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Raftel (2)

The Rainbow Prism
von

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44 - Abschied

Nichts sollte die Strohhutbande so sehr in ihren Grundfesten erschüttern wie Choppers ewiges Verschwinden. Sein Fehlen riss eine nicht zu füllende Lücke in die Mannschaft, versetzte sie in tiefste Traurigkeit und Melancholie und warf bohrende Fragen auf. War es das wirklich alles Wert gewesen?

Obgleich Luffys erfülltes Ziel, Piratenkönig geworden zu sein, die Strohhutbande noch mehr zusammengeschweißt hatte, so stand trotzdem jeder für sich alleine mit dieser Frage da. Man ging sehr unterschiedlich mit dieser schmerzhaften Situation um, doch man war sich einig, Raftel fürs Erste zu verlassen, um in ruhigeren Gefilden Kräfte zu tanken und zu überlegen, wonach die Mannschaft nun strebte.

Und so saß die Bande wieder einmal mehr beim Leuchtturm am Strand von Loguetown, genoss den herrlichsten Sommer, den diese Insel jemals seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erlebte hatte und schmiedete Pläne. Man redete über dieses und jenes und natürlich über Chopper. Wie es ihm den gehen würde, würde Zoro oft gefragt, weil er neben Taiyoko und Hikaru die einzigen waren, die mit ihm in Kontakt treten konnten.

„Dem geht es gut“, hatte Zoro nur knapp beantwortet.

Damit musste man sich zufrieden geben. Niemand außer Zoro selbst hätte die Antwort geben können. Doch es war Usopp, der sich damit nicht abspeisen lassen konnte.

Als sich eines sommerlichen Abends die Gruppe nach einem ausufernden Grillfest in alle Winde auf der Insel zerstreute, saß er noch eine kurze Weile auf einen der unzähligen Treibhölzern neben Zoro und begann nachzubohren, als er seine Mitstreiter außer Hörweite wähnte.

„Heißt das nun, dass Chopper im Zwielicht unsterblich ist?“

„Nein, niemand ist unsterblich. Aber dort, wo er nun ist, verläuft die Zeit etwas langsamer. Darum ist er immer noch bei uns.“

„Wenn die Zeit dort langsamer geht, wird er also dort sterben?“

Beide grübelten. Usopp, da er versuchte, den Zusammenhang physikalisch nachzuvollziehen. Und Zoro, da er sich selbst nicht sicher war.

„Ich glaube, man stirbt dort nicht wirklich, sondern man wird von unserer Seite aus langsam vergessen. Erinnerungen verblassen einfach und somit auch Chopper“, gab Zoro nachdenklich leise zurück.

Das klang schräg, fast schon philosophisch.

„Ich werde Chopper niemals vergessen!“, gab Usopp schroff zurück, wusste aber, dass Zoro recht hatte.

Die Zeit verstrich gnadenlos weiter. Sie alle würden älter werden. Chopper lebte in der Mannschaft weiter, durch das, was er bewirkt hatte. In den Herzen und in den Erinnerungen. Und je älter die Bandenmitglieder wurde, desto weniger konnte man sich erinnern. Wer konnte schon nach sagen, was vor fünf Jahren, zehn Jahren oder gar zwanzig Jahren gewesen war? Irgendwann würden auch sie dem Fährmann eine letzte Rechnung zu zahlen haben. Dann gingen mit ihnen auch ihre persönlichen Erinnerungen von dieser Welt. Es war der natürlich Lauf des Lebens.

Noch ungewöhnlich lange saßen sie beide dort und starrten auf die Weite des Ozeans bis das Lagerfeuer niedergebrannt war und nur noch eine feine Rauchsäule aufstieg. Zoro innerlich verschlossen, Usopp am stummen Weinen. Das alles war OK. Chopper würde immer bei ihnen bleiben. So lange sie erinnern könnten.
 

