Ich geh nachsehen“, sprach Shu. „Du bleibst hier und passt auf Jodie auf. Wenn sie wach wird und wissen will, wo ich bin, denk dir irgendwas aus.“ Shuichi öffnete die Fahrertür und stieg aus. Nur ganz leicht stieß er die Tür zu. Shuichi blickte sich um und schlich sich dann an das Haus heran. Wieder ging der – kurz vorher ausgegangene – Bewegungsmelder an. In sicherem Abstand versuchte er in eines der Fenster zu sehen. Das Licht blieb ausgeschaltet.

Sie ist es.

Nun gab es keinen Zweifel mehr. Nur eine Person die sich auskannte, benötigte kein Licht um sich im Inneren des Gebäudes auszukennen. Shuichi hörte ein Rascheln. Ein Ast zerbrach. Aus dem Augenwinkel sah Akai zur Seite. „ich sagte doch, du sollst im Wagen bleiben“, zischte er.

„Das ging nicht…“, murmelte Camel. Er ging in die Hocke. „Jodie…“

Shuichi sah zu der Agentin. „Geh zurück in den Wagen.“

„Nein!“, kam es sogleich vehement von Jodie. Auch sie kniete sich herunter. „Wenn es Sayaka Shibungi ist, möchte ich mit ihr reden und die Wahrheit wissen.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche. „Wir rufen die Polizei.“

Akai nahm ihr das Handy aus der Hand. „Camel ruft von seinem Handy an.“

„Ich?“

„Natürlich du. Wenn Jodie anruft wirkt er möglicherweise sehr verdächtig. Wir werden es auf der Zielgeraden nicht vermasseln.“

Camel nickte und tat, was ihm aufgetragen wurde.

Shuichi sah nach oben. Das Licht im Arbeitszimmer ging an. Er verengte die Augen. Sie mussten schnell machen.
 

Die Polizei brauchte 20 Minuten. Sie fuhren ohne Blaulicht vor. Inspektor Takagi stieg aus seinem Wagen. Er sah sich um.

Shuichi stand auf und ging zum Inspektor.

„Was geht hier vor?“, wollte Takagi wissen. „Sie rufen mitten in der Nacht auf meinem Diensttelefon an und bestellen mich mit einem Aufgebot an Polizisten her.“

„Wir vermuten, dass Sayaka Shibungi im Haus ist“, antwortete Akai.

„Was? Wirklich? War sie verletzt?“

„Wissen wir nicht.“

Takagi sah ihn irritiert. „Haben Sie sie nicht gesehen?“

„Nicht direkt. Sie war vermummt. Alles weist darauf hin, dass nur sie es sein kann“, fing Akai an. „Das Licht ging erst an, als sie das Arbeitszimmer betrat. Und wer außer Sayaka würde sich in dem Haus auskennen?“

Takagi überlegte kurz, nickte dann aber. „Wir gehen rein.“ Er sah zu zwei Polizisten. „Sie kommen mit mir.“ Dann sah er zu den anderen. „Sie sichern hier draußen alles und beobachten Sie alle Fenster sowie die Terassentür.“

„Ja“, kam es synchron.

Der Inspektor sah zu Akai. „Sie werden sicher mit rein gehen.“

„Natürlich.“ Shuichi sah zu Jodie. „Du bleibst hier.“

„Du weißt, dass ich das nicht tue.“

Takagi ging zur Haustür und sah auf den Türknauf.

„Ein Ersatzschlüssel steckt oben im Blumentopf in der Erde.“

„Eh? Danke“, murmelte er und holte den Schlüssel. Leise öffnete Takagi die Tür und ging rein.
 

Sayaka strich behutsam über das Foto auf dem Schreibtisch. Es zeigte sie und Sota direkt nach der Hochzeit. Obwohl sie lächelte und manche dies als Strahlen auslegten, war sie todunglücklich. Sie heiratete einen Mann den sie nicht liebte. Damals noch nicht. Das Blatt hatte sich gewendet. Sota trug sie auf Händen. Blumen. Frühstück am Bett. Er vergötterte sie. Sie konnte sich viel schneller auf ihn einlassen. Und jetzt liebte sie ihn aus vollem Herzen.

Sie hasste sich selber. Hasste das Monster, das die Organisation aus ihr machte. Sie brachte allen Menschen Unglück. Jeder der sie liebte und jeden den sie liebte, ereilte ein grauenvolles Schicksal.

Es tut mir so leid, Sota.

Sayaka zog ein Buch aus ihrer Tasche. Sie legte es auf den Tisch und blickte einen Moment gedankenversunken darauf. „Verzeih mir“, kam es leise von ihr. Sie atmete tief durch und verließ den Raum. Obwohl sie verschwinden sollte, zog es sie ins Schlafzimmer. Leise schlich sie rein. Sie wollte ihn ein letztes Mal sehen. Nur noch einmal berühren. Ein letzter Kuss.

Sayaka öffnete die Tür. Sie ließ sie auf und ging an das Bett ihres Mannes. Ihr gemeinsames Bett. Bei den Erinnerungen lächelte sie. Langsam strich sie Sota über das Gesicht. „Es tut mir so leid“, wisperte sie leise. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich verlange nicht, dass du mich verstehst.“ Es tat gut sich alles von der Seele zu sprechen.

Wie auf Kommando öffnete Sota seine Augen. „Sayaka“, sagte er leise. „Was ist passiert?“ Er setzte sich auf. „Bitte, sprich mit mir. Ich kann dir helfen. Bedroht dich jemand?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte das alles nicht“, antwortete sie. „Bitte, du…du musst mir verzeihen.“

„Natürlich.“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Ich verzeih dir. Was ist passiert, Sayaka?“

„Ich hab…ich musste dich heiraten…wegen dem Geld…es tut mir so leid…ich liebe dich wirklich. Das musst du mir glauben. Sota, ich…“ Ihr rannen die Tränen über die Wange.

Der Geschäftsmann schluckte. Sie hatte ihn nicht geliebt und trotzdem geheiratet. Es tat weh.

„Ich liebe dich, Sota.“ Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Aber ich muss jetzt gehen. In deinem Arbeitszimmer findest du ein Buch von mir. Es steht alles drin. Danach kannst du mich vielleicht ein klein wenig verstehen.“

„Geh nicht“, bat er leise.

„Ich muss. Ich kann nicht bleiben. Du bist sonst in Gefahr. Und wenn ich geh…passiert dir nichts.“ Sie löste sich von ihm.

Takagi stürmte in den Raum. „Polizei. Hände nach oben sodass ich sie sehen kann“, rief er.

Sayaka sah ihn schockiert an. Mit einem Ruck hievte sie sich vom Bett und wich nach hinten. „Gehen Sie…“, meinte sie.

„Hören Sie, Sayaka, was immer auch passiert ist, wir helfen Ihnen. Sie können uns vertrauen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein…das kann ich nicht…“, murmelte sie. „Ich kann niemanden Vertrauen. Ich werde sterbe.“

„Das stimmt nicht, Sayaka. Schauen Sie sich doch immer. Sie haben einen Ehemann der sie liebt und der alles für Sie tun würde. Werfen Sie ihr Leben nicht einfach so weg. Reden Sie mit uns. Wir haben Mittel und Wege um Sie zu schützen.“ Dennoch hielt Takagi seine Waffe auf die Frau gerichtet. „Es wird alles wieder gut.“

Shuichi kam in den Raum. Camel und Jodie folgten ihm.

„Es tut mir leid“, wisperte sie. „ich…ich…es wird nie aufhören“ Sie sah zu Jodie und schluckte. Sayaka griff in ihre Tasche und zog ein Klappmesser heraus.

„Sayaka, wenn Sie der Polizei nicht vertrauen wollen, dann vertrauen wir uns.“ Akai sah sie eindringlich an. „Wir sind vom FBI. Wir können Sie in die Staaten bringen.“

„FBI?“, wiederholte sie leise.

„Waffe fallen lassen“, rief Takagi. „Machen Sie keinen Unsinn.“

„Sayaka“, kam es leise von Sota. „Was tust du…?“

„Ich sage es nicht noch einmal: Waffe fallen lassen.“ Takagi hasst es. Er wollte nicht schießen. Aber wenn es nicht anders ging, musste er. Takagi zögerte. Kurz darauf fiel die erste Kugel. Sie streifte Sayakas Arm. Es reichte allerdings aus damit die Frau das Messer auf den Boden fallen ließ.

Takagi blickte sich um. „Wer…“ Er fixierte Akai. „Wieso haben Sie geschossen?“, zischte er.

„Weil Sie nur rumstanden“, gab der Agent von sich. Er sah zu Sayaka. „Sie kommen jetzt mit uns und erzählen uns die ganze Wahrheit.“

„Ich…ich kann nicht.“

„Ich biete es Ihnen nicht noch einmal an. Sie haben für ziemlich viel Aufruhr gesorgt und meine Geduld neigt sich nun dem Ende entgegen.“

„Sie werden mich nicht erschießen“, sagte sie. „Dafür bin ich zu wertvoll. Sie wollen mich lebend.“ Sayaka blickte wieder zu Jodie. „Sie gehören zum FBI?“

Jodie nickte.

„Das wusste ich nicht…ich dachte Sie sind da…um sich um mich…zu kümmern…“, sprach sie leise. „Ich…ich werde paranoid…“

Ein weiterer Schuss fiel.

Sayaka stand überrumpelt da. Ihre Beine gaben nach. Ein roter Fleck – frisches Blut – verteilte sich auf ihrem Mantel. Sie fiel nach vorne.

„Agent Akai!“, raunte Takagi. Missmutig sah er zu dem Agenten, der allerdings Jodie aus der Tür schob.

„Runter. Schusswechsel von draußen.“ Shuichi suchte das Fenster nach einem Einschussloch ab. Die Gefahr weitere Personen zu verletzen war groß. Er knurrte. „Rufen Sie einen Krankenwagen. Sofort!“ Shuichi drückte sich an die Wand. Er folgte ihr bis zum Fenster. Vorsichtig spähte er heraus und zog den Kopf wieder zurück als das nächste Projektil herein kam.

„Verdammt. Wer ist das?“, wollte Takagi wissen. „Rückzug. Wir müssen das Gebäude sichern.“

Die Organisation. Korn und Chianti.

„Sayaka!“ Sota kroch aus dem Bett und eilte zu seiner Frau.

„Shibungi weg.“ Akai sah zu Camel. „Licht aus, sofort.“

Camel nickte und betätigte den Schalter. Sie waren von Dunkelheit umgeben. Shuichi brauchte eine Weile um sich daran zu gewöhnen. Ein Kampf mit der Organisation war jetzt nicht machbar. Er betätigte den Knopf am Fenster. Die Aluminium-Rolle an der Außenseite fuhr herunter. Shu wusste, hätte Sota dieses vorher schon aktiviert, wäre der Schütze nie und nimmer in der Lage gewesen Sayaka zu treffen. Langsam schritt er an der Wand entlang.

„Sayaka…“ Sota schluchzte. „Bitte…halte durch. Sayaka liebes…“

Akai schaltete das Licht wieder an. „Wir sind sicher“, sprach er ruhig und sah zu Takagi. „Sichern Sie trotzdem das Gebäude.“

Takagi nickte. Mitleidig sah er zu dem Ehepaar.

„Sayaka…bitte rede mit mir…sag was…Sayaka…“

„So…ta…ich…ich…liebe…“

„Ich liebe dich auch“, sprach er. „Du musst dich ausruhen. Du darfst aber nicht einschlafen. Hörst du mich? Du darfst nicht sterben…lass mich nicht alleine. Ich verzeih dir alles…bleib bei mir.“

„…liebe…dich…“ Sie schloss die Augen.

„Nein…Sayaka…nein…“ Sota schüttelte sie. „Mach die Augen auf…mach sie auf…mach deine Augen auf!“, schrie er die Worte nur so heraus. „Bitte…“, flüsterte er.

Akai hielt Jodie am Arm fest. Er sah sie an und schüttelte den Kopf.
 

Zwei Stunden später trat der Leichenbestatter ein. Er und sein Kollege hievten Sayaka auf die Bahre und brachten sie in ihren Wagen.

„Ich benötige den Autopsiebericht.“

„Bekommen Sie“, nickte der Mann.

Takagi drehte sich zu Sota um. Sota saß wie ein Häufchen Elend auf dem Bett. Er war blass und apathisch. „Was mit Ihrer Frau passiert ist, tut mir leid“, sprach er.

Shibungi antwortete nicht.

„Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden um den Todesschützen zu bekommen.“

Sota nickte. „Ich kann nicht glauben, dass Sayaka…das Sayaka…Sayaka…“, er schluckte und begann zu weinen.

Auch Takagi schluckte. „Mein aufrichtiges Beileid.“

Sota stand auf. Er schleppte sich in sein Arbeitszimmer und ließ sich auf dem Stuhl neben seinem Tisch fallen. „Sayaka…“ Er strich über das Tagebuch und stellte sich vor, dass es auch ihre Geste war. Er wollte sich ihr verbunden fühlen. „Meine Sayaka.“

Jodie sah ihm nach. Sie seufzte. „Er tut mir so leid“, murmelte sie leise.

Shuichi verschränkte die Arme und sah zu Takagi. „Das FBI hat damit nichts zu tun.“

„Sind Sie sich sicher?“

„Natürlich. Wir haben keinen Scharfschützen hier der es auf Frau Shibungi abgesehen hat“, antwortete Shu. „Wo ist Shibungi hin?“

„In sein Arbeitszimmer“, kam es von einem Polizisten.

Shu sah zu Jodie. „Halt dich vom Fenster fern.“

„Shu…“, sprach sie leise. „Ich bin vorsichtig.“

Shuichi wechselte den Raum. Er blieb im Türrahmen des Arbeitszimmers stehen.

Sota sah zu ihm hoch. „Sie hat mir…ihr Tagebuch überlassen…“

Shuichi verengte die Augen. Ein Tagebuch war gut, auch wenn die Einträge kaum der Wahrheit entsprechen würden. „Sie werden es der Polizei überlassen müssen.“

„Es…sie wollte dass ich es bekomme…“, wisperte er.

„Ich weiß. Aber die Polizei braucht es um den Fall abzuschließen und eine mögliche Verbindung zwischen dem Schützen und Ihrer Frau herzustellen.“

Sota schüttelte den Kopf. „Ich war das Ziel.“

„Herr Shibungi…“

„Ich war das Ziel“, wiederholte der Mann. „Ich habe eine Firma. Sayaka hat keiner Person je etwas getan. Der Schütze wollte mich.“ Sota schlug das Tagebuch auf. Er blätterte bis zum Ende. Die letzte Seite. Sayakas letzte Worte. Und sie waren an ihn gerichtet.
 

Lieber Sota,

nachdem du nun alles gelesen hast, möchte ich mich noch einmal bei dir entschuldigen. Ich weiß, ich habe deine Liebe benutzt und war nur an deinem Geld interessiert. Wie du erkannt hast, war meine Kindheit nicht gerade fröhlich verlaufen. Aber eines ist ganz sicher: Meine Liebe zu dir.

Immer wenn ich in deine Augen sehen konnte, sah ich, dass ich alles habe, was ich je wollte. Du warst mein Fels, du gabst mir Geborgenheit. Und so konnte ich nicht mehr. Ich habe dir über Monate hinweg Geld vom Konto abgehoben und es auf ein anderes Konto transferiert. Es sollte für mich sein, wenn ich dich verlasse. Es tut mir leid, dass du es nicht mehr wieder sehen wirst. Es ist nun an einem sicheren Ort, gespendet an Kinder, die wie ich damals in Not waren.

Und es tut mir leid, dass du in den vergangenen Tagen in Sorge um mich warst. Ich wollte eigentlich nur verschwinden und bin damit in den Fokus der Ermittlungen geraten. Ich wollte niemanden die Schuld für mein Verschwinden geben. Ich liebe dich. Aber wir müssen nun getrennte Wege gehen. Vielleicht sehen wir uns in einem anderen Leben wieder. Lebewohl.

Deine Sayaka
 

Shuichi verließ den Raum. „Sie sollten für Shibungi auch einen Arzt rufen. Er braucht ein Sedativum.“

Takagi nickte. „Haben Sie eine Ahnung, wer es auf die Shibungis abgesehen haben könnte?“

Akai schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass es nicht Jodie war.“

Takagi seufzte. „Diese Spitze musste sein?“

„Sehen Sie es als auf Nummer sicher gehen an“, antwortete Shuichi. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bringe ich Jodie nach Hause und lege mich auch schlafen. Es war eine lange Nacht. Wenn Sie unsere Aussage benötigen, schicken Sie jemanden vorbei oder rufen uns an.“

„Danke, dass Sie anriefen.“

Akai ging zu Jodie und Camel. „Gehen wir.“

Die beiden wirkten überrascht, folgten ihm aber.

„Es gibt ein Tagebuch. Sayaka hat es ihrem Mann hinterlassen.“

„Du hast es mitgenommen?“, wollte Camel wissen.

„Nein. Shibungi kann es meinetwegen als Erinnerung behalten.“

„Was ist mit der Organisation?“

„Ich glaube nicht, dass sie über diese geschrieben hat. Sie wollte abtauchen und ihn nicht in Gefahr wissen. Sie wird ihm eine schöne Hintergrundgeschichte aufgeschrieben haben. Unsere Leute sollen trotzdem das Haus beobachten. Ich möchte auf Nummer sicher gehen.“

„Ich kümmere mich darum“, kam es von Camel. „Ich werde Black informieren.“

Shuichi öffnete seine Wagentür und stieg ein. Jodie folgte ihm auf den Beifahrersitz. „Kommst du allein nach Hause?“

„Ja“, nickte Camel.

Shuichi startete den Motor und fuhr los.

„Was ist eigentlich mit dem Schützen? Es waren Chianti und Korn, nicht wahr?“

„Es ist anzunehmen“, antwortete Akai.

„Können wir sie über die Kugel zurückverfolgen?“

„Eher unwahrscheinlich“, entgegnete der Agent. „Sie werden eine Waffe genommen haben, die entweder als gestohlen gemeldet wurde oder eine die einer Person der Öffentlichkeit gehört.“

„Also Sackgasse.“

Shu nickte. „Dafür ist deine Unschuld nun ein für alle Mal bewiesen.“

„Wenigstens eine positive Sache…“ Jodie seufzte. „Sie hatte solche Angst.“

„Ich weiß.“

„Und sie hielt mich für ein Mitglied der Organisation. Jetzt ergibt das alles einen Sinn. Sie fühlte sich wahrscheinlich sowieso beobachtet. Und dann komm ich, will unbedingt eine Stelle in der Firma haben und mache ihr Angst. Deswegen wollte sie verschwinden und ließ mich als Sündenbock zurück. Sie wollte, dass die Organisation sieht, dass man nicht gut Kirschen mit ihr essen kann.“

Shuichi verdrehte die Augen. „Wenn es gleich darauf hinausläuft, dass du Schuld bist, beende das Gespräch lieber.“

„Shu!“

„So ist es doch. Du willst dir die Schuld geben.“

„Nein…ich…ach ich weiß auch nicht.“

Shuichi schüttelte den Kopf. „Nimm zu Hause ein heißes Bad und geh schlafen. Und wenn du dich langweilst, schreib den Bericht zum heutigen Morgen.“

21.12.

Shuichi hatte Jodie angelogen. Und das mit Absicht. Natürlich war er nicht um zehn Uhr morgens einfach so nach Hause gefahren. Das war nicht seine Art. Schlafen konnte er auch später. Allerdings merkte er, dass die Müdigkeit einsetzte, sobald das Adrenalin aus seinem Körper entschwand. Noch einmal kehrte Shuichi an den Tatort zurück. Er sah sich das Haus an und beobachtete die Polizisten. Sie sperrten die Räumlichkeiten ab. Kurz war er reingegangen, sah sich das Fenster an und verschwand wieder.

Auch draußen hatte sich der Agent umgesehen und ging in die Richtung aus der er den Schuss vermutete. Shuichi achtete auf seine Umgebung, sog jedes kleinste Detail auf und stellte sich das Szenario vor. Er war in seinem Element. Als Scharfschütze war er in der Lage sich in den Auftrag eines anderen Schützen hineinzudenken. Damit der Schuss direkt in Sayakas Brust ging, hatte er eine ungefähre Flugbahn berechnet. Akai blieb vor einem Hotel stehen. Er betrachtete die Scheiben an der Glastür. Die Türen öffneten sich und er trat hinein. Shuichi sah kurz zu der Frau am Empfang, die ein freundliches Lächeln aufgesetzt hatte. Shuichi steckte die Hände in seine Hosentaschen und ging direkt zum Aufzug. Er betätigte den Knopf und ließ sich in die oberste Etage fahren.

Oben sah er sich auf der Etage um. Alles sah normal aus. Es gab nirgends abdrücke oder Hinweise. Shuichi blickte aus einem Fenster. Die Richtung stimmte. Da er wusste, was er suchte, erkannte er das Haus der Shibungis in der Entfernung. Er öffnete das Fenster und steckte den Kopf nach draußen. Shuichi verengte die Augen. Die Höhe stimmte nicht.

Er schloss das Fenster und folgte der Treppe nach unten. Er sah sich vier Etagen tiefer noch einmal am Fenster um. Von hier aus hätte ein Schütze freie Bahn. Akai fixierte die Hotelzimmertüren. Drei kamen in Frage. 823. 824. 825.

Er ging an die erste Tür und klopfte an. Es kam keine Reaktion. Akai ging zur zweiten Tür und klopfte auch dort an. Eine nicht ausgeschlafene Person öffnete ihm. Der Mann gähnte, war bekleidet mit einem weißen Hemd und einer Boxershorts. Er sah ihn schlaftrunken an.

„Ja?“

„Sicherheitsdienst“, antwortete Akai. „Ich soll die Schließanlage Ihrer Fenster überprüfen.“

„Machen Sie schnell.“ Der Mann drehte sich um und ging wieder rein. Er kratzte sich am Hinterteil und ließ sich dann auf das Sofa fallen. „Ich habe hier keine Wertsachen.“

„Ich will Sie nicht ausrauben.“ Shuichi ging auf das Fenster zu. Er öffnete es und ließ die kalte Luft hinein. Die Höhe war eindeutig richtig. Er blickte nach unten, sowohl draußen an der Fassade als auch drinnen. Wenn die Organisation das Zimmer benutzte, hinterließen sie keine Spuren.

„Waren Sie die ganze Nacht hier?“

„Was´n das für ´ne merkwürdige Frage?“, wollte der Mann wissen. „Sie sollen sich das Fenster ansehen und kein Gespräch mit mir führen.“

„Liebling?“

Shuichi schloss das Fenster und drehte sich um. Die Frau war aus dem Badezimmer gekommen. Ihren Körper verdeckte sie nur mit einem Handtuch. Es war ihr sichtlich peinlich, sodass sie wieder im Badezimmer verschwand.

„Gaffen Sie gefälligst nicht meine Frau an.“

Shuichi blickte zu dem Mann. „Mit dem Fenster ist alles in Ordnung. Sollten Sie Probleme feststellen, melden Sie es einfach an der Rezeption.“ Akai ging durch den Raum und verließ das Zimmer. Er rollte mit den Augen.

Shuichi trat an die dritte Tür auf der Etage und klopfte an. Er drückte den Türknauf, blieb aber vor einer verschlossenen Tür stehen.

Zwei von drei, sagte er sich. Das war nicht optimal. Shuichi trabte die Treppen nach unten. Er ging zur Rezeption. „Können Sie mir sagen, ob die Zimmer 823 und 825 besetzt sind?“

Sie sah ihn fragwürdig an. „Über unsere Gäste dürfen wir keine Auskunft geben.“

„Ich will nicht wissen, wer Ihre Gäste sind. Sind die Zimmer besetzt?“

Sie schluckte bei seinem grimmigen Aussehen. Dann tippte sie auf dem Computer herum. „823 war bis heute morgen besetzt. 825 ist frei.“

„Danke. Die Zimmer werden täglich gereinigt?“

„Natürlich.“

„Ist dabei irgendwas aufgefallen?“

„Aufgefallen?“

„Schon gut“, sprach Shu. Er drehte sich um und ging.

„Wollen Sie kein Zimmer…?“, rief sie ihm nach ihm.
 

***
 

Wie Shu annahm, fand auch das FBI keine Spuren auf den Aufenthalt der Organisation in beiden Zimmern. Weder Schmauchspuren noch Patronenhülsen. Die Organisation arbeitete gründlich. Aber auch sie mussten irgendwann einen Fehler machen. Blieb zu hoffen, dass sie diesen früh machten.

Shuichi ging zu seinem Wagen. Er startete den Motor und fuhr direkt zum Forensiker der Polizei. Shuichi hatte schlechte Laune. Sie waren der Organisation so nah und wieder rückte alles in die Ferne. Akai bezweifelte, dass die Untersuchung des Forensikers irgendeine neue Spur gab. Dafür war die Organisation viel zu schlau. Sie führten das FBI vor. Verhöhnten es und hatten fast freie Bahn. Sie lachten sie aus, zeigten ihnen, dass man sie nicht aufhalten konnte und indirekt wiesen sie auf die Fehler der Agenten.

Er war das Warten leid, wollte endlich Ergebnisse sammeln und an die höheren Mitglieder der Organisation. Stattdessen ließ diese das FBI am ausgestreckten Arm verhungern. Wie gern wäre er auf sie getroffen. Aber die Situation war ungelegen. Jodie war noch nicht soweit um wieder zu arbeiten, Camels Schulter war ebenfalls nicht einsatzfähig. Und dann war da noch die Polizei. Takagi und einige andere Männer. Auch wen er die Organisation wollte, konnte er das Leben vieler Unschuldiger nicht riskieren.

Shuichi parkte seinen Wagen. Er zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche und rauchte sie. Im Anschluss ging er in das Gebäude, meldete sich an und wurde von einer Assistentin in den Raum geführt.

„Können wir Ihnen helfen?“, wollte der Gerichtsmediziner wissen.

„Akai Shuichi“, stellte er sich vor. „Black schickt mich.“

„Ah ja...“, nickte der Mann. „Er hat uns bereits informiert.“

„Was können Sie mir zu der Leiche von Sayaka Shibungi sagen?“

Der Mann röchelte kurz. „Wir sollten auf Inspektor Takagi warten. Er befindet sich bereits auf den Weg nach unten.“

Shuichi verengte die Augen. Zeit. Als ob er die hatte. Aber wenn der Inspektor unbedingt dabei sein wollte, konnte Akai die Besprechung der Ergebnisse nicht beschleunigen. Shuichi prägte sich den Raum ein. Er sah zu den vielen Kühltruhen und den, mit weißen Tüchern bedeckten, Körpern. Als Gerichtsmediziner schien man einiges zu tun zu haben. In Japan weniger als in den Staaten.

Takagi kam in den Raum. „Guten Morgen“, grüßte er.

„Dann können wir anfangen.“ Der Gerichtsmediziner zog eine Akte hervor. Er ging zu der Bahre. Ein weißes Tuch bedeckte den Körper der Frau. „Sayaka Shibungi, 25 Jahre alt, Todesursache: direkter Schuss ins Herz.“ Er sah beide Männer an. „Sie müssen es sich so vorstellen: Wird das Herz von einer Kugel getroffen, endet der Herzschlag abrupt. Durch das Einschussloch strömt das Blut aus dem Herzen, wodurch der Blutdruck sofort zusammenbricht. Es kommt binnen zwei bis drei Minuten zum Hirntod aufgrund der fehlenden Sauerstoffversorgung.“

„Sie hatte also keine Chance?“, wollte Takagi wissen.

„So ist es.“

„Haben Sie die Kugel?“, fragte Akai.

„Natürlich“, sprach der Mediziner. „Es befindet sich keine Seriennummer auf dieser. Wir haben bereits versucht einen Abgleich mit anderen Kugeln zu machen, die registriert wurden“, erzählte er. „Jede Kugel wird eingescannt und ein elektronischer Abdruck genommen. Sobald eine neue Schussverletzung auftritt, können wir die Kugeln miteinander vergleichen und nach Ähnlichkeiten suchen.“

„Wir können also nicht sagen, wer geschossen hat.“

„So ist es“, nickte der Mann.

Takagi sah zu Akai. „Wir müssen den Fall als ungelöst ins Archiv verfrachten.“

„Machen Sie das“, sprach Shuichi. „Ich habe sowieso nicht angenommen, dass anhand der Kugel ein Schütze festgestellt wird. Täter die es gründlich machen, verwenden nicht registrierte Waffen oder stehlen sie.“

„Eh…ja…“, murmelte Takagi. Natürlich wusste er das. Trotzdem musste er versuchen jedem Hinweis nachzugehen und Gerechtigkeit für die Opfer zu bekommen. Fälle, die damit endeten, dass man sie ungelöst ins Archiv stellte, waren eine Niederlage. Man hatte nichts und konnte nur hoffen, dass eines Tages ein Durchbruch erzielt wurde. In regelmäßigen Abständen wurden Neulinge der Polizeiakademie auf ungelöste Fälle angesetzt. Man hoffte, dass diese mit einem anderen Blickwinkel etwas entdeckten, was einem selbst verborgen blieb. Die Erfolgsquote war nicht hoch. Es gab Fälle, die seit Jahren keine Hoffnung fanden.
 

***
 

Jodie brauchte lange um einzuschlafen. Tagsüber gelang es ihr gar nicht. Sie war teilweise aufgekratzt und teilweise auch total übermüdet. Trotzdem wollte es mit dem Schlaf nicht hinhauen. Die wenigen Stunden in Shus Wagen waren eine Ausnahme. Er war da. Sie spürte es ganz deutlich. Er strahlte eine gewisse Ruhe aus. Sie half ihr einzuschlafen. Aber nun? Sie war gerädert und wach.

Jodie hatte nach den Ereignissen direkt ein heißes Bad genommen und legte sich – eingekuschelt in dicken Wollsocken – in ihr Bett. Und dann lag sie rum. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere. Links, dann rechts, auf den Bauch, den Rücken, wieder zur Seite. Es half nichts. Sie konnte nicht einschlafen.

Immer wenn Jodie die Augen schloss, sah sie sich selbst, sitzend auf dem Bett in der Haft, wartend auf den Tag der Erlösung. Und dann sah sie, wie sie in das Gerichtsgebäude gebracht wurde und ihrem Prozess beiwohnte. Jedes Mal entschied der Richter gegen sie. Jodie sah, wie sie abgeführt wurde wie eine Schwerverbrecherin, sah die schockierten Gesichter von Shu, James und Camel und das Grinsen von Vermouth. Sie war hilflos. Allein. Auf sich selbst gestellt.

Die Fiktion reichte aus um sie zu verunsichern. Manchmal wenn sie die Augen öffnete, wusste sie nicht mehr was die Realität war. Sie kniff sich in den Arm und versicherte sich selbst, dass sie auch wirklich zu Hause war. In ihrem Bett.

Jodie wollte eigentlich nicht mehr daran denken. Sie wollte nicht wissen und sich nicht vorstellen wie alles ausgegangen wäre, wenn das FBI nicht weiter ermittelt hätte. Ihr Unterbewusstsein sah diesen Wunsch aber anders und versorgte sie mit allen möglichen Bildern. Dabei wollte sie doch nur schlafen. Einfach nur schlafen. Wenigstens einen Tag, neue Kraft tanken und ihre Reserven aufladen.

Aber sie fühlte sich nicht sicher. Die Organisation hatte es geschafft. Sie konnte nicht mehr alleine sein, wollte es nicht mehr.

Warum konnte Shu nicht bei ihr sein? Seine Anwesenheit reichte aus um ihr die Sicherheit wieder zurück zu geben. Bei ihm fühlte sie sich geborgen. Noch immer konnte sie den Geruch seiner Jacke wahrnehmen. Sie wollte das Gefühl zurück, wollte bei ihm sein…

Jodie starrte die Decke an. Es war vorbei. Sie sollte der Vergangenheit nicht mehr hinterherlaufen. Sie waren nicht mehr zusammen. Keine Gefühle. Und trotzdem kämpfte sie nur mit Mühe dagegen an. Das Klingeln ihres Handys holte sie wieder zurück in die Realität. Sie tastete danach und als sie es endlich in der Hand hatte, konnte sie die Nummer keiner Person zu ordnen. Sofort war sie auf eine Sache fokussiert und setzte sich auf.

Ist das…?

Jodies Finger schwebte über dem Annehmen-Button. Sie sollte James über ihr Haustelefon anrufen. Oder Shu. Stattdessen ging sie selber ran. „Starling.“

„Frau Starling, hier spricht Yamato Naoki, ich bin der Chefredakteur der…“

„Kein Kommentar“, sprach Jodie gleich in den Hörer und legte auf. Jodie wusste was das hieß. Sie musste sich eine neue Nummer besorgen, eine die die Presse nicht so schnell in die Finger bekam. Reporter waren immer auf der Suche nach einer Story. Es war in den Staaten so, warum sollte es in Japan anders sein? Zumal es auch zahlreiche Artikel über den Fall gab. Jodie seufzte. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis der Tod von Sayaka die Runde machte. Und obwohl sie nichts damit zu tun hatte, ahnte sie, dass sie als Sündenbock fungieren würde.
 

***
 

Jodie kam oben im Großraumbüro an. Sofort richteten sich alle Augenpaare auf sie. „Guten Morgen“, sagte sie laut und ging an einen Schreibtisch. Sie setzte sich, seufzte leise und startete den Computer. Aus dem Hintergrund vernahm sie ein leises Flüstern. Etwas anderes erwartete sie nicht.

Als sie aber eine Hand auf ihrer Schulter spürte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie sah nach hinten. „Camel…du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Tut mir leid“, antwortete dieser. „Was machst du hier?“

Jodie sah ihn verwirrt an. „Wie? Was ich hier mache? Ich arbeite. Aber ich könnte dich das gleiche fragen. Was machst du hier? Ich weiß, dass deine Schulter immer noch verletzt ist und sie schmerzt sicher noch immer. Wurdest du etwa wieder diensttauglich geschrieben?“

Camel runzelte die Stirn.

