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Mörderische Goldgier

"Geliebter Blutsbruder"- Teil II
von

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Böse Überraschungen

Mein Weg führte mich jetzt, wie fast jeden Abend um diese Zeit - zumindest seit Winnetou außer Gefahr war - zu dem freien Platz ziemlich in der Mitte des kleinen Tales, an dem in den Abendstunden immer ein großes Lagerfeuer errichtet wurde, um das sich die Bewohner der Festung meist vollständig versammelten.

Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, kurz vor der Nachtruhe – meistens schlief der Apatsche dann schon – für etwa eine Stunde an der stets geselligen und lustigen Runde teilzunehmen und mich mit den Freunden über die Ereignisse des Tages auszutauschen. Ich wurde dort immer schon sehnsüchtig erwartet, denn die Gefährten wollten von mir jedes Mal auf das Genaueste über Winnetous Gesundheitszustand unterrichtet werden. Sie fragten mich dabei über auch die geringsten Kleinigkeiten aus; jedes Wort, jede Geste meines Freundes musste ich ihnen beschreiben.

Ich hingegen war natürlich sehr interessiert an den Geschehnissen außerhalb der Festung, aber jeden Abend konnte man mir stets nur das Gleiche berichten: Die Kiowas suchten weiterhin nach unserem genauen Versteck, taten das aber auf eine recht behäbige Art und Weise, die nicht gerade auf übergroßen Eifer schließen ließ und übrigens auch an der völlig falschen Stelle stattfand – und Thomson nebst seinem uns unbekanntem Kumpan lag währenddessen weiter auf der faulen Bärenhaut, wo er alle unangenehmen und gefährlichen Arbeiten wie immer hübsch den Rothäuten überließ!
 

Ich war bisher noch nicht ein einziges Mal mit auf Kundschaft gegangen, da ich mich verständlicherweise auf keinen Fall von meinem Freund trennen wollte und ich mir im übrigen auch völlig sicher war, dass ich mich auf die Gefährten und ihre Fähigkeiten voll und ganz verlassen konnte.

Eines aber fand ich dann doch recht merkwürdig: Offenbar suchten die feindlichen Indianer da draußen immer wieder die gleichen Orte ab, ließen dabei aber, fast schon geflissentlich, die nähere Umgebung um den Eingang der Festung herum vollständig außen vor. Sicherlich: Gerade dieser Teil des Felsmassivs war auch wirklich schwer zugänglich, teils aus natürlichen Gründen, teils, weil Firehand den einzigen Zugangsweg zum Tunnel mit spitzen Felsblöcken, die nur mehrere Männer gleichzeitig überhaupt anheben konnten, und mit dornigem, dichtem Gebüsch so ausstaffiert hatte, dass jemand, der den Weg zum Eingang nicht genauestens kannte, der Meinung sein musste, dieses Areal wäre unbegehbar.

Trotzdem kam es mir seltsam vor, dass gerade indianische Kundschafter sich von solchen für sie doch recht belanglosen Schwierigkeiten abschrecken ließen, zumal es ja galt, ihren Häuptling zu rächen, auch wenn dieser nicht gerade sehr beliebt gewesen war.
 

Als am heutigen Abend dieser Umstand wieder einmal Thema unserer Unterhaltungen wurde, brachte ich meine diesbezüglichen Gedanken vorsichtig zur Sprache. Die Westmänner hörten schweigend zu, bemühten sich anschließend aber nach Kräften, meine Bedenken in sämtliche Himmelsrichtungen zu zerstreuen. Ausnahmslos alle waren sie der Ansicht, dass den Kiowas überhaupt nicht daran gelegen sein konnte, sich auf einen Kampf mit uns einzulassen und dadurch sogar Gefahr zu laufen, dabei vielleicht zu einem großen Teil aufgerieben zu werden.