Nach gut einer weiteren Woche hatte sich dann die Heart-Piratenbande aus Loguetown verabschiedet. Auf Loguetown herumgammeln, wäre ihm auf die Dauer zu langweilig, meinte Law, grüßte zum Abschied und war samt seiner Mannschaft und der Ghost in den Wellen vor der Insel in die Tiefe verschwunden. Die Strohhüte sahen den knallgelben U-Boot-Turm in den Fluten versinken.

Luffy sah es ebenso wie Law, weshalb er ebenfalls mitteilte, dass in Kürze die Sunny wieder in See stechen würde. Es gäbe noch so vieles zu sehen und zu entdecken. Außerdem wären sie Piraten. Die wären bekanntlich auf dem Wasser zuhause. Da könnte man nicht einfach so am Strand hocken und meditativ aufs Meer schauen. Darüber hinaus gab es noch genug Anwärter auf den Piratenthron, die Luffy liebend gern in den Fluten versenken würden. Da müsste man immer im Training bleiben und die Leute in Schach halten. Gesagt, getan. Die neue Marschroute stand für den Piratenkönig fest. Wo auch immer die lag.

Schon am nächsten Morgen verbreitete er Unruhe und Stress in seiner Mannschaft und konnte es gar nicht erwarten, bis Sanji alle Vorräte verladen, Franky die Cola-Tanks befüllt und Nami den Kurs errechnet hatte. Es sollte bis in den späten Nachmittag hinein dauern, bis die Sunny in See stechen sollte. Ein großes Treiben herrschte an der Kaimauer von Loguetown. Man war erstaunt über die Anzahl der vielen Schaulustigen, die aus dem Ort geströmt kamen, um den Strohhüten zum Abschied zu winken. Die Leinen wurden eingeholt. Der Abstand zwischen Schiffswand und Anlegestelle wurde sichtbar größer. Langsam, fast schon majestätisch, drehte das Piratenschiff ab und schob seinen Bug durch das brackige Hafenwasser.

„Usopp?“, rief Zoro von der Pier hinauf. „Lass mal immer von euch hören, dass ich weiß, wo ihr seid!“

„Hm, Marimo? Du findest uns doch sowieso niemals...“, nahm Sanji Usopp die Antwort ab.

„Wollen wir wetten?“ lachte Zoro und sah seinen Freunden noch eine Weile nach, bis die Sunny nur noch ein kleiner Punkt an der Horizontlinie war.

Gemächlich setzte sich die kleine fünfköpfige Gruppe, welche bis zur letzten Sekunde am Hafenbecken gestanden hatte, in Bewegung. Und da sich der Hafenplatz schon vor einer Weile geleert hatte, war es still geworden. Nur Pikadons Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster und hallten von den alten Lagerhallen wider.

„Maaaannn,“ beschwerte sich nun Taiyoko maulig. „Muss ich wirklich nächste Woche zur Schule?“

Die Sommerferien neigten sich dem Ende entgegen. Natürlich war Taiyoko wenig erfreut, nun wieder die Schulbank drücken zu müssen, zumal alles neu war. Neue Schule, neue Fächer, Doppelzimmer mit Elaine im Internat. Obgleich der Wunsch berücksichtigt wurde, mit ihrer besten Freundin ein Zimmer teilen zu dürfen, prophezeite sie sich einen öden und langweiligen Lebensabschnitt. Immerhin hatte sie den besten Sommer ihres Lebens gehabt, als sie vorschwärmte, wie abenteuerhaft ihre Reise mit Hikaru und Pikadon durch die Weltgeschichte verlaufen war. Das war doch mal super und auch lehrreich fürs Leben gewesen. Nicht so blöde wie der Schulbesuch. Zoro winkte lachend ab. Da gab es gar keine Diskussion. Der Alltag hätte nun alle wieder eingeholt, und Kinder hätten nun mal ihre Jugend in der Schule zu verbringen. Punkt! Auch bei ihrer Mutter stieß sie auf taube Ohren, um das Internat herumzukommen. Da brachte es auch kein Betteln und Zetern bei Hikaru, dass er sie doch einfach mitnähme. Zurück im Leuchtturm half zum Frustabbau nur noch entnervtes Zimmertürenknallen, weil Eltern doch so unfair wären und man keine Feinde bräuchte, wenn man Freunde wie Pikadon und Hikaru hätte, die einem in den Rücken fielen.