„Camel? Jetzt sag schon“, drängte sie ihn. „Was ist passiert? Ich bin nicht aus Zucker.“

„Ja, ich weiß.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich dachte nur, du würdest heute noch zu Hause bleiben und dich ausruhen. Ich wurde nicht wieder diensttauglich geschrieben. Aber da ich gestern vor Ort war, erwartet Black meinen Bericht. Ich wollte den hier schnell schreiben.“

„Hmm…“, murmelte Jodie. „Warum wollen eigentlich immer alle, dass ich zu Hause bleibe? Ich muss mich nicht immer ausruhen. Mir geht es gut. Außerdem fällt mir zu Hause die Decke auf den Kopf. Und die Arbeit…sie hilft mir.“

Camel sah sie besorgt an.

„Jetzt guck doch nicht so. Es geht mir gut“, meinte sie. „Ich muss eigentlich sauer auf dich sein. Du bringst dich einfach so in Gefahr und übernimmst ein paar Observationsschichten. Was wäre gewesen, wenn wir nicht dort gewesen wären?“

„Tut mir leid, Schwester Jodie.“

„Schwester Jodie?“

Camel schmunzelte. „Du hast dich gerade wie die Schwestern angehört. Die die mich dauernd ermahnten und mir mit großen, langen Spritzen drohten.“

„Oh…aber du hast dich trotzdem über die Empfehlungen deines Arztes hinweg gesetzt.“

„Dafür werde ich mich auch nicht entschuldigen, Jodie. Ich weiß, dass du genau das gleiche getan hättest. Und ich habe es getan, weil ich dir helfen wollte. Du warst in Gefahr und da konnte ich doch nicht tatenlos zusehen. Du hättest das gleiche für mich getan.“

„Ach Camel…“, wisperte sie leise.

James öffnete die Tür und kam aus dem Büro. „Jodie?“ Er sah sie überrascht an, schüttelte dann aber den Kopf. „Camel, Jodie, in mein Büro.“

Jodie stand auf und ging in das Büro. „Guten Morgen, James…oh…Shu…“ Sie setzte sich auf den freien Stuhl. „Sagt mir bitte nicht, dass ihr mich ausschimpfen wollt.“

„Sollten wir wahrscheinlich machen. Aber es ist gut, dass du hier bist“, fing James an.

„Ich war gestern noch beim Hotel und habe mir ein paar Zimmer angesehen. Für den Schuss, der auf Sayaka Shibungi abgegeben wurde, kommen zwei Zimmer in Frage. 823 und 825“, kam es dann von Akai.

„Ich habe unsere Männer zu beiden Zimmern geschickt. Wir konnten keine Rückstände finden die auf die Organisation schließen“, erklärte James.

„Dann haben wir also wieder mal nichts.“

„So ist es“, nickte Akai. „Der Pathologe hat bestätigt, dass der Schuss die Todesursache war. Wir hätten nichts tun können.“

„Verdammt.“

„Und was macht die Polizei jetzt?“, wollte Camel wissen.

„Der Fall wird aus ungelöst ins Archiv verfrachtet.“

„Und es wird eine Stellungnahme geben. Du wirst rehabilitiert werden, Jodie. In den nächsten Tagen werden die Zeitungen über den Fall berichten. Wir wissen allerdings nicht wie die Zeitungen mit dem Tod umgehen werden“, sprach James.

„Wir ahnen es aber.“ Shuichi verschränkte die Arme. „Sie werden natürlich dahinter kommen, dass Medipharm insolvent ist. Die Schuld daran werden sie Sayaka geben und erwähnen, dass diese einigen Zwielichtigen Personen Geld schuldete. Diese haben sie anschließend getötet. Ob es der Wahrheit entspricht oder nicht, ist den Reportern egal.“

„Verstehe“, murmelte Jodie leise. „Mich hat Naoki heute Morgen angerufen.“

„Was hast du gesagt?“, fragte James.

„Kein Kommentar. Und dann hab ich aufgelegt.“

„Akai nickte. „Besorg dir am besten eine neue Nummer.“ Er sah zu James.

„Ich kümmere mich darum.“

„Was ist mit Sota Shibungi?“

„Er liegt im Krankenhaus“, entgegnete James. „Die Ärzte wollten ihn lieber mitnehmen. Er wurde sediert und befindet sich noch immer in Trauer. Kein Wunder. Er sah zu, wie seine Frau erschossen ist.“

Jodie neigte den Kopf. „Und wir schließen den Fall auch ab?“

„Auf gar keinen Fall“, kam es von Akai. „Es gibt ein Tagebuch. Sayaka hat es ihm hinterlassen.“

„Und das sagst du uns erst jetzt?“, wollte Jodie wissen.

„Das Tagebuch stellt keine Gefahr dar. Wir wissen doch, dass Sayaka die Stadt verlassen wollte. Sie kam in ihr Haus um sich zu verabschieden. Zumindest hat Shibungi das gesagt. Deswegen hat sie ihm das Tagebuch hinterlassen. Sie wollte, dass er die Hintergründe kennt. Sie war nicht dumm. Hätte sie die Organisation mit einem Wort erwähnt, wäre er sofort erschossen worden. Ich nehme an, dass sie sich eine ganz neue Geschichte ausgedacht hat. Etwas wie: ich wurde erpresst und kam nicht mehr alleine aus der Situation heraus, deswegen habe ich dein Geld benutzt.

Keiner wird je herausfinden, wo sich die Millionen befinden und wer der angebliche Erpresser war. Wir müssen ihn dennoch im Auge behalten. Ich schlage vor, dass sich die Agenten abwechseln. Wir wissen nicht was die Organisation weiß. Wenn sie vom Tagebuch wissen oder ahnen, dass es einen Brief gibt, werden sie alles versuchen um die Materialien zu bekommen. Auch sie wollen ihre Spuren verwischen, wobei ich mir sicher bin, dass sie wissen werden, dass Sayaka niemanden die Wahrheit sagte.“ Shuichi sah die Gruppe an. „Es kann natürlich trotzdem sein, dass die Organisation ein Risiko ausschalten will und handelt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht hoch, aber auch nicht gering.“

James nickte. „Gut. Ich stelle das Team zusammen“, sagte er. „Und Sie alle sollten sich einen Tag frei nehmen und Ihre Kräfte regenerieren.“
 

***
 

Shuichi saß in seiner Wohnung. Der Laptop stand aufgeklappt vor ihm. Er ging alle neuen Artikel durch. Es war, wie er annahm. Sayaka Shibungis Rückkehr wurde mit einem großen Aufhänger versehen. Jodies Beteiligung aber klein gehalten. Da sie nun nicht mehr die Verdächtige war, erhielt sie gerade mal einen kleinen Zweizeiler. Es war mehr als nichts.

Shuichi klickte sich weiter durch. Der erste Artikel über den Mord stand auch im Netz. Es gab zwei Theorien. Die eine besagte, dass Sayaka erpresst wurde und sich den Erpresser mit Sotas Geld vom Hals schaffen wollte. Da es schief ging, musste sie mit dem Leben bezahlen. In der zweiten Theorie ging es darum, dass sie mit einem Partner ihren Mann von Anfang an nur ausnehmen wollte, dann aber Skrupel bekam und letzten Endes von einer dritten Person erschossen wurde.

Die Organisation wurde mit keinem Wort erwähnt, was auch gut war.

Shuichi klappte den Laptop herunter und lehnte sich nach hinten. Er schloss die Augen, war aber trotzdem wachsam. „Na kommt schon…traut euch und kommt heraus.“

Er war bereit.

22.12.

„Aniki“, fing Wodka an. Er kam in den Raum seines Partners und hielt die Zeitung in der Hand. Man spürte sein Unbehagen.

Gin sah nach oben. Mit seinen kalten Augen fixierte er seinen Gegenüber. Er war schlecht gelaunt. Wobei sich eher die Frage stellte, wann er mal gut gelaunt durch die Gegend lief. „Was?“

Wodka schluckte. „Ich habe die Zeitung geholt“, sagte er.

„Wie schön für dich“, spottete Gin.

„Hast…hast du schon den Artikel gelesen?“, wollte Wodka dann wissen.

„Welchen?“

„Den in der…“ Er schluckte und hielt die Zeitung hoch.

Gin verdrehte die Augen. „Alle Zeitungen schreiben darüber“, zischte er. „Gestern Abend ging es bereits los. Alle Artikel beschränkten sich auf das Internet.“

„Ich…ich…habe nichts damit zu tun…“

Gin sah seinen Partner weiterhin an. „Wieso ist sie bei ihrem Haus aufgetaucht?“

„Ich…ich weiß es nicht.“

„Hattest du nicht den Auftrag gehabt ein Auge offen zu halten und sie vor dem FBI zu finden?“

„Doch, das…das hatte ich“, nickte er. „Aber ich konnte sie einfach nicht finden. Ich weiß nicht, wo sie sich versteckt hat. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie mitten in der Nacht beim Haus erscheint. Ich war zu spät…“

„Das warst du“, entgegnete Gin. „Setz dein Hirn ein. Du hast gewusst, dass sie ihren Mann liebt und sich deswegen von uns entfremdet. Es war für jeden offensichtlich, dass sie zurück zu ihrem Haus geht.“

Wodka schluckte. „Ich…“ Er sah nach oben. „Ich habe nicht nachgedacht.“

Gin verschränkte die Arme. „Sayaka ist tot.“

Sein Gegenüber nickte. „Sie kann nun nichts mehr über uns ausplaudern, nicht wahr, Aniki?“

„Selbst wenn, was weiß sie über uns?“, wollte er wissen. „Oder hast du ihr mehr erzählt?“

„Natürlich nicht. Sie wusste nicht, wie ich aussehe“, antwortete Wodka. „Aber Aniki? Wer hat sie erschossen.“

Das war die große Preisfrage. „Was weißt du aus ihrer Vergangenheit. Hatte sie Feinde?“

„Nein“, sagte er. „Keiner dem sie Geld abnahm war Scharfschütze oder hatte Kontakte zur Armee.“

„Mhmm…“, murmelte Gin. „Akai war vor Ort.“

„Ak…ai? Er war da?“

„Er ist nicht der Schütze. Er war im Haus.“ Gin dachte nach.

„Wenn das FBI dort war, haben sie vielleicht etwas damit zu tun und Sayakas Tod nur vorgetäuscht. Ja, jetzt wo ich darüber nachdenke, macht das Sinn.“

„Nein, macht es nicht“, widersprach Gin. „Unser Kontakt hat den Tod von Sayaka bestätigt. Die Kugel durchbohrte ihr Herz. Sie war binnen weniger Minuten tot. Die Leiche ist in der Gerichtsmedizin.“

„Ach so“, kam es von Wodka. „Und wer hat dann geschossen?“

Gin zuckte mit der Schulter. Vermouth? Möglich war es. Sie hatte die Ressourcen jemanden zu engagieren. Oder Rum kam ihnen zuvor. „Tot ist tot.“

Wodka nickte. „In einem anderen Artikel hieß es, dass Beweise auftauchten die die Unschuld von Starling bewiesen.“

„Hab ich gelesen“, entgegnete Gin. Er zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. Den Rauch blies er sofort in Wodkas Richtung. „Dem FBI wurde ein Video zugespielt. Es zeigte wie Starling die Firma verließ – eine Stunde später als von uns gewollt. Ich dachte, du hast dich darum gekümmert.“

„Das hab ich auch“, sagte Wodka sofort. „Ich habe die Dateien auf der Festplatte gelöscht.“

„Und die Festplatte?“

„Die habe ich nicht zerstört. Ich wollte kein Aufsehen erregen. Die Polizei hätte dann doch sicher gemerkt, dass das Video nur gefälscht war.“

Gin verengte die Augen. „Wie hast du die Daten gelöscht?“

Wodka sah ihn überrascht an. „Ich habe sie mit der linken Maustaste angeklickt, bin auf Löschen gegangen und habe diesen Befehl bestätigt. Anschließend habe ich den Papierkorb geleert und in den Ordnern geschaut, dass keine Reste vorhanden sind.“

„Idiot…“

„Aniki?“

„Warum hast du nicht eines unserer Programme verwendet?“

„Ich wollte nicht, dass sie es nachverfolgen können.“

„Das Programm ist NICHT nachverfolgbar. Wegen dir hat das FBI die Beweise gefunden die sie brauchten. Wir hätten Starling für Jahre hinter Gittern bringen können. Sie wären geschwächt und hätten sich darauf konzentriert immer wieder Berufung einzulegen. Du hast es vermasselt.“

„ Aniki…ich…“, murmelte der Mann in Schwarz.

„Geh mir aus den Augen.“ Gin zog sein Handy heraus.

Was hast du getan? Er schickte die Kurznachricht ab.
 

***
 

Jodie ging durch die Straße. Sie hatte Glück, keiner erkannte sie. Wenigstens blieb ihr diese Gewissheit. Sie sah sich in den Straßen um. Die westlichen Bräuche wurden auch in diesem Jahr umgesetzt. Die Schaufenster wurden dekoriert mit kleinen Tannenbäumen, Kugeln und Lichterketten. Sonst hätte sie sich darüber gefreut. Dieses Jahr wollte einfach keine Stimmung bei ihr aufkommen. Jodie sah ihr Gesicht im Schaufensterspiegel an. Ein Jahr war fast rum und sie hatten nichts erreicht. Die Organisation spielte immer noch ihr perfides Spiel. Dieses Jahr mehrfach auf ihre Kosten. Shuichis Tod am Freitag, den 13. Das Auftauchen von Narben-Akai Wochen später. Und nun die Sache mit den Shibungis.

Jodie fühlte sich ausgelaugt. Innerlich leer. Sie brauchte eine Pause. Abstand von allem. Es war einfacher gesagt. Sie konnte nicht abreisen, in ihr altes Leben zurück. Sie konnte auch nicht in Japan nichts tun. Es war ihre Aufgabe, ihr Job. Jodie seufzte leise auf.

„Miss Jodie…?“

Oh nein, bitte nicht. Kein Reporter…

Sie drehte sich um. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Oh Hallo“, sprach sie. „Was macht ihr denn hier?“

„Bei uns sind die letzten beiden Schulstunden ausgefallen“, erzählte Ayumi.

„Deswegen wollten wir noch ganz schnell in die Buchhandlung“, fügte Genta hinzu. „Danach gehen wir Ramen essen.“

„Ach ja? Und was für ein Buch kauft ihr euch?“

Mitsuhiko sah zu ihr hoch. „Ein Sammelband mit den Geschichten von Sherlock Holmes. Conan zwingt uns mehr oder weniger es zu lesen.“

Jodie schmunzelte. „Es wird schon nicht so schlecht sein.“

„Schlecht? Natürlich wird es nicht schlecht sein“, kam es sofort von Conan. „Sir Arthur Conan Doyle hat es geschrieben. Die Geschichten um Sherlock Holmes sind einfach legendär. Und jeder der ein Detektiv sein will, muss sie gelesen haben.“

„Ach ja?“ Jodie beugte sich zu den Kindern herunter.

„Diskutieren Sie lieber nicht mit ihm. Conan vergöttert Doyle und die von ihm geschaffene Figur Sherlock Holmes. Jede Diskussion mit ihm, verlieren Sie. Und wussten Sie, dass Conan auch fremden Männern vertraut, wenn sie sagen, dass sie Holmes-Fan sind?“

„Wirklich?“ Jodie sah zu dem Grundschüler.

Wer Sherlock Holmes mag, kann kein schlechter Mensch sein. Zitat Ende.“

Conan kratzte sich am Hinterkopf. „Ach komm schon, Ai, so war das doch gar nicht.“

„Natürlich nicht. Du hast ihm ja auch nur die Schlüssel zur Villa gegeben und dich gefreut, jemanden zum Holmes-Schwärmen zu haben“, entgegnete sie.

Conan seufzte. „Reitest du immer noch darauf herum?“

„Finde dich damit ab“, sagte Ai anschließend und sah zu Jodie.

„Ich habe deine Warnung verstanden und werde keine Diskussion mit ihm anfangen.“

„Wir wussten die ganze Zeit, dass Sie es nicht waren“, sprudelte es aus Ayumi.

Jodie sah sie überrascht an. „Eh?“

„Das FBI hat mit uns gesprochen“, kam es dann von Mitsuhiko. „Agent Black hat uns alle besucht und uns gebeten, dass wir niemanden etwas über Sie erzählen. Das haben wir ihm versprochen. Ihre Schüler aus der Oberstufe wurden auch angewiesen, keinem etwas zu sagen.“

„Danke, das war sehr lieb von euch.“

„Natürlich“, nickte Genta. „Als dann der Artikel über diese Sayaka Shibungi kam, schlussfolgerte Conan, dass das der Fall ist an dem Sie arbeiten.“

„Ach wirklich?“ Jodie sah zu Conan.

„Ja, Conan ist sehr schlau“, antwortete Ayumi. „Wir haben dann auch die Artikel gelesen. In jedem ging es um eine Mitarbeiterin. Das war ganz schön gemein was dort stand. Später wurde Ihr Name erwähnt. Aber wir haben den Artikeln natürlich nicht geglaubt.“

Jodie lächelte. „Danke.“ Sie sah zu Conan. „Das hast du wirklich sehr gut geschlussfolgert.“

Conan grinste. „Naja…“, murmelte er leise.

„Als Sie damals bei uns waren, konnte Conan nicht anders und löcherte den Professor über Ihren neuen Fall“, fing Ai an. „Professor Agasa blieb standhaft. Als er aber beim Zeitungslesen den Namen Shibungi las, ist es ihm heraus gerutscht. Conan war also eigentlich nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“

Jodie kicherte. „Verstehe…“

„Stimmt das, was in den neusten Artikeln steht?“, wollte der Grundschüler wissen.

„Was steht denn drin? Ich hab die Zeitung gar nicht gelesen.“

„Es gibt zwei Theorien von den Reportern“, sagte Genta.

„Theorie 1: Frau Shibungi wurde erpresst und wollte sich mit dem Geld der Firma ihres Mannes freikaufen. Aber es ging schief und sie wurde vom Erpresser erschossen. Die Zeitung sagt auch, dass Frau Shibungi die Entführung selbst inszenierte um dem Erpresser zu entkommen“, sprach Ayumi.

„Theorie 2: Frau Shibungi hatte einen Komplizen, einen heimlichen Liebhaber. Sie haben sich Herrn Shibungi wegen dem Geld ausgesucht. Mit der Zeit hat sich dann Frau Shibungi in ihren Mann verliebt und wollte die ganze Sache beenden. Aber ihr Komplize ließ sie nicht einfach so gehen und entführte sie. Sie konnte sich befreien und wurde anschließend von ihm erschossen“, erklärte Mitsuhiko.

„Wissen Sie, was wahr ist?“

„Da muss ich leider passen“, antwortete Jodie. „Das FBI weiß auch nicht so viel. Wir hätten Frau Shibungi gerne zu den genauen Umständen befragt, aber als wir sie antrafen…naja…“

„Oh. Dann werden wir die Wahrheit nie erfahren?“, wollte Ayumi wissen.

„Es sieht sehr danach aus.“ Jodie lächelte trotzdem.

„Und was ist mit ihrem Mann?“

„Dem geht es nicht so gut. Ihr Tod hat ihn sehr mitgenommen. Wir haben den Fall trotzdem abschließen müssen. Die Polizei leider auch. Wenn kein Wunder geschieht, werden wir die wahren Umstände nie erfahren.“

„Aber ist Herr Shibungi nicht auch in Gefahr?“, wollte Genta wissen.

„Hmm?“ Jodie sah ihn an. Sie legte ihre Finger auf die Lippen. „Pscht. Das ist ein Geheimnis zwischen uns, okay? Wir passen auf Herrn Shibungi auf.“

Genta nickte.

„Ich muss jetzt aber auch gehen. Mein Essen steht bestimmt schon seit einiger Zeit im Restaurant herum und wartet auf seine Abholung.“

„Wir wollten Sie nicht aufhalten“, entgegnete Ai.

„Das habt ihr nicht.“ Jodie lächelte. „Passt auf euch auf.“

„Sie auch auf Sie. Machen Sie es gut.“
 

***
 

Jodie kam mit zwei Tüten zurück in das Büro. Sie stellte sie auf ihren Schreibtisch und zog sich die Jacke aus. Mit der einen Tüte ging sie zu Camel und schob sie ihm zu. „Ich hab vorhin Conan getroffen.

Camel öffnete die Tüte und holte sein Essen raus. „Danke.“ Er klappte die Abdeckung hoch und sog den Duft von frisch gekochtem Reis auf. „Wie geht es ihm?“

„Ganz gut.“ Jodie lehnte sich gegen den Tisch. „Er und die Kinder waren auf dem Weg zur Buchhandlung. Heute kam ein neuer Sammelband der Sherlock-Holmes Geschichten heraus. Conan möchte unbedingt, dass die Kinder die Geschichten lesen.“

Camel musste lächeln. „Das passt zu ihm.“

„Findest du nicht, dass das keine einfache Lektüre ist? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kinder die Geschichten verstehen werden.“

„Öhm“, murmelte Camel. „Naja…aber die Kinder haben auch kein Problem mit den Leichen.“

„Du meinst, Conan und Ai haben kein Problem damit. Genta, Mitsuhiko und Ayumi schätze ich nicht so ein. Die drei ermitteln zwar mit, aber sie verkraften es nicht so einfach. Ai und Conan sind wesentlich abgestumpfter. Wer ist das in ihrem Alter? Und Shu meinte damals, dass er auch keine Probleme gehabt hat. Ich kann mir das nicht vorstellen. Jedes Kind muss doch Angst haben wenn es eine Leiche sieht. Und komm mir jetzt nicht damit, dass Conan das durch Mori immer mitbekommt. Ran ist ja auch dabei, sie ist älter und immer wenn sie eine Leiche sieht, wird sie blass und stößt einen Schreckensschrei heraus.“

„Mhmm…das ist wahr…“, sagte Camel. Er stocherte in seinem Essen rum. „Du denkst also immer noch, dass Conan…?“

„Ja“, nickte Jodie. „Wobei ich sagen muss, dass ich ziemlich überrascht bin, dass er sich in die Geschichte um die Shibungis nicht einmischte. Ai erzählte, dass er vom Professor bereits wissen wollte, warum ich damals dort war. Und vergessen wir nicht die Artikel. Der erste kam doch direkt nach meiner Verhaftung raus, nicht wahr?“

„Ja.“

„Hat Conan dich je danach gefragt?“, wollte sie wissen.

Camel überlegte. „Nein. Also nicht direkt.“ Er sah zu Jodie. „Als ich bei ihm und den Kindern war, fragte er mich, ob das der Fall sei, wegen dem du bei Agasa warst. Ich sah keinen Grund ihn anzulügen und bestätigte.“

„Mehr nicht? Er hat nichts gesagt?“

„Er hat seine Hilfe angeboten. Ich habe abgelehnt.“

„Mhmm…“, murmelte Jodie. „Das ist nicht seine Art. Conan fragt zwar, ob er helfen soll, aber wenn er eine negative Antwort bekommt, ermittelt er trotzdem. Es wundert mich gerade, dass er nichts versucht hat.“

„Vielleicht haben Ai und der Professor ihn davon abgehalten.“

„Ich glaube nicht, dass Conan jemand ist, der sich von anderen etwas sagen lässt. Vor allem dann nicht, wenn er die Organisation dahinter vermutet.“

„Oh…“, murmelte Camel. „Hast du schon mit Akai und Black über die Sache gesprochen?“

Jodie schüttelte den Kopf. „Seit ich es einmal bei Shu versucht habe, nicht mehr. Und dann kamen andere Sachen dazwischen. Weißt du, ob Shu bereits da ist?“

„Gesehen habe ich ihn nicht.“

„Okay. Dann lass es dir schmecken.“ Jodie zog ihr Handy hervor. Während sie zu ihrem Schreibtisch ging, tippte sie eine Kurzmitteilung.

Müssen uns Treffen. 15 Uhr Büro. J.
 

***
 

Jodie wartete und wartete. Shuichi meldete sich nicht zurück. Er war auch nicht ins Büro gekommen. Sie sah auf ihre Uhr.

15:05 Uhr.

Sie würde ihm noch ein paar Minuten Zeit einräumen. Trotzdem ärgerte sie sich über das Verhalten ihres Kollegen. Ungeduldig tippte Jodie mit der Fingerspitze auf ihrem Tisch herum. Erneut wich der Blick zur Uhr.

15:07 Uhr.

Sie seufzte und stand auf. Sie schnappte sich ihre Jacke und verließ das Gebäude über die Treppen. Draußen hob sie die Augenbraue. „Sag mir nicht, du hast hier die ganze Zeit gewartet.“

„Du wolltest das Treffen“, antwortete er.

Jodie seufzte. „Ich dachte du kommst hoch.“

„Du bist auch so nach unten gekommen.“

„Oh man…“, murmelte sie. Gegen seine Logik kam keiner an.

„Steig ein.“ Akai öffnete die Wagentür und warf seine Zigarette auf den Boden.

Jodie stieg ein und schnallte sich an. Akai tat es ihr gleich, startete den Motor und fuhr dann los.

„Wohin fahren wir?“, wollte sie wissen.

„Ein wenig in der Gegend rum“, meinte er. „Worüber willst du reden?“

„Über Conan“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Okay. Sprich.“

Jodie sah zu ihm. „Du hast mir schon einmal gesagt, dass ich mich bei Conan verrenne, aber ich finde wirklich, dass er sich nicht altersgerecht verhält.“

„Hmm…“

„Hatte er bei der Sache mit den Shibungis die Finger im Spiel?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Akai.

„Weil ich Conan einigermaßen kenne. Er wusste bereits nach dem ersten Artikel, dass ich an dem Fall arbeite. Normalerweise hätte Conan sich eingemischt. Aber er hat…nichts gemacht.“

„Er rief mich an“, entgegnete Shuichi. „Ich habe ihn aufgefordert, die Sache in unserer Hand zu lassen.“

„Oh.“

„Du wolltest doch auch nicht, dass Conan ermittelt.“

„Ja schon…aber…“ Jodie sah nach vorne. „Ich glaube, dass er nicht der ist, für den er sich ausgibt. Ich habe ein paar Nachforschungen über ihn, die Moris und über die Kudos angestellt.“

„Was kam dabei heraus?“

„Du weißt doch, dass Conan bei Kogoro Mori wohnt. Er ist nicht mit diesem verwandt. Conans Eltern leben angeblich im Ausland und bezahlen Mori dafür, dass er auf Conan aufpasst. Kannst du mir bitte sagen, welche Eltern ihren kleinen Sohn bei einer fremden Person lassen? Sie sehen ihn Wochen oder Monate nicht. Wie können Sie sich sicher sein, dass es Conan auch gut geht?“, wollte Jodie wissen.

„Gibt sicher ein paar Eltern die keine Probleme damit haben“, entgegnete Akai ruhig. „Mit Videochats können sie ihren Sohn auch sehen.“

„Ja, aber selbst wenn…da gibt es noch mehr. Ich habe die Suche ja erst einmal auf Conan beschränkt. Es gibt nur wenig Artikel über ihn. Das sollte uns ja auch nicht wundern. Wenn er aber so intelligent ist, dass er zusammen mit seinen Freunden auch mal einen Fall löst, warum ist er nicht vorher in Erscheinung getreten?“

„Behütetes zu Hause? Es ist nie ein Mord passiert? Andere Zeitungen halten Kinder aus dem Geschehen heraus?“, zählte er einige Gründe auf.

„Aber was ist mit Mori? Er war früher Polizist und wurde entlassen. Ich fand heraus, dass er sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Anschließend machte er seine eigene Detektei auf - die alles andere als gut läuft. Und jetzt ist er plötzlich eine Art Volksheld.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Ich glaube nicht, dass Mori seine Fälle selbst lös. Du hast doch damals in der Villa gewohnt. Sie gehört den Kudos. Yukiko Kudo lernten wir ja kennen. Ihr Sohn Shinichi ist auch Detektiv. Obwohl er erst ein Oberschüler ist, machte er Mori große Konkurrenz. Die Leute sind zu Kudo gegangen, wenn sie ein Problem hatten. Jetzt gehen sie zu Mori. Von Kudo fehlt jede Spur. Mal taucht er hier und da auf. Nur wenige Stunden. Ich erinnere mich noch an meine Begegnung mit ihm. Das war bei dieser Theateraufführung von der ich dir erzählte. Er löste den Mord, aber in der Zeitung stand anschließend nichts über ihn. In der Schule war er auch eine ganze Weile nicht mehr. Shinichi Kudo ist aus irgendwelchen Gründen verschwunden. Mittlerweile nehme ich an, dass Conan Shinichi ist.“

Shuichi fuhr schweigend weiter.

„Shu? Willst du nichts sagen?“ Sie rechnete ganz fest mit einer Reaktion.

„In seiner Uhr befindet sich ein Narkosepfeil“, fing er an. „Damit betäubt er Mori und stellt sich ganz schnell hinter ihn. Mit seiner Fliege kann er die richtige Stimme einstellen und löst den Fall.“

„Du..du wusstest es…wirklich….“

Akai grinste. „Hat ja lange gedauert bis du es heraus gefunden hast. Dabei war es relativ offensichtlich.“

„Wenn man alle Fakten kennt“, fügte sie hinzu.

„Ach komm, Jodie. Er hat uns damals bei der Sache mit Kir geholfen und beim Sender angerufen. Das hätte schon für dich ein Indiz sein sollen. Aber ich kann dich verstehen. Du magst den Jungen. Und wenn wir einen Menschen mögen, sehen wir über Kleinigkeiten hinweg. Es freut mich trotzdem, dass du die Wahrheit heraus gefunden hast. Was hat dich dazu bewegt zu recherchieren?“

„Ich war beim Professor wegen den Shibungis“, fing Jodie ein. „Dabei fiel mir wieder ein wie erwachsen Conan und Ai doch sind. Es hat mich einfach nicht los gelassen und im ersten Moment war ich in Sorge, dass beide irgendwie für die Organisation arbeiten. Ich weiß, es ist Unsinn, aber sie kennen die Mitglieder und sind auf der Suche nach ihnen. Naja…und dann fiel mir auf, dass Conan bereits vom Professor einmal mit Shin angesprochen wurde. Das gleiche machte auch Yukiko Kudo. Der Rest ergab sich dann von alleine.“

Akai nickte. „Wer weiß noch von deinen Schlussfolgerungen?“

„Bisher nur Camel.“

„Mhm…“, murmelte Shuichi. „Okay. Die Wahrheit darf keiner erfahren. Du wirst es keiner anderen Person erzählen.“

„Aber…was ist mit James? Sollte er es nicht wissen?“

„Es ist noch zu früh.“ Shuichi parkte seinen Wagen. „Die Organisation ist noch irgendwo da draußen. Wenn die Information an die falsche Person gelangt, was zwischenzeitlich passieren wird, wenn mehr Menschen involviert werden, haben wir ein großes Problem. Du musst das für dich behalten. Hast du verstanden, Jodie?“

Sie nickte. „Ja…ich werde nichts sagen.“ Sie sah aus dem Fenster. „Wir sind wieder beim Büro.“

„Ich arbeite von zu Hause weiter.“ Er musterte sie. „Du solltest heute auch nicht so lange machen. Es gefällt mir nicht, dass du dich wieder so in alles hineinhängst. Geh nach Hause, Jodie. Bald ist Weihnachten und soweit ich weiß, bist du ein Fan dieses Festes.“

„Fan…“, murmelte sie leise. „Dieses Jahr ist es nicht so wichtig. Wir haben andere Dinge zu tun als uns mit Weihnachten ablenken zu lassen“, entgegnete sie. Jodie öffnete die Wagentür. „Du rufst mich an, wenn du etwas gefunden hast, ja?“

Shuichi lächelte leicht. „Bis später.“
 

***
 

Camel verließ zusammen mit Jodie das Gebäude. Er streckte sich und gähnte. „Was für ein Tag.“

„Hmm? Wir haben doch fast nichts getan.“

„Fandest du? Es ist bereits dunkel. Soll ich dich wirklich nicht nach Hause bringen?“

„Ich schaff das schon alleine“, antwortete sie. „Du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen. Ich bin ein großes Mädchen.“

Camel wurde leicht verlegen. „Weiß ich doch. Ich dachte nur…“ Er schüttelte den Kopf. „Komm gut nach Hause.“

„Ja, du auch.“ Jodie ging zu ihrem Wagen, stieg ein und fuhr dann los.

Camel seufzte. Als sein Handy klingelte, ging er an. „Camel.“

„Akai hier“, sprach der Agent. „Irgendwelches komisches Verhalten von Jodie?“

„Nein. Alles wie immer“, antwortete er. „Sie hat gearbeitet und es gab keine Vorkommnisse.“

„Gut“, sagte Shu ruhig. „Du musst mir einen Gefallen tun.“

„Natürlich. Was soll ich machen?“, wollte er dann wissen.

„Jodie ist gerade aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Sie tut nur so, als würde es ihr gut gehen. Die Zeit die sie im Gefängnis war, wird an ihr nagen. Bleib an ihrer Seite und pass auf sie auf. Du musst dich um sie kümmern, verbring etwas mehr Zeit mit ihr und steh ihr bei. Die Winterzeit ist nicht grade Jodies Jahreszeit.“

„Oh…ja verstehe.“, murmelte Camel leise. „Ich werde mich um sie kümmern.“

23.12.

Jodie wälzte sich auch am nächsten Tag unruhig im Bett hin und her. Sie kam Vortag zwar müde nach Hause, aß eine Kleinigkeit, zog sich um und legte sich ins Bett, schlief aber nicht mehr als drei Stunden. Kurz nach Mitternacht wurde sie wieder wach. Ihre Gedanken gewannen die Oberhand. Die Erinnerung war wieder präsent. Anschließend folgte der Wechsel zwischen wach sein und dösen. So richtig entspannend war es nicht. Um kurz nach fünf Uhr schaffte sie es schließlich einzuschlafen. Jodie hatte sich in die Decke gekuschelt, aber keine zwei Stunden später klingelte ihr Wecker.