„Charlie, du hast es ja selbst miterlebt: Motawateh hat den roten Knaben mehr Schwierigkeiten bereitet als ihnen Gutes getan – warum sollten sie jetzt, nachdem er tot ist, dann noch soviel Zeit und Mühen für seine Interessen verwenden?“, wollte Emery von mir wissen. Bevor ich antworten konnte, sprach er schon weiter:

„Selbst Winnetou hat doch gesagt, dass der Mistkerl alles andere als gut gelitten war unter seinen Kriegern, und auch er war der Meinung, dass die Rothäute mit ihren harmlosen Suchaktionen nur den Schein waren wollen!“
 

„Das ist richtig: Er WAR der Meinung!“, entgegnete ich. „Aber seitdem Winnetou über die genauen Umstände ihrer Unternehmungen informiert ist, kommt ihm das Ganze doch auch recht merkwürdig vor. Zudem sollten wir bedenken, dass...“. Weiter kam ich nicht, da Old Firehand mich mit einem milden Lächeln im Gesicht unterbrach:

„Ach, Charlie! Ich verstehe vollkommen, dass du dir weiterhin die größten Sorgen um unseren Winnetou machst, und dass nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht! Seitdem es den Kiowas gelungen ist, ihn zu überwältigen, trägst du verständlicherweise ständig die Angst mit dir herum, es könnte ihm nochmals etwas Ähnliches geschehen! Aber Winnetou ist hier sicher, er wird von uns allen geschützt, außerdem weiß er sich im Notfall ja nun auch immer noch sehr gut zur Wehr zu setzen! Hier drinnen kann ihm überhaupt nichts...“.

Jetzt war ich es, der meinen Gefährten unterbrach und ihm ruhig, aber mit Nachdruck in der Stimme meine Bedenken vortrug:
 

„Vorsicht, mein Freund! Dieser Meinung waren einige von euch schon einmal, und auch da haben Winnetou und ich vergebens versucht, euch zu mehr Wachsamkeit zu verleiten! Doch zuerst einmal lass dir gesagt sein: Winnetou wurde nicht von den Kiowas überwältigt, er hat sich freiwillig in ihre Hände begeben, um Emerys, Sams und mein Leben zu retten. Zweitens gebe ich euch dahingehend recht, was die fehlende Motivation der über achtzig Indsmen angeht, die wohl zum größten Teil Motawateh nur bedingt treu ergeben waren. Aber was ist mit den anderen zwanzig? Den Kriegern, die er zu unserer Bewachung bei sich behalten hat, während die anderen zum Hauptteil der Truppe zurückkehren mussten? Glaubt ihr wirklich, dass die kein Interesse daran haben, ihn zu rächen? Und....“
 

Wieder wurde ich unterbrochen, dieses Mal aber von Old Surehand:

„Ja, sicher, das kann natürlich gut möglich sein, aber jetzt, wo Motawateh tot ist, besteht für diese Krieger doch gar kein Grund mehr, sich wegen ihm....“

Eine ungeduldige Handbewegung von mir brachte ihn zum Schweigen, und schnell fuhr ich fort:

„Ich denke schon, dass diese besagten zwanzig Krieger einen oder sogar mehrere Gründe haben, uns zu finden, und nicht nur das, sondern auch unseren Tod herbeizuführen: Thomson ist hinter Winnetous Gold her, und am liebsten wäre es ihm, wenn der Apatsche ihm auch noch die Verstecke seiner anderen Placers verriete. Außerdem hat der Bastard unserem Winnetou fürchtliche Rache geschworen, und das hat er nicht nur einmal laut und deutlich geäußert. Dazu kommt, dass die schon erwähnten zwanzig Kiowas aus verschiedenen Gründen den Häuptling der Apatschen lieber tot als lebendig sehen würden, erst recht, seitdem dieser Motawateh getötet hat! Ich vermute, dass Thomson mit den zwanzig Rothäuten eine recht enge Beziehung pflegt, allein schon auf Motawatehs Initiative hin, und daher werden sie dem Gauner wahrscheinlich auch jetzt noch zu Willen sein. Natürlich nicht umsonst – er wird sie mit dem Versprechen bei Laune halten, dass sie einen Teil von Winnetous Gold bekommen und er sie außerdem mit Gewehren und nützlichen Dingen beliefern wird, soviel ihr Herz begehrt! Und wie gesagt: Wir wurden in dieser Festung schon einmal überraschend überfallen, was gerade Old Firehand noch in schlimmer Erinnerung sein dürfte!“