So verpasste sie dann die Abreise vom Einhorn und seinem Reiter, die sich auf die Suche nach einem Träger für das blaue Prisma machen wollten. Erst als sie dann durch ihr Fenster nur noch die letzten Farben des Regenbogens verblassen sah, so wusste sie, dass der Spaß des Sommers nun endgültig vorbei wäre.
 

Nur knappe zwei Wochen später schaukelte eine Marinefregatte übers Meer und suchte seine Route zur Redline. Es stimmte schon, wenn man sagte, der East Blue wäre von allen Blues der ruhigste und beschaulichste Ozean. Azurblauer Himmel, eine milde Brise, kaum Wolken und kristallklares, türkisgrünes Wasser.

Ganz und gar nicht passte in diese Idylle der Gesichtsausdruck Zoros, der backbord an der Reling lehnte und düster aufs glitzernde Wasser starrte. Er registrierte sich ihm nähernde Schritte lediglich mit seiner Augenbewegung. Ein Arm legte sich auf seinen Rücken. Ein Kopf schmiegte sich an seine Schulter.

„Grübel' nicht so viel. Wenn wir keine Lösung finden, dann müssen wir es akzeptieren“, sprach Tashigi leise zu ihm.

Dabei lächelte sie, als wäre ihr Fluchmal am Hals eine zu ignorierende Kleinigkeit. Ohne Frage war der rote Schmetterling eine harte Prüfung. Seine Trägerin war nicht in der Lage zu verstehen, wann der Falter sich zum Leben erweckte und wie ein gleißendes Licht losflatterte. Nun hatte er seit den letzten Tagen Ruhe gegeben, doch heute früh hatte sie wieder einmal das Gefühl, sie müsste sterben. Sie erwachte mit kalten Tränen in den Augen, die ihre Haut gefroren, und einer heftigen Atemnot, die sie nur noch kraftlos röcheln ließ. Und je mehr ihr Freund sich ihrer sorgenvoll annahm, sie schützend in die Arme schloss und ihr leise zuredete, um so schlimmer wurde es. Dann tauchten sie zusammen ins Zwielicht, wohin ihnen der Schmetterling anscheinend nicht folgen konnte, doch eine befriedigende Lösung auf Ewigkeiten war das nicht.

Der Wind frischte auf. Der Wellengang nahm zu. Die Sonne senkte sich zu einem malerischen Abendhimmel und zauberte einen herrlichen Orangemix zwischen die einzelnen Wolken. Noch in dieser Nacht würde die Fregatte einer benachbarten Marinestation sie beide an der Küste der Redline absetzen. Tashigis Fregatte hingegen hatte den Sturm nicht überlebt. Sie zerbarst und ging sang- und klanglos mit Mann und Maus unter. Nur wenige hatten sich retten können. Überhaupt hatte der Krieg die Reihen innerhalb der Marine arg ausgedünnt. Als Smoker wieder auf Loguetown heimgekehrt war, brachte auch er nur eine Handvoll Rekruten wieder mit. Unzufrieden blies er Zigarrenkringel in die Luft, als er hatte die Strohhutbande mit ihrem frisch gebackenen Piratenkönig am Strande um das Lagerfeuer sitzen sehen. Doch gesagt hatte er nichts, sondern tat so, als wäre der Alltag vor dem großen Kriege nie verstrichen.

Die ersten Sterne tauchten am mittlerweile dunkelblauen Himmel auf. In der Ferne verfinsterte sich das Meer zu einer schwarzen Linie. Langsam nahm sie Kontur an und bildete Bergketten aus. Die Redline war nahe. Für Zoro war es nun das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit, dass er in seine alte Heimat zurückkehren würde. Und wieder herrschte dieses mulmige Gefühl in ihm. Bei seinem letzten Besuch war es die Unruhe, wie man ihm nach so langer Zeit seiner Abwesenheit und seiner Entscheidung, ein Pirat zu werden, begegnen würde. Nun war es die Ungewissheit, ob man Tashigi jemals von ihrem Fluch befreien könnte.

