Zum Inhalt der Seite

Mörderische Goldgier

"Geliebter Blutsbruder"- Teil II
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Freud und Leid

Einige Augenblicke später traten dann auch Winnetous Jugendfreunde und stellvertretende Häuptlinge ein. Dass es sich gleich beide nicht hatten nehmen lassen, das Pueblo zu verlassen und zu unserer Unterstützung herbeizueilen, machte wieder einmal deutlich, wie sehr sie an ihrem Oberhäuptling und Freund hingen, wie eng sie sich mit ihm verbunden fühlten. Deshalb waren auch ihre Gesichter voll der Sorge, als sie sich nach einem kurzen Gruß an Walter und mich sofort an Winnetous Seite begaben.

Beide sahen genauso aus, wie ich es mir in ihrer Situation vorgestellt hatte:

Als Winnetou das Pueblo verlassen hatte, war er nach langen Monaten der Genesung endlich wieder im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen und hatte vor Gesundheit nur so gestrotzt. Und nun, nur wenige Wochen später, sahen sie ihn wieder, in einem schlechteren Zustand als jemals zuvor – wie musste sich dieser Umstand auf das Gemüt seiner Freunde auswirken!

Sie zeigten in diesem Augenblick auch weit mehr Emotionen, als sie es sich aufgrund ihrer indianischen Erziehung und Kultur sonst je erlaubt hätten, ungeachtet unserer Anwesenheit – und diese Sorge, dieses Mitgefühl hätten sie auch mit Sicherheit vor keinem anderen als uns offenbart. Vor mir schämten sie sich ihrer Ängste nicht, da ich die meinen nicht nur jetzt, sondern auch schon vor Monaten nie vor ihnen versteckt hatte, und dem Doktor vertrauten sie offenbar genauso, wie ich es tat.
 

Beide saßen sie nun stumm an Winnetous Seite; Entschah-koh hielt dessen Hand fest an sich gedrückt, während Til Lata ihm liebevoll erst ein paar Haarsträhnen beiseite strich und gleich danach ein weiches Tuch ergriff, um seinem Häuptling vorsichtig den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Es war unglaublich berührend, diese beiden sonst so ernsten und unnahbaren Krieger jetzt einmal auf diese Weise zu erleben, mit sichtlich bewegten Gesichtszügen, die sie ausnahmsweise mal nicht vollständig unter Kontrolle hatten, mit einer solch liebevollen und gefühlsbetonten Gestik Winnetou gegenüber, die mit Sicherheit noch kein Mensch zuvor an ihnen außerhalb ihrer Wohnungen im Pueblo gesehen haben mochte. Bei diesem Anblick brannte es verdächtig hinter meinen Augenlidern, und ich musste mich schwer zusammennehmen, um nicht vollständig die Kontrolle zu verlieren.
 

Als die beiden Häuptlinge sich wieder etwas gefasst hatten, besprachen sie mit uns ausgiebig unser schwieriges Vorhaben, Winnetou für die Zeit seiner Genesung und Erholung nach Europa reisen zu lassen. Beide stimmten unseren Beweggründen vorbehaltlos zu und waren auch mit unseren weiteren geplanten Maßnahmen hinsichtlich der Einbeziehung der Westmänner und Soldaten mehr als zufrieden.

Allerdings waren auch sie sich einigermaßen unsicher, wie Winnetou auf all das reagieren würde. Til Lata konnte sich nicht so recht vorstellen, dass der Oberhäuptling der Apatschen irgendwann tatsächlich bereit wäre, auf so lange Zeit seine Verantwortung abzugeben – aber die Aussicht, dass in der Zwischenzeit Rot wie Weiß eng zusammenarbeiten würden, um den Frieden zu erhalten, ließ ihn hoffen, dass dieser Umstand Winnetou dann doch möglicherweise umstimmen könnte.
 

Aber als ich nun vorsichtig die Frage in den Raum stellte, ob es dem Volk der Apatschen aufgrund der schweren Erkrankung Winnetous nicht vielleicht sogar lieber sein könnte, einen neuen Oberhäuptling an seine Spitze zu wählen, da wiesen die beiden diese Möglichkeit weit von sich, fast schon ein wenig empört. Und dann begannen sie haltlos und wild durcheinander Winnetous Vorzüge aufzuzählen, sein Charisma, seine Aura, seine ganze Persönlichkeit anzupreisen mit dem deutlichen Hinweis darauf, dass auf diesen Mann kein einziger Apatsche jemals würde verzichten wollen – zumindest nicht einer, der noch bei klarem Verstand war!

In diesem Augenblick war nichts mehr von der Ruhe und Würde der beiden hochrangigen Krieger zu spüren; im Gegenteil, sie ereiferten sich so sehr, dass ich mich ihnen fast lachend ergab und schwor, nie wieder eine solche Unterstellung von mir zu geben!
 

Im Anschluss kamen wir noch auf das Problem der verschiedenen Stämme zu sprechen, die miteinander im Clinch lagen und die Winnetou in Kürze hatte besuchen wollen. Auch Til Lata und Entschah-koh waren der Meinung, dass mein Freund in all den Jahren so viel für sein Volk und die benachbarten Stämme getan hatte, dass man von diesen ruhig erwarten, nein, sogar verlangen konnte, dass die Verantwortlichen sich jetzt einmal ins Pueblo begaben, um dort miteinander zu beraten und bestenfalls Frieden zu schließen. Entschah-koh war sich im Übrigen auch sehr sicher, dass es einem Boten gelingen würde, die Betreffenden von der Notwendigkeit des Unternehmens zu überzeugen.