(s. Karl May, Winnetou II, Kp. 7)
 

Etwas atemlos beendete ich mein langes Plädoyer und sah die Gefährten nacheinander lange an. Hatte ich mit meinen Worten vielleicht doch erreicht, was ich wollte, nämlich dass ihre zunehmende Sorglosigkeit nun von endlich wieder mehr Aufmerksamkeit abgelöst wurde? Ich hoffte es zumindest, denn in meinem Inneren machte sich seit kurzer Zeit wieder einmal ein ungutes Gefühl breit, und dass ich diese Empfindung nicht mehr unbeachtet ließ, dürfte wohl niemanden noch großartig überraschen!
 

Unter den Gefährten breitete sich ein nachdenkliches Schweigen aus, man sah ihnen förmlich an, wie es in ihren Köpfen arbeitete. Doch ein wenig später nickte Surehand, wie sich selbst bestätigend, mit dem Kopf, wandte sich mir zu und meinte:

„Charlie, du hast recht. Ich war damals zwar nicht dabei, als ihr hier so brutal überfallen wurdet und dabei einige von euch, unter anderem Dick Stone und Will Parker, ihr Leben lassen mussten – aber man kann wirklich nie vorsichtig genug sein. Außerdem hat dieser elende Bastard namens Thomson schon oft genug bewiesen, dass er einfach alles tun würde, um an das Gold zu kommen - der würde wahrscheinlich sogar seine eigene Großmutter verkaufen!“

Ich nickte erleichtert und kündigte nun auch sofort an:

„Ich möchte morgen sehr gerne euren nächsten Kundschaftergang begleiten, um mir selbst ein Bild von der Lage da draußen zu machen, denn...“
 

Ein weiteres Mal wurde mir das Wort abgeschnitten, dieses Mal von Emery, der sich regelrecht ereiferte, als er meinen Vorschlag weit von sich wies:

„Das kommt überhaupt nicht in Frage, Charlie - das lässt du auf jeden Fall bleiben!“

Völlig verwundert sah ich ihn an, aber noch bevor ich nach dem Grund seines fast schon heftigen Gefühlsausbruchs fragen konnte, sprach er schon weiter:

„Du weißt doch ganz genau, zu was dieses Scheusal namens Thomson fähig ist! Was glaubst du wohl, was geschieht, wenn du ihm aus irgendeinem dummen Zufall in die Hände fällst? Er wird seine ganze Wut, seinen fürchterlichen Zorn auf bestialische Weise an dir auslassen – und um doch noch an sein Gold zu kommen, wird er dich in Stücke schneiden und Winnetou deine Einzelteile nacheinander zusenden, bis der endlich nachgibt und das Versteck verrät! Das tust du ihm nicht an, und das tust du uns nicht an, hörst du??“

Etwas verdattert sah ich ihm ins Gesicht – so sprach der Engländer sonst nie mit mir, und er meinte es todernst. Auch sämtliche umstehenden Gefährten nickten zu seinen Worten emsig, selbst Tsain-tonkee, der übrigens im Gegensatz zu uns immer noch gelassen am Feuer saß. Ich wagte dennoch einen leisen Einwand:

„Ich habe doch gar nicht vor, mich von diesen Halunken ergreifen zu lassen...“ Etwas hilflos fiel mein Blick auf den frisch gekürten Unterhäuptling der Mescaleros:

„Was meint denn mein roter Bruder zu der Angelegenheit?“
 

Tsain-tonkee wählte seine Worte mit Bedacht, bevor er zu sprechen begann:

„Auch der Apatsche glaubt, dass Old Shatterhands Leben nicht in Gefahr geraten darf und er seinem Blutsbruder viel mehr hilft, wenn er in dessen Nähe bleibt! Aber ich stimme ihm zu, wenn er auf die Gefahren hinweist, die uns hier immer noch drohen – wir sollten daher unsere Sicherheitsmaßnahmen noch einmal überdenken und, wenn nötig, verstärken!“