Gegen Mitternacht gingen die beiden Passagiere von Bord, dankten höflichst für die Mitnahme und machten sich auf den Weg. Sämtliche Lichter des kleinen Hafens waren erloschen. Nur die einzige Straßenlaterne auf dem Platze brannte noch einen kümmerlichen Schein, doch sie beachteten keines der Häuser und keine der Hallen, hatten sie doch schon an Bord des Schiffes beschlossen, keine Rast einzulegen, sondern sich sofort auf den Weg nach Shimotsuki zu machen. Ihr Marsch ging über das glatte Kopfsteinpflaster hinweg mitten durch den Lorbeerwald. Es war doch immer wieder erstaunlich, was der nächtliche Wald für eine gruselige Geräuschkulisse inne hatte, obgleich es doch nur ein paar wilde Tiere waren, die hier hausten. Hier ein Ästeknacken, dort ein Rascheln. Auch wenn Tashigi sich nicht fürchtete, so hatte sie irgendwann Zoros Hand ergriffen. Sie konnte schon tagsüber nicht sonderlich gut sehen. Nachts war sie fast blind. So fühlte sie sich sicherer.

Beide kamen zügig voran, hetzten sich jedoch nicht. An der Stelle, wo die Lorbeervegetation in Buchenwald überging und der gepflasterte Weg nur noch zwei parallele Schotterspuren aufwies, verharrte Zoro. Hier war die Dorfgrenze und der Dôsojin. Der Wegstein, der ihm damals die Lösung zu seiner kurzen Schmetterlingsvision bescherte, just als er wieder heimatlichen Boden unter den Füßen verspürte. Was auch immer oben in dem Schrein auf dem schwarzen Berge für Rituale abgehalten worden waren, Dank des roten Prismas sah er nun wieder klarer. Und es war eine bedrückende Klarsicht, denn der Wald war voll von roten Faltern, die wie kleine Glühwürmchen umher schwebten und unbeschwert miteinander tanzten. Tashigi war also tatsächlich gar kein Einzelfall, wie er es bereits damals vermutet hatte, und es musste ziemlich viele Zwillinge getroffen haben.

„Spürst du irgendetwas an deinem Hals?“, fragte er sie so ruhig es ging.

Keineswegs wollte er ihr Angst machen. Also verschwieg er die vielen Schmetterlinge um ihn herum.

„Nein, bis jetzt gar nichts. Wieso sollte ich hier etwas spüren?“

„Weil hier die Dorfgrenze ist. Beim letzten Mal hatte ich, als ich am Hafen ankam, eine ganz kurze Vision, in welcher ich ein Insekt gesehen hatte. Erst dachte ich, es wäre eine Motto oder so etwas, doch auf dem Dôsojin ist ein Schmetterling eingearbeitet.“

Nein, nein, schüttelte er innerlich den Kopf. Mehr musste man wirklich nicht erzählen. Sie war so unglaublich stark und wollte das auch jedem zeigen, indem sie Haltung bewahrte und sich nicht bekümmern ließ. Doch als sie nun seine Hand losließ und sich sanft um seinen Arm klammerte, wurde deutlich, wie sehr sie unter diesem Fluch litt.

Ohne Zwischenfälle sollten sie bald vor dem Anwesen stehen, welches sie angestrebt hatten. Tashigis spät entdecktes Elternhaus, Zoros Kindheitstage. Obgleich es schon gen Morgen dämmerte, öffnete eine aufgeweckte Mutter und ein zufrieden dreinblickender Vater die Türe und baten beide herein. Wie froh war man doch, endlich beide einmal zusammen begrüßen zu können. Lediglich Tashigis Mutter monierte freimütig, dass zu einem Familientreffen nur noch das Enkelkind fehlen würde. Man würde wohl nie alle unter einen Hut bekommen. Übermüdet lächelte man diesen Einwand weg und begab sich schnurstracks zum bereits hergerichteten Futon. Dicht lagen sie sich beide gegenüber und sahen sich eine Weile schweigend an.