„Mhmm…“, gab sie leise von sich. Sie nahm ihr Handy und stellte den Wecker aus. Verschlafen und müde sah Jodie auf das Display. Sie seufzte. Gefrustet stand Jodie auf und ging an das Fenster. Sie wischte über das beschlagene Glas und sah den ersten Schneeflocken beim Fallen zu. Die Atmosphäre war atemberaubend, wenn man genügend Zeit zum Genießen hatte. Oder wenn einem die Organisation nicht im Nacken saß.

Jodie seufzte erneut auf. Warum machte es Vermouth nur so großen Spaß andauernd in ihre Rolle zu schlüpfen? War es so einfach sie zu imitieren? Jodie fühlte sich von ihr vorgeführt. Und gedemütigt. Es schien der Schauspielerin Spaß zu machen. Und alle fielen darauf herein. Es war ärgerlich.

Wenigstens spielte sie die Rolle nicht in der Gegenwart ihrer Kollegen. Für Jodie wäre es schlimmer gewesen, hätte sie mit erlebt, wie Camel, James oder Shu darauf herein fielen. Mit dem Video konnte sie noch leben – auch wenn es ihr nicht gefiel. Glücklicherweise stand das FBI hinter ihr. Sie wussten, dass sie es nicht wahr. Die Polizei hingegen nahm sämtliche Beweise ernst und kümmerte sich darum. Es hätte Jodie auch überrascht, wenn diese direkt an ihrer Unschuld festhielten. Sie kannte Megure und Takagi, aber nicht so gut, dass sie ihre nächsten Schritte hätte vorausahnen können. Und wenn es andersherum gewesen wäre, hätte sie auch nicht nur anhand der Bekanntschaft über den Fall entschieden.

Außerdem konnten sie der Polizei nicht die Wahrheit über die Geschehnisse nicht erzählen. Selbst wenn man ihnen bezüglich der Organisation glaubte, wären sie in Gefahr. Die Organisation fackelte nicht lange, wenn es darum ging unliebsame Personen auszulöschen. Jodies Vater hatte es damals am eigenen Leib gespürt. Nach Jodies Recherchen war er schon fast von der Schauspielerin besessen. Er sammelte die verschiedensten Akten, machte diverse Aufstellungen und hatte sich damit in die größte Gefahr begeben. Hätte er die Akten nicht zu Hause aufbewahrt, wäre die Organisation möglicherweise nie auf die Idee gekommen, sich um ihn zu kümmern.

Nur langsam ging sie zu ihrem Kleiderschrank und zog sich um. Wenigstens konnte sie gleich alle Gedanken zur Seite schieben. Außer sie hatte für den heutigen Tag keine Aufgabe. Jodie biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte nicht wieder an die Vergangenheit denken. Weder jetzt noch später. Nur mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an. Alte Wunden rissen wieder auf, nun wo sie an ihren Vater dachte. Manchmal war es noch viel schlimmer, vor allem dann wenn Jodie das Gefühl hatte alles immer und immer wieder zu durchleben. Gefangen in einer Spirale aus der es kein Entkommen gab. Gerade in der Winterzeit wurde sie wieder melancholisch. Das erste Weihnachten das sie ohne ihre Eltern feiern musste, war das schlimmste. James gab sich zwar Mühe um ihr alles zu bieten, was sie brauchte, kaufte ihr teure Geschenke, kochte ihre Leibspeisen, aber letzten Endes…

Der Schmerz war noch da und James konnte ihren Kummer einfach nicht stillen. Sie war alleine und zog sich zurück. Das zweite Jahr fing nicht besser an. Erst als sie den traurigen Blick von James mitbekam, taute sie zu Weihnachten auf. Sie spielte ihm was vor, tat als wäre sie fröhlich und ausgeglichen. Aber im Inneren wünschte sie sich nur, dass der Tag endete.

Erst Jahre später ebbte der Schmerz langsam ab. Sie konnte glücklich sein ohne ein schlechtes Gewissen zu haben oder an ihre toten Eltern zu denken. Sie war nicht mehr alleine und konnte sie selbst sein. Aber dann war auch Shu gegangen und wieder spürte sie die Einsamkeit.

Jodie seufzte ein weiteres Mal. Sie sah zu ihrem Spiegelbild und sah genau so müde aus wie sie sich fühlte. Sie ballte die Faust und stieß sie gegen den Spiegel. Vorher bremste sie ab und legte ihre Handfläche auf Glas. Sie musste was tun. Irgendwas.

Jodie ging in ihr Wohnzimmer zu einem Schrank. Sie öffnete die Tür und zog ein paar Akten heraus. Sie kam wirklich nach ihrem Vater, sammelte Informationen über Vermouth und versteckte sie bei sich zu Hause. Jodie breitete die Unterlagen auf ihrem Tisch aus und dachte nach. Ihren Vater kostete genau dieses Verhalten das Leben. Aber Jodie war vorbereitet und die Originaldokumente waren beim FBI. Sie stellten keine Gefahr für sie dar. Immer wenn Jodie durch ihre Erinnerung in eine Traurigkeit verfiel, brauchte sie ein Ventil. Und welches war da am besten als die Frau zu jagen die Schuld an ihrem Leid war?

Jodie setzte sich auf das Sofa und lehnte sich nach hinten. Vermouth war bereits lange nicht mehr als Schauspielerin tätig. Sie sah auf den letzten Beitrag in einer amerikanischen Zeitschrift. Angeblich brauchte Chris Vineyard eine kleine Pause und war zu diesem Zwecke ins Ausland gegangen. Keiner wusste wo sie war, sodass die Presse sie nicht verfolgen konnte. Dem FBI aber war klar, dass die Frau in Japan war. Und obwohl Vermouth nun eine neue Rolle spielte, konnten sie sie nicht damit in Verbindung bringen. Jodie tippte auf dem Laptop herum und rief die Artikel über ihre eigene Verhaftung heraus. Die Verhaftung war Geschichte, der Mord an Sayaka Shibungi rückte in den Vordergrund. Alle Medien schrieben darüber. Sie suchten Gründe dafür. Jodie selbst wurde nur in einem knappen Satz erwähnt. Sie wusste, dass es so kommen würde. Nun wo sie nicht mehr im Interesse der Medien stand, hatten diese kaum Interesse daran die Wahrheit zu veröffentlichen. Eine Gegendarstellung war in deren Auge nicht notwendig. Und Jodie war schlau genug um darauf zu verzichten. Sie wollte ihren Namen nicht wieder in allen möglichen Plattformen lesen.

Jodie tippte angespannt auf dem Tisch herum. Wäre sie mediengeil, hätte sie der Presse einen Hinweis zu Chris Vineyard gegeben. Sie alle hätten jede Story mit Kusshand genommen. Aber so war Jodie nicht. Sie durfte nicht so werden. Langsam schloss Jodie die Augen. Sie musste den Blick für das große Ganze haben und sich immer wieder vor Augen führen, dass Vermouth nur ein Mitglied der Organisation war. Es gab genügend die sie zur Strecke bringen mussten. Viele. Und die konnten bei weitem noch gefährlicher werden.
 

***
 

Durch das Klingeln an ihrer Haustür, schreckte Jodie hoch. Sie war eingeschlafen und massierte sich kurz darauf den Hals. Ihr Sofa konnte wirklich unbequem sein. Wie konnte Camel nur eine Nacht auf diesem aushalten? Und wie konnte sie auf härteren Matratzen liegen und keine Schmerzen haben? Oder wurde sie nun einfach nur alt?

Langsam stand Jodie auf. Sie streckte sich. Es klingelte erneut. Sie hatte es sich also nicht nur eingebildet. Jodie ging zur Tür. Sie nahm den Hörer der Freisprechanlage in die Hand. „Hallo?“

Es klopfte an ihre Tür. Jodie zuckte zusammen. Schon fast vorsichtig sah sie durch das Guckloch und öffnete kurz darauf erleichtert die Tür.

„Camel“, sprach sie. „Guten Morgen.“

Er sah sie ein wenig verwirrt an. „Morgen? Es ist 13 Uhr.“

„Was?“ Sie trat einen Schritt nach hinten. „Komm rein.“ Jodie brachte ihn ins Wohnzimmer und warf dort einen Blick auf die Uhr. Sie hatte lange geschlafen und vergessen sich bei der Arbeit zu melden. Wahrscheinlich war Camel deswegen hier. Schnell und hastig räumte sie die Akten zusammen und packte sie in den Schrank.

„Ich hab uns Essen mitgebracht.“ Der Agent hielt eine Tüte hoch.

„Oh..ähm ja gut…“, murmelte sie. „Dann gehen wir am besten in die Küche.“ Sie nahm ihm die Tüte ab und ging in das besagte Zimmer. Als Jodie zum Fenster sah, wirkte sie überrascht. Die Tüte stellte sie auf den Tisch und ging zum Glas. Vorsichtig legte sie die Hand auf dieses. Der Schnee hatte eingesetzt. Irgendwie musste Jodie lächeln. In den Staaten gab es selten Schnee zu Weihnachten. Eigentlich musste man am richtigen Ort sein. Aber wenn man Pech hatte, waren die Temperaturen angenehm war und man musste auf das Bauen eines Schneemannes oder auf Schlittenfahren verzichten. Nicht, dass sie dies nach dem Tod ihres Vaters getan hatte und mit Freude genießen konnte. „Es schneit.“

Camel nickte. „Es hat vor einigen Stunden angefangen.“

„Es ist wunderschön“, wisperte sie.

„Ich weiß. Das sieht man in den Staaten selten.“ Camel öffnete die Tüte. „Ich glaube, wir müssen das Essen aufwärmen.“

„Das ist kein Problem. Herd und Mikrowelle sind anwesend und einsatzbereit“, entgegnete Jodie. Sie drehte sich zu ihm um. „Warst du mittlerweile beim Arzt?“

„Ähm…nein…“

„Camel!“ Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

„Ich weiß doch. Aber der Arzt wird meine Krankschreibung nicht einfach so aufheben und mir die Freigabe erteilen.“

„Deswegen reizt du den Morgen von Sayakas Mord aus? Du hast deinen Bericht noch nicht fertig und solange dieser nicht bei James ist, stellt keiner deine Anwesenheit im Büro in Frage. Verdammt…das ist ein guter Plan.“

Camel kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Naja…wir hatten eh Glück, dass an dem Morgen nichts passiert ist. Ansonsten hätte das FBI ein großes Versicherungsproblem. Oder ich hätte es auf meine eigene Kappe nehmen müssen.“

„Das kenn ich“, sagte Jodie. „Was meinst du, wie es mir ging, wenn ich andauernd im Krankenhaus war und James mich nicht arbeiten lassen wollte. Manchmal hält sich James einfach zu penibel an Vorschriften.“

„Das kannst du laut sagen“, antwortete Camel. „Gut, dass bald Weihnachten ist. James gibt uns bestimmt ein paar Tage frei.“

Jodie sah ihn fragend an. „Dir ist schon klar, dass die Japaner nicht so Weihnachten feiern wie wir in den Staaten?“

„Ja, klar. Das weiß ich. Aber wenn wir eh hier sind, können wir doch trotzdem wie früher feiern.“

„Ich glaube nicht, dass ich das will…“, kam es dann von Jodie.

„Warum nicht?“

„Wir haben wichtigeres zu tun als Weihnachten zu feiern“, sagte Jodie. „Die Organisation sitzt uns immer noch im Nacken. Wir wissen nicht, ob sie nicht doch noch auftauchen werden. Und wenn sie es machen, wissen wir nicht was sie vor haben. Wir haben keine Zeit um Weihnachten zu feiern. Das tun sie auch nicht.“

Camel seufzte. „Wir wissen doch nie was sie planen und trotzdem feiern wir schon mal einen Geburtstag oder nehmen uns ein paar Tage Urlaub“, warf er ein.

„Mhmm…ja ich weiß…“, gab sie leise von sich. „Aber ich denke zur Weihnachtszeit, wenn alle hier wieder so tun als wären sie westlich angehaucht, könnte die Organisation zuschlagen. Sie haben Ziele von denen wir nichts wissen. Und es ist gut möglich, dass Medipharm nicht das einzige Pharmaunternehmen ist, bei dem sie zuschlugen. Wir sollten uns alle anderen Pharmafirmen vornehmen und dort nach Mitgliedern suchen. Am besten wir erstellen eine Liste mit den Firmen und den Mitarbeitern, die wir über die Website heraus finden können.“

„Das wird uns Monate kosten.“ Er seufzte. „Wir können es Black ja vorschlagen. Aber erstmal solltest du etwas Essen. Du bist schon wieder so blass.“

„Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.“

„Jodie bitte…“

Sie verdrehte die Augen. „Also gut…“
 

Jodie räumte die Reste weg und stellte das dreckige Geschirr in ihren Geschirrspüler. „Ist James sehr besorgt, weil ich heute nicht zur Arbeit gekommen bin?“

„Naja…“, fing Camel an. „Er war wirklich ein wenig besorgt. Aber wir sind zum Schluss gekommen, dass du die Zeit gebraucht hast. Als du dich nicht am Handy gemeldet hast, bin ich vorbei gekommen.“

„Handy?“ Jodie blinzelte überrascht. „Oh Gott…es liegt im Schlafzimmer…kein Wunder, dass ich es nicht gehört habe.“

„Das ist nicht schlimm.“

„Ich beeil mich. Dann können wir noch ins Büro.“

„Kein Problem, Jodie“, entgegnete der Agent. „Wir müssen nicht unbedingt ins Büro. Wir können auch von hier aus arbeiten…wenn du willst.“

Sie sah ihn zweifelnd an.

„Ich hab die Akten gesehen, die du vorhin zusammen geräumt hast. Ich dachte, die Akten über Vermouth hat das FBI.“

„So ist es auch“, antwortete sie. „Ich hab nur Kopien hier bei mir.“

„Du hast…“

„Camel, es sind Kopien. Nichts Schlimmes. Es wird mich schon nicht umbringen.“

„Aber…“

„Ja, ich weiß. Mein Vater starb weil sie die Akten über sich vernichten wollte. Aber da die Akten auch dem FBI bekannt sind, besteht für mich keine Gefahr.“ Jodie ging ins Wohnzimmer. „Du weißt doch, dass ich ihr auf den Fersen bin. Seit ich beim FBI bin, habe ich die neue Spur gefunden und endlich hatte ich die Möglichkeit um an die nötigen Beweise zu kommen und um Untersuchungen anstoßen zu können. Ich kann jetzt nicht einfach so aufhören. Sie ist da draußen und sie läuft noch immer frei herum.“ Jodie biss sich auf die Unterlippe. „Warum kann sie keinen Fehler machen.“

„Jodie, das…das ist nicht gut…“, murmelte er. „Du machst dich kaputt.“

„Ich weiß, was ich tu. Ich hab die Sache durchdacht. Und außerdem bin ich doch so oder so schon ihr Ziel. Wie oft nahm sie meine Identität an? Dreimal? Viermal? Vielleicht sogar öfters ohne das ich es weiß? Ich werde ganz sicher nicht untätig rumsitzen, während sie tun und lassen kann, was sie möchte.“

„Jodie“, sagte er leise.

„Schon gut, Camel. Ich weiß, was du sagen willst. Und was hast du jetzt vor? Möchtest du mir helfen oder wirst du zu James gehen?“

„Ich helf dir.“

„Danke.“ Jodie setzte sich und tippte auf dem Laptop herum. „Hmm es gibt viele Unternehmen die sich auf Pharmazie spezialisiert haben.“

„Wir sollten die anderen Kategorien nicht außer Acht lassen. Medizinprodukte sind doch auch alle Gegenstände die verwendet werden.“

Jodie weitete die Suche aus und seufzte. „Das schaffen wir alleine nie…“

„Meine Rede…“, murmelte Camel.

„Da schreib ich lieber einen Bericht.“

Er nickte. „Vielleicht sollten wir unsere Berichte zusammen schreiben?“

Jodie sah ihn nachdenklich an. Viele Agenten – unter anderem Akai – waren kein Fan von der Nachbereitung eines Auftrages. Nachbereiten hieß, dass man alles was man tat, noch in einer Akte festhalten und rechtfertigen musste. Je länger man einen Auftrag durchführte, desto länger war der Bericht. Es hatte etwas von vielen Postings auf diversen Internetplattformen, nur mit dem Unterschied, dass die Berichte nicht öffentlich gemacht wurden. Camel würde allerdings Glück haben. Da er nicht lange an dem Auftrag mitwirkte, würde sein Bericht bei weitem geringer ausfallen. „Hast du heute eigentlich Shu im Büro gesehen?“

Camel schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist er gekommen als ich zu dir gefahren bin. Oder er arbeitet mal wieder von zu Hause. Ruf ihn doch an?“

„Ist nicht dringend“, murmelte sie. „Mit von zu Hause aus meinst du, dass er sich wohl auf den Straßen herum treibt und nach Spuren sucht.“ Sie seufzte. „Er bringt sich mal wieder in Gefahr und tut, was er möchte, aber keinen stört es. Und kaum tu ich irgendwas, ist es schlecht und alle Welt macht sich große Sorgen um mich. Ich bin kein kleines Kind.“

„Ach Jodie…“

„Ist doch so. Manchmal glaube ich, dass ihm alles egal ist. Mit seiner Art verletzt er seine Mitmenschen. Oder hast du bemerkt, dass er in letzter Zeit auf jemanden Rücksicht genommen hat? Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass ihm sein Leben egal ist. Er glaubt an sein Glück oder Können und wenn es nicht klappt, dann war es Pech. Dabei merkt er gar nicht, was er uns anderen damit antut…“

Camel sah sie schweigend an.

„Es ist bald ein Jahr her“, zischte sie. „Er hat es einfach getan. Er hatte keine Probleme dabei und er ließ uns Monate lang in dem Glauben, dass die Organisation ihr Ziel erreicht hatte.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und stand auf.

„Wo willst du hin?“

„Ich brauch frische Luft.“
 

Jodie ging draußen durch die Menschenmenge. Sie zog die Jacke enger um sich und sah den Schneeflocken beim Fall zu. Winter. Warum hasste er sie so sehr? Zuerst ihre Eltern und dann Shu. Obwohl sich der Tag bald jährte, war die Erinnerung daran noch frisch. Zu frisch. Sie sah ihn immer noch vor sich. Wie er sie bat aufzupassen und dann selber verschwand. Jodie kämpfte mit ihren Tränen.

Akai hatte nie gesehen, wie schmerzhaft es für sie war und wie sehr ihr der Verlust zusetzte. Er tat wie immer nur das, was er wollte. Und brach er ihr Herz. Immer und immer wieder. Ihre Beziehung war lange her und obwohl sie nun freundschaftlich miteinander umgingen, hörte sie nie auf ihn zu lieben. Er war immer noch der Mittelpunkt ihrer Welt. Und als er weg war, brach alles in sich zusammen. Sie war wieder schwach und trauerte.

Und was machte er? Er blieb in der Nähe verborgen. Nicht einmal die Suche nach den Verantwortlichen konnte ihre Trauer dämpfen. Und dann war da Narben-Akai. Neue Hoffnung. Jodie setzte alle Kraft die sie noch hatte in die Suche nach ihm. Und schließlich fand sie ihn auch. Dennoch war da diese eine Sache. Sie fühlte sich benutzt. Aber mit ihr konnte man es ja auch machen. Warum kam er nur nicht zu ihr? Warum versuchte er andauernd alles auf seine Art zu klären und handelte auf ihre Kosten? Hielt er sie für eine so schlechte Agentin?

Und dann war da dieser andere Teil von ihm. Er kochte und konnte gut mit Kindern auskommen. Auf einmal war er freundlich, lieb und hilfsbereit. Wie mit der Stimme wechselte er zwischen diesen beiden Persönlichkeiten hin und her. Wer war der wahre Akai nun wirklich? Zeigte er ihr nur die Persönlichkeit, die sie in ihm sehen wollte? Was war die Wahrheit? Die Frage war nur, welche Persönlichkeit mochte sie lieber? Und wie sollte sie ihn darauf ansprechen?

Jodie ging langsam weiter. Sie sah sich die einzelnen Schaufenster an und seufzte. Sie alle waren bereits weihnachtlich geschmückt. Viele Japaner begannen die westliche Kultur nachzumachen und alles festlich aussehen zu lassen. Aber dieses Jahr hatte Weihnachten keine Bedeutung für sie. Jedes Jahr wollte sie unbedingt feiern und lud zu diesem Zwecke die Agenten zu sich nach Hause ein. Oft versuchte sie eine größere Feier auszurichten. Ein nettes beisammen mit den Kollegen. Essen, trinken, plaudern. Alles außer Arbeit. In diesem Jahr fand sie keine Kraft mehr.

24.12.

Als Jodie Stunden später wieder zurück in ihre Wohnung kam, wurde sie von einem besorgten Camel empfangen. Stundenlang war sie durch die Stadt gelaufen, fand keine Ruhe und kehrte schließlich zurück nach Hause.

Camel ging sofort auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Stirn. „Du bist eiskalt“, sprach er besorgt.

„Das Wetter draußen ist nicht das Beste.“ Ihre Haare waren weiß, bedeckt mit Schnee.

„Ich koch dir einen Tee. Du hast doch Tee da oder?“

„Der ist in der Küche im Schrank.“ Jodie sah ihn an. „Du musst nicht bleiben. Es ist spät und ich hätte nicht so lange wegbleiben sollen.“

„Da hast du Recht“, sprach Camel. „Und deine Kurznachricht war nicht hilfreich.“ Camel zog sein Handy hervor. „Laufe noch ein wenig herum. Warte nicht auf mich“, las er vor. „Dir hätte sonst was passieren können.“

Jodie zuckte mit den Schultern. „Ich brauchte halt ein wenig Zeit für mich.“ Sie seufzte. „Es tut mir leid, Camel, aber…es ging nicht anders.“

„Und jetzt?“

„Jetzt sag ich dir, dass es mir gut geht. Wirklich. Ich hab den Spaziergang gebraucht“, fing sie an. „Du kannst also ohne schlechtes Gewissen nach Hause fahren. Ich verspreche dir auch, dass ich heute nicht mehr irgendwas machen werde. Es wird keine Recherche geben.“

Camel sah auf die Uhr. „Der Tag endet bald.“ Dann schüttelte er den Kopf. „Mach bitte wirklich nichts, was dich in Gefahr bringt. Ruf mich an, wenn du doch durch Zufall eine Spur finden solltest. Und nimm bitte eine heiße Dusche damit du dich nicht unterkühlst oder noch krank wirst.“

„Danke, Camel.“
 

***
 

Jodie kuschelte sich in ihre Bettdecke. Wieder fand sie erst in der tiefen Nacht zu ihrem Schlaf. Die Zeit vorher grübelte sie über das, was Camel ihr sagte. Es schmerzte sie zu sehen, wie er sich Sorgen um sie machte. Aber sie war kein kleines Kind mehr, das rund um die Uhr bewacht werden musste. Sie war eine Agentin. Eine ausgebildete Agentin, die wusste worauf sie zu achten hatte. Sie hatte zwar ein wenig Pech, aber das würde sich wieder legen. Man musste sie nicht wie ein rohes Ei behandeln. Wenigstens Shu tat das nicht. Wobei es schwer war, da er die ganze Zeit mit Abwesenheit glänzte. Entgegen ihrer sonstigen Art hielt sie sich dieses Mal mit Anrufen und Kurznachrichten zurück. Schließlich war sie keine Stalkerin. Und sie wollte nicht wissen, wie oft sie sich mit diesem gluckenhaften Verhalten peinlich gemacht hatte. Im Allgemeinen wusste sie nicht, wie er auf jede einzelne Nachricht von ihr reagierte. Löschte er sie direkt? Las er sie überhaupt? Oder lachte er über ihre dumme, naive Art? Sie hing zu sehr an ihn. Und all die zahlreichen Versuche brachten nichts. Sie konnte sich nicht von ihm lösen.

Wie sagte man immer? Die erste große Liebe vergisst man nicht. Und genau das war er. Ihre erste große Liebe. Natürlich hatte sie in ihrer Jugend für den ein oder anderen Lehrer, Klassenkameraden oder Bekannten geschwärmt, aber als Shuichi Akai in ihr Leben trat, war alles anders. Sie wusste es bei ihrer ersten Begegnung. Als sich ihre Blicke trafen, spürte sie die Schmetterlinge im Bauch. Ihr wurde war und kalt gleichzeitig, konnte sich kaum artikulieren und rang um Luft. Alles andere wurde nebensächlich. Personen, Orte, Begebenheiten – alles verschwand. Nur er war da. Er hatte ihr Herz im Sturm erobert und das bevor sie noch seinen Namen kannte oder wusste, dass er ihr neuer Partner sein würde.

Shuichi Akai.

Damals hatte man ihr den Namen gegeben. Akai arbeitete ein Jahr länger beim FBI. Wie sie, kümmerte auch er sich um den Fall mit der Organisation. Als Jodie seinen Namen das erste Mal hörte, stellte sie sich einen bei weitem älteren Agenten vor. Ein wenig dicklich und immer darauf bedacht penibel die Regeln einzuhalten. Dann stellte sie fest, dass er wie jeder andere Mensch war. Er fragte sie nicht nach ihrer Familie aus. Er bevorzugte sie nicht und er gab ihr keine Aufgaben aus Mitleid. Sie waren gleichwertig.

Jodie spürte das Knistern, welches zwischen ihnen war. Sie hielten sich beide zurück. Bis zu jenem Abend. Das FBI feierte gerade einen abgeschlossenen Fall. Sie trank ein paar Gläser Sekt und machte sich schließlich angeheitert auf den Heimweg. Shuichi begleitete sie – natürlich nur zu ihrer eigenen Sicherheit. Als sie die Musik hörten, folgten sie dieser zu ihrer Quelle und standen kurz darauf in einem Straßenfest. Jodie war sofort begeistert.

Die Menschen drängten sich – trotz später Uhrzeit – überall hin. Sie lachten und waren laut. Während sich Jodie umsah, entdeckte sie viele Paare. An einem Stand versuchte sich ein Mann an Ringen. Andauernd warf er sie auf die viereckigen kleinen Kästen vor den Preisen. Kein Ring schaffte es um das Viereck. Seine Freundin, die ihm zu sah und scheinbar von seinem Willen begeistert war, musste lachen. An einer anderen Ecke kauften sich die Menschen Eis oder Zuckerwatte. Und dann entdeckte sie sie, die Schießbude.

Jodie achtete gar nicht mehr auf ihren Kollegen und ging zum Stand. Sie zog ihren Geldbeutel heraus und kaufte die erste Runde. Es war doch gelacht, wenn sie nicht wenigstens einmal treffen würde. Und wenn nicht, würde sie es auf den Alkohol in ihrem Blut schieben. Jodie legte das Geld auf den Tisch und nahm ein Gewehr. Sie schwankte ein wenig, legte an und schoss. Der erste Schuss ging daneben. Der zweite ebenso. Sie war leicht verstimmt und gab dem Alkohol die Schuld daran. Beim dritten Schuss sah die Sache schon anders aus. Sie traf.

Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass es sich dabei um einen Glückstreffen handelte. Sie kramte nach ihrem Kleingeld und schob es dem Besitzer entgegen. Wieder legte sie das Gewehr an…

Auf einmal stand er hinter ihr. Dicht. Sehr dicht. Sie spürte seine Wärme und eine Geborgenheit die sie schon lange vermisste. Er war nah bei ihr, dass sie seinen Atem auf ihrem Nacken wahrnehmen konnte. Und sie glaubte, dass man ihr Herz schlagen hören konnte. Sofort errötete Jodie. Er legte seine Arme um sie…und justierte das Gewehr. „Jetzt“, hauchte er ihr entgegen.

Jodie feuerte den Schuss ab. Sie traf, legte dann aber das Gewehr auf den Tisch. Ihre Hand zitterte. Wegen ihm.

Schweigend nahm Shuichi das Gewehr und feuerte die verbleibenden Schüsse ab.

„Dreimal hintereinander getroffen“, sagte der Besitzer der Bude. „Sie dürfen sich ein Plüschtier aussuchen.“

Akai sah zu Jodie. „Welches willst du?“

Jodie musste schlucken. „S…sch…af…“

Shuichi nahm das große weiße Plüschschaf entgegen und reichte es seiner Kollegin. Perplex blickte Jodie auf dieses. War das so eine Art Date? „Danke.“ Sie sah zu ihm hoch und lächelte. Er erwiderte ihr lächeln und reichte ihr den Arm. „Komm, ich bring dich nach Hause.“

Und genau dort passierte es. Ihr erster Kuss.

Die Erinnerung war noch frisch. Zaghaft berührte Jodie ihre Lippen. Sie konnte ihn immer noch schmecken. Auch wenn sein Geschmack nun mehr aus Vanille und Zigaretten bestand – war er zumindest für sie noch immer verführerisch.

Hastig schüttelte Jodie den Kopf. Sie sollte aufhören an die Vergangenheit zu denken. Und obwohl sie dieses Mal nicht von Albträumen gequält wurde, fühlte sie sich müde. Der Tag sollte schnell vorbei gehen. Die Agentin nahm ihr Handy vom Nachtisch hervor und ließ das Display kurz aufleuchten.

Keine neuen Nachrichten

Warum sollte es auch anders sein? Sie hatte keine lebenden Verwandten mehr und ihre Freunde waren auch an einer Hand abzählbar. Seit Jodie beim FBI anfing, schraubte sie sämtliche zwischenmenschliche Kontakte ganz weit herab. Sie wären eh nur in Gefahr. Und sie hatte das FBI. Mit ihnen saß sie täglich zusammen und redete über Gott und die Welt. Mehr brauchte sie nicht.

Langsam stand Jodie auf und zog sich um. Ihre Wohnung sah aus wie immer. In diesem Jahr gab es keine Dekoration, keinen Tannenbaum, keine Lichter. Alles blieb im Keller und klinisch.

Jodie erinnerte sich noch sehr gut an das letzte Weihnachtsfest mit ihrer Familie. Sie war sechs Jahre alt. Alles war übertrieben geschmückt, sodass das ganze Haus in den verschiedensten Farben erstrahlte. Kombiniert mit der Dunkelheit der Nacht gab es ein farbenfrohes Spektrum. Zu Hause selbst roch es auch früh nach Weihnachten. Ihre Mutter hatte immer selbst gekocht und so viele Plätzchen gemacht, dass sie Bauchschmerzen davon bekam. Trotzdem schaffte sie es immer wieder die Schüssel vom restlichen Teig zu befreien. Ihre Weihnachtssocken hingen immer am Kamin – die von Jodie war natürlich die größte. Jodie war so aufgeregt und fragte andauernd nach, ob ihre Eltern wussten, was Santa Claus bringen würde. Ihre Eltern zogen den Brauch durch und ließen sie immer solange warten, wie es nur ging. Am 24. Dezember wurde mit der Familie gegessen und zusammen auf dem Sofa gesessen bis es Zeit war um in die Kirche zu gehen. Auf dem Rückweg wurde sie immer von ihrem Vater nach Hause getragen und schlief in seinen Armen ein. Aber am nächsten Morgen…Da war sie immer sehr früh wach und lief nach unten. Im Wohnzimmer reihten sich immer viele Geschenke. Und obwohl sie diese so schnell wie möglich auf machen wollte, lief sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern und weckte die Beiden. Das Aufmachen der Geschenke war ein kleiner Familienbrauch. Zuerst war ihre Mutter dran, dann ihr Vater und zum Schluss sie. Es war eine schöne Zeit.

James versuchte natürlich sein bestes. Trotzdem saß Jodie am ersten Abend einfach nur auf dem Sofa, ließ die Füße baumeln und saß ihre Zeit ab. Obwohl es ihr Adoptivvater gut mit ihr meinte, war sie einfach nicht in Stimmung mit ihm zu feiern. Die Jahre danach wurde es besser. Sie lernte mit dem Verlust umzugehen und konnte die Weihnachtstage genießen.

Das erste Weihnachten mit Shuichi war natürlich auch ganz besonders. Da er immer eine Mütze trug, kaufte sie ihm eine ganz in Schwarz und ließ seine Initialen einsticken.
 

***
 

James, Camel und Akai saßen in einem kleinen Frühstückslokal welches in der Nähe von James Wohnung lag.

„Warum haben Sie uns hierher bestellt, Camel?“, wollte James von seinem Agenten wissen.

„Ich mache mir Sorgen um Jodie“, fing der Gefragte an. Er sah zu Akai. „Ich war gestern bei ihr. Sie hatte Akten von Vermouth auf dem Tisch liegen. Sie sucht weiter nach belastenden Beweisen.“

James verengte die Augen. „Die Akten hat sie dem FBI überlassen. Wieso wurde ich nicht darüber informiert, dass sie diese nach Hause nahm?“

„Weil sie das nicht hat. Jodie hat Kopien gemacht. So kann sie die Akten immer dann bearbeiten, wenn sie die Zeit findet. Oder wenn sie krankgeschrieben ist.“

James schluckte. „Deswegen hat sie damals nicht so laut protestiert. Sie wusste, dass sie zu Hause an genug Arbeit kommt.“

Akai zuckte mit den Schultern. „Das ist Jodie. Sie wird nicht aufgeben bis sie Vermouth gefunden hat. Vor allem jetzt, wo sie mindestens zweimal ihre Identität angenommen hat, hat Jodie getroffen. Es nagt an ihrem Selbstbewusstsein. Jodie weiß, dass sie nichts dagegen tun konnte. Trotzdem ist es nun besonders schlimm, da es keine einmalige Sache mehr ist“, entgegnete er. „Wir wussten doch schon lange, dass Vermouth Spaß daran gefunden hat, sich mit Jodie anzulegen.“

„Ich mache mir auch Sorgen um sie“, sagte James. „Wenn Jodie nun anfängt exzessiv nach weiteren Spuren über Vermouth zu suchen, wird sie früher oder später noch stärker in den Fokus der Organisation geraten.“

„Nicht zu vergessen, dass sie die Suche nach Vermouth sie zerstören kann“, warf Camel ein. „Es tut ihr nicht gut. Sie beschäftigt sich zu sehr mit der Vergangenheit.“

„Da würde ich mir keine Sorgen machen“, gab Akai von sich. „Es ist nur für den Moment. Aber wenn sie einen neuen Auftrag kriegt, wird Vermouth wieder in den Hintergrund geraten. Jodie kann gut unterscheiden, was im Moment wichtig ist. Wir sollten nicht vergessen, dass sie für einige Tage in der Untersuchungshaft war und auch dieses Erlebnis erst noch verarbeiten muss. Jodie bewältigt es, indem sie sich in die Arbeit stürzt. So war das schon immer bei ihr“, meinte er. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Die ersten Tage nachdem er seinen Tod vorgetäuscht hatte, hielt er mit James Kontakt. Jodie vergrub sich in Arbeit und ließ die Trauer nicht zu. Wenn dann weinte sie nur abends – allein und in der Dunkelheit.