Alle Anwesenden hatten dem jungen Unterhäuptling aufmerksam zugehört und bezeugten jetzt auch mit einem Kopfnicken ihr Einverständnis für dessen Vorschlag. Sam Hawkens, der soeben von mir wieder schmerzlichst an den brutalen Tod seiner engsten Freunde erinnert worden war, trat jetzt noch einmal mit großem Nachdruck für mein Verbleiben in der Festung ein, alleine um Winnetou nicht noch weitere seelische Qualen zufügen zu müssen, und dieser Einwand gab dann letztendlich auch den Ausschlag für meine Entscheidung, mich dem Willen der Gefährten zu beugen.
 

Da wir während der doch recht hitzigen Diskussion zwischenzeitlich alle, bis auf Tsain-tonkee, aufgestanden waren, machten wir jetzt wieder Anstalten, es uns nochmals am Feuer bequem zu machen, als plötzlich einer der Apatschen, die heute Abend zum Ausspähen der Umgebung auserkoren worden waren, mitten unter uns auftauchte, mit einer Nachricht, die schlagartig die Ruhe des Abends störte und unsere Pläne völlig über den Haufen warf.

Er berichtete, gemäß der indianischen Sitte in einem sachlichen und unaufgeregten Ton, dass er mit dem zweiten Mescalero, der sich immer noch dort befand, das Lager der Kiowas beobachtet und dabei festgestellt hatte, dass man dort wohl schon den ganzen Tag über mit Vorbereitungen beschäftigt war, die auf einen vorzeitigen Aufbruch schließen ließen und die trotz der Dunkelheit immer noch andauerten. Es sah ganz danach aus, als ob die feindlichen Rothäute morgen früh das Gebiet verlassen wollten, und auch das ein oder andere Gespräch, das unsere Kundschafter zwischendurch aufgeschnappt hatten, deutete darauf hin.
 

Überrascht sahen wir uns alle an. Konnte das denn wahr sein? So früh schon? Es waren doch gerade erst einmal zehn Tage vergangen! Sofort fragte ich den Apatschen:

„Konnte mein roter Bruder erkennen oder erfahren, was die beiden Weißen zu tun gedenken?“

„Negat'tseh ist sicher, dass auch die weißen Hunde morgen aufbrechen wollen!“

Jetzt war ich wirklich alarmiert. Was hatte denn das nun zu bedeuten? Winnetou – und dieser täuschte sich nie in solchen Dingen - war von mindestens drei Wochen ausgegangen, in denen die Kiowas den Schein waren wollten und so tun würden, als ob sie uns aufspüren, gefangen nehmen und an uns Rache für den Tod ihres Häuptlings nehmen wollten. Und bei Thomson waren wir uns erst recht sicher gewesen, dass er diese Gegend nicht eher verlassen würde, bevor er nicht wenigstens das Gold Winnetous sein eigen nannte.

Hatten wir uns denn so geirrt? Uns so in Thomsons Rachsucht und Goldgier getäuscht? Ich konnte es kaum glauben!
 

Doch jetzt war natürlich nichts wichtiger als sofort einen Plan zu schmieden, wie wir weiter vorgehen sollten, um Thomson in die Finger zu bekommen, bevor der wirklich auf Nimmerwiedersehen verschwand. Jeder von uns wollte den Mann für seine Taten bestrafen, aber wie sehr ich darauf brannte, über ihn das Urteil zu sprechen und ihn dann am nächsten Baum aufzuknüpfen, konnte sich kaum einer in diesem Ausmaß vorstellen, zumal man mich überhaupt nicht als rachsüchtig kannte. Ich kannte mich ja selbst nicht, aber für das, was dieser Bastard meinem Winnetou angetan hatte, musste er bezahlen, jeden einzelnen Schnitt, jeden einzelnen Tritt!
 