„Ich kenne dich schon lange genug. Ich sehe dir an, dass du keine Lösung weißt!“, stellte Tashigi so ruhig und gefasst fest, als hätte sie sich längst mit ihrem Schicksal arrangiert.

Was sollte er da auch widersprechen? Er strich ihr kurz durchs Haar bevor er sie zu sich zog. Man würde einmal den schwarzen Berg besteigen und den Schrein aufsuchen müssen. Entweder würde es zu einer Reaktion zwischen dem Fluchmal und dem Ort kommen oder nicht.

Aber die nächsten Tage sollte nichts geschehen, was Tashigis schmetterlingsgeformtes Abzeichen zum Flattern erwecken sollte. Der Hochsommer war ins Land gekehrt. Man verbrachte die Hitze des Tages im Schatten der Wälder, so fern man nicht auf den Feldern zu arbeiten hatte. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Es war dermaßen unerträglich heiß, dass Kôshirô seine jüngeren Schülerinnen und Schüler zu späteren Abendstunden bestellt hatte. Einem Kämpfer hatte weder Hitze, noch Kälte, weder Hunger, noch Durst etwas auszumachen. Also traten der harte Kern und die Älteren dann doch zu den üblichen Trainingszeiten an, schwitzten aus allen Poren, taten aber hochdiszipliniert. Zoro mischte sich nicht in die Trainingseinheiten ein, beobachtete aus der Ferne aber genau das Treiben im stickig heißen Dôjô. Erstaunlich, dass es zu jeder Generation immer ähnliche Menschen mit ähnlichen Charakteren gab. In einigen Trainierenden erkannte er Mitschüler aus seiner Vergangenheit wieder. Er schmunzelte etwas über sich selber, denn es würde wohl kaum jemanden geben, der derart verbissen an einem Ziel arbeiten würde, wie er es damals getan hatte. Der kühle Grüntee tat gut bei der Hitze. Zoro nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse und dämmerte auf der Veranda vor dem Hause seiner Zieheltern vor sich her. Seine Ziehmutter hatte ihn schon aufgezogen, wann sie sich denn einmal Schwiegermutter nennen dürfte, doch da hatte er nur lachend abgewunken. Er würde seiner Familie immer beistehen, für sie da sein und sie beschützen. Aber heiraten kam nun wirklich nicht in die Tüte.

Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. Kôshirô hatte eine Trainingseinheit absolviert und setzte sich nun zu ihm. Nachdem er seine Teetasse geleert hatte, sah er Zoro prüfend von der Seite an.

„Stimmt es, dass du nun wieder Dinge sehen kannst, die wir nicht sehen?“

„Teilweise. Manchmal mehr, als es mir selber recht ist“, gab er zu.

Ein nachdenkliches Schweigen breitete sich zwischen beiden aus, bis Kôshirô langsam das Wort ergriff.

„Weißt du, auch wir haben, seit wir von dem Schmetterlingsfluch wissen, uns viele Gedanken gemacht, was wir tun können. Auch uns belastet es sehr.“

Zoro wollte ihm ins Wort fallen, doch sein Ziehvater hob nur ruhig die Hand und bat so, seine Gedanken weiter mitteilen zu können.

„Die alten Rituale sind schon seit ewigen Zeiten in Vergessenheit geraten. Kaum einer kennt sich noch damit aus. Es gibt nur noch Sagen und Legenden darüber. Aber neulich kam mir eine Idee. Vielleicht bist du der einzige, der sehen kann, ob es klappt.“

Zoro wurde hellhörig. Jeder Versuch und jeder Hinweis waren bares Gold wert. Er würde alles probieren, nur um seiner Freundin zu helfen.