„Aber wir können Sie doch nicht einfach machen lassen.“

„Warum nicht? Im nächsten Jahr bekommt sie einen anderen Auftrag oder hat die Zeit in der Untersuchungshaft verwunden und es wird ihr besser gehen. Wenn du sie jetzt von der Arbeit abhältst, machst du es nur schlimmer.“

„Aber du sagtest doch, dass ich mich um sie kümmern soll“, meinte Camel.

„Ja, aufpassen, dass sie sich nicht erschießen lässt“, sprach Akai.

„Oh“, murmelte Camel. „Mir ist aber noch was aufgefallen“, sagte dieser dann. „Jodies Wohnung.“

„Was ist damit?“, fragte James.

„Ihr kennt sie doch. Sie lädt zu Weihnachten immer ein paar Agenten ein und hat alles super weihnachtlich dekoriert. Im letzten Jahr war das auch so.“

„Ja…ich erinnere mich“, murmelte Akai. Sie hatte ihn unter einem Vorwand in die Wohnung gelockt und dann musste er mit „feiern.“ Wenigstens hatte sie eine gute Sorte Bourbon zu Hause. Damit überstand er die Feierlichkeiten. Und das gelieferte Essen war auch nicht von schlechten Eltern.

„Dieses Jahr ist in ihrer Wohnung nichts“, meinte er. „Ich hab das schon vorher bemerkt, aber ich dachte, es würde daran liegen, weil sie noch gar keine Zeit gehabt hat. Und jetzt haben wir schon den 24. Dezember. Ich hab angenommen, dass Jodie die alten Traditionen aufrecht erhalten will“, fügte er an.

„Vielleicht macht sie es heute noch“, gab Akai von sich. Jodie war schließlich immer für eine Überraschung gut.

„Das glaube ich nicht“, meinte Camel. „Normalerweise lädt sie uns doch auch zum Weihnachtsessen ein und will dass wir unbedingt kommen. Sie fragt doch immer schon die Tage vorher damit sie alles ganz genau planen kann. Habt ihr dieses Jahr Einladungen bekommen?“

Kollektives Kopfschütteln.

„Das hört sich wirklich nicht nach Jodie an“, murmelte James. „In dem ganzen Stress ist mir das nicht einmal aufgefallen. Ich glaube, ich wäre heute Abend einfach zu Jodie gefahren und wäre überrascht, dass sie gar nichts vorbereitet hat.“

„Wollen wir sie nicht ein wenig aufmuntern?“, fragte Camel.

„Was schwebt dir vor?“ Akai verengte die Augen. Er kannte die Antwort bereits.

„Wir richten das Weihnachtsessen aus. Jodie wird sich bestimmt darauf freuen.“

„Mhmm…“, grummelte Akai. „Zu kleine Küche.“

„Meine ist auch nicht grade groß.“ Camel sah zu James.

„Wir können es bei mir machen“, sagte er. „Die Küche ist zwar auch nicht groß, aber das Essen kann im Wohnzimmer stattfinden.“

„Haben Sie denn schon weihnachtlich geschmückt?“, fragte Camel dann.

„Ein wenig…“

„Ein wenig heißt bei Jodie oft ganz viel. Was heißt es bei Ihnen?“, wollte Akai dann wissen.

„So viel Weihnachtsdekoration wie Jodie besitze ich nicht“, antwortete James. „Bisher ist nur das Wohnzimmer mit einem Plastikbaum ausgestattet. Ein paar Lichter und das wars. So oft bin ich nicht zu Hause um mich daran zu erfreuen.“

„Wie kriegen wir Jodie am Abend in Ihre Wohnung?“, wollte Camel dann wissen.

„Wenn Jodie nichts wissen soll, solltest du das machen“, entgegnete Akai.

„Ich?“

Akai nickte. „Wenn ich sie abhole, wird sie misstrauisch. Ebenfalls wenn es Black macht. Bei dir aber könnte es klappen. Sag ihr, dass du sie zum Essen einlädst.“
 

***
 

Jodie ging mit Camel zu seinem Wagen. Sie sah nicht grade glücklich aus und hatte eigentlich auch gar keine Lust. „Muss das wirklich sein?“

„Ja“, sagte der Agent und öffnete ihr die Beifahrertür. „Ich lade dich zum Essen ein.“ Und es war nicht einmal gelogen.

Jodie stieg ein und legte den Sicherheitsgurt an. „Wir machen aber nicht lange, ja?“

„Ja, versprochen“, murmelte er und fuhr los. Camel fuhr absichtlich länger und auch einen Umweg damit sie nicht erkannte, wo es hin ging. Schweigend parkte er schließlich vor der Wohnung von James. Camel stieg aus und öffnete Jodie die Tür.

Jodie sah sich draußen um. „Wir sind in der Gegend wo James wohnt“, sagte sie. „Und hier gibt es weit und breit kein Restaurant.“ Jodie seufzte. „Camel, sag mir bitte nicht, dass wir mit James essen?“ Auf heile Welt hatte Jodie nicht wirklich Lust.

„Er hat uns eingeladen“, kam es von Camel. „Wir bleiben auch nicht lange und…es wird dir sicher gut tun.“

„Na gut“, murmelte sie und ging mit ihm nach oben. James öffnete die Tür und stand mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern in der Hand dar. Schnell schenkte er ein. „Bitte.“

„Danke“, Jodie nahm das Glas und sah rein. Sie schwenke die Flüssigkeit im Glas und sah sich dann in der Wohnung um. „Du hast dekoriert.“

„Ja“, schmunzelte James. „Ich hatte hier nicht viel. Aber wir haben dann noch ein wenig nachgekauft.“

„Sieht gut aus“, entgegnete Jodie. Es wirkte zumindest gemütlicher. Jodie sah sich die einzelnen Teile der Dekoration an.

„Das Essen ist auch gleich fertig“, sagte James.

„Was gibt es?“

„Wir haben Ente gemacht. Die magst du doch so sehr.“

„Hört sich gut an“, murmelte Jodie. „Soll ich beim Decken des Tisches helfen?“

„Nicht nötig“, warf Camel ein und brachte die ersten Teller rein.“ Darum kümmer ich mich schon.“

„Und was soll ich dann machen?“, wollte sie wissen.

„Du setzt sich jetzt auf das Sofa und wartest ab. Heute machst du keinen Finger krumm.“

Jodie sah James fragend an. „Keine Sorge, ich wollte auch nicht anbieten, dass ich beim Kochen helfe.“

„Das hätte dann wohl blutig geendet.“

„Jodie drehte den Kopf zur Balkontür. „Shu?“

„Ich kenn dich doch“, sagte er dann. „Du hättest das Messer in der Hand und würdest dich sofort schneiden. So wie beim letzten Mal.“

„So schlimm bin ich doch gar nicht.“

„Das würde ich nun an deiner Stelle auch sagen“, gab er von sich.

Jodie schmunzelte. „Beim letzten Mal hab ich es doch auch ganz gut hinbekommen.“

„Grade so…“, murmelte er.

„Und du kochst be…“, sie stockte. Natürlich kochte er besser. Wie sagte er es damals? Er lernte aus Langeweile das Kochen. „Ja, gut, du kochst wohl wirklich besser als ich…auch wenn ich dein Essen noch nie probiert habe.“

„Dann wird es ja Zeit“, sprach Shu. „Du kannst mir ja heute sagen, wie es war.“

Jodie sah ihn überrascht na. „Du…du hast gekocht?“

Akai sah aus dem Augenwinkel zu James und Camel. „Einer musste es ja tun.“

„Essen ist fertig.“

Jodie sah zu dem gedeckten Tisch. Sie stand auf und setzte sich. Links neben ihr saß Shu und auf der rechten Seite Camel. Ihr gegenüber saß James. „Danke, dass ihr das für mich getan habt“, sprach sie. „Ich bin wirklich froh, dass ich Freunde wie euch habe.“

25.12.

Hätte man Jodie vorher gefragt, hätte sie gesagt, dass der Abend ein Reinfall werden würde. Sie hatte definitiv nicht das Ziel gehabt sich zu amüsieren. Dennoch war es ein gelungener Abend. Die spontane Dekoration führte sie zurück in ihre Kindheit. Trotzdem fühlte sie keinen Schmerz. Sie erinnerte sich wieder daran, was James alles tat, um ihr ein kleines Lächeln zu entlocken. Er gab so viel für sie auf. Und wie dankte sie es ihm?

Eigentlich hätte sie auch auf Camel sauer sein müssen, da er sie einfach zu James brachte. Aber nachdem sie in die Räumlichkeiten kam, wollte sie Camel nur noch danken. Sie saßen alle am Tisch zusammen. Aßen und tranken. Shu konnte wirklich gut kochen und es war ihr eine Freude gewesen dieses zu den Feierlichkeiten genießen zu können. Im Anschluss gab es Nachtisch – eine leckere Eierlikör-Torte. Jodie konnte sich förmlich in die Torte reinlegen. Und dann war sie perplex als James erklärte, dass die Torte von Akai stammte. Jodie wäre der Bissen fast im Hals stecken geblieben. Nicht nur, dass er kochen konnte, nun war er auch ein Backtalent. Glücklicherweise löste James seinen kleinen Scherz schnell auf und gestand die Torte gekauft zu haben.

Nachdem die Torte endlich in ihrem Magen war, lehnte sie sich nach hinten. Sie konnte sich kaum noch bewegen und war so voll, dass sie das Gefühl bekam, ihr Bauch wäre um einiges angewachsen. Am liebsten hätte sie den Knopf an ihrem Rock aufgemacht und für mindestens eine Stunde geschlafen. So konnte sie unmöglich nach Hause gehen. Selbst das Aufstehen fiel ihr schwer und nur mit Mühe schaffte sie es auf das Sofa. Mehr ging aber auch nicht. Shu, Camel und James schien es ähnlich zu gehen. Camel ließ sich sehr bald auf dem Sofa nieder. Shu trottete mit einer Zigarette in der Hand auf den Balkon und James mühte sich mit dem Geschirr ab. Sie wollte helfen, aber keine zehn Pferde konnten sie von dem Sofa runter kriegen. Erst als James mit der Küche fertig war, hatte Jodie das Gefühl wieder Herrin über ihren Bauch zu sein. Und dann kam er mit Gläsern, Sekt, Saft, Bourbon, Wasser und Keksen zurück ins Wohnzimmer.

„Das ist nicht dein Ernst“, hatte sie gesagt.

James aber lachte nur und stellte alles auf den Tisch. Sie konnten selbst entscheiden ob sie essen wollten oder nicht. Irgendwann griff sie dann doch beherzt zu. Und die Zeit schritt immer weiter voran. Der Abend tat ihr gut. Sie spürte genau das, was sie in jenem Moment brauchte. Sie wollte alleine sein, merkte aber, dass das Zusammensein viel besser war. Schließlich hatten sie sich auch einen Tag der Ruhe verdient. Die Organisation lief ihnen schließlich nicht weg.

Jodie streckte sich. Sie wurde müde und gähnte. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und war überrascht.

3:14 Uhr.

Sie hatten wirklich lange und ausgiebig das Weihnachtsfest gefeiert. „Ich glaube, ich sollte so langsam nach Hause fahren“, sagte sie. Wie konnte sie nur nicht mitbekommen wie spät es war? Selbst Shu war noch da – allerdings alles andere als müde.

Hier machte sich seine lange Observation bemerkbar. Er war nachts wach und schlief am Tag. Kein Wunder, dass er an jenem Abend besser durchhielt.

„Gut“, nickte Camel und stand auf. „Ich fahr dich nach Hause.“

„Ich kann mir auch ein Taxi nehmen. Das ist kein Problem“, entgegnete sie. „Du bist doch bestimmt auch schon müde und möchtest nach Hause.“

„Red keinen Unsinn, Jodie.“ Camel blickte aus dem Augenwinkel zu Akai. Er machte keine Anstalten seine Hilfe anzubieten. „Ich fahr dich nach Hause. Ich hab auch nicht viel getrunken.“

„Camel hat Recht. Du solltest dich von ihm nach Hause fahren lassen“, sprach Shuichi ruhig.

„Ja…also gut“, stimmte sie schließlich zu. „James. Vielen Dank für den schönen Abend.“ Sie umarmte ihren Adoptivvater und lächelte. „Ich weiß zu schätzen, was ihr für mich getan habt.“ Dann sah sie zu Akai. „Danke, dass du auch da warst.“

Akai nickte knapp. „Fahr vorsichtig, Camel und bau keinen Unfall“, mahnte er den Agenten.

„Natürlich nicht“, sagte Camel. Er verabschiedete sich von den anderen und ging mit Jodie runter zu seinem Wagen. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, weil ich dich unter einem Vorwand hier her brachte.“

„Hmm?“ Jodie sah ihn lächelnd an. „Bin ich nicht. Ich fand den Abend wirklich schön. Es tat mir gut. Danke, Camel. Wenn du und die anderen, euch nicht so für mich eingesetzt hättet…wahrscheinlich wäre ich gar nicht erst hier. Es bedeutet mir wirklich viel. Und dann habt ihr an diesem kleinen Fest festgehalten. Ich bin so froh, dass ich Freunde wie euch habe.“ Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und legte sich den Sicherheitsgurt an. Erneut musste Jodie gähnen. „Aber fahr auf dem Rückweg bitte keinen so langen Umweg wie auf dem Hinweg. Im Übrigen habe ich da bereits so eine gewisse Ahnung gehabt.“

Camel schmunzelte. „Dabei gab ich mir Mühe damit du es nicht heraus findest. Wobei das schwerste darin lag dich in meinen Wagen zu bekommen.“ Er startete den Motor und fuhr los. „Ich beeil mich, versprochen.“

Jodie nickte. Sie lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe und sah nach draußen. Die Straße war dunkel – bis auf die Laternen nicht beleuchtet. Zwischendurch kamen sie an einigen Schaufenster vorbei. Einige waren mit Lampen beleuchtet, andere nicht. Wären sie nahe der Einkaufszentren, hätte sie mehrere Tannenbäume gesehen. Japan veränderte sich immer mehr und passte sich der westlichen Kultur an. Besonders Kindern machte dieser Teil viel Spaß.

Den Weg hatte Camel schnell hinter sich gebracht. Seiner Meinung nach viel zu schnell. Camel parkte seinen Wagen in der Parklücke und sah zu Jodie. Noch immer lehnte ihr Kopf an der Fensterscheibe, die Augen waren geschlossen, ihr Atem ging regelmäßig. Sie schlief. Camel beobachtete sie eine Weile. Nur ungern wollte er sie wecken, viel lieber sah er ihr zu.

„…Shu…“, wisperte Jodie.

Camel schluckte. Er sah zur Seite und seufzte. Natürlich dachte sie an ihn. Gegen Akai hatte er eben keine Chance und würde sie auch nie haben. Er musste sich damit abfinden, dass Jodie und er nur gute Freunde waren. Wenigstens war ihm das geblieben. Wenn er an ihre erste Begegnung dachte, war es ein Wunder, dass sie doch noch so gut miteinander auskamen. Er hatte Jodies Abneigung intensiv gespürt. Er selbst stand damals in keinem guten Licht. Zuerst war er draußen, telefonierte und log sie an. Anschließend musste er sie mit einem Fausthieb zum Schweigen bringen. Jodie war alles andere als gut auf ihn zu sprechen. Direkt danach musste sie ihn sogar aus einer brenzligen Situation heraus boxen. Als Verdächtiger in einem Mord wurde er schließlich von ihr als FBI Agent geoutet. Allerdings schaffte es Jodie ihn zu überraschen. Sie gab ihn als ihren Freund aus. Und obwohl er sich sicher war, dass die Polizei die Lüge durchschaute, spielte er nur allzu gerne mit. Eine Frau wie Jodie, die ihn als ihren Freund ausgab, beflügelte ihn.

Als Akai starb, war er für sie da. Zuerst weil er das von dem Agenten aufgetragen bekam, dann weil er sie wirklich mochte. Er stand ihr bei und die Suche nach der Wahrheit schweißte Beide zusammen. Sie wurden Freunde. Jodie vertraute ihm und er vertraute ihr. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Wenn da nur Akai nicht wäre.

Aber er konnte es Jodie nicht verübeln. Sie kannte ihn schon lange, arbeitete fast täglich mit ihm zusammen und dann war er einfach so weg. Jodie hing an ihm. Und sein Tod änderte an ihren Gefühlen nichts. Sie vermisste ihn, trauerte und verbot sich jede Fröhlichkeit im Leben. Als er wieder da war, bemerkte er die Veränderung in Jodie. Aber es machte ihm nichts aus. Sie war glücklich. Und es war das, was er sich für sie wünschte.

Camel atmete tief durch und rüttelte die Agentin langsam wach. „Jodie“, sprach er leise. „Du musst jetzt aufwachen. Wir sind bei dir zu Hause.“

Verschlafen sah sie zu ihm. „Mhmm? Jetzt schon?“

Camel nickte. „Ja, ich bin ein wenig schneller gefahren“, antwortete er. „Na komm, ich bring dich nach oben und dann kannst du schlafen.“

„Hört sich gut an“, antwortete sie. Jodie entfernte den Sicherheitsgurt und stieg aus dem Wagen. Sie rieb sich über ihre Arme. Die Kälte hatte bereits eingesetzt und in ihren Sachen war es eindeutig zu kühl. Mit Camel hastete sie schon nahezu zu ihrer Wohnung. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Danke.“ Dann umarmte sie ihn kurz. „Der Abend war wirklich schon.“ Sie gab ihm einen seichten Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, André.“

„Gute Nacht, Jodie“, murmelte der Agent verlegen. Als sie rein ging und die Tür schloss, fuhr er sich sachte über die Wange. Und dann musste er lächeln.
 

***
 

Shuichi saß in einer Bar. Gelangweilt blickte er in sein Glas welches mit Bourbon gefüllt war. Das Eis schmolz langsam dahin. Im Vergleich zu den anderen Tagen – jenen wo er auf der Suche nach einem Informanten war – war es relativ ruhig und leer. Die meisten waren wegen Weihnachten zu Hause. Nur die üblichen Verdächtigen saßen auf ihren Plätzen und tranken. Es waren die, die keine Familie mehr hatten und jene, die nach der Arbeit einfach nur zur Ruhe kommen wollten.

Shuichi sah sich kurz in der Runde um. Mit einigen von ihnen kam er höchstpersönlich in Kontakt, horchte sie aus und benutzte sie als Quelle. Er musste es nur richtig anstellen und ihnen den ein oder anderen Drink ausgeben. Alkohol lockerte ihre Zunge. Und da die Suche nach Informanten stets keine einfache Sache war, musste er sich lange mit allen möglichen Gestalten auseinander setzen. Die Erfolgschance am Ende lag bei 50%. Entweder sie redeten mit einem oder sie taten es nicht. Bei einigen Personen hatte Akai Glück, bei anderen nicht.

Die Bar hatte noch einen anderen Vorteil. Man konnte kommen und gehen wann man wollte und schuldete niemanden Rechenschaft. Außerdem konnte man sich ungehindert mit anderen Personen unterhalten. Sowohl vorne am Tresen als auch in einer dunklen Ecke weiter hinter. Selbst der Barkeeper hatte ein offenes Ohr für einen – falls man reden wollte. Shuichi nahm einen Schluck aus seinem Glas.

„Weihnachten ganz alleine?“

Aus dem Augenwinkel sah er zur Seite. „Du scheinst auch viel Zeit zu haben“, entgegnete er. „Rei.“

„Wie man es nimmt“, antwortete der Blonde.

„Kommen wir doch gleich zur Sache“, fing er an. „Was weißt du über Sayaka Shibungi?“

„Warum sollte ich etwas über diese Frau wissen?“, kam es von ihm. „Aber wenn du mich schon auf sie ansprichst, wird sie etwas mit der Organisation zu tun haben. Ich habe den Fall natürlich in den Medien verfolgt.“

„Natürlich.“

„Anfangs habe ich ihm kein großes Ermessen zugesagt. Was denkst du wie erstaunt ich war, als irgendwann der Name Jodie S. drin stand? Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe natürlich nicht geglaubt was geschrieben wurde. Sie als Täterin? Nie im Leben.“

„Was willst du damit sagen?“

„Ach nicht viel. Durch die Ereignisse ist mir natürlich klar geworden, dass sie für die Organisation tätig ist. Sie ist Wodka unterstellt.“

Akai sah in sein Glas. „Warum hast du uns geholfen?“

„Hab ich das?“

„Spiel nicht den Unschuldigen. Durch Geisterhand bin ich ganz bestimmt nicht in den Besitz von Unterlagen gekommen, die Jodies Unschuld beweisen. Du bist ein großes Risiko eingegangen als du sie an meine Scheibenwischer geklemmt hast. Ich dachte, die Organisation beobachtet dich?“

„Wie kommst du ausgerechnet darauf, dass ich derjenige gewesen bin, der dir die Informationen zugespielt hat?“

Akai schmunzelte. „Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Außerdem weißt du genau, dass es sonst keinen gibt, der mir in dieser Sache helfen würde. Kir steht noch zu sehr unter Beobachtung. Sie wäre das Risiko nie und nimmer eingegangen, zumal sie uns bereits mit Informationen besorgt. Mehr kann man ihr in der momentanen Lage nicht zumuten. Du hingegen hast endlich erkannt, dass wir zusammen arbeiten müssen, wenn wir sie zu Fall bringen wollen.“

Bourbon knurrte leise. Von einer Zusammenarbeit hielt er nicht viel.

„Und du bist jemand, der die ganzen Treffpunkte kennt. Du kannst ganz einfach abwägen wo sie sich treffen werden. Außerdem bist du der einzige, der uns helfen würde ohne gleich eine Gegenleistung zu verlangen.“

„Du meinst Straffreiheit? Du weißt genau wie ich, dass ich diese bereits habe. Ansonsten hätte ich diesen Einsatz nicht gemacht“, sprach er. „Und vielleicht verlange ich auch eine Gegenleistung.“

„Dann sag mir, was du willst.“

„Später. Was hat Jodie eigentlich verbrochen?“

„Hmm?“

„Vermouth hasst sie. Ich würde gerne wissen, woran das liegt.“

„Tja“, begann Akai. „Das musst du deine Partnerin fragen.“

„Werde ich vielleicht machen. Wenn es sonst nichts gibt, kann ich ja wieder gehen.“

„Danke, Furuya“, kam es dem Agenten über die Lippen. „Eine Sache noch. Wie hast du die Beweise gefunden?“

Bourbon grinste. „Das war einfach. Wie du gesagt hast, ich weiß, wo sich die Organisation trifft. Durch einen glücklichen Zufall konnte ich ein Gespräch zwischen Gin und Wodka mit anhören. Dabei ging es um das falsche Video. Du kennst Wodka. Er führt Befehle aus, ist aber sonst dumm wie Brot. Wobei das eine Beleidigung dem Brot gegenüber ist, aber du weißt, worauf ich hinaus will. Sie haben das Video von der Festplatte bei Medipharm extrahiert und neu zusammen geschnitten. Aber das Orginal war noch vorhanden. Wodka hat das Video von der Festplatte gelöscht, aber sich nicht versichert, dass es auch wirklich nicht mehr existiert. Mit ein paar wenigen Klicks konnten die einzelnen Datenpunkte auf der Festplatte wieder hergestellt werden. Ein Lob auf die Techniker. Und die Flugbestätigung habe ich direkt über den Fluganbieter bekommen. Das hätte euch eigentlich auch einfallen können. Aber glaub ja nicht, dass ich das alles wegen dem FBI gemacht habe. Es täte mir um deine Partnerin zwar leid, aber hätte ich keinen Nutzen in der Aktion gesehen, hätte ich nicht gehandelt.“ Amuro tippte auf dem Tresen herum. „Gin und Wodka sind aneinander geraten. Und wenn durch seine Schuld die Beweise auftauchen, kann man die Organisation ein wenig entzweien und sie an der Loyalität zweifeln lassen. Vielleicht kommen sie sogar auf die Idee, dass es noch einen Maulwurf gibt. Wenn sie paranoid werden, vernichten sie sich irgendwann von alleine.“

„Ihr Boss wird sie dann auf Kurs bringen. Oder er ersetzt sie.“

„Möglich. Ich verrate dir sogar noch etwas. Sayaka dachte, dass die Organisation Jodie geschickt hat.“

„Was?“ Shuichi sah ihn entgeistert an.

„Sie wurde von ihnen bedroht und kurz darauf fing die FBI Agentin an in der Firma zu schnüffeln. Sayaka glaubte, dass Jodie ihretwegen da war und inszenierte dann das alles.“

„Woher…?“ Er verengte die Augen.

„Ich hab sie in der Tiefgarage der Firma getroffen als ich mit den Beweisen raus wollte. Wie ist sie euren Agenten eigentlich durch die Linse gerutscht?“

„Was hat sie gesagt?“, zischte er.

„Nicht viel. Zuerst dachte ich, sie wäre auch wegen ihr dort. Sie hat mich mit einem Messer bedroht. Naja…sie hat es versucht, war dann panisch und schrie mich an.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hysterische Frau. Aber letzten Endes habe ich mich ihr zu erkennen gegeben und ihr einen Teil der Wahrheit erzählt. Sie war natürlich bestürzt, dass sie einer Unschuldigen einen Mord anhängen wollte. Im Übrigen war der Plan sehr ausgeklügelt. Wusstest du, dass sie sich bereits am Abend zuvor selbst Blut abgezapft und dieses gesammelt hat, nur um anschließend eine Sauerei in der Küche zu hinterlassen? Sie wusste auch, dass sie beobachtet wird und hat eure Wanzen jedes Mal mit einem Störsender ausgestattet, wenn sie nicht wollte, das ihr Gespräche mit anhört.“

„Falls du mir nun unter die Nase reiben willst, dass sie aus dem Haus entkommen ist, spar es dir. Unsere Agenten wurden betäubt und konnten das gar nicht mitbekommen.“

„Wie du willst. Die Organisation wird sich nach dieser Niederlage nicht einfach so geschlagen geben.“

„Sollen sie doch kommen. Sie machen mir keine Angst.“
 

***
 

Shuichi lief über den Friedhof. Die Atmosphäre war angespannt und er hasste Besuche dieser Art. Sie waren für viele Menschen emotional. Für ihn aber nur eine Erinnerung. Eine Erinnerung an seinen Auftrag und daran, wie viele Menschen ihr Leben bereits geben mussten. Es durfte nicht noch mehr Opfer geben.

Akai besuchte zuerst Akemi. Sie war nun seit zwei Jahren tot und es kam ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Und dann war da noch ihre SMS. Sie bekräftigte ihn in seinen Taten. Sie war ein Zeichen. Er verharrte einen Moment an dem Grabstein und ging dann weiter. Das zweite Grab war eher klein gehalten und hatte nur ein kleines Holzkreuz. Nur der Vorname war eingraviert.

„Hallo Vater“, sprach Shuichi ruhig. Er wusste, dass die Überreste seines Vaters nicht hier lagen, aber die Familie brauchte damals eine Stelle, wo sie Trost finden konnte. Und so entschied seine Mutter, dass Tsutomu wenigstens den Platz auf dem Friedhof erhielt. In dem kleinen Sarg lagen anschließend verschiedene Erinnerungen: Fotoalbum, Spielzeug der Kinder, der Ehering. Wann immer Shu die Zeit hatte, kam er her. Mit seinem Vater fing alles an. Seine Mörder zu finden, gab ihm Kraft. Er war sein Ansporn.

Jodie wusste von all dem nichts. Generell erzählte er ihr wenig über seine Vergangenheit. Sie hatte aber auch nie nach seinen Beweggründen gefragt und ihn nie nach seiner Familie ausgequetscht. Selbst wenn sie es getan hätte, seine Antwort lautete immer wie folgt: Habe keine.

Es war die sicherste Möglichkeit um den Rest seiner Familie zu schützen. Sein Bruder war gerade erst 15 Jahre alt als er zum FBI ging und seine kleine Schwester noch jünger. Er hatte sie nur wenige Male getroffen.

Wie konnte er die beiden überhaupt in Gefahr bringen? Das konnte er nicht verantworten. Sein Vater hätte es nicht gewollt. Shuichi sah auf das Kreuz und verengte die Augen. Er holte eine Zigarette aus der Jackentasche heraus und zündete sie an. „Wir sind ihnen auf den Fersen“, sagte er dann und verließ das Grab.

Auf seinem Rückweg, sah er auf das Display seines Handys. Die Anrufe ignorierte er – vorerst. Als schließlich eine Kurzmitteilung von Jodie in seinem Posteingang einging, musste er ein wenig lächeln. Sie wollte wissen, wann er zu Hause sein würde. Als stünde sie vor seiner Wohnung und wartete. Wenn sich Jodie etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie keiner davon abbringen. Sie wollte ihren Willen durchsetzen. Und genau das war etwas, was er an ihr mochte. Ihren Dickkopf.

26.12.

Jodie war am nächsten Morgen bereits früh wach. Sie streckte sich und zog sich im Schlafzimmer um. Jodie warf einen kurzen Blick in den Spiegel ehe sie in die Küche ging und einen Kaffee kochte. Nebenbei blickte sie auf ihr Handy. Sie seufzte. Natürlich hatte er nach seinem kurzem Hatte zu tun nicht mehr geantwortet. Das war nicht seine Art.

Er meldete sich immer von sich aus oder wenn eine Unterhaltung dringend notwendig war. Und scheinbar hatte er besseres zu tun, als auf sein Handy zu blicken und sich bei ihr zu melden. Dabei war er wohl den Großteil des Tages nicht zu Hause. Sie musste es wissen, da sie am späten Nachmittag des Vortages vor seiner Wohnungstür stand und nichts geschah.

Außerdem war Shuichi niemand der sich einen ganzen Tag hinlegte und schlief. Nicht einmal dann, wenn er vollkommen fertig war und lange, harte Nächte hinter sich hatte. Das war eher ihr Part. Als sie von Camel am 25. Dezember spät nachts zu Hause abgesetzt wurde, schaffte sie es gerade noch so zum Bett. Sie war müde. Viel zu müde und konnte kaum noch laufen. Es war ein Wunder, dass sie nicht gegen irgendwelche Wände lief. Ihre Kleidung ließ sie an und wachte entsprechend am nächsten Tag auf. Als Jodie auf die Uhr sah, traute sie ihren eigenen Augen nicht. Sie hatte über 12 Stunden geschlafen, fühlte sich aber erholte und frischer. Die Strapazen der letzten Tage hatte sie mitgenommen und ihr den Schlaf geraubt. Erst jetzt hatte sie das Gefühl, dass es besser wurde. Und eine durchgeschlafene Nacht war der beste Beweis. Jodies Energiereserven wurden aufgetankt. Nun konnte sie sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe widmen.

Als Jodie am Tag zuvor bei Shu vor der Haustür stand, hatte sie Pech. Der Agent war nicht da. Ihn telefonisch zu erreichen, führte ebenfalls zu keinem Erfolg. Bei Camel sah es an dem Tag genau so düster aus, obwohl Jodie sich sicher war, ihn zu erreichen. Camel erzählte immer wenig über sein Privatleben. Sie wusste nichts über seine Familie, seine Freunde und auch nicht, ob er in den Staaten eine Freundin zurück ließ. Letztes schloss sie aus, da er ansonsten über die Feiertage zurück geflogen wäre. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass der Agent sie mittlerweile in und auswendig kannte, sie aber rein gar nichts über ihn wusste. Eigentlich war es auch nicht verwunderlich, schließlich kaute sie Camel immer wieder ein Ohr ab. Sie ließ ihn ja so gut wie nie richtig zu Wort kommen.

Jodie sah in ihren schwarzen Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Sie verspürte eine Art stolz, weil sie die Adresse von Akais Wohnung kannte. Nur wenigen Agenten war das Wissen vergönnt. Akai war sehr zurückhaltend, wenn es um Informationen über ihn ging. Es war wenig verwunderlich. Jeder der die Adresse des Agenten kannte, war eine Gefahr. Die Organisation machte keinen Halt was eine Wohnung anging. Ein Feuer konnte sehr schnell ausbrechen. Aber dann würde es nicht nur seine Wohnung erwischen. In Wohnblöcken war es eh so eine Sache mit der Opferanzahl. Einer würde immer darunter leiden.

Nicht zu vergessen, dass Akai selten zu Hause war. Gerade in der letzten Zeit war er nachts auf der Suche nach Informanten, schlief tagsüber ein paar Stunden und war dann wieder auf Achse. Ihn zu Hause anzutreffen, war eine Glückssache. Da er auch keine festen Zeiten hatte, konnte man ihn so gut wie nie dort antreffen.

Jodie stellte ihre Tasse auf den Tisch und stand auf. Sie schnappte sich ihre Handtasche, zog im Flur ihre Schuhe an und machte sich auf den Weg. Sie würde erneut ihr Glück versuchen. Und wenn es nicht klappte, musste sie zu härteren Methoden greifen. Jodie wusste genau, wie sie den Agenten zu einem Treffen bewegen konnte. Sie musste nur einen Hinweis auf die Organisation finden.
 