Unter normalen Umständen hätte sich jetzt zumindest einer der beiden stellvertretenden Häuptlinge sofort aufgemacht, um persönlich die Rolle dieses Boten zu übernehmen, so dass man dadurch die höchstmögliche Überzeugungskraft ausüben konnte – aber die Aussicht, Winnetou demnächst für eine lange, lange Zeit nicht mehr an ihrer Seite oder zumindest in ihrer Nähe zu wissen, veranlasste die zwei zu dem Vorhaben, ihn bis zu unserer Abreise eng begleiten zu wollen. Außerdem wussten sie genau, dass ich jede Unterstützung benötigen würde, um Winnetou davon zu überzeugen, dass er diese Reise auf jeden Fall antreten sollte, und da würden mir seine Jugendfreunde mit Sicherheit eine große Hilfe sein.
 

Zu guter Letzt musste ich den beiden Apatschen noch einmal haarklein über die Geschehnisse der letzten Wochen berichten, angefangen bei der Rettung der drei Siedlerkinder aus dem Pecos, welche Winnetou und mich in größte Lebensgefahr und meinem Freund dann auch fast den Tod gebracht hatte. Natürlich wollten sie auch alles über unsere Gefangenschaft in Motawatehs Zelt erfahren, und als ich ihnen schilderte, welch grausame Qualen ihr Oberhäuptling dort hatte ertragen müssen, diese aber ohne mit der Wimper zu zucken erduldet hatte, kostete es sie unendlich viel Mühe, äußerlich ruhig zu bleiben – aber ihre mahlenden Kiefermuskeln sowie die zu Fäusten geballten Hände sprachen eine deutliche Sprache, und auch mir fiel es weiterhin sehr, sehr schwer, über diese furchtbaren Stunden zu sprechen.

Doch am schlimmsten war es für mich, noch einmal alle Einzelheiten des Kampfes mit den Kiowas zu wiederholen, und als ich an die Stelle kam, an der ich auf meinen Blutsbruder geschossen hatte, versagte mir fast die Stimme, und das Schuldbewusstsein stand mir wohl mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.
 

Aber Til Lata und Entschah-koh ließen es nicht zu, dass ich mich weiter in diesen negativen Betrachtungen erging. Im Gegenteil, sie sprachen mir sogar ihre Bewunderung für meinen Mut aus, eine solch endgültige Entscheidung im Angesicht der höchsten Gefahr für ihren Häuptling getroffen zu haben, eine Entscheidung, die für ihn letztendlich ja eine Erlösung bedeutet hätte – und das kam für mich jetzt doch recht überraschend. Die beiden Mescaleros nahmen diese grässlichen Geschehnisse offenbar völlig anders wahr, erlösten mich dadurch aber dennoch nicht vollständig von meinen Gewissensbissen.

Nun aber wurde es Zeit, dass sie sich nochmals mit unseren Gefährten zusammensetzten, um die folgenden Schritte ein letztes Mal genauestens zu besprechen; außerdem wollten sie Tsain-tonkee die große Aufgabe übertragen, die Häuptlinge der miteinander verfeindeten Stämme ins Pueblo einzubestellen, und dazu mussten sie ihm noch einige wichtige Dinge mit auf den Weg geben.

Wie freute ich mich für den jungen Unterhäuptling, dass nicht nur Winnetou, sondern auch seine beiden hochrangigsten Stellvertreter in ihm ein so großes Vertrauen setzten!

Also verließen die beiden Mescaleros mich jetzt, baten aber darum, dass ihnen sofort Bescheid gegeben werden sollte, wenn Winnetou erwachen würde.
 

Jetzt trat auch wieder unser Doktor ein, der sich nochmals einer eingehenden Untersuchung meines Freundes widmete und auch mich ein weiteres Mal ausgiebig begutachtete. Mit mir war er offensichtlich so zufrieden, dass ich von fast allen Einschränkungen befreit wurde; ich durfte also wieder ganz normal am Leben teilnehmen, sollte mich allerdings noch nicht körperlich anstrengen. Das konnte ich ihm im Augenblick auch guten Gewissens versprechen, da ich meine neu gewonnene Freiheit erst einmal noch nicht ausnutzen wollte. Ich fühlte nämlich überhaupt kein Bedürfnis, mich sofort nach draußen zu begeben, um erstmals seit vielen Tagen wieder frische Luft zu atmen – nein, ich wollte unbedingt bei Winnetou bleiben, und das so nah wie möglich.

Also legte ich mich wieder an seine Seite, mit dem Kopf auf seine Schulter, die mir knochiger erschien als noch vor zwei, drei Wochen, spürte seine Wärme, seinen langsamen, ruhigen Atem, vernahm seinen ebenfalls langsamen, aber etwas unregelmäßigen Herzschlag, und ich schwor mir ein weiteres Mal in Gedanken, alles dafür zu tun, damit er wieder völlig gesund werden würde, möge es noch so lange dauern.

Seine unmittelbare Nähe wirkte nun auch wunderbar beruhigend auf mich, und deshalb war es wohl keine große Überraschung, dass ich kurz darauf wieder einschlief.
 

Von was ich eigentlich genau erwacht war, konnte ich gar nicht sagen, als ich die Augen wieder aufschlug. Draußen war es dunkel, und in einer Ecke der Kammer brannte eine kleine Öllampe, die alles in ein flackerndes Halbdunkel tauchte.

Mit einem Mal spürte ich eine hauchzarte Berührung an meinem Hinterkopf und erkannte im gleichen Moment, dass ich etwas Ähnliches vorhin schon mal gespürt haben musste und davon wohl auch erwacht war.

Und nun hob sich der Brustkorb meines Freundes mit einem tiefen Atemzug, so dass ich alarmiert hochfuhr. Ich sah ihn an – und blickte direkt in seine geöffneten Augen, schwarz, samtig, voller Liebe und Wärme.