Kurz sann ich darüber nach, ob ich meinen Freund wieder aufwecken und ihm die Neuigkeiten berichten sollte, ließ den Gedanken aber sofort wieder fallen. Winnetou durfte ja noch nicht einmal aufstehen, er würde also auf gar keinen Fall an der Jagd auf den Verbrecher teilnehmen können; außerdem fiel es ihm jetzt schon schwer genug, untätig auf dem Krankenlager herumzuliegen, während seine Freunde und Gefährten teils recht gefährliche Aufgaben zu lösen hatten.

Das war ja auch der Grund gewesen, warum ich mich bisher noch nicht unseren Spähtrupps angeschlossen hatte – ich wollte es ihm erstens nicht noch schwerer machen, indem er sich dann auch noch um mich sorgen musste, und zweitens bedurfte er immer noch der Pflege, und die wollte ich nun mal niemandem anderen überlassen.
 

Wir besprachen nun ausführlich unser weiteres Vorgehen, und währenddessen kamen auch meine Gedanken zu Winnetou zur Sprache. Ausnahmslos alle Gefährten stimmten mit mir dahingehend überein, dass es für meinen Freund unerträglich sein würde, wenn ich mich den anderen auf der Jagd nach dem Erzschurken anschloss – und das hieß für mich, ebenfalls darauf zu verzichten, um die Genesung meines Freundes nicht zu gefährden. Mir fiel dieser Entschluss unendlich schwer, denn ich hatte so sehr gehofft, diese Bestie eigenhändig überwältigen und gefangen nehmen zu können – aber dieser heiße Wunsch brannte auch in Winnetou, und wenn er darauf verzichten musste, dann war es nur recht und billig, dass ich es aus Liebe zu ihm ebenfalls tat. Er hatte in den letzten Monaten gleich zweimal sein Leben für mich eingesetzt und war dabei jedesmal nur ganz knapp dem Tod entronnen; so konnte ich seinen unglaublich selbstlosen Einsatz für mich wenigstens zu einem kleinen Teil wieder gut machen!
 

Kurze Zeit später stand unser neuer Plan fest: Tsain-tonkee würde, zusammen mit Emery, sofort zum Lager der Kiowas aufbrechen - welches übrigens gut zwei Reitstunden von uns entfernt lag - um den dort noch wachenden Mescalero abzulösen und gleichzeitig die Kiowas, vor allem aber Thomson nebst Kumpan, nicht mehr aus den Augen zu lassen – es konnte ja immerhin der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass die ganze Bande sich schon heute Nacht aus dem Staub machen würde, und dann hätten sie einen Vorsprung gewonnen, der fast nicht mehr einzuholen wäre.
 

Ein Großteil der restlichen Gefährten – das waren sieben Apatschen, Old Firehand, Old Surehand, Sam sowie achtzehn Mitglieder von Firehands Pelzjägerschaft – würden ungefähr noch zwei Stunden zur Vorbereitung benötigen und sich danach ebenfalls dem Lager der feindlichen Rothäute nähern, allerdings in einer Weise, dass für sie keine Gefahr bestand, von den dort umherstreifenden Wachen entdeckt zu werden, aber trotzdem nahe genug, dass Emery oder Tsain-tonkee ihnen schnellstmöglich Meldung machen konnten, wenn abzusehen war, dass die Kiowas in Kürze aufbrechen würden.
 

Anschließend würde man den Feinden vorsichtig folgen, immer auf eine Gelegenheit wartend, Thomson zu ergreifen, ohne dass es zu einem unnötigen Kampf mit den Indianern käme; sollte das aber nicht gelingen, waren sich die Gefährten sicher, dass es ihre dreißigköpfige Truppe mit den einhundert Kiowas ohne weiteres aufnehmen könnte, vor allem dann, wenn man die Rothäute überraschen oder ihnen mit List begegnen würde.

Wie lange dieses Unternehmen andauern würde, hing ganz davon ab, ob sich unser Erzfeind aus Sicherheitsgründen immer in der Mitte von Motawatehs Kriegern aufhalten würde, oder ob er mutiger wurde und sich auch mal etwas von der großen Schar entfernte – und in diesem Fall würden unsere Gefährten sofort zuschlagen.
 