***
 

Jodie stand vor Shuichis Haustür.

Diesmal muss er da sein, sagte sie zu sich selbst. Und wenn nicht, dann komm ich heut Abend nochmal wieder.

Jodie seufzte. Sie lief ihm wirklich wie ein Hund nach. Wie oft nahm sie sich vor genau das nicht mehr zu machen? Und wie oft hielt sie sich nicht an ihren eigenen Vorsatz? Es war sowieso dieser spezielle Blick von ihm. Immer wenn Jodie einen Schlussstrich zog und sich sicher war, keine Gefühle für ihn zu haben, sah er sie so an. Und dann schmolz sie dahin wie ein kleiner Teenager. Er wusste, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste. Sie war sein Groupie. Wahrscheinlich würde sie immer noch von ihm Träumen und ihn begehren, wenn er ihr Herz noch weitere Male brach. Es war niederschmetternd, aber auch die Wahrheit. Wie war das? Seine große Liebe vergaß man nie? Und vielleicht hatten sie in einigen Jahren, wenn sie alt und rumplig waren, eine Chance. Solange musste sie nur warten.

Jodie atmete tief durch und betätigte die Klingel an seiner Haustür.

1. Nichts. 2. Nichts. 3. Nichts. 4 Nichts. 5 Nichts.

Sie drehte sich um. Es war einen Versuch wert.

Jodie zog ihr Handy aus der Hosentasche und suchte seine Nummer heraus. Dann ging die Tür auf. Sofort drehte sie sich um. „Na end…“ Jodie verschlug es den Atem. Shuichi stand vor ihr. Mit nacktem Oberkörper und schwarzer Hose. „Du…du solltest dir was anziehen.“

Shuichi musterte sie. „Dann hättest du entweder erneut geklingelt oder wärst weg“, antwortete er. Er ließ die Tür offen und ging in sein Schlafzimmer.

Langsam trat Jodie ein. Ihr Herz pochte wie wild. Es war lange her. Viel zu lange. Und ihn jetzt zu sehen, machte die Situation und die Vergangenheit nicht besser. Die Erinnerung an vergangene Tage kam wieder zurück. Jodie war damals glücklich. Sie konnte ihn immer noch spüren und schmecken. Jodie schüttelte hastig den Kopf. Sie musste die Gedanken verbannen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Aber was? Gefühle ließen sich nicht so schnell abschalten. Nicht einmal dann, wenn sie sich immer wieder sagte, was zum Ende ihrer Beziehung führte.

Mit mechanischen Bewegungen trat Jodie in die Wohnung und schloss die Tür. Sie folgte dem Flur bis sie ins Wohnzimmer kam. Seine Möbel waren vom Vormieter, sodass es gemütlicher war, als sie eigentlich annahm. Jodie betrachtete das graue Sofa und strich mit der Hand über dieses. Als sie bei seinem Hemd ankam, zögerte sie einen Moment. Dann nahm sie es in die Hand und führte es an ihre Nase. Sie roch daran, sog seinen Geruch auf und lächelte.

„Willst du Kaffee?“

Jodie fühlte sich ertappt. Sofort drehte sie sich um und war erleichtert, da ihr Kollege im Flur stand. Sie legte das Hemd zurück auf seinen Platz und ging in den Flur. „Gerne“, sagte sie und folgte ihm in die Küche. „Du hast dich gestern Abend gar nicht mehr gemeldet.“

„Hmm?“

„Komm, Shu.“ Sie lehnte sich an die Wand in der Küche. „Meinst du deine kurze SMS mit: Hatte zu tun reicht?“

Shuichi setzte den Kaffee auf und holte zwei Tassen aus dem Schrank raus.

„Du hast gearbeitet, nicht wahr?“

„Wie man es nimmt“, sprach er. „Bourbon war es.“

„Bour…bon?“

„Er hat mir die Beweise zugespielt und dafür gesorgt, dass wir dich aus der Haft holen konnten. Dabei spielte es ihm in die Hände, ein Gespräch zwischen Gin und Wodka mit anzuhören. So wusste er, wo er suchen musste.“

„Dann sollte ich ihm wohl danken, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“

„Mach das“, entgegnete Akai. „Aber pass auf, dass euch die Organisation dabei nicht überrascht.“

„Keine Sorge.“

„Er hat Sayaka Shibungi getroffen.“

„Was? Wann? Wo war sie?“

„Sie hat sich irgendwo versteckt“, fing Shu an. „Er traf sie in der Firma als er sich um das Video gekümmert hat.“

„Aber wenn sie in der Firma war, warum haben unsere Männer sie nicht gesehen?“

„Zu viele Eingänge. Sie kennt sich aus und sie wurde von der Organisation verfolgt. Sie wird penibel darauf geachtet haben, dass sie niemand verfolgt. Entsprechend hat sie gehandelt. Ich muss nicht erwähnen, dass es erst dann war, als du bereits in Untersuchungshaft gewesen bist. Viele Kollegen waren bestürzt und nicht ganz bei sich. Und ich muss dir sicher auch nicht sagen, dass ich mich nicht teilen kann. Ehrlich gesagt, nahm ich an, dass sie zuerst zurück nach Hause kommt oder ihm zumindest einen Hinweis hinterlässt.“

„Was hat sie eigentlich in der Firma zu suchen gehabt?“

„Werden wir wohl nicht mehr heraus finden. Vielleicht wollte sie Geld abheben oder ihrem Mann etwas hinterlassen. Fast wäre sie auf Bourbon losgegangen. Dieser hat ihr dann erzählt, dass du nur eine Unschuldige bist. Angeblich war sie sehr bestürzt darüber. Da sie nicht mehr am Leben ist, können wir nur Vermutungen anstellen.“ Shuichi schenkte den schwarzen Kaffee in die Tassen und reichte Jodie eine Packung Milch sowie eine Zuckerdose.

„Es war trotzdem für ihn gefährlich, dir das Material zuzuspielen.“

„Er kannte das Risiko“, antwortete Akai. „Außerdem war der Zeitpunkt mehr als richtig. Die Organisation muss nun die Konsequenzen daraus ziehen und sie werden einen Schuldigen bestimmen. Da sich Wodka um das Video kümmern musste, hofft Bourbon, dass er ein wenig Paranoia streuen konnte.“

„Hoffen wir, dass es klappt und nicht am Ende wieder Bourbon oder Kir im Fokus stehen.“

„Wir werden sehen.“ Shuichi nahm die Tasse und ging ins Wohnzimmer. Er nahm Platz. „Er hat uns aber auch klar gemacht, dass er uns nicht immer helfen wird. Die Interessen seiner Behörde stehen für ihn im Vordergrund.“

„Also genau wie bei Kir.“

„Nur das Kir bei weitem kooperativer ist.“

„Wenigstens ermitteln Kir und Bourbon nicht gegeneinander“, warf Jodie ein.

„Das hätte auch kein gutes Ende genommen.“ Akai seufzte. „Das haben Scotch, Bourbon und ich gemacht. Mit dem kleinen Unterschied, dass Scotch und Bourbon von einander wussten.“

Jodie nickte verständnisvoll.

„Es hätte uns bei weitem viel Zeit gespart, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, wer die Beiden sind. Nun kann man es nicht mehr ändern und wir leben mit den Konsequenzen“, sprach er.

„Dann weiß Bourbon also, dass Kir für die CIA arbeitet?“

„Ich nehme es an.“

Jodie sah ihn einen Moment an. „Ach, ehe ich es vergesse.“ Sie nahm ihre Tasche vom Sofa und stellte sie auf ihren Schoss. Dann kramte sie eine ganze Weile darin herum.

„Was wird das?“, wollte Akai wissen.

„Warte noch. Gleich hab ich es. Gleich…“ Sie suchte weiter und fand es dann. „Da ist es.“ Sie zog ein kleines Paket heraus. „Für dich.“

Shuichi sah mit einem leichten Unbehagen auf das Paket.

„Jetzt guck doch nicht so. Es beißt doch schon nicht.“

„Jodie…“ Shuichi mochte die ganzen Konventionen mit Geschenken nicht. Er seufzte leise und öffnete zuerst die Schnurr des Paketes, entfernte anschließend das Geschenkpapier und sah auf die kleine Schachtel in seiner Hand. „Du hättest es gar nicht verpacken müssen“, warf er ein.

„Wo bleibt denn dann der Spaß“, konterte sie. „Und ich guck dir gern dabei zu. Also mach weiter.“

Shuichi schüttelte nur den Kopf. Er war auf alles gewappnet. Jodie konnte manchmal komische Ideen haben. Akai öffnete das Paket. „Oh“, sagte er und nahm den Schlüsselanhänger heraus.

„Ich dachte, das wäre was für dich.“

Er betrachtete die Figur.

„Dein alter Wagen. Ich weiß, dass du ihn gemocht hast und deswegen hab ich den Anhänger machen lassen. Und natürlich darf die persönliche Gravur nicht fehlen.“

Shuichi drehte das kleine Auto um und sah seinen Namen hinten stehen. „Danke.“

„Jetzt das zweite.“

„Jodie…“, kam es von ihm und er nahm ein weißes Rechteck hervor.

„Ist doch nur eine Kleinigkeit. Da du viel unterwegs bist und nicht immer den Motor in deinem Wagen laufen hast, es aber sein kann, dass du dein Handy oder was anderes aufladen musst, hab ich dir eine ultraschicke Power-Bank besorgt.“

Er nickte. Dieses Jahr überraschte sie ihn und schenkte ihm nützliche Dinge. Die Jahre zuvor hatte sie es mit Dekorationen versucht, war aber immer wieder an ihm gescheitert.

„Gern.“ Sie beugte sich nach vorne zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Frohe Weihnachten, Shu.“

Der Agent sah sie einen Moment an. Dann stand er auf und verließ den Raum. Verwirrt blieb Jodie zurück und war noch verwirrter als er mit einem kleinen Paket zurück kam.

„Für dich“, sagte er und hielt es ihr hin.

„Eh…“ Jodie sah zwischen ihm und dem Paket hin und her. „Ist das wirklich für mich?“ Sie konnte es nicht glauben.

„Wenn du es nicht haben willst, schenke ich es James. Aber ich bezweifel, dass dieser es haben will oder das es zu ihm passt.“

„Ich will“, entgegnete Jodie hastig und hielt das Paket schon in den Händen. Es war nicht gerade groß. Maximal 15 cm in den Seiten. Behutsam löste sie die Schleife und öffnete das Geschenkpapier. „Und ich soll diejenige sein, die sich mit dem Einpacken zu viel Mühe gab…“

Shuichi wollte etwas sagen, schwieg aber.

Jodie begutachtete das kleine Kästchen und öffnete es schließlich. Als sie den Inhalt sah, war sie perplex. Fast zärtlich strich sie über den Schmuck. „Aber das ist ja…“, murmelte sie leise. „…die Kette, die mir mein Vater damals geschenkt hat…“

Akai nickte.

„Aber wie…wie ist das möglich? Der Verschluss war doch kaputt…ich dachte, ich hab sie verloren...“

„Sie lag auf dem Boden“, sprach Akai ruhig. „Da ich weiß, was sie dir bedeutet, habe ich sie an mich genommen und reparieren lassen.“ Dass er die Kette auf dem Fußboden des Krankenhauses – kurz bevor er seinen Tod fingierte – fand, ließ er absichtlich unter den Tisch fallen. Sie war eine Erinnerung an Jodie, etwas, dass ihn im letzten dreiviertel Jahr Motivation und Hoffnung gab.

„Shu…“, wisperte sie leise. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Man sah Jodie an, dass sie hin und weg war.

„Du musst gar nichts sagen“, gab er von sich. „Ist ja nichts Weltbewegendes.“

„Für mich schon“, kam es sogleich von ihr und dann fiel sie ihm um den Hals. Sie lächelte und gab ihm wieder einen Kuss auf die Wange. „Danke.“

„Schon gut“, antwortete er und legte für einen kurzen Moment den Arm um sie. „Frohe Weihnachten.“

„Danke“, wiederholte sie sich. Nach einem kurzen Moment löste sie sich von ihm. Sie war verlegen und versuchte das Thema zu wechseln. „Und…ähm…was wollen wir wegen der Organisation unternehmen?“

Shuichi zuckte mit den Schultern. „Wir haben keine andere Wahl als zu warten. Also tun wir das auch. Irgendwann werden sie schon aus ihrem Versteck kommen. Dann werden wir es sein, die sie in die Mangel nehmen.“

Jodie nickte. „Gut. Und wenn sie dahinter kommen, dass Bourbon uns half?“

„Dann ist das so. Er kann gut auf sich selbst aufpassen. Und er weiß, was ihn erwartet, sollten sie dahinter kommen“, sprach er. „Wir sind nicht seine Babysitter.“

„Okay“, murmelte Jodie. „Und was ist mit Kir?“

„Keine Veränderung. Oder hat sie sich bei dir gemeldet?“

„Nein“, Jodie schüttelte den Kopf.
 

***
 

Seufzend stand Camel vor Jodies Haustür. Um am Weihnachtsabend nicht als einzige Person mit einem Geschenk dazustehen, ließ er das für Jodie absichtlich zu Hause. Wie gut, dass er dieses Mal auf seinen Bauch hörte. Leider sah es am nächsten Tag nicht besser aus. Zuerst wollte er Jodie nicht aufwecken und als er am Nachmittag vor ihrer Haustür stand, öffnete niemand. Er war in Versuchung ihr eine Kurznachricht zuschicken, entschied sich aber dagegen um nicht zu anhänglich zu wirken. Und bei seinem Glück unterstellte sie ihm, dass er sich wieder einmal Sorgen machte.

Und auch heute schien er kein Glück zu haben. Camel seufzte und ging zurück zum Fahrstuhl. Er drückte den Knopf und wartete einen Moment. Sobald die Aufzugstür aufsprang, kam ihm Jodie entgegen.

„Camel? Hey. Hallo.“

„Hallo“, lächelte er. „Ich wollte gerade zu dir.“

„Dann komm mal mit“, sprach sie und ging zur Haustür. Jodie öffnete sie und ließ den Agenten rein. „Du hattest Glück, dass ich gerade nach Hause kam.“

Er nickte. Und trat ein. „Ich hab dir ein kleines Geschenk gekauft.“ Er hielt es ihr hin. „Ist nichts Großes…“

„Oh“, murmelte sie. Sie sah auf die Verpackung und brachte das Geschenk in ihr Wohnzimmer. Dort legte sie es auf den Tisch und verschwand für einen Moment im Schlafzimmer. Als sie wieder kam, hielt sie ein kleines Paket in der Hand. „Und das ist von mir“, sprach sie, während sie es ihm vor die Nase hielt.

„Danke“, lächelte Camel und machte sich daran es auszupacken. Er schmunzelte. „Die Tasse, die den Inhalt selbst umrührt?“

„Du hattest die damals im Schaufenster angesehen und ich dachte, dass du sie haben wolltest. Deswegen hab ich sie dir gekauft. Und sie ist doch super praktisch.“

Er nickte. „Ja, ist sie.“ Camel sah sie an. „Danke, Jodie. Und nun musst du deins auspacken.“

„Jawohl, Sir“, scherzte sie und öffnete dann das Geschenk welches für sie bestimmt war. „Das Armband ist ja schön.“

„Ich hab gehofft, dass es dir gefällt.“ Camel nahm es ihr aus der Hand und legte es sofort um ihr Handgelenk.

„Das tut es. Es ist wirklich wunderschön.“

Camel lächelte. „Ist…die Kette neu?“

Sofort fuhr Jodie mit der Hand über diese. „Nein“, antwortete sie. „Mein Vater hat sie mir vor langer Zeit zu Weihnachten geschenkt. Nach einigen Jahren funktionierte der Verschluss nicht mehr. Ich hab sie vor einem knappen Jahr verloren. Sie war einfach weg. Ich hab richtig Panik geschoben und gehofft, dass sie nur nicht in den Händen der Organisation ist. Sie ist die letzte Erinnerung an meine Familie…“

„Es…es tut mir leid“, schluckte Camel. „Ich wollte…dich nicht daran erinnern.“

Sie schüttelte den Kopf. „Schon gut…es wird mich eben immer traurig machen“, sprach sie. „Aber ich bin froh, dass ich sie jetzt wieder habe.“

„Wie hast du sie gefunden?“, wollte der Agent wissen.

„Das war ich eigentlich gar nicht.“ Jodie lächelte glücklich. „Shu hat sie auf dem Boden gefunden und nahm sie an sich. Er ließ den Verschluss reparieren und hat sie mir heute geschenkt.“

„Oh…das ist…wow…“

„Ja“, nickte sie. „Dass ausgerechnet von Shu so ein Geschenk kommt, hätte ich auch nicht gedacht“, gestand sie. „Er kann mich noch immer überraschen.“

„Dann hattest du doch ein schönes Weihnachten, nicht wahr?“

Sie nickte erneut. „Das hatte ich wirklich. Und ich danke euch allen dafür. Wenn du mich nicht überredet hättest mit zu kommen, hätte ich womöglich all das verpasst.“

„Ach…ich hab doch nichts getan…“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

„Doch, das hast du.“ Jodie beugte sich nach vorne zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke.“

27.12.

Sota Shibungi sah sich in seinem Haus um. Er hatte es vor über 5 Jahren gekauft und lebte seitdem in diesem. Jetzt aber spürte er alles viel intensiver. Er war alleine. Und einsam. Seit Sayaka nicht mehr am Leben war, fühlte er diese Leere in sich. Alles war egal. Sein Leben war vorbei. Sein Glück war verschwunden. Auch wenn die Wunde frisch war, wusste er, dass er nie über seine Frau hinweg kommen würde. Nie wieder würde er eine andere lieben können. Sayaka war sein ein und alles. Sie war seine Seelenverwandte, seine große und einzige Liebe.

Er vermisste sie, ihren Duft, das gemeinsame Zusammensitzen im Wohnzimmer, vor dem lodernden Kamin, kuschelnd und natürlich auch ihre Berührungen. Sie würde nicht mehr zurück kommen. Nie wieder. Er hatte das Glück und nun wurde es ihm wieder genommen. Einfach so und ohne Vorwarnung.

Das Haus war nicht weihnachtlich geschmückt. Dieses Jahr wollten sie ein richtiges Fest ausrichten. Kitschig und übertrieben. Sayaka hatte verschiedene ausländische Magazine gewälzt, verschiedene Bilder gesehen und wollte unbedingt die gleiche Dekoration und den gleichen Brauch einführen. Natürlich wurde Weihnachten in Japan anders gefeiert als in den westlichen Ländern, aber da Sayaka in den Jahren vorher immer alleine war, wollte sie etwas völlig Neues kreieren. Sie freute sich schon auf das Essen mit der Familie - seiner Familie und den zwischenmenschlichen Kontakt. Alle Dekorationen –Lichterketten, Kugeln, Schmuck – waren bereits bestellt und wurden vor einigen Wochen geliefert. Mittlerweile befanden sie sich im Keller. Sayaka fand nie Zeit um das Haus vorzubereiten und schob es immer wieder auf. Und jetzt war es zu spät. Keiner würde sich je daran erfreuen.

Sota ging in sein Arbeitszimmer. Er setzte sich an den Schreibtisch und sah auf das Bild ihrer Hochzeit. Er und Sayaka. In guten Zeiten. Sie war eine so wunderschöne Braut. Sie hatte alles Glück der Welt verdient. Und nun war es zu spät. Zärtlich strich der Geschäftsmann über den Rahmen. „Sayaka“, wisperte er leise.

„Meine Sayaka.“ Eine Träne lief ihm über die Wange. Er vermisste sie. So unendlich. Sota blickte auf das Tagebuch herab. Er hatte es bereits einmal komplett gelesen und das Gefühl, sie nun viel besser zu verstehen. Sie gewährte ihm Einblick in ihre Gefühle, ihre Ängste und in ihr Inneres. Aber was brachte es ihm jetzt? Nichts. Gar nichts. Sayaka war fort. Für immer. Und er war noch da.
 

***
 

Jodie streckte sich. So gut wie in der vorangegangenen Nacht hatte sie lange nicht mehr geschlafen. Der Albtraum war endlich zu Ende und sie konnte sich wieder den wichtigen Sachen im Leben widmen: Der Arbeit und der Suche nach weiteren Spuren von der Organisation. Es war, als hätten Shuichi, Camel und James sie mit einem Mal aus ihrem tiefen Loch geholt. Sie wussten genau, was sie tun mussten, welche Knöpfe sie bei ihr drücken mussten. Jodie war froh, dass sie solche Freunde hatte. Freunde, auf die sie sich immer verlassen konnte. Wenn sie ehrlich war, waren sie sogar viel mehr als Freunde. Sie waren ihre Familie. Eine, auf die sie nie wieder verzichten wollte.

Langsam setzte sich die Agentin auf. Sie streckte sich erneut. Ihr Haar war ein wenig zerzaust, aber nach einer Haarwäsche wäre das Thema erledigt. Heute hatte sie sogar richtige Lust auf die Arbeit. Irgendwas tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass es nun nicht mehr schlimmer kommen konnte. Was sollte auch passieren?

Sayaka Shibungi war tot, die Organisation war noch auf freiem Fuß, die Presse berichtete nicht mehr über sie und sie stand nicht mehr im Fokus der Ermittlungen. Jodie wurde das Gefühl nicht los, dass sie heute einen Durchbruch erzielten.

Gut gelaunt stand sie vom Bett auf, ging in das Badezimmer und machte sich fertig. Sie sah sich im Spiegel an und legte die Kette, die immer noch um ihren Hals hing und mit der sie eingeschlafen war, in ihr kleines Schmuckkästchen zurück. Da die Gefahr sie zu verlieren immer noch gegeben war, wollte sie sie nur zu besonderen Anlässen tragen. Glücklicherweise geriet die Kette nie in die Hand der Organisation. Dann hätte sie erst recht schlechte Karten. Würden sie diese irgendwo platzieren, konnte man sie sicherlich mit einem schrecklichen Verbrechen in Verbindung bringen. Einem, das sie nie beging, für das sie aber die Schuld zugeschoben bekäme.

Auch wenn man manchmal ein anderes Gefühl hatte, legte Jodie viel Wert darauf, dass die Organisation ihre Privatsachen oder ihr Privatleben nicht in die Hand bekam. Man wusste schließlich nie, ob man am Ende überlebte oder nicht.

Gut gelaunt machte sich Jodie auf den Weg in das Büro. Unten grüßte sie den Wachmann und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Im Großraumbüro angekommen, blickte sie sich um. Wieder war die Ausbeute an Agenten gering. Aber sie gönnte es jedem einzelnen von ihnen. Viele sahen ihre Familie nur sehr selten und wollten mit den Eltern, den Kindern oder den Lebenspartnern die Feiertage und das neue Jahr feiern. Jodie beneidete diese Agenten. Wie gern hätte sie auch deren Glück.

Die Agenten hatten aber auch Glück, da James auf ihre Anwesenheit verzichten konnte und die kleine Auszeit gewährte. Es wunderte sie allerdings nicht, dass Shu und Camel das Angebot ausschlugen. Wieder merkte Jodie, dass sie über die genaue familiäre Situation der Beiden wenig wusste. Bei Camel war dies noch entschuldigbar. Bei Shu hingegen war es schon eine andere Sache. Sie kannten sich seit Jahren und trotzdem hielt er sie auf Abstand. Aber sie konnte ihn auch nicht zum Reden zwingen.

Jodie schüttelte den Kopf und marschierte auf einen Schreibtisch zu. Sie stellte ihre Tasche ab, setzte sich und startete ihren Computer. „Dann wollen wir mal was finden“, sagte sie zu sich selbst.

Die Tür von James‘ Büro ging auf. Er sah besorgt aus und runzelte die Stirn als er auf Jodie blickte. „Kommst du bitte in mein Büro?“

Sie nickte und folgte ihm rein. War doch etwas Passiert? „Geht es um meine Anwesenheit hier?“, wollte sie von ihrem Vorgesetzten wissen. „James, mir geht es wirklich gut…“ Erst jetzt sah sie Akai. „Shu“, murmelte sie überrascht. „Guten Morgen, was machst du schon so früh hier?“

„Morgen.“ Kurz musterte er sie. „Hast du heute schon die Zeitung gelesen oder dir die Nachrichten angehört?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte heute Morgen keine Zeit für die Zeitung. Und auf dem Weg hierher war mein Radio aus.“ Jodie setzte sich auf den freien Platz neben ihrem Kollegen. „Was ist passiert? Ihr macht mir langsam Angst, wenn ihr mich so anguckt.“

„Sota Shibungi ist tot.“

Jodie sah ihn schockiert an. „Was? Das kann nicht…wie ist das passiert?“ Sie wurde bleich. „Sagt mir nicht, dass die Polizei nun denkt, dass ich etwas…“

„Nein, das denkt sie nicht“, sprach James ruhig. „Wir können einen Selbstmord nicht ausschließen.“

„Momentan sieht es so aus, als hätte er sein Haus angezündet und sei im Feuer darin umgekommen. Ich höre den Polizeifunk ab“, gestand Akai. „Deswegen weiß ich auch, was passiert ist. Das Feuer im Haus wurde mittlerweile gelöscht. Momentan sind sowohl Feuerwehr als auch Polizei vor Ort. Sie haben zwei Leichen geborgen.“

Jodie schluckte. „Zwei?“

„Shibungi und einer unserer Männer. Agent Combs.“ Akai sah wieder zu Jodie rüber. „Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war. Es gibt zwei Möglichkeiten. Er wollte sich umbringen um bei seiner Frau zu sein. Oder die Organisation hat ihn ausgeschaltet und lässt es nach Selbstmord aussehen.“

„Und was denken Sie ist passiert?“

„Ich denke“, begann Akai. „…dass die Organisation dahinter steckt. Sie haben sein Geld und wollen keine Zeugen hinterlassen. Vielleicht waren sie sich nicht sicher, was Shibungi weiß und was nicht. Er war ein potentielles Risiko und musste eliminiert werden.“ Sein Ärgernis war zu spüren.

„Wir konnten das doch nicht ahnen…“, warf Jodie ein.

„Doch. Das konnten wir. Was meinst du, warum unsere Leute das Haus im Blick behielten. Aber irgendwie ist ihnen etwas durch die Lappen gegangen. Ich hätte die Observation selbst durchführen müssen.“

James schüttelte den Kopf. „Dann wären jetzt möglicherweise Sie tot, Akai.“

„Pff…“

„Moment“, schaltete sich Jodie ein. „Wie kam unser Agent in das Haus?“, wollte sie wissen.

„Wir nehmen an, dass der Agent das Feuer bemerkte und helfen wollte. Er war es auch, der den Notruf absetzte. Er muss ins Haus gelaufen sein und wollte Shibungi retten, starb aber an den Folgen des Rauches.“

Jodie biss sich auf die Unterlippe. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte sie leise.

„Wir müssen unbedingt herausfinden, was wirklich passiert ist.“ James sah die beiden Agenten an. „Und ob der Selbstmord in Wahrheit Mord war. Die Polizei wird die Leiche sicherlich obduzieren lassen.“ James blickte nun Jodie direkt an. „Jodie, fühlst du dich in der Lage an dem Fall weiter zu arbeiten?“

Sie nickte sofort. „Natürlich. Mach dir keine Sorgen um mich, James“, antwortete Jodie ruhig. Es war nicht schön an ein Haus zu kommen, dass nun mehr oder weniger in Schutt und Asche lag – zumindest dann nicht, wenn es sie an ihr eigenes Elternhaus erinnerte. Jodie durfte sich der Vergangenheit nicht hingeben. Sie musste sich konzentrieren. Auf das Hier und Jetzt. Sota Shibungi musste Gerechtigkeit erfahren.

„Gut“, nickte James. „Dann fahrt hin und bringt in Erfahrung was passiert ist. Sollte es eine Obduktion geben, wäre es gut, wenn ihr dabei sein könnt. Ich weiß, dass es bei der japanischen Polizei Regeln gibt, aber ich will, dass ihr alles menschenmögliche macht, damit wir die nötigen Informationen bekommen.“

Shuichi stand auf und sah zu Jodie. „Wir nehmen meinen Wagen.“
 

***
 

Shuichi parkte seinen Wagen in einer kleinen Seitenstraße. Den restlichen Weg gingen die beiden Agenten zu Fuß. „Bist du dir sicher, dass du das hinbekommst?“, wollte er von Jodie wissen.

Sie nickte. „Ich werde nicht zusammenbrechen, Shu“, sagte sie ruhig. Dabei war sie sich selber gar nicht so sicher.

„Sie können hier nicht weiter.“

Jodie musterte den Polizisten hinter dem Absperrband. „Wir müssen mit dem ermittelnden Inspektor sprechen“, sagte sie.

Der Mann runzelte die Stirn. „Der Feuerwehrober….“

„Wir möchten nicht mit der Feuerwehr sprechen. Bitten Sie doch bitte Inspektor Takagi hier her.“

„Eh…“

„Hören Sie, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Ich weiß, dass Inspektor Takagi an dem Fall Sayaka Shibungi gearbeitet hat. Da es sich hier um das Haus von Sota Shibungi handelt und seine Leiche von Ihren Männern raus geschoben wurde, wird Inspektor Takagi sicher auch in diesem Fall ermitteln“, entgegnete Jodie.

„Ähm…das…es handelt sich nicht um Mord“, konterte der Polizist.

„Das weiß ich. Ich möchte trotzdem den Inspektor sprechen. Also was ist? Rufen Sie ihn jetzt? Oder soll ich ihn anrufen?“

Der Polizist räusperte sich. „Ich frage nach.“ Er nahm sein Funkgerät und hielt es sich vor dem Mund. „Inspektor? Hier sind zwei Herrschaften, die mit Ihnen reden möchte.“

„Sagen Sie ihnen, dass ich unterwegs bin. Lassen Sie sie aber nicht ins Haus.“

„Verstanden.“ Der Polizist sah die Agenten an. „Er ist unterwegs. Bitte warten Sie noch einen Moment.“

Jodie blickte zum Haus. Sie schluckte. Nun wurde es real. Sie machte einen Schritt nach hinten und erinnerte sich an die damalige Zeit. Es traf sie wie ein Schlag in die Magengegend. Sie war doch erst ein kleines Kind und durch Zufall der Flammenhölle entkommen. Im Vergleich zu dem Hause der Shibungis war ihr Elternhaus bis auf die Grundmauern herunter gebrannt. Erst später erfuhr sie, dass Brandbeschleuniger eingesetzt wurde. Es war alles zerstört. Die Zimmer, die Spielsachen, wichtige Unterlagen und natürlich die Körper ihrer Eltern. Mit einem Mal war alles ausgelöscht. Jodie atmete tief durch. Sie versuchte den Schmerz, den sie nun verspürte, beiseite zu schieben. Sie durfte sich nicht von der Vergangenheit ablenken lassen. Sie musste stark sein. Für die Gerechtigkeit.

„Takagi“, murmelte Akai und stieß Jodie leicht an.

„Hmm?“ Jodie sah sich um. Dann erblickte sie den Inspektor. „Inspektor Takagi, wie schön, dass Sie auch in diesem Fall unser Ansprechpartner sind“, sagte sie.

„Wussten Sie es?“

„Was meinen Sie?“ Jodie stellte sich dumm. „Da ich weiß, dass Sie den Fall von Sayaka bearbeitet haben, habe ich mir bereits gedacht, dass Sie auch hier tätig sind. Halten Sie einen Mord für wahrscheinlich?“

„Aufgrund der Tatsache, dass wir eine zweite Leiche gefunden haben, sieht es so aus.“

„Nicht ganz“, warf Akai ein. „Der zweite Mann ist einer unserer Agenten. Wir fanden es sinnvoll Sota Shibungi nicht aus den Augen zu lassen. Gerade weil seine Firma Insolvenz anmeldete und seine Frau ermordet wurde, bestand für uns ein Verdacht, dass auch er Opfer von Gewalt werden würde. Der Agent wollte das Opfer möglicherweise retten und wurde damit selber zum Opfer.“

„Oh. Ich verstehe. Geben Sie mir nachher bitte die Informationen über Ihren Kollegen.“

„Natürlich“, nickte Akai. „Wo haben Sie ihn gefunden?“

Takagi zog sein Notizbuch heraus. „Die erste Leiche wurde oben vor dem Arbeitszimmer gefunden. Ihr Agent könnte versucht haben die Tür zu öffnen. Sota Shibungi selbst wurde im Arbeitszimmer gefunden.“

„Wissen Sie auch, wo das Feuer anfing?“

„Soweit sind wir in unseren Untersuchungen nicht. Wegen der Ausbreitungslage des Feuers besteht der Verdacht, dass es im Arbeitszimmer anfing. Außerdem fanden wir dort einen feuerfesten Save und einen handgeschriebenen Abschiedsbrief. Sota Shibungi gab an, dass er nicht mehr ohne seine Frau leben kann und ihr deswegen folgt“, entgegnete Takagi.

„Also Selbstmord“, kam es von Akai.

Takagi nickte. „Es spricht nichts dagegen.“

„Was machen Sie mit der Leiche?“, wollte Jodie dann wissen.

„Wir bringen beide Leichen in die Gerichtsmedizin und lassen beide zur Sicherheit untersuchen.“

„Können wir dabei sein?“

„Eh…“, Takagi überlegte. „Normalerweise sind keine Zivilisten dabei.“

„Ach kommen Sie, Inspektor“, fing Jodie an. „So zivil sind wir ja nicht…“

Takagi grummelte. „Na schön…“

„Wann können wir mit den Ergebnissen rechnen?“, wollte Akai wissen.

„Nicht vor Morgen.“ Takagi sah zu Shu. „Morgen früh gegen 10 Uhr frühestens. Der Forensiker wird diesen Fall mit hoher Priorität behandeln. Dennoch dauert es einige Stunden bis alle Ergebnisse vorliegen.“

„Gut“, sagte Jodie. „Dann treffen wir uns am besten Morgen früh um 10 Uhr und gehen dann gemeinsam in die Gerichtsmedizin. Ich denke, damit können wir alle Leben, oder Inspektor?“

„Von mir aus…“, murmelte er.
 