„Scharlih“, flüsterte er mit schwacher Stimme, und abermals hob sich seine Hand, um mir sanft durchs Haar zu fahren. Ich war jetzt wie elektrisiert. Vorsichtig richtete ich mich etwas auf, legte ihm meine Hand auf die Stirn und fragte leise, vor Freude allerdings auch ein wenig wirr durcheinander stammelnd:

„Mein Bruder... mein lieber, guter Bruder! Endlich... du bist wieder... wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“

Verneinend schüttelte mein Freund den Kopf. Er sah mir lange, lange ins Gesicht, schien mich dann mit seinen Blicken förmlich abzutasten, als diese an meiner Gestalt herauf und herunter glitten. Dann stieß er einen erleichterten Seufzer aus und setzte wieder zum Sprechen an, doch die Worte kamen noch mühsam, heiser und ganz leise:
 

„Scharlih... ist mein lieber... mein lieber Bruder wieder... ganz gesund? Hat er das... Schlangengift... besiegt?“

Ich hatte mich gleich zu Beginn seiner Frage umgedreht und nach einem Becher gegriffen, den ich schnell mit frischem Wasser füllte und jetzt an seine Lippen setzte, wobei ich ihn ermahnte:

„Ich bin völlig wiederhergestellt, hab keine Sorge, mein Freund! Doch jetzt, bitte, versuche ein wenig zu trinken, und sprich nicht viel, ich sehe ja, dass es dich zu sehr anstrengt und dir Schmerzen bereitet!“

Er nickte nur und trank dann gehorsam, während ich ihn mit meiner Hand im Rücken abstützte und dabei meine Rührung zu unterdrücken versuchte aufgrund der Tatsache, dass mein geliebter Freund sich wieder einmal nur um mein Befinden gesorgt hatte, anstatt erst einmal an sich zu denken!
 

Mit kleinen Unterbrechungen gelang es ihm schließlich sogar, den Becher zu leeren, und sofort danach bettete ich ihn wieder behutsam in die Felle, was er auch mit einem tiefen Aufatmen und geschlossenen Augen geschehen ließ.

Ich ließ ihm erst einmal etwas Zeit zum Durchatmen, damit er sich von dieser für ihn schon kräftezehrenden Anstrengung erholen konnte.

Währenddessen hielt ich mich ganz nah an seiner Seite, strich ihm mit einer Hand immer wieder über sein herrliches Haar und legte sie ihm anschließend nochmals auf die Stirn. Ich konnte spüren, dass er noch unter einer erhöhten Temperatur litt, aber so fiebrig wie noch vor ein paar Stunden fühlte er sich jetzt bei weitem nicht mehr an.

Liebevoll, aber auch mit einer gewissen Sorge betrachtete ich den erschöpft Daliegenden, beobachtete ihn ganz genau, um sofort eingreifen zu können, sollte er Anstalten machen, sich wieder zu sehr anzustrengen. Im Augenblick aber rührte er sich nicht, sondern lag weiterhin so ruhig da, dass ich fast schon zu glauben begann, dass er wieder eingeschlafen war.
 

Mit einem Mal aber öffnete er wieder die Augen. Sein Blick irrte unruhig im Raum umher, bis er mich erneut fand - noch einmal sah er mich prüfend an, noch einmal tastete dieser Blick meine gesamte Gestalt ab, und dann endlich schien er wirklich zu glauben, dass es mir tatsächlich wieder gut ging, was sich auch darin äußerte, dass er abermals die Augen schloss und gleichzeitig einen hörbar erleichterten Seufzer ausstieß.

Sofort ergriff ich seine Hand, führte sie an meinen Mund, um einen innigen Kuss auf den Handrücken zu setzen und drückte sie dann fest an mich, während ich ihm im sanften Ton zusicherte:

„Winnetou braucht sich wirklich keine Sorgen zu machen – weder um mich noch um irgendetwas anderes! Der Kampf ist gewonnen, und die einzigen Ängste, die uns alle hier jetzt noch bewegen, sind die um die Gesundheit meines lieben Bruders!“

Wieder öffneten sich seine Lider, und nun sah er mich mit ernster Miene an, doch gleichzeitig waren diese wundervollen Sternenaugen so voller Wärme und Liebe, dass ich unwillkürlich erschauerte und mich dabei ertappte, dass ich meinen Blick gar nicht mehr von ihnen lösen konnte.

Ich strich ihm mit meiner Hand sanft über seine Wange und fragte leise:

„Wie geht es dir, mein Freund? Wie fühlst du dich?“
 

Seine Kehle war jetzt nicht mehr so ausgetrocknet, weshalb er auch nur noch ein wenig heiser klang, als er mir leise versicherte:

„Auch Scharlih muss... keine Sorgen haben – Winnetou fühlt nur noch.... große Müdigkeit, nichts weiter.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das glauben sollte, aber dass er furchtbar müde war, das sah ich ihm nicht nur an, das war auch mehr als verständlich nach all den Medikamenten, die der Doktor ihm in der letzten Zeit verabreicht hatte.

Doch nun richtete sich meine Aufmerksamkeit wieder voll auf meinen Freund, der erneut leise und stockend zum Sprechen ansetzte, was ich eigentlich gar nicht zugeben und deshalb sofort wieder unterbinden wollte, doch seine folgenden Worte ließen mich stattdessen gebannt lauschen:
 

„Scharlih – Manitou hat... hat uns gerade... noch zur rechten Zeit Hilfe gesandt! Winnetou hatte schon fest mit seinem... seinem Leben abgeschlossen... und nur noch darauf gehofft, dass sein guter Bruder auch... auch nicht mehr lange zu... zu leiden braucht – doch der große Geist hat entschieden, dass... dass wir in diesem Leben noch einige Aufgaben... zu erfüllen haben!“

Seine Rede berührte mich nun so sehr, dass ich gar nicht anders konnte als ihn vorsichtig in meine Arme zu ziehen und fest an mich zu drücken. Ich bettete seinen Kopf an meine Brust und wagte dann eine Frage zu stellen, die mir schon länger im Kopf herumspukte:

„Ja, wir dürfen noch immer unter den Lebenden weilen – aber mein Bruder hat mir einmal gesagt, dass er es spüren würde, wenn sich sein Leben dem Ende zuneigt. Warst du dir in den Stunden vor dem Kampf nicht sicher, ob das nun das Ende ist – und wenn doch: wolltest du es mir nicht sagen?“
 

Er dachte kurz nach, bevor er mir antwortete:

„Nein, Scharlih – Winnetou hatte zu keiner Zeit die... die Gewissheit gehabt, dass er... in dieser Nacht sterben würde. Und doch... unsere Situation war in diesen letzten Minuten so... so ausweglos, dass ich mir zu diesem... Zeitpunkt... sicher war, nun den... den Gang zu den Sternen antreten zu dürfen...“

Dieses kleine Wörtchen „dürfen“ sorgte dafür, dass mir erneut ein leiser Schauder den Rücken hinunter rieselte. Doch ich versuchte das zu ignorieren und hakte dann weiter nach:

„Und wenn du einst die Gewissheit haben solltest – wirst du mit mir darüber sprechen? Auch wenn es für mich unvorstellbar wäre und die schrecklichste Situation darstellen würde, die ich mir überhaupt vorstellen kann – ich würde einfach alles dafür geben, wenn ich mich vorher in Liebe von dir verabschieden könnte!“

„Winnetou verspricht es“, sagte er leise.
 

Und dann sah ich mit einem Male Tränen in seinen Augen glitzern, so dass der Sternenhimmel in ihnen begann, sich in einen funkelnden Diamanten zu verwandeln. Dieser Anblick brachte mein Innerstes zum Schmelzen; ich musste an mich halten und mehrmals schlucken, um nicht dem Drang nachgeben zu müssen, meinen Tränen freien Lauf zu lassen.

Stattdessen drückte ich meinen Freund noch fester an mich, küsste ihn sacht auf die Stirn und fragte, beinahe ängstlich:

„Welcher Kummer drückt die Seele meines Bruders nieder? Oder hast du etwa doch Schmerzen?“

Auf meine letzte Frage hin schüttelte er fast schon energisch den Kopf und sah mir dann tief in die Augen:

„Verzeih... verzeih mir, Scharlih! Winnetou wollte doch nicht, dass sein Bruder sich... abermals so sehr sorgen und... und ängstigen muss! Er war so sehr bereit, alles... alles dafür zu tun, damit sein Körper schnell wieder so... so stark und gesund werden würde wie bei unserer... Abreise aus dem Pueblo....“

Er kam nicht weiter, denn sofort hatte ich die Selbstanklage meines geliebten Freundes unterbrochen, indem ich ihm kurzerhand meine Lippen auf die seinen drückte. Das fehlte noch, dass er sich jetzt auch noch die Schuld an all den furchtbaren Geschehnissen gab!
 

Einige wenige, aber wunderbar innige Momente lang liebkoste ich auf sanfte Weise seine schön geschwungenen Lippen, bevor ich fast schon schweren Herzens von ihnen abließ und stattdessen nun kopfschüttelnd meinem Blutsbruder den Zeigefinger auf den Mund legte und ihm somit Stillschweigen gebot. Meine Stimme zitterte leicht, als ich ihm meine Sichtweise darzustellen versuchte:

„Ich bitte dich, mein Bruder – du darfst dir doch keine Vorwürfe machen! Wenn jemand an all diesen schrecklichen Ereignissen die Schuld trägt, dann ist das nur allein dieser Bastard namens Thomson! Und nun, und das ist im Moment mein größter Wunsch, meine größte Bitte an dich: Sprich jetzt nicht mehr, sondern trinke noch etwas Wasser und versuche vor allem, ein wenig Nahrung zu dir zu nehmen, ja?“

Mit diesen Worten setzte ich ihm abermals den von mir erneut mit Wasser gefüllten Becher an die Lippen, und auch jetzt kam Winnetou meiner Aufforderung sofort nach und trank alles aus. Ich sah ihm jedoch an, dass selbst diese wenigen Bewegungen schon recht anstrengend für ihn waren, und so unterstützte ich ihn, wo ich nur konnte.
 

Der Doktor hatte – umsichtig, wie er immer war – eine Schale, gefüllt mit kräftiger, mit Maismehl angedickter Fleischbrühe, in meiner Reichweite stehen lassen. Diese war zwar jetzt kalt, aber das tat dem Geschmack trotzdem keinen Abbruch, wie ich aus eigener Erfahrung wusste.

Daher ergriff ich nun diese Schale und begann, meinem Freund langsam, Löffel für Löffel der nahrhaften Speise anzureichen, und er ließ es willig geschehen. Doch viel konnte er noch nicht zu sich nehmen, dafür war seine letzte Mahlzeit einfach zu lange her gewesen – außerdem fehlte ihm schlicht und ergreifend die Kraft.

Er lag danach auch wieder sichtlich erschöpft in meinen Armen, und diese Zeit nutzte ich, um ihm nochmals zu versichern, dass seine Schuldgefühle absolut unsinnig waren:
 

„Winnetou – es gibt für mich überhaupt nichts zu verzeihen! Im Gegenteil, du hast doch nun wirklich alles dafür getan, um dir und mir das Leben zu erhalten, aber irgendwann war das Ganze für uns einfach nur noch aussichtslos! Keiner von uns beiden konnte wissen oder auch nur ahnen, dass doch noch rechtzeitig Hilfe nahen würde! Und wenn sich...“

Obwohl ich meinen Freund eindringlich gebeten hatte, nicht mehr zu sprechen, unterbrach er mich jetzt doch, immer noch mit leiser, stockender Stimme, um seinem Herzen Luft zu machen:

„Winnetou hat... hat aber die Aufforderungen des Doktors... missachtet und damit seine Gesundheit riskiert – und... alleine für... für dich, Scharlih,... wollte er nie wieder so handeln!“

Wieder einmal berührten mich seine Worte so sehr, dass es mir schwer fiel, ihm zu antworten, so eng war mir meine Kehle geworden.
 