„Wenn ein Schwertschmied ein Schwert schmiedet, dann tut er das mit all seinem Wissen und all seiner Kunst. Es ist für ihn das höchste Streben, das perfekte Schwert herzustellen. Also fertigt er meistens zwei an: Eines für den Kampf und eines als Opfergabe für die Götter. Unser Schwert ist schon seit unzähligen Generationen im Familienbesitz. Ich übergab es dir damals nicht nur, weil du mich darum gebeten hattest. Ich wusste, wenn es jemand führen kann, dann nur jemand mit einem starken Willen, ein Versprechen zu erfüllen und Kuinas Traum weiterzutragen. Das hast du getan.“

Kôshirô unterbrach seine Ausführungen, sah über den Hof und die Baumwipfel in die sich nun zum Nachmittag am Himmel ziehende Sonne.

„Euer Versprechen wurde eingelöst. Ich hatte gesehen, dass Tashigi das Schwert zwischenzeitlich auch führte. Dann hatte es sich Taiyoko auch noch ausgeliehen, als sie in Not war. Natürlich war es immer in Familienhänden. Aber ursprünglich wäre der Familientradition nach immer Kuina diejenige gewesen, die es hätte vererbt bekommen. Das Schwert ist ein edles Gut. Kein Wanderpokal. Vielleicht ist es Zeit, dass das Schwert nach Hause zurückkehrt, nachdem es durch die halbe Welt getragen wurde. Der Name des Schwertes lautet übersetzt „Der eine Weg zur Harmonie“. Der weiße Lack soll dem Mythos nach Einhornblut sein. Vielleicht fehlt dem Schmetterlingsschrein ein neues Schreinschwert, damit Kuina Harmonie und Frieden findet. Was meinst du?“

Wow, das klang alles sehr einfach und doch so durchdacht und tiefgründig. Kôshirôs Ruhe und Weisheit schienen Zoro manchmal größer als ein Ozean. Er hatte so unendlich viel von ihm lernen können. Natürlich würden er mit Tashigi den Weg zum Schrein gehen und dort nach einer Antwort suchen. Sie hatten eh vorgehabt, sich dorthin zu begeben, wenn die Hitze etwas nachgelassen hätte. Zoro dankte seinem Ziehvater für die gute Idee.
 

Wieder einmal beschritt Zoro den Weg zum Schrein. Tashigi und ihn trieben keine Eile an. So spazierten sie gemäßigt über den geschlängelten Pfad durch die Felder und folgten dem Weg durch den lichten Buchenwald an plätschernden Fluss mit den großen, flachen Steinen entlang. Als sie die felsige Stelle passiert hatten, ab wo sich nun der „Wald der Gehängten“ erstreckte, stoppte Zoro abrupt. Er konnte sie nun sehen: Die Geister der Selbstmörder. Und nun wurde es auch deutlich, was die meisten in den Suizid getrieben hatte, denn viele trugen ein Fluchmal am Halse. Sie mussten die Überlebenden des Rituals gewesen sein, die nicht mehr mit der quälenden Schuld leben konnten, ihren eigenen Zwilling mit den bloßen Händen erdrosselt zu haben. Zoro holte einmal tief Luft, um das Gesehen zu verdauen.

„Was siehst du? Ich muss das wissen. Bitte!“, flehte sie und blickte ihn mit gefestigtem Gesichtsausdruck an.

Er überlegte kurz und gab ihrer Bitte statt. Und er erzählte ihr viel mehr, als er gesehen hatte und was nun eventuell des Rätsels Lösung sein könnte.

„Es gibt hier ein altes Lied und manchmal habe ich es als Ohrwurm noch im Kopf. Und je mehr ich über die Idee deines Vaters nachdenke, desto mehr denke ich, dass es funktionieren wird.“

Tashigi nickte ihm aufmunternd zu, und Zoro stellte fest, dass sie so unglaublich stark war. Stärker, als er sie manchmal eingeschätzt hatte. Er war so unglaublich stolz auf sie. Und stolz, dass er sie an seiner Seite haben durfte.