***
 

Jodie und Shuichi gingen wieder zurück zum Wagen. Das Haus von innen durften sie nicht noch einmal begutachten. Die Einsturzgefahr an einigen Stellen war zu hoch. Die restlichen Räume mussten erst abgesichert werden. Aber sie hatten einen Durchbruch erzielt und konnten bei der Gerichtsmedizin vorbei schauen. Wenigstens etwas.

Shuichi beobachtete seine Umgebung, während Jodie mit schnellen Schritten vor ihm her ging. „Und was denkst du?“, wollte sie wissen.

„Es stinkt nach Mord. Vielleicht wurde Shibungi vom Feuer überrascht oder er hat irgendein Schlafmittel genommen. Die Ärzte haben ihn schon einmal ruhig gestellt. Wer weiß, vielleicht bekam er etwas verschrieben und wurde dann mit dem Feuer umgebracht. Oder sie brachten ihn vorher um und wollte es mit dem Feuer nach einem Unfall aussehen lassen“, erklärte er. „Aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Und wenn der Mediziner herausfindet, dass bei Shibungi keine Auffälligkeiten vorlagen, reicht mir das.“

„Heute kommen wir wohl nicht an der Stelle weiter.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Fälle, die sich wie im Schlaf lösen und binnen weniger Stunden gelöst werden können, existieren nur im Fernsehen. Richtige Fälle brauchen Tage, wenn nicht sogar Wochen um einen Durchbruch und einen Täter festzusetzen.“

Jodie nickte. „Aber es ist etwas an dem Fall, dass mich stört. Eine Komponente passt nicht zusammen. Aber ich weiß nicht was.“

„Mir geht’s genau so. Es gibt etwas, das wir übersehen.“ Er öffnete Jodie die Tür seines Wagens. „Wenn die Organisation dahinter steckt, müssen sie ihn so zum Schweigen gebracht haben. Es ist kein Hilferuf von ihm eingegangen. Und auch unser Agent hat keine komische Person gemeldet.“

„Vielleicht sollten wir in der Firma nachsehen?“

„Gut.“ Shuichi stieg nun auf der Fahrerseite an. Sobald Jodie einstieg und sich anschnallte, fuhr er los. Erneut parkte er seinen Wagen in einer Seitenstraße und ging die letzten Schritte zu Fuß. Über die Fenster im Erdgeschoss sah er in die einzelnen Büros rein. Keines war besetzt. Und in keinem fand er etwas, dass seine Aufmerksamkeit auf sich zu.

„Ich musste meinen Schlüssel leider abgeben“, sprach Jodie.

„Das macht nichts. James hat ihn nach machen lassen, damit wir im Notfall Zugang zum Gebäude haben.“ Shu holte diesen heraus. „Wir wissen, dass es Kameras in der Garage und am Eingang gibt. Wenn wir über den Lastenaufzug kommen, werden wir nicht aufgenommen.“ Shuichi ging hinten herum und trat dann in das Gebäude ein. Er wies Jodie an sich zu beeilen, da die Polizei jeden Moment kommen konnte.

„Bin ja schon da“, flüsterte sie und folgte ihm unauffällig in die einzelnen Büros. Auch von innen sah alles vollkommen normal aus.

Nach über 30 Minuten brachen die Beiden ab und gingen wieder nach draußen. „Nichts Verdächtiges“, sprach Shu.

„Dann können wir an dieser Stelle mal wieder nichts tun und müssen auf Morgen warten.“

„So sieht es aus“, nickte Akai. „Du darfst auch einen Plan vorschlagen, wenn du einen hast.“
 

***
 

Vermouth sah auf die Kurznachricht. Sie lachte. Und sie ließ Gin extra lange zappeln. Erwartete er überhaupt eine Antwort auf die Nachricht, ob sie etwas mit Sayakas Tod zu tun hatte? Sie konnte auch spielen und drei Nachrichten verfassen.

Ja.

Nein.

Vielleicht.

Damit würde sie ihn zur Weißglut bringen. Es war kein schlechter Plan.

Hatte das Organisationsmitglied wirklich geglaubt, sie hätte keinen Plan in der Hinterhand? Sie war niemand, der ohne Plan B und Plan C agierte. Das Leben war ihr immer noch etwas schuldig.

Vermouth löschte die Nachricht und schwenkte das Glas mit ihrem Cocktail. Sie spielte eine Rolle. Eine neue Person die nicht einmal Gin zu Gesicht bekam. Ein junger Mann, Mitte 30, dem die Welt noch offen stand.

„Du bist heute spät dran“, sprach sie mit männlicher Stimme.

Langsam setzte sich die Frau. „Ich…“, sie schluckte. „Tut mir leid. Ich konnte keinen Babysitter finden.“

„Tja. Deswegen sollte man keine Kinder in die Welt setzen.“

Sie lächelte gezwungen und drückte ihre Handtasche dicht an ihren Körper.

„Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?“, wollte Vermouth wissen.

„Ja, natürlich“, nickte sie. „Sota Shibungi ist im Feuer gestorben.“

Vermouth nahm eine Haarsträhne der Frau und spielte damit. „Sehr schön. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann“, sagte sie. „Brandstiftung steht dir gut.“

Sie schluckte. „Das war früher mal…aber jetzt…das war eine einmalige Sache.“

„Natürlich war es das.“ Das sagten sie immer. Und dann wurde aus einer einmaligen Sache eine zweimalige, dreimalige….

„Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe?“

„Mhm…so war der Deal.“

Sie lächelte erleichtert. „Danke“, wisperte sie und unterschrieb ihr Todesurteil.

28.12.

Gelangweilt tippte sie mit ihren langen Fingernägeln auf dem Tisch. Ihr langes, blondes Haar war mit einem Band zusammen gebunden und fiel über ihre Schulter. Sie blätterte in der aktuellen Tageszeitung herum und las einige Artikel. Sie waren weder atemberaubend noch berichteten sie über Sota Shibungi. Es hätte sie auch gewundert, wenn die Polizei seine Leiche so schnell freigab. Aber sollten sie nur machen.

Je mehr Gras über die Sache wuchs umso besser war es. Sie hatten nichts gegen sie in der Hand. Sie konnten nichts beweisen und niemanden mit dem Fall in Verbindung bringen. Es war ein Jammer, dass die Unschuld ihres Sündenbockes bewiesen war. Aber manchmal musste man sich mit der neuen Situation zufrieden geben, sich ihr anpassen und neue Unannehmlichkeiten vermeiden. Nun waren alle potentiellen Quellen vernichtet.

Obwohl sie ahnte, dass man der Organisation nichts nachweisen konnte, war es trotz allem die oberste Priorität seine Spuren zu verwischen. Und das hieß, dass jeder der eine Gefahr darstellte, weil er einbezogen wurde, eliminiert werden musste. Vermouth kannte es schon lange. Entweder man schwamm mit dem Strom oder man wurde vernichtet. Man durfte sich kein Gewissen erlauben, keine Schwäche zeigen. Egal was auch passierte, nach außen musste man stark wirken. Das war der Schlüssel zum Überleben.

Sie musste es am besten wissen. Sie überlebte schon so lange, war Jahre in der Organisation gefangen und musste sich um die ein oder andere Person kümmern. Früher, als sie den idealen des Bosses folgte, förmlich in seinen Bann gezogen wurde, konnte sie sich viel mehr mit ihren Handlungen identifizieren. Sie zeigten ihr, wie wichtig es war den Plänen der Organisation zu folgen und sie zu leben. Damals hatte sie ihm aus der Hand gefressen. Er konnte tun und lassen was er wollte- sogar mit ihr. Sie war ihm verfallen.

Was tat sie nicht alles? Sie überwand alle Skrupel. Sie tötete Menschen. Anfangs fiel es ihr schwer, aber dann… Sie gab all ihre Freundschaften auf, wurde teilweise paranoid und hielt so gut wie jeden für ihren Feind.

Je länger sie aber für die Organisation tätig war, umso mehr wusste sie. Sie kannte alle Mitglieder, lernte ihre Geheimnisse kennen und konnte sie perfekt imitieren. Damals noch war sie die Geheimwaffe des Bosses. Versagte ein Mitglied machte sie mit diesem kurzen Prozess. Manchmal sogar auf Kosten der Familie oder des eigenen Rufes. Es gab genug Mitglieder die Personen der Öffentlichkeit waren, sowohl in Amerika als auch in Japan. Der Boss war immer auf der Suche nach neuen Rekruten, im In- wie auch im Ausland.

Selbst Jahre später hatte sich an den Strukturen der Organisation nichts verändert. Sie waren älter geworden. Manche Mitglieder wurden durch andere Mitglieder ersetzt. Andere arbeiteten sich hoch und gehörten dem inneren Kreis an. Und was war mit ihr? Sie war nicht mehr seine Geheimwaffe. Sie war nur noch sein Liebling und durfte sich um alles kümmern, was die anderen Mitglieder nicht hinbekamen. Er benutzte sie nur noch.

Die Situation hatte sich grundlegend geändert. Früher hätte er ihr kein Haar gekrümmt. Jetzt hingegen zog er sie von Aufträgen ab, nahm ihr ihren Status weg und behandelte sie wie einen ganz normalen Mensch. Dabei gab sie ihm ihr Leben. Und so dankte er es ihr.

Aber er würde sie und nimmer eliminieren können. Sie hatte genügend Informationen in der Hinterhand, kannte seine Geheimnisse und wusste auch nach ihrem Tod für einen großen Showdown zu sorgen.

„Ihr Kaffee.“ Er stellte die Tasse sowie eine Schale Milch und Zucker auf den Tisch.

Vermouth sah nach oben. Sie musterte ihren Kellner. „Wird dir dieser Job nicht langweilig?“, wollte sie wissen.

„Nicht im geringsten“, antwortete Bourbon. Er blickte sich im Café um. Bis auf Vermouth waren noch drei andere Personen da. Alle waren beschäftigt. Einer las seine Zeitung und trank einen Tee, die anderen beiden Personen aßen ein dekadentes Frühstück. Bourbon stellte das Tablett auf den Tisch und setzte sich zu ihr.

„Wie du meinst.“ Vermouth schlug die Zeitung zu.

„Willst du mir gleich sagen, warum du hier bist oder spielen wir wieder das übliche Spiel?“

„Du kannst ein Spaßverderber sein“, gab sie von sich. „Was weißt du über die Familie Shibungi?“

„Shibungi“, wiederholte Bourbon ruhig. „Die Frau war vor einigen Tagen in der Zeitung. Entführung und nun Mord. Außerdem war das FBI involviert.“

Sie lächelte. „Du bist gut informiert.“

„Ich lese Zeitung. Es war nicht schwer eins und eins zusammen zu zählen. Aber nun ist Starling ja wieder auf freiem Fuß.“

„Leider.“ Vermouth nahm die Tasse mit dem Kaffee und goss sich Milch rein. „Die Frau hat für uns gearbeitet.“

„Ach wirklich?“

„Tu nicht so. Wenn du weißt, dass das FBI involviert war, hast du auch gewusst, dass einer unserer Leute involviert ist.“ Sie rührte den Kaffee mit ihrer Löffel um. „Du musst dir keine Sorgen machen. Sie ist keine Gefahr mehr für uns. Sie wusste sowieso nichts. Die Gute war Wodka unterstellt.“

„Verstehe“, gab er von sich. „Und warum erzählst du mir das?“

„Das FBI erhielt Beweise die Starlings Unschuld bewiesen.“

„Na und?“

„Es gibt eine Ratte. Jemanden, der dem FBI die Information gab. Ich muss dir sicher nicht sagen, was das jetzt für jeden einzelnen bedeutet.“

Bourbon verschränkte die Arme. „Wir werden also alle beobachtet und beobachten selber. Von mir aus. Ich habe nichts zu verbergen“, entgegnete er. „Was ist mit Kir?“

„Kir hat ein sehr gutes Alibi. Zum Zeitpunkt als die Informationen an das FBI gingen, war Kir mit einigen unserer Leute in Hokkaido. Sie kann es nicht gewesen sein.“

„Verstehe“, sagte er. „Dann haben wir wohl noch jemanden, der nicht ganz ehrlich zu uns ist.“

„Und du bist dir sicher, dass du nicht derjenige bist?“

„Soll das eine Anspielung sein?“, wollte er wissen. „Ihr könnt mich ja weiter beschatten.“
 

***
 

Jodie fuhr am frühen Morgen direkt zur Pathologie. Auf dem Weg dorthin startete sie in ihrem Auto die Freisprechanlage und wählte die Nummer von James. „Hallo James“, fing sie an.

„Guten Morgen, Jodie“, antwortete er. „Hast du bereits Neuigkeiten?“

„Nicht wirklich“, antwortete sie. „Mich rief Inspektor Takagi heute Morgen an. Der Gerichtsmediziner hat gestern Abend noch die Obduktion durchgeführt und eine Nachtschicht eingelegt um alle Ergebnisse zu erhalten. Der Fall ist nun in der Prioritätenliste der Polizei sehr weit nach oben gerutscht. Es war gut, dass Shu gestern noch mit Takagi ein ernstes Wörtchen redete und ihn auf die Fährte eines möglichen Mordes brachte. Scheinbar wurde wirklich etwas gefunden. Der Inspektor wollte mir am Telefon nicht mehr sagen, da er eigentlich nicht mit uns über den Fall reden kann. Er macht aber eine Ausnahme, wenn wir im Gegensatz dazu mit niemanden reden. Das ist für uns ein sehr einfacher Deal. Ich hab Shu bereits Bescheid gegeben. Er wird vor der Pathologie auf mich warten. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich bei dir. Hast du schon in den Staaten wegen Agent Combs Bescheid gegeben?“

„Von meiner Seite aus haben Akai und du volle Befugnis. Ihr werdet vor Ort sein und das weitere Vorgehen entscheiden. Ich vertraue auf euer Gespür“, begann er. „Ich werde unsere Vorgesetzten in den Staaten erst über Combs informieren, wenn wir Fremdeinwirkung durch Gift, Kugel oder eine körperliche Auseinandersetzung ausschließen können.“

„Verstanden. Bis später.“ Jodie beendete das Gespräch. Nach einer Weile parkte sie ihren Wagen in der Nähe der Pathologie und ging auf den Eingang zu. Shuichi wartete bereits. „Morgen.“

„Morgen“, antwortete er. Shuichi musterte Jodie. „Takagi ist noch nicht da. Hat er genaue Angaben über das gemacht, was wir vorfinden werden?“

Jodie sah auf ihre Armbanduhr. Noch hatte der Inspektor zehn Minuten. „Nur, dass es neue Erkenntnisse gibt und er uns erlaubt gleich dabei zu sein.“

Shuichis Blick folgte ihrem Handgelenk. „Neu?“

„Hmm?“ Jodie sah auch auf ihre Hand. „Ach das Armband. Ja irgendwie schon. Camel hat es mir zu Weihnachten geschenkt.“

„Hübsch…“

Jodie nickte. „Finde ich auch. Aber es ist nichts im Vergleich zu der Kette von dir.“

Takagi kam gerade aus dem Gebäude. „Guten Morgen. Da sind Sie ja schon.“

„Guten Morgen, Inspektor“, kam es von Jodie. „Wie ich sehe, hatten Sie bereits die Möglichkeit mit dem Gerichtsmediziner zu sprechen. Können Sie uns sagen, was uns in etwa erwarten wird?“

„Wie mans nimmt. Ich habe kurz mit ihm über die Ergebnisse gesprochen. Die letzten Tests werden noch ausgewertet. Aber wir können trotzdem rein gehen.“

Jodie nickte und folgte dem Inspektor. „Haben sich unsere Befürchtungen bewahrheitet?“

„Wir wissen es nicht“, gestand Takagi. „Dafür sind die Ergebnisse zu zweideutig. Eines können wir aber mit Gewissheit sagen. Sota Shibungi starb nicht durch das Feuer. Alles Weitere werden wir gleich mit Dr. Shimamoto besprechen.“

Jodie folgte dem Inspektor durch die große Stahltür. Sie hasste den Geruch der nun herausströmte. „Okay, bringen wir es hinter uns“, murmelte sie. Obwohl Jodie bereits in den Staaten bei einigen Autopsien dabei war – sie schuldete es den Opfern – hatte sie sich nie an den Geruch gewöhnt. Jodie atmete tief durch und sah sich im Raum um.

„Dr. Shimamoto“, fing Takagi an und ging zu dem Pathologen. „Wie bereits angekündigt, haben wir heute noch zwei Besucher bei der Besprechung. Das sind Frau Starling und Herr Akai. Beide arbeiten für das FBI und haben uns bei dem Fall der Shibungis unterstützt“, fügte er an.

„Guten Morgen“, entgegnete der Gerichtsmediziner und deckte die Leiche mit einem weißen Tuch ab. „Obwohl uns seine Identität bereits bekannt war, haben wir die Fingerabdrücke überprüft. Sie sind nicht registriert, Vorstrafen liegen also keine vor.“

„Was können Sie uns zur Todesursache sagen?“, wollte Akai wissen.

„Bei meinen Untersuchungen stellte ich fest, dass der Tote nur eine geringe Menge an Rauch in seinen Lungen aufwies. Die weiteren Analysen bestätigten, dass der Tod eintrat, bevor das Feuer ausbrach. Am besten ist es vergleichbar mit dem Mann, der ebenfalls gefunden wurde. Herr Combs weist eine hohe Menge an Rauch in den Lungen an. Die Folgen der Rauchvergiftung führten zu seinem Tod.“

„Verstehe. Und wenn das Feuer nicht Schuld am Tod von Herrn Shibungi war, was war es dann?“

„Ich habe in seinem Blut Barbiturate nachgewiesen.“

„Oh“, kam es von Jodie.

„Barbiturate?“ wollte Takagi erstaunt wissen.

„Ja. Barbiturate sind Derivate der Barbitursäure. Man kann Barbiturate ganz gut über den Harnstoff herstellen. Aber das war eher eine nebensächliche Information. Früher wurden sie ganz häufig verwendet, da sie eine schlafanstoßende Wirkung aufweisen. Allerdings ist die Verwendung von Barbituraten mittlerweile mehr oder weniger verboten. Barbiturate fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Aber man kann sie immer noch zu sich nehmen, beispielsweise in Form einer Narkose“, erklärte Shimamoto.

„Dann ist er also eingeschlafen ehe das Feuer ausbrach?“

„Barbiturate führen nicht immer zum Einschlafen. Da sie eine sehr geringe therapeutische Breite besitzen, kann es immer dazu kommen, dass es viel zu hoch dosiert verabreicht wird. Dadurch kann es unter anderem zur Atemlähmung und infolge dessen zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns kommen. Die Folge ist dann der Tod.“

„Was meinen Sie mit der therapeutischen Breite?“, wollte Takagi wissen.

„Oh, Verzeihung. Als therapeutische Breite wird der Bereich bezeichnet bei der ein Arzneimittel keine Toxizität aufweist. Je größer diese Breite ist, desto hochdosierter kann man das Mittel einnehmen. Ist die therapeutische Breite aber sehr gering, kann es schon vorkommen, dass ein einzelner Tropfen eines Arzneimittels zu einer Vergiftung führt.“

„War die Spurensicherung schon im Haus der Shibungis?“, wollte Akai von Takagi wissen.

Der Inspektor nickte. „Sie haben aber nichts gefunden, was nach einem möglichen Zünder aussieht. Gegen die Theorie eines Mordes spricht der Abschiedsbrief im feuerfesten Save.“

„Auch wenn Barbiturate zum Einsatz kamen, darf nicht vergessen werden, dass es auch viele gibt, die langsam wirken. Das Problem dabei ist aber auch, dass ihre Wirkungsweise von anderen Faktoren abhängig ist. Hier wären zu nennen: die menschliche Konstitution.“ Der Pathologe räusperte sich. „Die genaue Zusammensetzung kann ich erst später bestimmen. Es wird wohl auch einige Zeit in Anspruch nehmen. Sein Blut verrät mir allerdings, dass die Wirkung schnell einsetzte.“

„Wo brach das Feuer zuerst aus?“, wollte Akai dann wissen.

„Im Arbeitszimmer“, antwortete Takagi. „Wenn wir Fremdeinwirkung ausschließen, wäre es möglich, dass er den Abschiedsbrief schrieb und ihn verwahrte. Danach nahm er die tödliche Menge Barbiturate ein und kämpfte mit seinem Leben. Infolge der Krämpfe stieß er sein Wasserglas um. Das Wasser lief über das technische Equipment. Ein Schwellbrand setzte ein. Durch die Papiere vor Ort brach ein größeres Feuer aus. Ihr Kollege bemerkte den Brand und wollte helfen, kam aber nicht rechtzeitig. Gegenteilige Beweise sind uns bisher nicht in die Finger gekommen. Sollten wir keine finden, wird der Fall als Selbstmord abgeschlossen. Es tut mir leid.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Inspektor“, entgegnete Jodie ruhig. „Können wir eine Kopie der Untersuchungsergebnisse haben?“

„Ungern“, murmelte Takagi leise.

„Aber eine kleine Chance ist da? Wir müssen doch unsere Vorgesetzten in den Staaten informieren. Für die Familie unseres Kollegen ist es wichtig, dass sein Tod nicht umsonst war und dass uns alle Erkenntnisse übermittelt werden.“

„Ich rede mit Inspektor Megure.“
 

***
 

Nachdenklich verließ Jodie das Gebäude. Sie seufzte und sah ihren Kollegen an. „Und? Was denkst du?“, wollte sie wissen.

Shuichi zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche heraus und zündete sie an. „Nach den Indizien sieht es nach einem Selbstmord aus. Mein Gefühl sagt mir aber, dass es Mord war. Selbst wenn er ohne seine Frau nicht mehr leben konnte, wird er bestimmt nicht eine solche Entscheidung getroffen haben. Er hat Familie. Zwei liebende Eltern. Er würde ihnen schreckliches damit antun. Aber nun müssen wir mit allen Entscheidungen leben…unseren Kollegen werden diese nicht wieder lebendig machen“, antwortete Shuichi. „Ich kann Menschen, die Selbstmord begehen, weil der eigene Partner sie verlassen hat, kein Mitleid entgegen bringen.“

„Du redest jetzt aber nur von denen die damit drohen, wenn sie verlassen wurden oder?“

„Auch. Aber wenn man sich umbringt, weil man seinen Partner verloren hat, ist das genau so schwach…“

„Schwach…“, wiederholte Jodie leise. „Er hat sie geliebt. Er hat sie möglicherweise so sehr geliebt, dass er nicht mehr leben konnte. Er sah den Tod als einzigen Ausweg. Im Tod zusammen…“

Shuichi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kann ich es erst dann verstehen, wenn es die große Liebe war.“

Jodie sah ihn überrascht an. Ihr Herz begann zu pochen. Dann war Akemi nicht seine große Liebe. Ihr Tod brachte ihn nicht um. Und er konnte sich wieder in jemanden verlieben. Vielleicht sogar wieder in sie.

„Bist du noch da?“, er wedelte mit der Handfläche vor Jodies Gesicht.

„Hmm? Was? Ja…ich hör dich…“, sagte sie leise. „Gehen wir jetzt eher davon aus, dass es Mord war? Aber warum? Wollte die Organisation auf Nummer sicher gehen und ein Risiko ausschalten?“

„So wird es wohl gewesen sein. Sayaka besitzt keine Familie mehr. Sota hat seine Eltern. In den letzten Tagen wurde er aber von Niemanden besucht. Sehen wir uns die Fakten an: Sayaka heiratet Sota. Sota hat aber eine Klausel im Testament. Deswegen muss Sayaka mit ihm verheiratet bleiben. In der Zwischenzeit zwackt sie kleinere Geldbeträge vom Konto der Firma ab. Es fällt keinem auf. Dann wird sie von der Organisation immer mehr unter Druck gesetzt und taucht unter. Als sie wieder zurück in das Haus kehrt, wartet ein Scharfschütze bereits auf sie. Sayaka hat keine Chance und wird erschossen. Die Organisation weiß nicht, was sie ihrem Mann erzählte. Ihr Mann trauert. Er bekommt ein Schlafmittel und wird von uns weiter beobachtet. Sota Shibungi stirbt nach der Einnahme von Barbituraten. Und dann bricht das Feuer aus. War es wirklich nur ein Zufall oder geplant um alle Spuren zu verwischen?“, fasste Akai die Fakten zusammen.

„Er könnte aber auch unseren Agenten bemerkt haben und wollte ihn mit dem Feuer ablenken. Soweit wir wissen, hat er eine Klausel im Testament bei der im Falle eines Verbrechens keiner erbt. Vielleicht wusste er, dass man Barbiturate mit einem Mord in Verbindung bringen würde und hat deswegen das Feuer gelegt.“

„Oder er hatte Angst, dass die Barbiturate viel zu langsam wirkten. Das Feuer war dann Plan B. Vielleicht merkte er auch nach Einnahme der Barbiturate, dass er lieber Leben möchte und wollte sich selbst retten. Dabei wurde das Feuer gelegt.“ Akai seufzte. „Es gibt viel zu viele Möglichkeiten. Und egal was wir tun werden, wir können die Organisation mal wieder nicht eindeutig damit in Verbindung bringen.“

Sie nickte. „Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren“, sagte sie. „Dann sind auch wir gezwungen den Fall abzuschließen.“

Shuichi warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Wir finden schon noch eine Spur.“

„Du siehst das ja ganz schön positiv.“

„Es bringt nichts sich zu Ärgern.“ Sein Handy begann zu Klingeln. Er holte es aus der Tasche und ging ran. „Ja?“

Shuichi wartete einen Moment. „Was?...Hmm…verstehe…ja…machen wir…“, murmelte er und steckte das Handy wieder weg.

„Was ist?“

„James hat ein potentielles Mitglied der Organisation gefunden. Wir sollten uns in der Wohnung umsehen.“

„Wer ist es?“, wollte Jodie dann wissen.

„Aiko Kawasaki.“

„Was? Nein…“ Jodie schüttelte den Kopf. „James hat doch alle Mitarbeiter überprüft. Sie hat keine Verbindung zur Organisation…“

„James hat vorhin einen anonymen Hinweis bekommen. Wir fahren zu ihr und treffen uns dort“, entgegnete er und gab ihr die Adresse.
 

Shuichi fuhr wie ein geisteskranker. Schnell und gefährlich. Jodie hatte Probleme gehabt seiner Geschwindigkeit zu folgen. So war es auch kein Wunder, dass sie knapp zehn Minuten nach ihm an der Wohnung ankam. Sie stellte ihren Wagen ab und lief zur Haustür an der Akai bereits stand. „Und?“

„Sie macht nicht auf.“ Shuichi dachte nach. „Die Firma ist pleite. Sie wird also kaum bei der Arbeit sein. Entweder sie ist unterwegs oder sie hat sich drinnen verschanzt.“

„Was sagt dir dein Gefühl?“

Shuichi sah sie an. „Das wir rein sollten.“ Er kniete sich hin und musterte das Schloss. „Hast du eine Haarnadel?“

„Äh…bestimmt.“ Jodie kramte in ihrer Handtasche. „Ach da ist eine.“ Sie reichte sie ihm und sah gespannt zu, als sich Akai am Schloss zu schaffen machte. Wenige Minuten später sprang es auf.

Shuichi öffnete die Tür. Er zog seine Waffe und machte einen Schritt nach vorne. „FBI“, rief er. Nicht, dass er sich dadurch Respekt verschaffen würde, aber es war gut, wenn die Menschen wussten, mit wem sie rechnen konnten.

Shuichi sah sich in den Räumlichkeiten um. Dann sah er nach hinten zu Jodie. „Ruf die Polizei.“

„Was?“

„Sie ist tot.“ Shuichi sah auf Aiko Kawasaki. Sie saß auf ihrem Sofa und rührte sich nicht. In der Hand hielt sie eine Pistole mit Schalldämpfer. Shuichi konnte allerdings kaum Blut erkennen. „Möglicherweise Selbstmord. Auf dem Tisch ist ein Abschiedsbrief.“ Shuichi beugte sich über diesen. „Sie schreibt, dass ihr alles leid tut und dass auch sie Geld veruntreut hat. Als sie von der Insolvenz hörte, konnte sie mit der Schuld über die Arbeitslosigkeit der Mitarbeiter nicht mehr leben.“

Jodie schluckte. „Es war kein Selbstmord, nicht wahr?“

„Es war Mord. Die Organisation hat zwei Personen auf Shibungi angesetzt. Und nun haben sie alle Schachspieler aus dem Spiel genommen.“

Jodie seufzte. „Dann ist dieser Fall damit wirklich erledigt.“

29.12.

Noch immer konnte Jodie sie riechen. Die große Verschwörung. Und Sayaka Shibungi war das Zentrum von allem. Jetzt war auch noch Aiko Kawasaki als weiteres Mitglied der Organisation aufgetaucht. Als Empfangsdame war sie seit mehreren Jahren für Medipharm tätig und hatte in alle wichtigen organisatorischen Belange Einsicht. Sie wurde bereits zweimal vom FBI durch geleuchtet. Einen Zusammenhang zwischen ihr und der Organisation sahen sie allerdings nicht. Es war nun ein Fehler, der sie teuer zu stehen kam.

Ein weiteres Mitglied in der Firma war eigentlich gar nicht so unwahrscheinlich. Wären die Anzeichen da gewesen, hätten sie tiefer gesucht und sich nicht von Kleinigkeiten aufhalten lassen. Hätten sie Aiko mehr Aufmerksamkeit geschenkt – als sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wann Jodie die Firma verließ – hätten sie sie möglicherweise die Organisation auf frischer Tat ertappt.

Jodie selbst war sich eigentlich sicher gewesen, dass Aiko die genaue Uhrzeit kannte. Jetzt wo es viel zu spät war, erinnerte sie sich auch wieder. Sie fragte am Empfang nach den Shibungis. Da Aiko auf dem Kalender nachsah, musste sie die Uhrzeit kennen. Dennoch sagte sie bei der Vernehmung etwas anderes aus.

Jodie konnte sich selbst beißen. Warum hatte sie auch nicht viel eher daran gedacht? Warum musste sie diesen Fehler machen? Und was noch viel schlimmer war: Warum kam nicht einmal das FBI darauf. Sie wurden alle an der Nase herumgeführt.

Jodie saß im Konferenzraum. Sie stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und massierte sich die Schläfen. Das letzte Mal das sie in diesem Raum war, war als sie sich zusammen mit dem Bekannten von James auf ihre neue Stelle vorbereitete. Obwohl es erst einige Wochen her war, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Das Wissen und die Informationen die sie damals in sich aufgesogen hatte, waren in die hinterste Ecke ihres Kopfes gerückt. Es war einfach nicht mehr wichtig.

Jodie erinnerte sich wieder an den Vortag. Sobald Inspektor Takagi das Wohnhaus von Aiko erreicht hatte, erzählte sie ihm von dem Fund. Details wie die, von Shu aufgebrochene Tür, ließ sie dabei weg. Stattdessen stand die Tür die ganze Zeit über offen und sie seien aus Sorge bereits rein gegangen. Nichts desto trotz, blieb Jodie sehr verhalten. Die Gefahr erneut als Täterin in den Fokus der Ermittlungen zu geraten, war wieder gegeben. Trotzdem hatte sich das Bild der Leiche in ihren Kopf eingeprägt: Aiko saß auf ihrem Sofa. In der rechten Hand hielt sie die Waffe. In der Brust sah man ein Einschussloch. Es gab kein Blut. Und auf dem Tisch lag ein Abschiedsbrief.

„Mord“, wisperte Jodie leise.

„Sieht so aus“, kam es von Akai. „Mach dir keine Sorgen. Wir finden den Täter“, entgegnete er.

Jodie glaubte ihm nicht wirklich. Wenn es wirklich die Organisation war, würden sie nie einen Täter finden, außer dieser wurde ihnen auf dem Präsentierteller vor das Büro gestellt. Wie in Trance stand Jodie einfach nur da.

„Wir werden Frau Kawasaki in der Priorität ganz nach oben setzen.“ Takagi wandte sich an die beiden FBI Agenten. „Es muss einen Zusammenhang zwischen dem Tod der Shibungis und dem Tod der Empfangsdame geben.“

„Laut dem Abschiedsbrief hat Frau Kawasaki ebenfalls Geld unterschlagen“, sagte Jodie. „Entweder die beiden Frauen haben zusammen gearbeitet oder sie wussten nichts von der Nebenbeschäftigung der anderen.“

„Der zweite Aspekt würde zumindest erklären, warum sich Kawasaki schuldig fühlte. Wenn sie in der ganzen Zeit immer wieder nur kleine Geldbeträge abgezwackt hat, kann dies noch gar nicht zur Insolvenz führen. Durch die parallele Handlung wurde in der Firma ein erheblicher Schaden angerichtet“, fügte Akai an.

„Es bleibt immer noch die Frage offen wer Frau Shibungi erschossen hat. Und wie die Leiche von Frau Kawasaki aussieht, scheint es auch ein Verbrechen gewesen zu sein. Es gibt kein Blut. Aber warum?“

„Vielleicht möchte jemand, dass Sie einfach weiter ermitteln?“

„Das ist Ihr Ernst? Sie glauben, dass mir jemand absichtlich Beweise hinterlassen hat?“, wollte der Inspektor wissen. „Wir übersehen etwas…“

„Dann sollten Sie schnell herausfinden, was es ist.“

Takagi sah Akai überrascht an. „Sie wollen mir nicht Ihre Hilfe anbieten? Und Sie wollen dieses Mal auch nicht selber ermitteln?“

„Wer sagt, dass ich das nicht möchte?“, antwortete Akai. „Allerdings erkenne ich einen aussichtslosen Fall, wenn er vor mir liegt.“

„Shu!“

Der Angesprochene sah zu Jodie. „Komm, wir gehen. Es gibt für uns nichts mehr, was wir tun können.“ Er zog Jodie leicht am Arm mit sich, blieb dann aber am Türrahmen stehen. Er blickte wieder zu Takagi.“ Tun Sie uns doch bitte einen Gefallen und halten uns bei dem Fall auf dem Laufenden. Mich persönlich interessiert die genaue Todesursache.“

„Ich tu, was ich machen kann.“

Jodie überlegte einen Moment. „Schicken Sie die Dokumente am besten an James Black. Dann erhalten wir sie ebenfalls.“

Mit einem Mal wurde der Fall noch komplizierter als er eh schon war. Immer mehr Mitarbeiter rückten in den Fokus der Ermittlungen und mehr Fakten kamen ans Tageslicht. Jodie seufzte und bemerkte erst jetzt die Schokoladenmuffins die auf dem Tisch standen.