„Aber das hast du doch nur für mich getan! Walter hat mir erzählt, dass du dich selbst völlig vergessen hast, allein um mir zu helfen – das darfst du dir doch nicht vorwerfen! Ich kann mich gar nicht glücklich genug schätzen, einen solchen Freund wie dich zu haben – und ich werde das niemals vergessen, was du für mich getan hast! Ich liebe dich über alles, mein Bruder!“

Nun war Winnetou sichtlich gerührt und im Augenblick unfähig, mit fester Stimme zu sprechen, daher begnügte er sich damit, mir die Hand zu drücken und seine Sternenaugen, in denen immer noch Diamanten funkelten, voller Wärme und Liebe auf mir ruhen zu lassen.
 

Noch einmal küsste ich ihn liebevoll auf den Mund, und während meine Hand ihm immer wieder über seine Wangen oder durch sein Haar strich, machte ich mich bereit, ihn auf das Kommende, das Unausweichliche vorzubereiten.

„Mein guter Bruder – du weißt, dass du dein altes Leben für eine lange Zeit nicht wirst wieder aufnehmen können?“, frage ich ihn jetzt ganz direkt.

„Winnetou hat sich so etwas schon gedacht....“ antwortete er leise, fast flüsternd.

Ich lächelte ihm aufmunternd zu, während ich weitersprach:

„Du bist sehr schwer erkrankt, verlierst zur Zeit auch noch viel an Gewicht – jede noch so kleine Anstrengung könnte daher im Augenblick zu deinem sofortigen Tod führen! Aber ich bin und bleibe an deiner Seite, und wir stehen das zusammen durch – da mag kommen, was will!“
 

Die Diamanten in Winnetous Augen funkelten noch ein wenig heller, als er mir ein leises Lächeln schenkte. Ich verschob nun auch mein Vorhaben, ihn über meine Reisepläne zu informieren, auf später, denn jetzt war deutlich zu spüren, dass ihn seine wenigen Kräfte wieder verließen und er deshalb schon nicht mehr in der Lage war, mir überhaupt noch zu antworten. Ich wollte das auch gar nicht, da jegliche Anstrengung für ihn nun mal mit einem gewissen Risiko verbunden war, und bemühte mich daher nur, ihm diesen Umstand noch einmal zu verdeutlichen:

„Im Augenblick darfst du wirklich nichts anderes tun als zu ruhen, zu essen und zu schlafen. Ich werde aber ständig an deiner Seite sein und darauf achten, dass du dir auch ja nichts anderes zumutest und keinerlei Anstrengungen unternimmst – so wie jetzt gerade, indem du dich bemühst, wach zu bleiben, obwohl es deinem Körper nach Schlaf verlangt!“

Winnetous Lächeln vertiefte sich noch etwas, wohl auch deshalb, weil ich mich sichtlich darum bemüht hatte, eine gewisse Strenge an den Tag zu legen, was mir aber ganz und gar nicht gelang. Trotzdem schloss er jetzt gehorsam die Augen – und war Minuten später auch wieder eingeschlafen.
 

Lange Zeit saß ich dort auf dem Lager, meinen geliebten Freund in den Armen haltend, und hing meinen Gedanken nach, während draußen allmählich der Morgen heraufdämmerte. Vor allem die kommende Zeit in Deutschland – vorausgesetzt, Winnetou sperrte sich nicht mit allen Fasern seines Körpers gegen mein Vorhaben, dann würde das Ganze natürlich überhaupt keinen Sinn machen – beschäftigte mich. Ich wusste ja, dass das alles nicht ganz einfach werden würde, aber je mehr ich mich mit den vielen Möglichkeiten befasste, die sich mir boten, um meinen Freund in Ruhe gesund werden zu lassen, desto mehr überwog die Zuversicht und ich begann mich allmählich wirklich auf das Unternehmen zu freuen.
 

Die Sonne war gerade aufgegangen, da betrat der Doktor schon die Kammer, und sofort berichtete ich ihm, natürlich im Flüsterton, freudig über das erste Erwachen meines Blutsbruders samt der Tatsache, dass er sogar schon etwas Nahrung zu sich genommen hatte. Hendrick setzte sich daraufhin rasch an unsere Seite und ließ sich, fast schon begeistert, noch einmal jede Einzelheit von mir haarklein berichten, während er gebannt lauschte.

Er war dann auch mehr als zufrieden mit dem Gehörten und begann, meinen Freund noch einmal gründlich zu untersuchen. Währenddessen fragte er mich:

„Du konntest Winnetou somit noch nicht auf deine geplante Reise mit ihm ansprechen?“

„Nein, Walter“, antwortete ich. „Erst einmal war es für mich am wichtigsten zu erfahren, ob er nicht doch noch unter Schmerzen zu leiden hatte, und anschließend benötigte er all seine Kraft, um zu trinken und etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Zudem machte er sich auch noch diese unsinnigen Selbstvorwürfe – und die musste ich ihm dringend wieder ausreden!“
 

Kopfschüttelnd ging Hendrick seiner Aufgabe weiter nach, kam aber dann doch noch mal auf meine Worte zurück:

„Was für ein unglaublicher Mensch! Er rettet dir das Leben, riskiert dabei aber sein eigenes – und entschuldigt sich anschließend noch bei dir, weil ihm das eine nicht ohne das andere gelungen ist! Ich sage dir, Charlie: dieser Mann hier ist viel mehr Christ, ist weit mehr zivilisiert als die allermeisten Menschen unserer weißen Rasse – und das beweist er mit jedem Tag aufs Neue!“

Ich konnte nicht anders als zustimmend nicken, und gerade weil Hendricks Worte mir soeben noch einmal verdeutlicht hatten, was für ein unglaubliches Glück mir zuteilgeworden, als mir ein solch edler Mensch wie mein Winnetou an die Seite gestellt worden war, gerade deshalb konnte ich jetzt nicht umhin, meinem Geliebten sanft die Stirn zu küssen und seine Hand fest an meine Brust zu drücken.
 