Ich konnte mir ausmalen, dass sich Thomson in den ersten Tagen der Reise wohl kaum aus der Deckung wagen würde, zu groß musste seine Angst vor unserer und vor allem vor Winnetous Rache sein. Wenn die Bande sich aber sicher war, dass wir in unserem Versteck noch gar nichts von ihrer Abreise bemerkt hatten, dann würde sich selbst der Feigling Thomson – so hofften wir zumindest – wieder etwas mehr Freiheit gönnen und hier und da vielleicht mal ein wenig Abstand zu seinen indianischen Kumpanen gewinnen – und das wäre der Moment, dem wir alle entgegenfieberten, denn so konnte seine Gefangennahme in aller Stille von statten gehen, so dass vielleicht sogar Stunden vergehen würden, bis die Kiowas den Verlust ihres weißen Begleiters bemerkten.

Ich erbat mir von meinen Gefährten, da ich selbst ja auf die Gefangennahme des ehemaligen Geiers verzichten musste, dass sie ihn mir so unversehrt wie nur möglich bringen würden, denn ich wollte ihm in die Augen sehen und seine Reaktionen genau beobachten, wenn das Urteil über ihn gesprochen und vollstreckt werden würde!
 

Die drei Apatschen, die nicht mit auf Verbrecherjagd gingen, sollten mit den beiden ebenfalls hier zurückbleibenden Pelzjägern und natürlich mit mir die Festung bewachen und beschützen. Von dem Doktor und den Butterfields konnten wir in dieser Hinsicht keine Unterstützung erwarten, und von Winnetou durften wir es auf keinen Fall, da es ihn sonst in akute Lebensgefahr bringen würde.
 

Eine große Unbekannte gab es allerdings in diesem Plan: Wussten die Kiowas samt ihren weißen Begleitern eigentlich, dass uns ihre Anwesenheit bekannt war? Und wenn ja – waren sie die ganze Zeit über davon ausgegangen, dass wir uns in unserem Versteck verschanzt hatten, ohne auch nur einmal dessen Schutz zu verlassen und die Feinde auszuspionieren? Oder hatten sie vielleicht sogar irgendwann einen unserer Kundschafter entdeckt, diesen aber unbehelligt laufen lassen, um ihn zu verfolgen in der Hoffnung, auf diese Weise zum Eingang zu unserer Festung geführt zu werden?

Nein, sagte ich mir, eigentlich konnte das alles nicht möglich sein. Hätten unsere Feinde einen von uns zufällig entdeckt, hätten sie ihn mit größter Wahrscheinlichkeit sofort ergriffen und gefangengenommen, einmal, um aus ihm den Weg in unsere Festung herauszupressen und zum anderen, um ihn als Geisel zu benutzen, durch die sie uns zwingen konnten, aufzugeben und uns ihnen auszuliefern. Außerdem – wenn sie einen unserer Späher entdeckt hätten, dann würden sie mit Sicherheit nicht jetzt einfach aufgeben und den Rückzug antreten, im Gegenteil, sie würden ihre Bemühungen eher vervielfachen, um endlich zu ihrem Ziel zu gelangen!
 

Wir besprachen noch einige Zeit alle Einzelheiten, damit jeder im Ernstfall genau wusste, was er zu tun hatte. Fast zwei Stunden nach dem Eintreffen unseres Spähers Negat'tseh waren auch schon die meisten Vorbereitungen abgeschlossen, so dass sich Tsain-tonkee und Emery gerade anschickten, aufzubrechen, um als Kundschafter den Kiowas eng auf den Leib zu rücken und den anderen Apatschen, der dort noch ausharrte, abzulösen – dieser sollte dann auch hier in der Festung zum Schutz derselben verbleiben – als eben dieser Mescalero mit einem Male und entgegen seiner Absprache mit Negat'tseh in unseren Reihen auftauchte und einen für indianische Verhältnisse richtiggehend aufgeregten Eindruck machte. Stumm sah er in die Runde, und als er Tsain-tonkee und mich entdeckte, wartete er gemäß der indianischen Höflichkeit, bis ich ihn in meinem Amt als von Intschu-tschuna ernannter Häuptling der Apatschen zum Reden aufforderte. Dieser Bitte kam er auch sogleich nach:
 