„Ach egal“, sagte sie zu sich selbst und griff herzhaft zu. Als Camel in den Raum kam, hatte sie den halben Muffin schon im Mund.

„Schmeckt er?“

Jodie nickte. „Und wie. Super lecker. Hat James die gebacken?“, wollte die Agentin wissen,

„Ähm…nein…“, murmelte Camel und nahm Platz. Er wirkte eindeutig verlegen.

„Du hast sie gebacken?“

Er kratzte sich an der Wange. „Nur wenn sie dir auch wirklich schmecken. Ansonsten war ich das nicht.“

„Jodie musste lachen. „Sie sind wirklich gut. Ich wusste gar nicht, dass du backen kannst.“

„Ach das…naja so gut kann ich das auch nicht. Ich hab einfach ein Rezept ausprobiert und dachte, ich bring uns etwas für die Konferenz mit.“

„Verstehe“, entgegnete sie. Wieder hatte sie etwas Neues an ihrem Kollegen festgestellt. Etwas, das ihr vorher noch gar nicht so bewusst geworden war. Camel und Backen hatte sie sich bisher nicht einmal im Traum vorgestellt. Es war wie…Shu und kochen.

Sie schluckte. Da war sie wieder. Die Parallele zwischen den beiden Agenten. Jodie wusste nicht einmal warum sie die beiden Männer miteinander verglich. Sie waren zwei vollkommen verschiedene Persönlichkeiten, handelten anders und sahen sich nicht einmal ähnlich. Ihr Unterbewusstsein war allerdings schon längst in Fahrt.

„Du trägst ja gar nicht die Kette“, bemerkte Camel.

Instinktiv fuhr sich Jodie an den Hals. „Ach das…ja…wie gesagt, da sie von meinem Vater ist, möchte ich sie nicht erneut verlieren. Das erste Mal war schon schlimm genug. Deswegen trage ich sie nur noch zu besonderen Anlässen.“

„Ist wohl auch wirklich besser so“, sagte Camel. „Weißt du, warum wir hierher gerufen wurden?“, wollte er dann wissen.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand sie. „Aber ich ahne es.“

Als die Tür aufging, traten James und Shu ein. Shuichi setzte sich sofort auf einen der freien Plätze. James hingegen stellte sich an die weiße Schreibtafel und sah zu seinen drei Mitarbeitern. „Wir haben den Fall Sayaka Shibungi und Medipharm nun offiziell abschließen müssen“, sagte er.

„Was? Aber warum?“, wollte Jodie sogleich wissen.

„Dazu komme ich gleich.“ James nahm einen schwarzen Stift und schrieb Medipharm ganz oben auf die Tafel. „Die Firma wurde von Sota Shibungi geleitet.“ James malte einen Pfeil nach unten auf die Tafel und befestigte anschließend das Bild von Sota mit einem Magneten auf diesem. „Sota Shibungi heiratete Sayaka Mikage.“

Wieder malte er einen Pfeil der von Sota ausging und hing das Bild von Sayaka daneben. „Sayaka ist als Assistentin der Geschäftsführung für Medipharm tätig gewesen. Weiterhin arbeitete Sayaka für die Organisation und war dafür zuständig das Geld zu beschaffen. Unser Primärziel war es diese Geldquelle auszuschalten und so die Organisation hervorzulocken. Akai?“

Der Agent nickte. „Sayaka wurde von der Organisation unter massiven Druck gesetzt. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage für die Hintermänner zu arbeiten. Ihr Entschluss wurde aufgrund ihrer Gefühle für Sota Shibungi bekräftigt. Die Organisation ließ nicht locker. Sayaka fühlte sich zunehmend bedroht und sah hinter jeder Person einen potentiellen Feind. Da wir das zu dem damaligen Zeitpunkt nicht wussten, schleusten wir Jodie in das Unternehmen ein. Sayaka hielt sie für ein Mitglied der Organisation und wollte dieser zeigen, dass sie es nicht mit sich machen lässt. Sie überwies weiterhin die gewünschten Summen an die Organisation, tüftelte aber im Geheimen einen eigenen Plan aus. Meiner Information zur Folge nahm sie sich an einem Abend genügend Blut ab um ein Verbrechen zu inszenieren. Sie wollte Jodie als Sündenbock darstellten. Deswegen inszenierte sie einen Überfall zu Hause und verschwand für einige Tage. Als die Medien über den Fall berichteten, begab sie sich zur Firma und traf dort auf Bourbon. Bourbon gab sich ihr als Freund zu erkennen und klärte sie über Jodie auf. Nachdem Sayaka schließlich in ihr Haus zurückkehrte, wurde sie von uns sowie von einem Scharfschützen – wohl von der Organisation angesetzt – entdeckt. Der Scharfschütze tötete sie“, fasste Akai die Geschehnisse zusammen.

„Danke“, nickte James. „Aufgrund des fehlenden Geldes musste Shibungi Insolvenz anmelden. Wir haben uns natürlich die ganze Zeit gefragt, wie das restliche Geld verschwinden konnte, da Sayaka unmöglich etwas abgehoben haben konnte.“ James malte einen weiteren Pfeil auf die Tafel. „Sota Shibungi starb infolge einer Vergiftung mit Barbituraten. Es ist nicht bekannt, ob das anschließende Feuer absichtlich oder zufällig ausbrach. Wir können nur spekulieren, dass es sich auch hierbei um Mord handelt.“ James räusperte sich und trank ein Schluck Wasser.

„Gestern Abend wurde die Leiche von Aiko Kawasaki in ihrer Wohnung gefunden.“ James befestigte das Bild der Empfangsdame an der Tafel. „Kawasaki ist bereits seit einigen Jahren für die Firma tätig. Wir haben sie zweimal durchleuchtet. Beide Male konnten wir keine Verbindung zwischen ihr und der Organisation finden. Mittlerweile wissen wir auch, dass sie als Empfangsdame keinen Zugang zu den Konten hat, aber sie besitzt die nötigen Zugriffsrechte für den Kalender des Geschäftsführers. Die Möglichkeit besteht, dass sie sich irgendwann die Passwärter für die Konten beschafft hat. Dadurch war es ihr möglich parallel zu Sayaka Geld abzuzweigen. Kawasaki hatte außerdem den Vorteil, dass sie meistens sehr früh im Büro war – dazu alleine – und auch abends mal länger blieb um die restlichen Aufgaben zu erledigen. Es blieb ihr genug Zeit um ihre Spuren zu verwischen. Nachdem wir nun wussten, wonach wir zu suchen haben, habe ich unseren IT-Spezialisten auf die Konten angesetzt. Wir konnten die Spur des Geldes nur bis zu einem bestimmten Punkt zurück verfolgen. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass wir den Empfänger nicht ausfindig machen konnten. Es handelte sich dabei um mehrere Unterfirmen. Allerdings nutzte Kawasaki ihr oder das Wissen der Organisation. Sämtliche Abbuchungen wurden entweder über den Account oder den Computer von Sayaka Shibungi getätigt.“

„Sie wollte es Sayaka in die Schuhe schieben?“, fragte Camel nach.

„Das ist der Gedanke, den ich auch hatte. Aber warum wollte sie ein anderes Organisationsmitglied als Sündenbock darstellen?“

„Wenn sie es nicht wusste, ist es nicht verwunderlich.“

James nickte. „Die letzte Abbuchung fand drei Stunden vor Sayakas Tod statt.“

„Also mitten in der Nacht“, murmelte Jodie. „Wurde jemand bei Medipharm gesichtet?“

„Das muss es gar nicht. Die Technik ist heutzutage sehr weit. Es ist möglich, dass man von zu Hause über einen Client - genannt VPN – die IP-Adresse eines Unternehmens verwenden kann. Dann wird nicht ihr Netzwerk erkannt sondern das der Firma. Mit weiteren Programmen wird es ein Kinderspiel gewesen sein.“

„Aber was hat es ihr gebracht? Rein gar nichts. Sie ist nun auch tot. Und wir können sie nicht mehr befragen“, sagte Jodie. Sie blickte zu Shu. „Kann uns Bourbon helfen?“

„Nein. Er hat uns die Beweise für deine Unschuld mit Absicht zukommen lassen, damit in der Organisation ein wenig Aufruhr herrscht und sie einen Spion suchen. So wie ich die Sache einschätze, werden alle möglichen Mitglieder beobachtet und beobachten sich gegenseitig. Bis das nicht geklärt ist, werden wir weder ihn noch Kir kontaktieren.“

„Okay.“ Jodie wandte sich wieder zu James. „Aiko hatte ein Loch in der Brust, aber es floss kein Blut. Konnte der Gerichtsmediziner das bereits klären?“

„Ja.“ James holte den Bericht hervor. „Der Schuss geschah post mortem. Also lange nach dem Tod. Bisher kann die Todesursache aber auch nicht eindeutig geklärt werden. Es gibt Vermutungen. Aiko Kawasaki war Diabetikerin. In ihrem Blut wurde eine hohe Konzentration an Insulin gefunden – gestern Abend. Heute wurde erneut eine Untersuchung gestartet. Der Insulinpegel war reduziert.“

„Und was soll uns das sagen?“, fragte Camel nach.

„Insulin in einer sehr hohen Dosis ist tödlich. Der Mediziner schließt den Tod durch eine Überdosis nicht aus. Problematisch ist nur, dass Insulin als Todesursache nicht nachgewiesen werden kann. Und nicht zu vergessen, dass der Schuss nicht ins Bild passt.“

„Dann überlegen wir mal, was passiert sein kann.“ Akai dachte nach. „Sie hat sich gerade ihre Spritze gesetzt. Da keine Kampfspuren vorhanden waren, muss sie ihrem Mörder die Tür geöffnet haben. Sie kannte ihn und er zwang sie zu dem Abschiedsbrief. Dann musste sie sich weiteres Insulin spritzen und starb. Der Mörder könnte geschossen haben um sicher zu gehen, dass sie tot ist.“

„Und ließ die Waffe dort?“

James sah die Gruppe an. „Es wurde nachgewiesen, dass mit der Waffe geschossen wurde. Kawasaki hatte Schmauchspuren an der Hand. Außerdem wurde die Kugel in der Brust des Opfers mit den Kugeln in der Waffe verglichen. Sie passen überein. Der Täter wird ihr die Waffe in die Hand gedrückt und dann geschossen haben.“

„Gibt es Spuren an der Waffe?“, wollte Jodie wissen.

„Nein. Die Seriennummer wurde abgefeilt.“

„Das wäre auch zu schön gewesen.“ Jodie seufzte.

„Die Polizei hat keinen Verdächtigen“, kam es von James. „Da die Sache mittlerweile so kompliziert ist, weiß man nicht, wer Schutz braucht und wer nicht.“

„Wie geht die Polizei mit dem Fall um?“

„Sie haben keine andere Wahl als ihn ins Archiv zu packen. Ungelöst natürlich. Vielleicht finden sie in einigen Jahren einen Beweis. Aber mit dem was wir haben, sehe ich auch für uns keine Chance.“

„Es sei denn, wir finden noch ein paar nützliche Hinweise: Abschiedsbriefe, Tagebücher, detaillierte Aufzeichnungen der Organisation…“, murmelte Jodie.

„Das ist doch alles Wunschdenken. Die Organisation hat gründlich gearbeitet. Da wir auch keinen Schritt weiter gekommen sind, wurde der Fall also geschlossen?“

James nickte. „Ich habe mit den Vorgesetzten in den Staaten gesprochen. Sie sehen es nicht mehr für gegeben an, unsere Kapazitäten mit einem solchen Fall zu verschwenden. Wir brauchen die Abschlussberichte und werden den Fall in unser Archiv befördern. Es tut mir leid und ich möchte Ihnen danken, dass wir trotz allem so weit gekommen sind.“

„Schon gut, James“, kam es von Jodie. „Wir haben so lange nach ihnen gesucht. Jetzt hatten wir wenigstens wieder eine Spur. Wir haben alles gegeben. Wir konnten diesmal keinen Durchbruch erzielen. Aber es wird ein nächstes Mal geben und dann werden wir sie in die Enge treiben.“

Alle drei Männer sahen sie erstaunt an. Mit einem Mal hörte sich Jodie anders an, erwachsener. Es schien, als hätte sie endlich mit der Situation Frieden geschlossen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

„Was ist? Warum guckt ihr mich so an, als wäre ich eine Fremde?“

„Schon gut, Jodie. Mach dir nichts drauß. Wir waren alle nur ein wenig verwundert, dass du so darauf reagierst“, antwortete James.

„Was sollte ich sonst sagen? Ich erkenne, wenn es keinen Sinn mehr macht einem Fall hinterher zu jagen, der nicht abgeschlossen werden kann.“

Außer es ist der Fall meines Vaters.
 

***
 

Jodie streckte sich. Dann zog sie ihre Jacke enger an sich und ging auf ihren Wagen zu. Das Leuchten der Zigarette hatte sie ebenfalls bemerkt.

„Du machst Feierabend?“

Jodie nickte. „Solltest du auch machen, Shu. Es ist schon spät. Oder liegt noch etwas sehr wichtiges an?“

„Hmm…“

„Jetzt bitte nicht wieder diese Leier. Du brauchst auch deinen Schlaf.“

„Mach dir um mich mal keine Sorgen.“

„Das tu ich aber, Mister, und du wirst mich nicht davon abhalten“, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf dem Boden. „Ach, da ich dich gerade noch seh. Hast du etwas Neues von Conan gehört?“

„Nein. Sollte ich?“

„Naja, ich dachte nur…er mischt sich doch sonst immer in unsere Fälle ein. Und er weiß von den Shibungis. Die Polizei hat bisher noch nicht den Tod von Sota Shibungi und Aiko Kawasaki veröffentlicht. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, sodass wir sicher bald einige Artikel über die Beiden lesen können. Denkst du wirklich, dass Conan nicht versuchen wird uns zu helfen?“

„Soll er doch. Wir haben keine Spur“, kam es Akai. „Wenn er mich danach fragt, lehne ich ab. Zufrieden?“

Jodie seufzte. „Fürs erste, ja. Aber was mir auch noch nicht ganz klar ist, ist die ganze Geschichte um Conan. Wie kann er ein Grundschüler sein? Ich mein, Menschen schrumpfen nicht einfach so und werden wieder zu Kindern. Das wär doch…das hätten wir schon lange bemerkt.“

„Es gibt da ein Gift das die Organisation einsetzt. Conan hat mir kurz davon erzählt. Es wird hauptsächlich zum Töten eingesetzt, da es nicht nachweisbar ist. Aber scheinbar hat es in ganz wenigen Fällen eine andere Wirkung.“

„Es schrumpft.“

„Richtig. Und das wir nicht noch mehr geschrumpfte Personen fanden, wird wohl daran liegen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering ist und keine herum laufen.“

„Verstehe“, murmelte sie. „Das ist wirklich…wow…ein Gift, das Menschen klein macht…“ Sie stockte. „Vermouth.“

Sofort sah sich Akai um und zückte seine Waffe. „Wo?“

„Nein…ich…ich meine…ich weiß, dass Sharon Vineyard meine Eltern umgebracht hat. Ich hatte ihre Fingerabdrücke auf der Brille meines Vaters. Die Fingerabdrücke passen zu denen von Chris Vineyard. Ich hab mich doch die ganze Zeit über diese Übereinstimmung gewundert. Aber jetzt ergibt das alles einen Sinn. Sharon Vineyard hat das Gift auch eingenommen. Sie wurde wieder jung und kann deswegen nun die nächsten 20 Jahre unschuldige Menschen drangsalieren“, erklärte Jodie.

„Gut möglich. Jetzt stellt sich mir die Frage, ob sie damals sterben sollte und wenn ja, warum.“

Jodie sah ihn nachdenklich an. „Ich habe keine Ahnung. Aber ich für meinen Teil habe einen kleinen Durchbruch erzielt. Ein weiteres Puzzleteil wurde entschlüsselt.“ Jodie strich sich eine Haarsträhne zur Seite. „Wieso hast du mir nicht schon viel eher von Conan erzählt?“, wollte sie dann wissen. „Dann wäre ich vielleicht schon eher hinter die Verkettung mit Vermouth gekommen.“

„Die Zeit war dafür noch nicht gekommen. Du wärst nur in Gefahr gewesen und hättest dich zu irgendeiner Handlung hinreißen lassen. Um deinetwillen konnte ich das Risiko nicht eingehen.“

Jodie lächelte. Das war wirklich süß von ihm. Manchmal vergas sie, dass er auch diese andere Art hatte. Etwas Liebevolles in ihm. Etwas, das ihr zeigte, dass er sich noch immer Sorgen um sie machte. „Das kann ich verstehen.“

„Gut.“

„Aber…“, begann sie. „Ja, Shu, es gibt ein Aber. Es gibt immer ein Aber.“

Der Agent seufzte.

„Ich möchte nicht immer aus allen Sachen heraus gehalten werden, nur weil James, Camel und du, glauben, dass ich damit nicht klar komme. Ich bin erwachsen, Mitte 20 und ich weiß, was ich tu. Ich weiß auch was ich mir zumuten kann und was nicht. Ich werde schon nicht daran zerbrechen, nur weil ihr entscheidet. Deswegen bitte ich dich inständig, lass mich nicht mehr außen vor.“

Shuichi musterte sie. „Damit kann ich leben.“

„Freut mich“, sagte sie. „Und…weißt du schon, was du Silvester vor hast?“

„Hmm?“ Der abrupte Themenwechsel überraschte ihn. Shuichi warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Zuerst arbeiten und dann schlafen. Silvester ist kein besonderer Tag. Ich werde wachsam sein und versuchen ein mögliches Ziel der Organisation auszuspähen.“

„Ach so…verstehe“, murmelte sie. „Und du gehst dafür bestimmt in eine Bar…“

„Mal sehn. Das entscheide ich spontan“, entgegnete Akai. „Warum?“

„Ach nur so. Ich war…neugierig“, gestand sie ihm.

30.12.

Jodie saß in ihrem Wagen. Sie massierte sich die Schläfen. Auch zwei Tage nach dem Mord an Aiko Kawasaki ließen sie die Verwicklungen in dem Fall Medipharm nicht los. Wer konnte sagen, wie viele Mitglieder sich noch in der Firma befanden?

Sayaka Shibungi war Nummer eins. Aiko Kawasaki Nummer zwei. Aber wer war noch in die Sache verwickelt? Emi? Kasumi? Ein anderer? Welchem Mitarbeiter konnte Jodie noch trauen und welchem nicht? Spielte es jetzt noch eine Rolle? Der Fall war offiziell abgeschlossen und trotzdem ging er Jodie nicht aus dem Kopf.

Es war so ärgerlich. Hätten sie Aiko von Anfang an in Verdacht gehabt, hätte die Situation auch ganz anders enden können. Ein Agent wäre an Aiko dran geblieben, hätte sie beobachtet und gegebenenfalls wären sie auf sie zugegangen und hätten sich zu erkennen gegeben. Sie hätten versucht Aiko als Verbündete zu gewinnen. Einen Weg gab es immer.

Nun wurde Jodie auch vieles klar. Aiko saß direkt an der Quelle. Sie wusste, wer in der Firma ein und aus ging, sie kannte die Termine und konnte damit am besten entscheiden, wann das Geld fließen konnte und wann nicht. Warum kamen sie selber nicht auf die Idee tiefer zu graben?

In Gedanken ging Jodie jeden einzelnen Tag durch. Aiko war kein einziges Mal verdächtig. Soweit Jodie es beurteilen konnte, machte die Frau ihre Arbeit. Mehr auch nicht. Ob sie die eingescannten Bewerbungsunterlagen auch an die Organisation übermittelt hatte? Jodie konnte nur spekulieren. Aber es hätte zumindest geklärt, ab wann die Organisation von ihrer Beteiligung wusste.

Jodie wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste sich ein weiteres Mal bei Medipharm umsehen. Diesmal würden nicht die Büros im Fokus stehen.

„Jetzt mach schon“, wies sie sich selbst an. Langsam öffnete sie die Tür ihres Wagens und ging auf die Firma zu. Sie nahm den Weg über die Tiefgarage hin zum Lastenaufzug. Alles wirkte so unrealistisch. Wochen zuvor hatte sie noch in der Firma gearbeitet, jetzt waren die Türen zu, die Lichter aus und die Produktion lahm gelegt. Alle Mitarbeiter wurden entlassen, der Boss war verstorben, die Produktion am Ende. Jodie fand es Schade, dass die Mitarbeiter nicht versuchten die Firma weiter aufrecht zu halten. Wenn man wollte, hatte man immer eine Möglichkeit. In den Staaten gab es viele Mitarbeiter, die in ähnlichen Situationen, auf ihr Gehalt verzichteten oder versuchten Investoren zu gewinnen. Aber nun brach alles in sich zusammen. Irgendwann würden die Filialen nicht mehr mit Arzneimitteln, Medizinprodukte, Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel beliefert werden. Die Künden wären wütend, die Endverbraucher wütender. Sie mussten sich Alternativen suchen – eine sehr kostspielige Angelegenheit.

Jodie senkte den Blick während sie die Tiefgarage durchquerte. Sie zog sich die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht und ging zur Tür.

„Sehr unauffällig.“

Jodie erschrak. Sie drehte sich um. „Shu…Herrgott…hast du mich erschreckt.“

„Was machst du hier?“, wollte der Agent wissen.

„Das gleiche wie du, nehme ich an. Ich möchte mich noch einmal in der Firma umsehen. Wir übersehen etwas und bisher haben wir uns den Empfangstisch gar nicht näher angesehen.“

Akai ging zu ihr.

„Dein Gesicht…du darfst nicht in die Kamera gucken.“

„Mach dir darum mal keine Sorgen. Ich hab die Kameras deaktiviert.“

„Sag das doch eher“, gab Jodie von sich. „Dann hätte ich mir den Aufwand gespart.“

Er trat an Jodie vorbei, öffnete die Tür und ging rein. Schnurrstracks lief er an den Empfangstresen und durchwühlte die Unterlagen. Shuichi setzte sich an den Tisch und öffnete jede einzelne Schublade. Bis auf die gängigsten Unterlagen fand er nichts, was Aiko mit der Organisation in Verbindung brachte.

Der Agent stieß ein leises Murren aus. „Hab ich mir schon gedacht.“

Jodie sah zu ihm. „Das wäre auch zu schön gewesen.“

„Es war einen Versuch Wert.“ Er startete den Computer. Der Startbildschirm zeigte die Anmeldeseite. Shuichi versuchte es mit den häufigsten Passwörtern wie 1234, den Namen, das Geburtsdatum oder das Sternzeichen. Keines davon funktionierte. Shuichi stand auf. „Halt hier unten die Stellung. Ich werde mich noch einmal oben im Büro von Shibungi umsehen.“

„Ich kann dir doch helfen. Du siehst dich in Sotas Büro um und ich nehm das von Sayaka.“

Akai nickte. „Dann los.“
 

Nach einer halben Stunde trafen sich die Agenten wieder im Erdgeschoss. „Hast du was gefunden?“, wollte Akai von ihr wissen.

„Nein. Nichts. Und du?“

„Sackgasse.“

Jodie seufzte. „Dann hätten wir uns auch diesen Einbruch sparen können.“

„Komm, wir gehen.“ Shuichi ging bereits in die Richtung aus der sie kamen. Dann blieb er stehen. Ehe Jodie ein Wort sagen konnte, hielt er ihr die Hand vors Gesicht. „Scht…“ Er horchte. Dann zog er sie am Handgelenk durch den Bürokomplex bis er am letzten Büro ankam. Er betrat dieses und schlich zum Fenster. Vorsichtig sah er nach draußen, konnte aber nichts erkennen. „Komm, wir müssen raus.“ Er öffnete das Fenster und stieg über dieses nach draußen.

Jodie folgte ihm. Sie atmete tief durch als Akai sie auch schon in Richtung der Straße zog. Dort taten sie als wären sie ganz normale Spaziergänger.

„Was war das?“, wollte Jodie wissen. „Ist die Organisation drinnen?“

Akai schüttelte den Kopf. „Polizei.“

„Was? Aber wieso? Wir haben keinen Alarm ausgelöst.“

„Scheinbar hat jemand bemerkt, dass wir im Gebäude waren und hat die Polizei gerufen. Vielleicht wurden wir durch ein Fenster gesehen und man rief vorsorglich die Polizei. Vielleicht war es der neue Besitzer selbst.“

„Zum Glück sind die Kameras deaktiviert, sodass sie unsere Gesichter nicht aufgenommen hatte“, sagte sie. „Moment. Was hast du gesagt? Neuer Besitzer?“

„Die Firma wurde gestern Abend verkauft. Haruto Toshiba. James ist gerade dran und überprüft ihn. Es würde mich aber nicht wundern, wenn er für die Organisation arbeitet und die Gunst der Stunde genutzt hat.“

„Na großartig“, murmelte Jodie. „Haben wir jetzt wenigstens eine Chance um an sie heranzukommen?“

„Sieht schlecht aus. James hat sich als besorgter Mitarbeiter ausgegeben und bei ihm angerufen. Auf Rückfrage, ob alte Mitarbeiter übernommen werden, gab es eine negative Antwort. Toshiba will ein neues Team an Mitarbeitern aufstellen. Das heißt, wir stehen an der Stelle an der wir auch vor deinem Einsatz bei Medipharm standen. Da es allerdings zu viel Aufruhr gab, werden wir den Fall auch weiterhin ruhen lassen und dich nicht wieder dort einschleusen.“

„Ich verstehe“, sprach sie leise. „Es ärgert mich, dass unsere Bemühungen nun doch umsonst gewesen sind.“

Shuichi zuckte mit den Schultern. „Wie du gesagt hast, mal läuft es gut, mal nicht. Und wir wissen, dass zwei Organisationsmitglieder nicht mehr aktiv sein können. Wir haben ihnen zwar nicht den gewünschten Schaden zugefügt, aber einen kleinen Erfolg konnten wir doch verbuchen. Auch wenn es nur die geweckte Paranoia ist.“

„Meinst du, wir bekommen das überhaupt mit?“

„Warten wir es ab. Entweder sie begehen zahlreiche Fehler deswegen oder nicht.“
 

***
 

Vermouth setzte sich ihre schwarze Sonnenbrille auf die Nase. Obwohl es tiefer Winter war, führte das Schimmern der Sonne auf dem weißen Schnee dazu, dass sie ihre Augen bedecken musste. Gelangweilt sah sie aus dem Fenster des fahrenden Wagens. Sie hasste Aufgaben die unter ihrer Würde waren. Und genau so wenig konnte sie sich mit Babysitter-Jobs anfreunden.

„Ich hab gehört, Medipharm wurde nun verkauft und von einem Geschäftsmann übernommen“, fing Bourbon an.

„In der letzten Zeit hörst du recht viel. Stand es auch in der Zeitung?“

„Möglich. Du weißt doch sicher, wer es ist.“

„Vielleicht.“

„Haruto Toshiba.“

„Und?“

„Nichts und. Ich dachte nur, dir würde der Name etwas sagen“, entgegnete Bourbon. „Ziemlich komisch, dass die Firma kurz nach dem Tod von Shibungi, seiner Frau und einer Angestellten gleich übernommen wird. Vor allem wenn es sich dabei um den vollen Kaufpreis handelt.“

Vermouth schmunzelte. „Du willst es mal wieder so ziemlich genau wissen, nicht wahr?“

„Du kennst mich doch. Wenn ich eins und eins so schnell zusammen zählen kann, dann wird es das FBI auch tun. Wir sollten uns auf mögliche Schritte vorbereiten.“

Vermouth gähnte. „Ich bezweifel, dass das FBI etwas gegen uns unternehmen wird. Sie haben die kleine Starling bereits einmal der Gefahr ausgesetzt. Sie werden es nicht noch ein weiteres Mal riskieren. Oder sie setzen einen Agenten ein, den wir noch nicht kennen. Aber jemand Neues einzuarbeiten dauert immer so lange und ist mit Arbeitszeit verbunden. Und außerdem werden sie sich doch bestimmt denken können, dass wir auf sie warten. Also warum der ganze Aufwand? Sie müssten schon schlagfertige Beweise haben um uns etwas Anzuhaben.“

„Wenn du es sagst“, kam es von Bourbon.

„Tut mir wirklich leid für dich. Diesmal wirst du dem FBI keine Hinweise geben können.“

Amuro hielt das Lenkrad umklammert. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen und sah aus dem Augenwinkel zu ihr. „Hast du diese Anschuldigung noch immer nicht gegen mich fallen gelassen?“

„Oh bitte. Es ist doch offensichtlich“, antwortete sie. „Du hast dich über die Shibungis informiert. Natürlich nur durch die Zeitung. Außerdem hast du versucht Kir den schwarzen Peter zuzuschieben und damit von dir abzulenken. Und Punkt 3, an dem Tag an dem Wodka mit Gin über die Beweise gesprochen hat, wurdest du in der Nähe gesichtet. Wenn das mal kein zufälliger Zufall ist“, erzählte sie.

„Mhm…“

„Im Übrigen sollte ich dir auch mitteilen, dass ich Sayaka einmal in der Tiefgarage besucht habe.“

„Und das soll mir was sagen?“

„Sei doch nicht so ungeduldig“, entgegnete Vermouth. „Ich will nur sagen, dass ich damals eine kleine Kamera dort gelassen habe. Sie schießt alle zehn Sekunden ein Bild und übermittelt es an meinen Laptop. Du kannst dir bestimmt vorstellen, was ich dort gesehen habe.“

Bourbon stieß ein leises Murren aus.

„Aber aber, wer wird denn gleich so wütend sein?“, wollte sie von ihm wissen. „Die Kamera habe ich mittlerweile natürlich entfernt. Und die Fotos hat noch keiner zu Gesicht bekommen.“

„Und warum erzählst du mir das alles nun?“

„Hmm, warte mal, lass mich überlegen. Ach ja, ich hab nun was in der Hand.“

„Pff“, kam es von ihm. „Du hast nichts in der Hand. Nur weil ich dort war, heißt das noch lange nichts. Damit beweist du nichts.“

„Bist du dir sicher?“

„Du kannst einem ganz schön auf die Nerven gehen.“

„Wechsel nicht das Thema. Aber wie du willst. Ich weiß, was ich weiß. Und ich weiß, dass du dem FBI die entscheidenden Hinweise gegeben hast. Es ist schon ein wenig traurig, du hättest Starling ruhig länger schmorren lassen können.“

„Ist das etwa dein einziges Problem bei der Gesichte?“, fragte er.

„Hmm? Jetzt sei mal nicht künstlich beleidigt, nur weil ich die Ziele der Organisation nicht auf meiner Prioritätenliste ganz weit oben habe.“

„Und was willst du jetzt mit deinem Wissen gegen mich anfangen?“

„Wie gesagt. Es ist einfach nur etwas, das ich gegen dich in der Hand habe. Keine Sorge, ich werde nicht Petzen gehen. Mir ist egal, was du tust, solange du mich nicht dem FBI oder der CIA auslieferst. Bin ich auf freiem Fuß, geht’s auch dir gut“, antwortete die Schauspielerin. „Ich weiß, dass du deine eigenen Pläne verfolgst. Und das macht mir nichts aus. Eher im Gegenteil. Pass aber auf, dass es andere Mitglieder nicht auch noch bemerken. Wobei es schon fast sehr offensichtlich ist.“

„Das wirst du mir bestimmt gleich erklären.“

„Nur zu gern. Erinnerst du dich noch an das Video von Gin?“

Bourbon dachte nach. „Akais Tod.“

„Nur mit dem kleinen Unterschied, dass Akai nicht tot ist. Möchtest du mir das erklären?“

Bourbon hielt den Wagen an einer Ampel an. Aus dem Augenwinkel sah er sich die Umgebung an. Sollte er eine Flucht wagen, hatte er ein Problem. Weit und breit fuhr kein Auto. Er wäre das perfekte Opfer für einen gezielten Schuss in den Rücken. „Ich habe mir das Video von Gin viele Male angesehen. Ich konnte keinen Fehler von Kir feststellen. Genau so wenig gab es Anzeichen dafür, dass Akai seinen Tod nur inszeniert hat. Ich kann dir das Videomaterial gerne zukommen lassen und dann schaust du es dir auch noch mal an.“

„Vielleicht sollte ich das sogar wirklich tun“, sie dachte gespielt nach. „Ich habe sicher noch den ein oder anderen Helfer der sich damit auskennt und das Video nur zu gern für mich analysieren wird.“

„Dann mach das doch“, kam es von Bourbon. „Ich habe nichts zu vergeben. Das Video ist sauber. Aber wenn du mir nicht glaubst…“

„War das dein Plan? Dafür zu sorgen, dass wir uns nicht mehr gegenseitig vertrauen können?“, wollte sie wissen.

Bourbon schwieg.