Walter sorgte nun dafür, dass mir ein wunderbares Frühstück serviert wurde, und auch für meinen Freund wurde eine weitere Schale mit Maisbrühe vorbereitet, die ihm bei seinem nächsten Erwachen sofort angereicht werden sollte.

Noch während ich mit Genuss mein Frühstück verspeiste, erschienen vier unserer Gefährten mitsamt Tsain-tonkee in der Kammer, die sich für ihr geballtes Auftreten ein weiteres Mal einen bitterbösen Blick unseres Doktors einfingen. Man hatte daraufhin fast den Eindruck, als ob zumindest die vier Weißen, nämlich Emery, Sam, Surehand und Firehand, ganz kurz davor waren, kleinlaut die Köpfe einzuziehen – aber sie wollten mir nun einmal Lebewohl sagen und dabei auch unbedingt noch einen letzten Blick auf Winnetou werfen. Überdeutlich war zu erkennen, dass sich die große Sorge um ihn in allen Gesichtern widerspiegelte und wohl auch noch lange unser aller und ständiger Begleiter bleiben würde.

Nachdem sie den Doktor und vor allem mich mehrfach ermahnt hatten, unter allen Umständen gut auf den Apatschenhäuptling achtzugeben, machten sich die vier Westmänner, begleitet von unseren guten Wünschen, auf den Weg, um ihr Versprechen einzulösen und so viele unserer vormaligen Weggefährten zusammenzutrommeln, wie nur möglich.
 

Dadurch ergab sich für Tsain-tonkee noch die Gelegenheit, sich in Ruhe von uns und vor allem von seinem Häuptling zu verabschieden, und das tat der junge Indianer auch ausgiebig. Man sah ihm deutlich an, dass es ihm sehr schwer fiel, Winnetou gerade während der für ihn so gefährlichen Phase seiner Krankheit verlassen zu müssen, aber seine Aufgabe war nun einmal eine immens wichtige und würde bei einem erfolgreichen Abschluss viel dazu beitragen, dass mein Freund in Ruhe wieder genesen konnte.

Zum Abschied strich der Unterhäuptling Winnetou noch einmal sacht über Stirn und Wangen, dann drehte er sich mit einem Ruck um und verließ schnell den Raum – doch nicht schnell genug, um verhindern zu können, dass ich das Glitzern in seinen Augen erkannt hatte, was mich wirklich sehr berührte.
 

Nun verließ auch noch unser Doktor die Kammer, um sich in seine eigene zu begeben, natürlich nicht ohne mich vorher eindringlich darauf hinzuweisen, dass ich selbst bei den geringsten Veränderungen von Winnetous Zustand sofort laut rufen sollte, um seine Hilfe anzufordern. Im Übrigen hätte er es sich auch leichter machen und einfach an der Seite des Häuptlings sitzen bleiben können, doch er war wahrscheinlich der Meinung, dass es meinem Freund mit mir allein an seiner Seite einfach besser ergehen würde.
 

Es schien dann auch tatsächlich fast so, als hätte der Apatsche gespürt, dass sich außer mir niemand mehr in dem Raum aufhielt, denn nach höchstens einer Viertelstunde, in der wir dort allein zugebracht hatten, begann er, sich langsam zu regen, begleitet von mehreren tiefen Atemzügen.

Sofort zog ich ihn noch fester in meine Arme und bedachte ihn gleichzeitig mit einer ganzen Reihe von Zärtlichkeiten, bis er schließlich die Augen aufschlug. Kaum hatte er mich erkannt, schenkte er mir wieder sein so zu Herzen gehendes warmes Lächeln und drückte gleichzeitig meine Hand.

Ich sah, dass er zum Sprechen ansetzen wollte, unterband das aber wieder sofort und sorgte erst einmal dafür, dass er genügend Wasser zu sich nahm. Auch danach erlaubte ich ihm das Reden noch nicht, sondern reichte ihm dafür löffelweise die nahrhafte Maisbrühe an, was er ebenfalls gehorsam über sich ergehen ließ, und zu meiner großen Freude gelang es ihm dieses Mal sogar, fast die ganze Schale zu leeren!
 

Natürlich fragte ich ihn wieder als erstes, ob er Schmerzen habe – und natürlich verneinte er abermals durch ein leichtes Kopfschütteln, wobei ich mir allerdings nicht ganz sicher war, ob ich ihm das wirklich glauben konnte.

Ruhig lag er jetzt in meinen Armen, warf mir hin und wieder einen liebevollen Blick zu und sah ansonsten mit fast schon abwegigem Blick auf den Ausgang der Kammer, zu der im strahlenden Gold die Morgensonne hereinschaute.

Ich hielt ihn weiterhin eng an mich gedrückt, mit einer Hand auf seiner Brust, und sein langsamer, wenn auch etwas unregelmäßiger Herzschlag wirkte wie immer ungemein beruhigend auf mich. Allmählich bekam ich das Gefühl, als ob sein Herz fast schon im Gleichklang mit meinem schlagen würde, von dem zwischenzeitlichen Stolpern mal abgesehen, und auch dadurch fühlte ich mich mit meinem geliebten Freund untrennbar verbunden, auf ewig.
 

Beinahe hätte ich dieses kostbare Leben ausgelöscht! Dieser Gedanke belastete mein Gewissen weiterhin schwer, ob ich wollte oder nicht. Immer wieder sann ich darüber nach, ob ich in diesem letzten, schrecklichen Augenblick nicht hätte anders handeln können, nein, hätte handeln müssen!