Als sie oben den Schrein erreichten, erübrigte sich jegliche Frage, ob Kuina von ihrer Anwesenheit wusste. Das Mal an Tashigis Hals leuchtete hell und strahlend. Es war so hell, dass der Schein den finsteren Tunnelgang im Inneren des Schreins geheimnisvoll in rotes Licht tauchte und ausreichend beleuchtete. Und plötzlich löste sich ein Lichtfunken, faltete die Flügel auseinander und flatterte als Schmetterling so schnell voran, dass Zoro und Tashigi nur mit Mühe folgen konnten.

Dann endete der Gang. Zoro kannte diesen Ort schon. Der quadratische Abgrund und der Quader aus blankem Stein, wo das Ritual vor ewigen Zeiten vollzogen worden war. Tashigi fröstelte. Obgleich sie keine Visionen hatte wie ihr Freund, spürte sie die Eiseskälte, die von hier ausging.

„Kannst du sie sehen?“, fragte sie ängstlich.

„Klar!“, flüsterte er ihr zu und trat dann vor zu den Quader.

Dann band er Wadôichimonji von seinem Gürtel los und bot es Kuinas Geiste mit beiden Händen wie eine Opfergabe an. Erstaunlicher Weise war sie nicht wütend, wie er sie einst in der Villa im Bambushain erlebt hatte, sondern sah sehr, sehr enttäuscht aus.

„Du willst mich nicht mehr bei dir haben?“, fragte sie traurig.

Zoro hatte sich den halben Weg überlegt, wie er sein Anliegen derart glaubhaft verkaufen konnte, dass sie darauf einging. Das Gespräch mit seinem Ziehvater und ehemaligem Meister half ihm dabei.

„Nein, ganz im Gegenteil. Es ist dein Schwert. Es gehörte schon immer dir und soll auch so bleiben. Es war die ganze Reise bei mir, um mich immer an die Erfüllung unseres Versprechens zu erinnern. Und es war auch so, als wärst du immer bei mir gewesen. Jetzt aber möchte ich es mit großem Dank und Respekt zurückbringen.“

Zwei Geisterhänden nahmen ihm das weiße Katana ab. Kuina blickte stumm auf es hinab, als würde sie über etwas nachdenken. Für Tashigi hingegen sah die Szene sehr gruselig aus. Immerhin schwebte das Schwert waagerecht vor Zoro in der Luft, weil sie den Geist nicht sehen konnte. Doch sie spürte, dass etwas gut werden musste. Das rote Mal an ihrem Halse beruhigte sich. Das brennen und die Atemnot ließen nach.

„So wie du mich durch das Schwert begleitet hast, begleite ich nun dich durch das Schwert. Wenn unsere Freundschaft eine sichtbare Verbindung hatte, dann wohl auf immer und ewig durch das Schwert. Denkst du nicht?“, ergänzte er. „Nimmst du es zurück?“

Es herrschte eine lange Zeit Stille. Zoro fürchtete schon, nichts und niemand, noch nicht einmal er selber, könnte Kuina auf irgendeine Weise glücklich machen und ihr inneren Frieden geben. Erstaunt war er dann aber, als sie plötzlich den Kopf hochriss, ihm direkt in die Augen sah:

„Danke!“

Sie verschwand vor seinen Augen. Da war kein Augenblick mehr, um etwas zu sagen oder nur um eine Abschiedsgeste hätte zeigen zu können. Scheppernd fiel Wadôichimonji zu Boden und fand später seinen neuen Platz im Schreinschrank auf dem Altar.

Tatsächlich sollte Tashigi auf immer und ewig sichtbar ihren Schmetterling am Hals bei sich tragen, doch sollte er solange verstummt sein, solange sich das Schwert im Schreinschrank verwahrte.
 

Sie hatten sich auf dem Rückweg Zeit gelassen. Es war ein wenig so, als hätten sie mit dem Abstieg von dem Berg einen alten Abschnitt ihres Lebens begraben und hinter sich gelassen. Und als sie den Ausgangspunkt ihres Ausfluges wieder erreichten, stieg schon langsam die Morgensonne wieder die Höhe. Ein neuer Tag brach an.



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