„Ich habe also Recht.“ Sie grinste. „Wirklich interessiert, Bourbon, wirklich Interessant. Das Problem ist nur, wir vertrauen uns doch schon lange gar nicht mehr gegenseitig.“

„Du musst es ja wissen.“ Er fuhr wieder die Straße weiter und sah abermals in den Rückspiegel. Das erste Auto hinter ihm tauchte auf. Wir kriegen also Besuch sagte er sich und beschleunigte das Tempo. „Du solltest aber nicht vergessen, dass Akai so einen Plan ganz sicher nicht alleine austüfteln konnte. Und wenn es Kir nicht war die ihm geholfen hat, muss es jemand anderes sein. Schon mal daran gedacht, dass Wodka ein Spion sein könnte?“

Sogleich mussten beide Lachen. Wodka als Spion war wie ein guter Witz.

„Ich bitte dich. Du hast ihn kennen gelernt. Wenn Gin nicht seine Hand hält, kann er nichts. Er ist nur ein guter Fahrer und ein sehr gehorsamer Mensch. Aber einen Wodka würde ich mir persönlich nicht zulegen wollen.“ Sie sah wieder aus dem Fenster. „Aber mir sollen deine Pläne egal sein. Halt mich nur raus.“

„Du hast es heute wirklich mit deinen Stimmungsschwankungen.“

Sie sah kurz zu ihm. „Nur weil mir egal ist, was du machst, heißt das nicht, dass ich unter Stimmungsschwankungen leide“, sagte sie mit einem bösen Unterton.

„Gut. Außerdem habe ich direkt nach Akais Auftauchen mit Gin und einem anderen Mitglied zum Boss gesprochen. Er hat auch die Videos gesehen und zweifelt ihre Echtheit nicht an. Allerdings ist es auch für ihn erstaunlich wie Akai überleben konnte. Kir scheidet nur zur Hälfte aus dem Kreis der Verdächtigen heraus. Da sie kurz zuvor von uns befreit wurde, hatte das FBI natürlich genügend Zeit gehabt um sie auf ihre Seite zu ziehen. Aber du hast bestimmt auch schon festgestellt, dass das eine sehr dumme Idee gewesen wäre. Kir wurde seither streng überwacht und kontrolliert. Dass ausgerechnet sie an einem solch ausgeklügelten Plan beteiligt ist, ist nicht sehr wahrscheinlich. Andererseits ist es natürlich auffällig, dass ausgerechnet Kir den Agenten erschossen hat. Tja…wenn wir Akai nicht in die Finger bekommen, werden wir das Geheimnis um seine Wiederauferstehung wohl nicht lüften. Und ich bezweifel sehr, dass er es uns freiwillig mitteilen wird.“

Vermouth gähnte. „So sieht es aus.“

„Und hast du deine Gedanken über mich auch dem Boss mitgeteilt?“

„Bisher nicht. Du hast mir schließlich keinen Anlass dazu gegeben. Was du in deiner Freizeit tust und was nicht, ist nicht in der Bestimmungsgewalt der Organisation. Auch wenn sie es gerne haben wollen.“

„Danke.“

Freu dich nicht zu früh, Bourbon.“ Sie sah zu ihm.“ In diesem Jahr habe ich einfach kein Interesse noch weiter über dieses Thema und über unsere Organisation im Allgemeinen zu reden.“
 

***
 

Jodie klopfte an der Bürotür von James an und trat Sekunden später mit Shu in den Raum. „Du wolltest uns sprechen.“ Sie sah auf die Besucherin. „Kasumi?“

James sah zu dieser. „Möchten Sie die Sache aufklären?“

„Natürlich“, nickte sie. „Zunächst einmal möchte ich mich entschuldigen, weil ich Ihr Alibi nicht bestätigen konnte, Jodie. Ich wusste, dass Sie erst kurz nach 12 Uhr die Firma verlassen haben, allerdings musste ich mich wie eine ganz normale Mitarbeiterin verhalten.“

„Eine normale Mitarbeiterin?“

„Mein richtiger Name lautet Haruka Aoi, ich arbeite für die CIA.“

Jodie sah sie überrascht an. „CIA…“

„Natürlich wissen wir, dass das FBI mit Hidemi kooperiert. Aber das hält uns natürlich nicht davon ab, ebenfalls weiter zu machen. Wir hatten Hinweise darauf, dass Aiko Kawasaki für die Organisation arbeitet und deswegen seit einigen Jahren bei Medipharm angestellt ist. Aus diesem Grund ermittel ich verdeckt gegen sie. Die ganzen Hintergrundinformationen meiner Rolle haben wir selbst gesteuert. Als Sie anfingen mich zu durchleuchten, bekamen unsere IT-Spezialisten eine Meldung. Wir dachten, Sie wären ebenfalls auf Aiko gekommen und haben die Informationen der Frau absichtlich verdeckt. Sie werden sicher verstehen, dass wir nicht wollten, dass Sie sich ebenfalls darum kümmern“, erzählte sie.

„Wenn Sie gewusst haben, dass wir ebenfalls ermitteln, warum haben Sie mich nicht eingeweiht? Wir hätten uns zusammen tun können. Wir hätten von Aiko erfahren und Sie von Sayaka.“

„Es liegt nicht in unserem Interesse mit Ihnen zu kooperieren. Nur weil es Hidemi tut, müssen wir anderen es nicht auch machen. Ich habe so lange verdeckt gearbeitet, glauben Sie wirklich, ich lasse mir dann in die Karten gucken?“

„Gebracht hat es Ihnen nicht viel. Die Firma ist verkauft und Kawasaki tot“, kam es von Akai.

„Nach den Vorfällen mit Shibungi mussten wir unsere Mission abbrechen.“

„Und was wollen Sie von uns? Wenn Sie eine Entschuldigung möchten, sind Sie hier an der falschen Adresse“, sprach Shuichi.

„Mein Boss hat mir die Befugnis gegeben Ihnen ein Angebot zu machen. Sie geben mir die Hintergrundinformationen im Fall der Shibungis und ich gebe Ihnen alle Informationen zu Kawasaki.“

Jodie sah zu James.

„Ich habe bereits zugestimmt.“

Haruka fuhr fort: „Aiko Kawasaki wurde bereits in ihrer Jugend auffällig. Sie erhielt eine Jugendstrafe wegen Brandstiftung. Glücklicherweise sind nie Personen verletzt worden. Nachdem Sie in den Schoss der Familie zurückgekehrt war, ließ sie sich auf einige Männer ein. Sie hat einen fünf Jahre alten Sohn – Aki. Wir kamen zufällig auf Ihre Spur. Der Vater ihres Kindes ist kurz nach der Geburt gestorben. Es war ein natürlicher Tod. Die Informationen dazu wurden Aiko sowie der Familie des Vaters übermittelt. Unseren Recherchen zufolge, kamen diese Informationen nie an. Aiko trifft sich immer noch regelmäßig mit ihm.“

„Vermouth.“

Haruka nickte. „Da die Recherchen auch ergaben, dass Tatsuya nicht gerade ein sehr freundlicher Mensch war. Er erwartete immer Respekt von Aiko. Man glaubt, man hat schon so viel Negatives zwischen zwei Partnern gesehen, aber das…“ Sie schüttelte den Kopf. „Soweit wir wissen, wollte er immer, dass Aiko ihn förmlich anspricht mit einem Sie. Er hat sie sich gefügig gemacht. Damit war es auch ein leichtes, Aiko zu Aufträgen anzustacheln. Wir nehmen an, dass sie den Brand bei den Shibungis gelegt hat.“

„Mag sein. Aber sie ist selber auch getötet worden“, warf Jodie ein.

„Das weiß ich. Wir haben sie beobachtet. Nach einem Treffen mit dem falschen Tatsuya war sie sehr aufgeregt. Ich bekam die Order mich ihr zu Offenbahren und ihr Hilfe anzubieten. Als ich bei ihr zu Hause ankam, fand ich sie tot vor. Die Organisation brauchte sie nicht mehr.“

„Hatte sie da auch schon das Loch in der Brust?“

„Nein.“ Haruka seufzte. „Ich beeilte mich um die Todesursache festzustellen und ich wusste, wenn nichts darauf hinweist, dass es Mord ist, wird das FBI nicht weiter ermitteln. Deswegen habe ich mit einer konfiszierten Waffe auf sie geschossen. Und Sie ermittelten ja auch…allerdings habe ich bereits gehört, dass der Fall nun zu den Akten gelegt wird.“

„Wir können genau so wenig tun wie Ihre Behörde.“

„Das stimmt. Leider.“

„Wieso haben Sie in Kauf genommen, dass auch die Polizei weiter ermittelt?“

„Ich kenne die Arbeit der japanischen Polizei und ich wusste, dass sie den Fall sehr schnell schließen würden. Es bestand von Anfang an keine Gefahr für die Polizisten.“

Jodie verschränkte die Arme. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass es Ihnen nicht nur um den Austausch von Informationen geht.“

„Das stimmt.“ Haruka zog ein Foto aus ihrer Tasche heraus. „Das ist Aki. Normalerweise ist er im Kindergarten wenn Aiko arbeiten musste. Durch die Insolvenz hat Aiko ihn im Kindergarten krank gemeldet und zu Hause gelassen. Er hätte bei ihr sein müssen. Aber der Junge ist wie vom Erdboden verschwunden. Die CIA hat in Japan nicht viele Agenten. Deswegen muss ich Sie um Ihre Mithilfe bitten. Wir müssen den Jungen finden, ehe es die Organisation tut.“

31.12.

Aki blieb verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Dabei konnte ein kleiner Junge nicht einfach untertauchen. Zumindest nicht ohne fremde Hilfe. Aki würde keine zwei Tage alleine überleben.

Die Suche nach dem Jungen gestaltete sich schwerer als zuerst angekommen. Er war weder bei der Familie noch bei Freunden. Keiner hatte ihn gesehen. Eigentlich hätten sie auch schon lange die Polizei einschalten müssen. Oder zumindest das Büro für Sicherheit der Nationalen Polizeibehörde dem Bourbon angehörte. Dennoch verschwiegen sie das Ereignis.

James runzelte die Stirn und sah auf die Karte, die er auf seinem Tisch ausgebreitete hatte. Einige Punkte waren mit einem großen X gekennzeichnet. Es waren Orte die bereits von der CIA kontrolliert wurden, in denen aber auch das FBI nach dem Jungen bereits gesucht hatte. Die übriggebliebenen Agenten sahen sich in den restlichen Gebieten Tokyos um, Akai befragte seine Informanten und zeigte das Bild des Kinders herum, Jodie, Haruka und er koordinierten die Suche vom Büro aus.

„Wenn das so weiter geht, müssen wir das Suchgebiet erweitern.“ James massierte sich die Schläfen. Langsam setzten bei ihm die Kopfschmerzen ein. Er konnte aber nicht einfach so aufgeben und nach Hause gehen. Er musste weitersuchen und den Jungen finden.

„Er kann nicht so einfach aus Tokyo verschwinden“, warf Haruka ein. „Er ist ein Kind, er kennt sich in der Stadt nicht aus. Und es gibt auch keine Verwandten außerhalb.“

„Sie wissen nicht zu was ein Kind alles fähig sein kann“, entgegnete Jodie. „Nehmen wir an, er steht neben einer älteren Dame in der Bahn. Alle anderen Passagiere denken, er gehört zu ihr. Die Frau selbst denkt, er würde mit jemand anderem reisen. Und Sie wissen selbst wie das im Berufsverkehr immer ist. Nur die wenigen Menschen achten auf ihre Umgebung. Der Großteil würde ein Kind welches alleine in der Bahn ist, nicht einmal bemerken. Und wenn die Bahn dann noch sehr voll ist, kann es auch passieren, dass er einfach übersehen wird. So kann er am anderen Ende des Landes landen.“

„Und was ist mit Fahrkartenkontrollen?“

„Es gibt Gruppentickets und kleine Kinder dürfen häufig noch mit den Eltern mitfahren ohne dass sie ein eigenes Ticket vorweisen müssen“, antwortete Jodie. „Wir sollten aber nicht vom Schlimmsten ausgehen.“

„Und was ist das ihrer Meinung nach? Wenn die Organisation ihn hat, werden wir ihn nie wieder sehen. Er ist schon viel zu lange verschwunden.“

„Wie Sie gesagt haben, wenn die Organisation ihn hat, werden wir ihn nie wieder sehen. Dann sollten Sie so langsam überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre mit Kir zu sprechen.“

„Sie machen es sich ja ziemlich einfach.“ Haruka verschränkte die Arme. „Ist es Ihnen egal, dass ein Kind möglicherweise in den Fängen der Organisation steckt? Oder was ist, wenn der Junge zu Hause war, als Aiko ermordet wurde und man ihn dann auch erledigt hat?“

„Im letzten Fall hätten wir sicher eine Leiche gefunden und die Organisation hätte den Mord der Mutter angelastet. Aber da wir kein Kind gefunden haben,. Heißt das für mich, dass er noch am Leben ist.“

Haruka funkelte Jodie an. „Sie machen sich wirklich keine Sorgen, dass er bei ihnen ist.“

„Natürlich mach ich mir Sorgen. Und auch wenn Sie denken, dass es mir nicht Nahe geht, dann irren Sie sich. Ich möchte nur in diesem Moment nicht daran denken, dass er bei der Organisation ist. Das wäre das schlimmste Szenario. Und ja, weil ich ihn nicht in den Händen der Organisation sehe, habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich bin mir sicher, dass der Junge irgendwo dort draußen ist und sich versteckt…oder einfach nur spielt.“

Haruka seufzte. „Nach allem was Sie im letzten Monat durchgemacht haben, bewunder ich Sie für diesen Optimismus. Ich hoffe wirklich, dass Sie Recht haben.“ Sie sah zu James. „Was machen wir jetzt?“

„Unsere Männer durchkämen jetzt die letzten Gebiete von Tokyo. Akai befragt seine Informanten und wenn wir dann den Jungen nicht gefunden haben, werden wir die Suche auf die umliegenden Präfekturen ausweiten. Ist das aber auch negativ, werden wir die Polizei einschalten. Je länger der Junge vermisst wird, umso kritischer wird es. Außerdem machen wir uns selbst auch schuldig.“

„Sind Sie sich sicher, dass Aki bei keinen Verwandten ist?“

„Ja. Ich hab das zig Mal überprüft. Aikos Mutter starb vor zwei Jahren und ihr Vater ist in einem Heim für Demenzkranke untergebracht. Sie war nie mit Aki dort. Mit der Familie von Tatsuya hat sie auch keinen Kontakt. Während der letzten Jahre – genauer gesagt, während sie bei Medipharm arbeitet, hatte sie zu Niemanden Kontakt. Es gab keine Freunde und keine Bekannten. Sie wurde nicht besucht und ist auch selber nicht oft raus gegangen, außer Tatsuya wollte sich mit ihr Treffen.“

„Was ist mit Freizeitparks? Das Tropical Land zum Beispiel. Oder Stadtfeste? Aussichtsplattformen? Einkaufszentren?“, ratterte Jodie runter.

„Werden doch alle überprüft“, kam es von Haruka.

„Nein, ich meine, war Aiko irgendwann mit Aki bei einem speziellen Ereignis? Vielleicht konnte er sich daran erinnern und geht deswegen wieder hin.“

„Hmm…naja…Stadtfeste schon…aber der Junge würde den Weg wohl nicht alleine finden.“

Jodie seufzte. „Gut, dann…“ Sie überlegte. Ihr fiel allerdings rein gar nichts mehr ein. Glücklicherweise klingelte in diesem Moment ihr Handy. Sie zog es aus der Hosentasche heraus und nahm den Anruf entgegen. „Hey Shu. Ich bin hier gerade bei James im Büro. Haruka ist auch da. Sag mir, wenn ich dich auf laut stellen soll.“

„Nicht nötig“, sprach der Agent. „Ich hab den Jungen gefunden.“

„Was? Wo? Wann?“

„Das wirst du mir nicht glauben.“ Akai sah sich um. „Er war in einer Bar. Sie liegt in der Nähe von Aiko Kawasakis Wohnung. Ich bring den Jungen und den Barbesitzer mit. Sorgt dafür, dass der Junge betreut wird.“

„Ja…ist gut…bis gleich.“ Verwirrt aber auch erleichtert legte Jodie auf und sah die Anwesenden an. „Shu hat ihn gefunden…in einer Bar.“
 

***
 

Shuichi klopfte kurz an die Bürotür und betrat dann zusammen mit Aki und dem Barbesitzer das Büro. Haruka stand auf. Sie sah zu dem Jungen und lächelte. Ihr Blick ging anschließend zum Barbesitzer, den sie musterte. „Sie sind doch Mamoru Takahashi.“

„Sie kennen sich?“, wollte James wissen.

„Ähm nein…eigentlich gar nicht…er wohnt im gleichen Wohnhaus wie Aiko.“

Der Mann nickte. „Aiko war meine Nachbarin. Ich wohne im Erdgeschoss und sie direkt über mir.“

„Und er besitzt die Bar in der ich den Jungen gefunden habe.“ Akai sah kurz zu diesem.

Haruka ging zu dem Jungen. Sie kniete sich zu ihm nach unten. „Hallo Aki, ich bin Haruka. Ich bin eine Freundin deiner Mama. Geht’s dir gut?“

„Der Junge nickte eingeschüchtert. „Mama weg.“

„Ja, leider.“ Sie strich ihm über den Kopf. „Ich bin aber froh, dass es dir gut geht.“

Die Tür ging ein weiteres Mal auf.

„Gut, dass Sie da sind, Fayden“, begann James.

Die Frau nickte. „Das ist der Junge?“ Sie ging zu Aki und hockte sich hin. „Hallo Aki, ich bin Allison. Du kannst mich auch gern Alli nehmen. Hast du Lust mit mir in unseren Konferenzraum zu gehen und mir bei einem ganz schweren Malbuch zu helfen?“

Der Junge sah zu Mamoru, welcher nur nickte. „Jaaaa.“

„Dann lass uns gehen.“ Sie richtete sich auf und nahm ihn an der Hand mit nach draußen.

„Danke, Agent.“ James sah in die verbleibende Runde. „Könnten Sie mir jetzt erklären, was der Junge in der Bar zu suchen hatte?“

Takahashi räusperte sich. „Das werde ich am Besten machen. Aiko ist bereits seit Jahren meine Nachbarin. Immer wenn ich gesehen habe, wie der Vater des Jungen bei ihr war, war sie verängstigt. Ich bot ihr meine Hilfe an, aber sie wollte nicht. Wir haben immer nur im Flur miteinander gesprochen. Ich dachte, sie taut auf und erzählt mir was los ist, wenn sie mehr über mich weiß. Also habe ich einfach angefangen etwas über mich zu erzählen. So erfuhr sie auch von meiner Bar.“

„Jetzt ergibt das auch einen Sinn“, murmelte Haruka.

„Was meinen Sie damit?“

„Ich habe Aiko paar Mal zu der Bar gehen gesehen. Ich dachte aber immer, dass sie drinnen oder draußen verabredet war. Sie war nervös und blickte dauernd auf ihr Handy. Aki hatte sie nur selten mit dabei. Aber da anschließend nie irgendwas passiert ist, habe ich der Sache kein großes Ermessen entgegen gebracht“, erzählte sie.

„Ich habe Aiko gesagt, dass ich ihr helfen werde. Sie hätte mit allem zu mir kommen können. Wenn sie Probleme gehabt hat, musste sie es mir nur sagen. Ich hätte versucht es für sie zu regeln. Irgendwie wäre es schon gegangen. Ich bot ihr auch an, dass ich mich um ihren Sohn kümmern kann. Meine Bar ist erst ab 18 Uhr geöffnet. Sie hat das Angebot aber nie angenommen. Zumindest das ich das.“

„Was meinen Sie?“, wollte James wissen.

„Ich glaube, immer als Sie Aiko mit Aki vor der Bar sahen, ist sie mit dem Jungen den Weg abgegangen, damit er sich diesen merkt. Am 28.12. stand er dann abends in meiner Bar. Er stank nach Mülleimer. Ich fragte, was passiert ist, aber er sah mich eine ganze Weile nur mit seinen großen Augen an. Ich gab ihm etwas zu Essen und er erzählte mir, dass seine Mutter gesagt habe, dass er zu mir kommen soll, wenn sie es ihm sagt. Wenn die Tür nicht offen ist, solle er sich im Mülleimer, welcher hinter der Bar ist, verstecken. Er hat dort bis zum Abend gewartet. Ich wusste nicht, dass nach ihm gesucht wird, sonst hätte ich mich schon längst bei der Polizei gemeldet“, erklärte Mamoru.

„Schon gut. Das war nicht Ihr Fehler. Hat Aki genau gesagt, warum er zu Ihnen sollte?“

„Nicht wirklich. Als ich ihn fragte, sagte er nur: Mama hat gesagt, ich soll kommen. Ich dachte auch, dass Aiko ihn holen würde, aber sie kam nicht. Deswegen hab ich mich um ihn gekümmert.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Takasaki“, fing James an. „Sollten wir noch Fragen haben, würden wir uns gerne bei Ihnen melden.“

„Natürlich.“

„Ein Agent wartete bereits draußen auf Sie. Er wird Sie hinaus begleiten.“

Takahashi nickte und verließ den Raum.

„Ich glaube, das ist der Zeitpunkt an dem wir nur noch spekulieren können. Wenn Sie mich fragen, wurde Aiko von dem falschen Tatsuya gezwungen den Brand bei den Shibungis zu legen. Vielleicht war es der letzte Auftrag den sie durchführen sollte. Oder sie hat es verlangt. Sie könnte ihn am nächsten Tag aus dem Fenster gesehen haben und hat Aki vorsorglich weggeschickt“, kam es von Haruka.

„Das wäre möglich. Es wundert mich aber, dass die Organisation nicht auch nach dem Jungen gesucht hat.“

„Aber sie brauchen doch gar kein Kind“, warf die CIA Agentin ein.

„Sie nehmen jeden Nachwuchs mit Kusshand auf. Nachwuchs können sie formen und zu ihren Marionetten werden lassen. Es hat aber keiner bei Takahashi nachgefragt. Entweder sie wussten nichts von dem Jungen oder Vermouth hat entschieden, dass sie es verschweigt.“

„Vielleicht hätte sie sonst der Babysitter sein müssen.“ Jodie verzog das Gesicht bei dem Gedanken.

„Oder sie wollte den Fall komplett beenden. Hätten sie sich auch das Kind geholt, hätten auch wir weiter recherchiert“, entgegnete Akai.
 

***
 

Jodie stand in ihrem Badezimmer. Sie kämmte sich das Haar und beobachtete ihr Gesicht im Spiegel. Bald war das Jahr vorbei. Bald konnte sie alles hinter sich lassen. Das Jahr hatte furchtbar angefangen.

Shuichis Tod nahm sie mit. Noch immer machte sie der Gedanke daran traurig. Vor allem, weil er sie einfach so außen vor ließ und nicht einmal mit dem Gedanken spielte, sie einzuweihen.

Sie übte mehrere Gesten im Spiegel. Von traurig bis fröhlich. Wie jedes Jahr waren die Agenten bei James zu Hause eingeladen. Und wie fast jedes Jahr nahm Shu nicht daran teil. Immer schickte er kurz nach 23 Uhr eine Kurzmitteilung, dass er nicht kam. Nur selten konnten sie ihn dazu bringen, mit ihnen in das neue Jahr zu feiern. Ab und an hatte Jodie sogar zu einem Trick gegriffen. Dieses Jahr würde sie es ihm auch nicht einfach so durchgehen lassen. Dieses Jahr würde er mit ihr ins neue Jahr anstoßen. Komme was wolle.

Möge das nächste Jahr besser werden.

Sie wünschte es sich jedes Jahr. Es war eine Floskel. Im letzten Jahr brachte sie ihr Unglück. Das nächste Jahr konnte definitiv nicht schlimmer werden. Tod und Verhaftung. Es musste einfach besser werden.

Jodie zog ihren Lippenstift nach und holte anschließend aus ihrem Wohnzimmerschrank eine Flasche Sekt heraus. Sie klemmte sich diese unter den Arm, schnappte sich ihre Handtasche und verließ ihre Wohnung. Von unterwegs schickte sie James eine Nachricht.

sich ihre Handtasche und verließ ihre Wohnung. Von unterwegs schrieb sie James eine Nachricht.

Werde Silvester bei Shu verbringen. Wünsche dir und Camel einen guten Rutsch ins neue Jahr. Jodie

Jodie parkte ihren Wagen in der Nähe seiner Wohnung. Sie stieg aus und ging zur Haustür. Als sie davor stand, klingelte sie…und klingelte…und klingelte.

Das darf doch nicht wahr sein. Sag mir bitte nicht, dass er bei James ist.

Es wäre ein großes Ärgernis. Und bei ihrem Glück hatte er sich wirklich für ein gemeinsames Miteinander entschieden. „Komm schon, Shu“, murmelte sie leise. „Bitte nicht…“ Es durfte nicht sein. Jodie ließ mehrere Sekunden verstreichen. Als sich die Tür öffnete, atmete sie erleichtert auf.

„Jodie…“ Shuichi musterte sie.

„Hab ich mir doch gedacht, dass du die Silvesterfeier bei James ausfallen lässt.“ Sie schmunzelte. „Überraschung! Das mach ich in diesem Jahr auch.“ Und schon hielt sie ihm die Flasche mit dem Sekt entgegen. „Für uns.“

„Komm rein.“

Jodie folgte ihm ins Wohnzimmer. Ohne Aufforderung setzte sie sich während Akai den Sekt kalt stellte. Mit zwei Tassen Kaffee kam er wieder zurück. „Damit du gleich nicht einschläfst.“

„In Anbetracht der anstrengenden Tage wäre es gar kein Wunder.“ Sie seufzte. „Bin ich froh, dass dieses Jahr endlich zu Ende geht.“

Akai nickte. „Dafür haben wir nun zwei Kontaktpersonen bei der Organisation. Kir und Bourbon. Auch wenn Letzterer nur ungern mit uns zusammen arbeitet.“

Jodie seufzte erneut auf. „Trotzdem ist so viel Schlechtes passiert.“

„Wir werden es überleben. Du wirst es überleben, weil du stark bist.“

„Es war trotzdem…ach vergiss es“, murmelte Jodie.

Akai hob die Augenbraue. „Von mir aus.“

„Dein Tod“, fing sie an. „Du hast ihn einfach so vorgetäuscht ohne dir Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Du hast nicht einmal daran gedacht, wie es denen geht, die du zurück gelassen hast. Du hast einfach so in Kauf genommen, dass ich darunter leide, nur weil es dann viel authentischer wirkt. Das war nicht fair, Shu. Du hast mich einfach so benutzt und du bist nicht einmal auf die Idee gekommen mich irgendwann einzuweihen. Selbst Monate danach war es dir egal. Ich sollte immer nur zeigen, wie nah mir dein Tod geht. Du hast mit meinen Gefühlen gespielt.“ Es sprudelte aus Jodie einfach so heraus. Sie hatte keine Kraft mehr ihren Unmut herunter zu schlucken und zu schweigen. „Wie würde es dir gehen, wenn ich meinen Tod vortäusche und dich dazu benutze, damit sie es glauben?“

Er wartete einen Moment ab. „Hast du dir jetzt alles von der Seele geredet und dich wieder beruhigt?“

Sie sah ihn ungläubig an. „Das. Ist. Nicht. Dein. Ernst.“

„Komm, Jodie, was willst du von mir hören? Ich hab dir bereits gesagt, dass es notwendig gewesen ist um Kir nicht auffliegen zu lassen. Sie musste sich ihr Vertrauen erst wieder verdienen. Ohne sie wären wir nie an die wichtigen Informationen gekommen. Und auch ich konnte weiter gegen die Organisation arbeiten und Bourbon als keine Gefahr für uns einstufen.“

„Was ich hören will? Du willst wissen, was ich hören will? Du hast dich nicht einmal bei mir entschuldigt. Weißt du eigentlich wie viele Nächte ich mir deinetwegen um die Ohren geschlagen habe? Ich habe getrauert, geweint, ich konnte nicht mehr Essen, ich war fertig und dann tauchte der Mann mit der Narbe auf. Du hast mich ins offene Messer laufen lassen. Es hätte auch irgendwas passieren können. Was wäre, wenn Bourbon nicht auf unserer Seite stand? Wäre ich dann noch am Leben? Wärst du da gewesen um mir zu helfen? Was hättest du getan, Shu, wenn du meine Leiche gefunden hättest?“

„Übertreib es nicht, Jodie.“

„Übertreiben? Ich übertreibe?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Warum hast du dich uns eigentlich zu erkennen gegeben? Lag es daran, weil Camel und ich von Bourbons Männern in Beschlag genommen wurden oder weil Bourbon deine Inszenierung durchschaut hat und du deine Identität als Subaru Okiya weiter aufrecht halten wolltest?“

Er schwieg.

„Danke. Das war mir Antwort genug. Du hast keine Sekunde an mich und meine Gefühle gedacht…“ Wutentbrannt verließ Jodie den Raum und ging in sein Badezimmer. Sie stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. Er hatte es geschafft. Er brachte sie zur Weißglut und wollte einfach nicht verstehen was in ihr vorging und was sie gerne wollte. Er musste es ihr ja nicht komplett erklären. Eine kleine Nachricht hätte ausgereicht. Irgendwas. Ein Anhaltspunkt, dass es ihm gut ging. Etwas, das ihr neue Hoffnung gegeben hätte. Aber er tat nichts.

Jodie ließ ihren Tränen freien Lauf, bereute es aber anschließend. Sie nahm ein Stück Toilettenpapier und tupfte sich ihre Wange trocken. Jodie ließ mehrere Minuten verstreichen und ging dann wieder zurück in das Wohnzimmer. Shuichi saß immer noch auf dem Sofa. Mehrere Gläser standen nun auf dem Tisch. Zwei Gläser für Sekt, ein Glas mit Bourbon und ein Glas mit Sherry.

Shuichi sah zu ihr hoch. „Geht’s dir wieder besser?“

„Ja.“ Sie setzte sich und nahm das Glas mit dem Sherry. Mit einem Mal leerte sie es. Sie hatte Dampf abgelassen. Sehr viel Dampf sogar. Und nun fühlte sie sich ausgelaugt. „Hast du etwas zu essen da?“

Shuichi stand auf und ging an einen Schrank. Er holte eine Packung Salzstangen und Kekse heraus und stellte diese auf den Tisch.
 

Jodie sah auf die Uhr. „Gleicht ist es soweit.“

Shuichi nickte und holte die Flasche Sekt aus dem Kühlschrank.

„Vermisst du manchmal das Silvesterfest in den Staaten?“

„Nicht wirklich“, antwortete er. „Der Nachteil dort ist das große Feuerwerk und die vielen Menschen auf der Straße. Es kann an einem Abend so viel Schaden angerichtet werden, was durch das ganze Geknalle kaum wahrgenommen wird.“

„Ja, ich weiß. Es ist ein gefundenes Fressen für die, die großen Schaden anrichten wollen. Hier ist es viel ruhiger und man verbringt die Festtage im engsten Kreis der Familie.“

„Weniger Gefahr“, stimmte er zu.

„Mhmm…ich finde aber auch, dass so ein Feuerwerk das gewisse Etwas hat. Ich mag es, wenn es stattfindet sobald wichtige Ereignisse auftraten. Aber auch im engsten Kreis hat so ein Feuerwerk etwas Intimes und Beruhigendes. Es darf aber nicht zu viel sein. Zwei bis drei Raketen reichen aus.“

„Wenn es einem gefällt…“

Jodies Augen folgten dem Zeiger auf der Uhr. „Steht der Sekt bereit? Es dauert nicht mehr lange.“

„Von mir aus, kannst du rückwärts runter zählen.“

„Okay. Aber vergiss nicht, dass es dein Vorschlag war.“ Jodie wartete kurz ab. „10…9…8…7…6…5…4…3…2…1…0. Frohes neues Jahr, Shu.“

Die Sektflasche gab ein kurzes Ploppen von sich. Shuichi goss den Sekt in die beiden Gläser und reichte Jodie eines. „Dir auch…auf ein besseres Jahr.“

Jodie stieß mit ihrem Glas kurz gegen seines und trank dann einen Schluck. „Schmeckt gut.“

Shuichi nickte und sah aus dem Fenster. „Bist du enttäuscht, weil draußen kaum was los ist?“, wollte er wissen.

„Nein. Das ist nicht schlimm.“ Sie rückte ein wenig näher zu ihm. „Ich kann schließlich mit dir in das neue Jahr feiern. Was will man mehr?“

Shuichi sah zu ihr, er öffnete den Mund um etwas zu sagen. In diesem Moment beugte sich Jodie nach vorne und küsste ihn.

Ihre Lippen spürten seine Lippen. Voller Hingabe küsste sie ihn. Er konnte sie auch spüren. Ihre weichen, vollen Lippen – jene, die er schon seit Jahren nicht mehr gekostet hatte – in Kombination mit dem süßlichen Geschmack ihres Lippenstiftes. Auch Jodie entging der wohlbekannte Geschmack nicht. Zigaretten und Bourbon. Und obwohl sie wusste, dass es möglicherweise alles änderte, wollte – konnte – sie nicht aufhören.

Sie rutschten am Sofa entlang – Jodie halb auf ihm. Mittlerweile hatte er den Kuss gelöst und sah sie an. Jodie hielt seinem Blick nur mühevoll stand. Ihr war der Ausbruch ihrer alten Gefühle peinlich und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Wie sollte sie ihre Gefühle kaschieren? Was sollte sie ihm sagen? Was sollte sie machen. Sie war hin- und hergerissen.

Winzige Tränen bahnten sich auf einmal ihren Weg. Sie tropften an ihrer Wange hinab. Jodie konnte sie nicht mehr aufhalten. Sie wusste nicht einmal, wie es zu diesem Ausbruch kam. Sie hatte keine Kontrolle über sich.

Shuichis Hand auf ihrer Wange, die sanfte Berührung die von ihm ausging, jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper. „Es tut mir leid“, sagte er ruhig. „Ich hätte dich im letzten Jahr nicht so behandeln dürfen.“

Jodie sah ihn an. Einfach nur an. Sie hielt es nicht mehr auf. Sie weinte. Hemmungslos. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, während er sie an sich drückte und einfach nur im Arm hielt. Stark und beschützend.



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