„Meine Brüder mögen mir verzeihen, dass Lihà-ka'pan seinen Platz verlassen hat und hier einfach eindringt, aber er hat eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen: Die Kiowas haben ihr Lager abgebrochen und sich schon jetzt auf den Weg gemacht!“
 

Völlig überrascht hatten wir seinen Worten gelauscht und warfen uns nun fast schon entsetzte Blicke zu. Das hatte uns gerade noch gefehlt! Damit war es nun natürlich aus mit der ruhigen Vorbereitung und dem langsamen Anschleichen – jetzt galt es, so schnell wie möglich zu dem Lagerplatz der Kiowas zu gelangen und von dort aus ihren Spuren zu folgen. Das würde sich in der Dunkelheit als eine schwere Aufgabe gestalten, aber die Sterne schienen hell, und die Fährte von einhundert Menschen samt ihren Pferden konnte man eigentlich kaum verwischen und erst recht nicht vermeiden, so dass unsere Männer auf jeden Fall die Spuren finden würden.

Das alles hatte sich Lihà-ka'pan auch gesagt, denn wenn es anders gewesen wäre und wir keinerlei Chance gehabt hätten, die Fährte wiederzufinden, wäre er vor Ort geblieben, hätte die Feinde verfolgt und uns auf seinem Weg immer wieder kleine Zeichen hinterlassen. Allerdings hätten wir uns so nicht auf die neue Situation einstellen können, und wenn, wie zuerst geplant, Emery nebst Tsain-tonkee als Kundschafter eingetroffen wären, hätten sie niemanden mehr vorgefunden – und im Dunkeln die Zeichen Lihà-ka'pans zu finden, wäre äußerst schwierig und zeitraubend geworden, zumal sie ja dann auch noch den nachfolgenden Gefährten ebenfalls solche Zeichen hätten hinterlassen müssen.
 

So war die Situation also mit einem Male eine ganz andere, und deshalb wurden nun die restlichen Vorbereitungen in Windeseile abgeschlossen, damit man so schnell wie möglich aufbrechen konnte. Natürlich blieben Emery und Tsain-tonkee jetzt bei dem Hauptteil der Truppe, denn als Späher wurden sie im Augenblick ja nicht mehr benötigt.

Es waren eineinhalb Stunden vergangen seit dem Aufbruch der Kiowas – so lange hatte es gedauert, bis Lihà-ka'pan die Strecke von ihrem Lager bis zu uns zurückgelegt hatte, und das war noch viel schneller als erwartet, denn eigentlich waren zwei Stunden dafür nötig. Bis unsere Gefährten ihr Ziel erreicht haben würden, musste man von zwei weiteren Stunden Zeitverlust ausgehen – somit hatten die Kiowas also insgesamt dreieinhalb Stunden Vorsprung vor ihren Verfolgern gewonnen.
 

Allerdings war unsere Gruppe deutlich kleiner als die Hundertschaft der Indianer und daher hoffentlich viel beweglicher und somit auch schneller als diese. Zudem würde es nach ihrer Ankunft bei dem Lager nur noch ungefähr eineinhalb Stunden dauern, bis der Morgen zu dämmern begann, und dadurch konnte man den Spuren noch schneller folgen, so dass eine erfolgreiche Suche sehr wahrscheinlich war.

Ich durfte ja zu meinem Bedauern nicht an dem Unternehmen teilnehmen, aber ich kannte meine Gefährten als sehr tüchtige und erfahrene Westmänner, so dass ich mir wirklich sicher sein konnte, dass ihnen die Verfolgung und wahrscheinlich auch die Gefangennahme Thomsons gelingen würde – wenngleich ich auch wusste, dass ich die Zeit bis zur Rückkehr der Freunde in großer Sorge und mit sehr gemischten Gefühlen verbringen würde.