Sicherlich, die Lage war in meinen Augen einfach aussichtslos gewesen, und ich hatte meinem Blutsbruder versprochen, in einem solchen Fall seinem Leben ein schnelles Ende zu setzen, damit er nicht den unsäglichen Qualen dieses sadistischen Verrückten ausgesetzt werden würde – aber: hatte ich die ganze damalige Situation eigentlich auch richtig überblicken können? War ich in meinen Wahrnehmungen nicht erheblich eingeschränkt gewesen, allein durch die Nachwirkungen des fast tödlichen Würgens, welches ich kurz zuvor über mich hatte ergehen lassen müssen? Waren meine Sinne nicht getrübt gewesen durch den kräftezehrenden Kampf, der dem Ganzen vorangegangen war, verstärkt noch durch die Wirkung des Schlangengiftes, welches sich zum Teil immer noch in meinem Körper befunden hatte? War ich nicht generell geblendet gewesen durch meine übergroße Angst um den Apatschen, hervorgerufen vor allem durch die furchtbaren Geschehnisse in Motawatehs Zelt?
 

All das ging mir immer und immer wieder durch den Kopf, und auch wenn ich in dem besagten Moment mehr als genügend Gründe für mein Handeln zur Hand gehabt hatte, so war ich mir jetzt überhaupt nicht mehr sicher, ob ich die nahende Rettung durch die Gefährten nicht hätte bemerken müssen, auch trotz meiner vernebelten Sinne. Mir war, als wäre ich meiner großen Verantwortung für den Häuptling der Apatschen nur unzureichend nachgekommen, wenn überhaupt, und dieses Schuldgefühl lastete von Tag zu Tag mehr auf meiner Seele.
 

Hatte ich wirklich geglaubt, diese trüben Gedanken vor meinem Blutsbruder verbergen zu können? Mein unvergleichlicher Winnetou spürte trotz seiner körperlichen Schwäche natürlich ganz genau, dass mir etwas auf das Gemüt drückte, und natürlich – wie sollte es auch anders sein - ahnte er schon, was mich da eigentlich beschäftigte.

Ich war seinem Beispiel gefolgt und hatte währenddessen ebenfalls den goldenen Schein der Morgensonne beobachtet, der im Eingang immer weiter wanderte – da spürte ich mit einem Mal seine Hand auf meinem Arm. Ich sah auf ihn herunter und bemerkte erst jetzt, dass er mich wohl schon eine ganze Weile beobachtet hatte, denn seine dunklen Augen ruhten fragend auf mir.

Schon hatte ich die Frage auf den Lippen, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei oder ich etwas für ihn tun könne, da kam er mir zuvor, fragte nun mich, leise, behutsam, immer noch mit schwacher Stimme, doch zu meiner Freude kamen seine Worte jetzt flüssiger, nicht mehr so stockend:
 

„Was hat mein Bruder auf dem Herzen? Winnetou spürt genau, dass die Seele Scharlihs von unguten Gedanken gequält wird!“

Ach, mein Winnetou! Diese Treue, diese rührende Fürsorge, seine sanfte Stimme und die fragenden, samtig schimmernden Augen trafen mich wieder einmal bis ins Mark.

Wie immer in solchen Momenten quoll mein Herz über vor Liebe zu ihm, und schnell drückte ich ihm einen innigen Kuss auf die Stirn, was ihn aber beileibe nicht daran hinderte, mich weiterhin auffordernd anzusehen.

Tief holte ich Luft und stieß sie mit einem kleinen Seufzer wieder aus. Es nützte nichts – ich hatte sowieso vorgehabt, mit meinem Freund noch mal über die damalige, eigentlich völlig irrwitzige Situation zu sprechen, und je länger ich dieses vor mir herschob, desto schwerer würde es mir dann später mit Sicherheit fallen.
 

Ich zog ihn noch fester in meine Arme, und meine Hand begann dabei beinahe unbewusst, ihm über seine Arme und Schultern zu gleiten. Als sie an seiner linken Schulter angekommen war, stockten meine Bewegungen unwillkürlich, denn nun fuhren meine Finger ganz sanft über die noch frische Wunde, die die Kugel aus meinem Revolver an jenem verhängnisvollen Abend gerissen hatte.

Winnetous Blicke folgten meinen Bewegungen, dann aber, nach wenigen Sekunden, legte er seine Rechte auf meine Hand, beließ sie dort und zwang sie somit zum Stillstand.

Ich lehnte meinen Kopf ganz nah an den seinen heran, wobei mein Mund beinahe seine Schläfe berührte, und dann begann ich leise zu sprechen:
 

„Ich glaube... ich glaube, dass ich mir das nie werde richtig verzeihen können, mein Bruder...“

„Verzeihen? Diesen unbedeutenden Kratzer? Mein Bruder spricht nicht im Ernst!“

Ich brauchte gar nicht hinzuschauen, um das Lächeln zu sehen beziehungsweise zu hören, welches seine Worte begleitete, und fühlte mich allein durch diese entspannte Reaktion von ihm beinahe schon beruhigt. Dennoch wollte ich ihm jetzt unbedingt alles erzählen, was mich bedrückte, denn wenn ich erfuhr, wie er darüber dachte, würden meine Gewissensbisse vielleicht der Vergangenheit angehören. Also begann ich erneut:

„Ich kann es einfach immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich auf dich.... auf dich geschossen habe! Wäre der Revolverlauf nicht verkrümmt gewesen, hätte mich in dem Augenblick nicht Walters Stein getroffen und wärst du nicht auch noch gleichzeitig... zusammengesackt – ich hätte dich getötet! Meinen besten Freund, dessen Leben mir doch viel, viel mehr bedeutet als mein eigenes! Ich hätte dich getötet, obwohl...“
 

Weiter kam ich nicht, denn Winnetou hatte sich schon bei meinen ersten Worten etwas mehr aufgesetzt, sich halb zu mir gedreht und sah mich jetzt mit einem fast schon erschrockenen Ausdruck im Gesicht an.