Dementsprechend innig und herzlich verabschiedete ich mich jetzt auch von jedem Einzelnen, wobei ich sie alle mehrfach darum bat, höchste Vorsicht walten zu lassen und sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Die Freunde, die mir allesamt ansahen, wie schwer mir das Zurückbleiben fiel, versuchten darum nun auch, mich durch Schulterklopfen sowie vielen gutgemeinten Worten zu beruhigen, was ihnen aber nicht ganz gelang – aber dann wurde es wirklich höchste Zeit zum Aufbruch, und darum verließen sie jetzt auch schnell die Festung.
 

Insgeheim war ich sehr froh über die Tatsache, dass Winnetou oben in unserer steinernen Behausung tief und fest schlief und von der ganzen Aufregung hier unten nichts mitbekommen hatte – die damit verbundene Anspannung würde seiner langsam fortschreitenden Genesung wahrscheinlich nicht gerade sehr gut tun!

Leider würde ich ihm morgen früh aber dann doch noch alles erzählen müssen, und ich hoffte inständig, dass es mir trotzdem irgendwie gelingen würde, ihn zur Ruhe zu zwingen – notfalls würde ich unseren Doktor bitten müssen, da vielleicht noch ein wenig nachzuhelfen ...
 

Langsam begab ich mich zu unserer gemeinsamen Kammer und war auf dem Weg dahin tief in Gedanken versunken. Würde es unseren Kameraden gelingen, Thomson zu fassen? Oder war es ihm ein weiteres Mal vergönnt, seiner gerechten Strafe zu entgehen? Aber er musste für seine bestialischen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden – das waren wir Winnetou mehr als schuldig! Es war einfach schon deshalb vonnöten, den Erzschurken ein für alle Mal aus dem Verkehr zu ziehen, um meinen Freund zu schützen – er würde sonst niemals völlig sicher sein vor dessen Rache. Unsere Späher hatten in den vergangenen Tagen mehrmals Gespräche zwischen den beiden Weißen im Lager der Kiowas erlauschen können, in denen sich der Verbrecher voller Hass und Rachsucht über Winnetou ausließ, den er seltsamerweise für alles Unglück verantwortlich machte, das ihm seit unserer ersten Begegnung zugestoßen war - unter anderem natürlich die langfristigen Folgen der unbarmherzigen Prügel, die er damals in der Schlucht von Old Firehand bezogen hatte als Antwort auf Thomsons Attentat auf Winnetou.
 

Hatte der Mistkerl denn jetzt tatsächlich einfach aufgegeben? Wollte er wirklich ohne Winnetous Gold die Gegend verlassen? Ohne seine Rache an meinem Freund zu vollenden, wo doch für ihn die Gelegenheit dazu so günstig war wie noch nie, da er ja wusste, dass dieser schwer verletzt und im Augenblick nicht fähig war, sich selbst ausreichend zu schützen?

Als mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, konnte ich es mir mit einem Male gar nicht mehr vorstellen, dass Thomson tatsächlich aufgebrochen war.
 

Sollte das vielleicht eine Falle sein? Ein Ablenkungsmanöver, um anschließend um so brutaler zuzuschlagen? Siedendheiß wurde mir plötzlich bewusst, dass in den kommenden Tagen die gesamte Festung von nur sechs kampferprobten Männern beschützt werden würde – drei Apatschen, zwei Pelzjägern und mir selbst. Winnetou konnte nicht kämpfen, der Doktor war dazu überhaupt nicht geeignet, von den Goldsuchern mal ganz abgesehen.

Hatte dieser gerissene Verbrecher das mit eingeplant?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2015-12-17T12:57:30+00:00 17.12.2015 13:57
Bei Thomson ist damit zu rechnen, wenn der so Hass zerfressen ist. Was passiert wohl, wird er sich wirklich geschlagen geben oder die Festung angreifen wenn die Truppe der Westmänner weg ist. Oder bemerken diese die Falle, die ihne da wohl gestellt wurde.
Wie du hieraus siehst, bin ich wieder zuhause.
Sehr gutes und Informatives Kapitel weiter so, freue mich auf das nächste.

LG
Onlyknow3


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