„Scharlih... mein lieber, guter Bruder – wie kommst du bloß auf solche Gedanken? Winnetou weiß doch genau, dass du das alles nur für ihn getan hast! Du hast diese Entscheidung getroffen mit der festen Absicht, mir eine weitere Gefangenschaft und den Tod am Marterpfahl zu ersparen! Und ich war doch damit einverstanden! Wir haben beide nicht bemerkt, dass sich unsere Gefährten schon im Tal befanden – wir haben beide keinen Ausweg mehr gesehen! Wieso also glaubst du, du hättest dich versündigt? Wenn, dann hat sich Winnetou allein versündigt, da er nicht einfach abgewartet und sich Manitous Willen unterworfen hat!“
 

Nicht doch! Er machte sich jetzt auch Vorwürfe? Das war das Letzte, was ich mit meinem Geständnis erreichen wollte, und so setzte ich auch gleich alles daran, ihm diesen Unsinn sofort wieder auszureden:

„Aber nein! Winnetou trägt doch keine Schuld! Ich war es doch, der so gehandelt hat, ich allein habe dem Schicksal vorgegriffen! Ich hätte die Ankunft unserer Gefährten im Tal bemerken müssen – du aber warst dazu ja gar nicht mehr in der Lage, einerseits aufgrund der Kopfverletzung durch den Streifschuss, der dir vorübergehend das Bewusstsein geraubt hat, andererseits aber warst du schon zu diesem Zeitpunkt durch deine schwere Erkrankung gar nicht mehr richtig aufnahmefähig und konntest somit die nahende Rettung nicht mehr erkennen!“
 

Winnetou hatte sich jetzt noch etwas höher gestemmt und machte einen beinahe verzweifelten Versuch, mich irgendwie zu beruhigen und meine nicht enden wollende Beichte zu stoppen. Er umfasste mit seiner Hand sanft meine Wange, drehte mein Gesicht zu ihm hin und legte mir anschließend seinen Finger auf den Mund, so dass ich meinen Redefluss zwangsläufig unterbrechen musste.

„Winnetou wird nicht zulassen, dass sein Bruder sich so quält! Er hat nichts Falsches und nichts Böses getan – im Gegenteil, er hat alles versucht, um seinem Blutsbruder das Leben zu erhalten, und erst, als er keinen Ausweg mehr sah, handelte er, um diesen vor allem weiteren Leid zu schützen!“
 

Ich hätte es eigentlich voraussehen können, voraussehen müssen, dass mein Freund die Lage nur zu meinem Gunsten beurteilen und mir keinesfalls zürnen würde! Trotzdem machte ich noch einen schwachen Versuch, ihn zumindest von einer kleinen Teilschuld meinerseits zu überzeugen:

„Und doch habe ich dich verwundet... dabei hast du schon so vieles durchmachen müssen, und ausgerechnet ich vergrößere dieses Leid auch noch... „

Täuschte ich mich oder hörte ich jetzt ein leises Lachen meines Freundes? Ich verstummte augenblicklich, und dann vernahm ich es tatsächlich: Er begann zu lachen, erst leise, wurde dann lauter, lachte schließlich aus vollem Herzen, und ich konnte mich jetzt gar nicht mehr satt sehen an diesem seltenen Anblick, der mich tief in meinem Innersten berührte!
 

„Aber Scharlih! Dieser kleine Hautriss... Winnetou spürt ihn doch gar nicht... Was machst du dir nur für Gedanken...?“

Immer noch kämpfte er mit seinem Lachanfall, wovon ich so fasziniert war, dass ich ihn die ganze Zeit über lächelnd, aber wie gebannt ansah.

Er bemühte sich jetzt sichtlich, das Lachen zu unterdrücken, was ihm aber nicht völlig gelang, daher klang seine nächste Frage auch noch etwas abgehackt:

„Glaubt... mein Bruder vielleicht... etwa, dass Winnetou... sich in ein... kleines Kind... verwandelt hat, welches... bei jedem Kratzer heult und jammert?“

Seine Heiterkeit riss mich mit, und daher begann ich jetzt auch zu lachen, als ich antwortete:

„Aber nur wie ein weißes Kind, mein Freund – ein Indianerkind würde sich nie so benehmen!“

Aus irgendeinem Grund war es mit meinem Freund jetzt ganz aus – er warf sich zurück in die Kissen und Felle und begann abermals aus vollem Herzen zu lachen, was bei mir dazu führte, dass ich mich gar nicht mehr zurückhalten konnte und ebenfalls lauthals mit einfiel.
 

Dann aber fuhren wir beide heftig zusammen, als es wenig später mit einem Mal laut im Eingang unserer Kammer zu poltern und zu scheppern begann.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Onlyknow3
2016-02-07T04:09:44+00:00 07.02.2016 05:09
Danke für das neue Kapitel, freut mich das es Winnetou langsam besser geht. Auch das all sein Freunde um ihn herum sind, und das Winnetou die Schuldgefühle seines Blutsbruders beseitigt hat, das war wichtig weil Sharlih sonst vielleicht daran zerbrochen wäre bei dem Gedanken seinen Geliebten fast getötet zu haben. Jetzt heißt es nach vorne sehen, mit behutsamen Schritten den Häuptling auf seine große Reise nach Europa vorzubereiten.
Es tut gut zu wissen das er wieder wach ist, das er sich gut fühlt, und wohl wirklich kaum noch Schmerzen hat. Ob sich Winnetou aber auf die dauer wird ans Bett fesseln lassen ist eine andere Frage. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel egal wie lang es dauern mag.

LG
Onlyknow3


Zurück