Zum Inhalt der Seite

Mörderische Goldgier

"Geliebter Blutsbruder"- Teil II
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Was in der Nacht geschah

Ein Gemisch aus Schweiß und Blut, welches immer noch stetig, wenn auch in geringen Mengen, aus seinen Wunden floss, lief meinem Freund über das Gesicht, während er alle Anstrengungen darauf verwendete, die Fesseln zu lockern. Er bemühte sich krampfhaft, seine körperliche Schwäche zu überspielen, konnte aber nicht verhindern, dass sein ganzer Körper nach kurzer Zeit vor Anstrengung zu zittern begann.

Meine Nerven waren inzwischen zum Zerreißen gespannt. Einerseits war ich fast krank vor Sorge um das Leben und die Gesundheit des Apatschen und konnte seine Qualen gar nicht mehr mit ansehen, hätte ihn am liebsten zur absoluten Ruhe gemahnt; andererseits aber litt ich unter der steten Befürchtung, dass einer unserer Peiniger wieder das Zelt betreten würde. Sollten die Mordgesellen entdecken, dass Winnetou wieder bei Bewusstsein war, dann war unser aller Leben keinen Pfifferling mehr wert, von dem Winnetous mal ganz zu schweigen. Sie würden ihn den unfassbarsten Qualen aussetzen, damit Thomson doch noch an sein Gold kam und Motawateh seine Rachegelüste befriedigen konnte.
 

Winnetou war sich natürlich auch völlig im Klaren darüber, dass wir unter einem enormen Zeitdruck standen, und somit arbeitete er weiter unermüdlich an seinen Fesseln, während er uns mit knappen Worten berichtete, was in der letzten Nacht geschehen war.
 

Wir waren auf dem Rückweg vom Ship Rock unterwegs nach Farmington gewesen und hatten unser Lager an einem Nebenarm des San Juan Rivers aufgeschlagen. Winnetou hatte, wie schon erwähnt, am späten Abend die erste Wache angetreten, während Emery, Sam und ich uns zur Ruhe gelegt hatten. Wahrscheinlich waren wir aufgrund des anstrengenden Tages, der hinter uns lag, fast sofort eingeschlafen.

Die Wache meines Freundes sollte zwei Stunden andauern. Während der ersten Stunde war alles ruhig geblieben; er hatte, trotzdem er das Lager auch in einem größeren Umkreis mehrmals und äußerst umsichtig abgesucht hatte, keinerlei Auffälligkeiten entdecken können.

Nach einiger Zeit aber vernahm er plötzlich ganz leise das Geräusch eines knackenden Zweiges, das offensichtlich auf der gegenüberliegenden Seite des Lagerplatzes verursacht worden war. Sämtliche seiner Sinne waren sofort wie elektrisiert; er duckte sich schnell wie ein Panther tief in das Gebüsch, welches den gesamten Lagerplatz umgab und kroch so nah wie möglich an uns Schlafende heran, um uns vor der herannahenden Gefahr zu warnen, möglichst ohne vorher selber entdeckt zu werden.

Doch noch bevor er den Rand des Gebüsches ganz erreicht hatte, brach auf der gegenüberliegenden Seite die Hölle los. Mindestens fünfzig Kiowas stürzten sich mit durchdringendem Kriegsgeschrei auf uns und ließen uns nicht den Hauch einer Chance. Ehe auch nur einer von uns richtig wach war, waren sie schon über uns, schlugen uns mit ihren Gewehrkolben nieder, um uns anschließend zu entwaffnen und zu fesseln. Winnetou sann kurz darüber nach, ob er trotz der geballten Übermacht versuchen sollte, uns irgendwie zu Hilfe zu kommen, musste aber einsehen, dass das nicht nur völlig zwecklos, sondern auch reiner Selbstmord gewesen wäre. Er zog sich also wieder tiefer ins Gesträuch zurück, um auf einen günstigen Augenblick zu warten, in dem er uns aus der Gefahr befreien konnte.
 

Leider aber wussten die Kiowas wohl, dass auch Winnetou Mitglied unserer kleinen Gesellschaft gewesen war. Vielleicht hatten sie ihn sogar auf seinem Rundgang während der Wache gesehen und wollten ihn dort gerade überwältigen, als er, alarmiert von dem Geräusch des brechenden Zweiges, in den Büschen verschwand. Wie auch immer, die Indianer entfachten in Windeseile das Feuer neu, so groß, dass es die Umgebung hell erleuchtete; anschließend setzten sich einige von ihnen mit gezückten Messern an unsere Seite, hielten die Klingen an unsere Kehlen, während der Wortführer laut in die Nacht hinaus rief: „Die feige Ratte namens Winnetou möge aus seinem Loch hervorkriechen! Wir wissen, dass er sich in der Nähe befindet! Wenn er nicht binnen einer Minute ohne Waffen und mit hocherhobenen Händen am Feuer erscheint, werden die hier liegenden Bleichgesichter erstochen, und Winnetou wird als die ängstlichste Kröte aller Apatschen in die Geschichte eingehen!“
 

Entsetzt musste mein Freund feststellen, dass ihm nicht nur kaum Zeit blieb, um einen Ausweg zu finden, sondern er dass er auch eigentlich gar keine andere Wahl hatte, wollte er nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen. In fieberhafter Eile suchte er nach einem Versteck für seine Waffen, damit diese nicht auch noch in die Hände der Kiowas fielen, und dann war die ihm zur Verfügung stehende Zeit auch schon um. Nochmals überlegte er kurz, ob sich ihm nicht doch vielleicht eine andere Möglichkeit bot, dann aber musste er mit ansehen, wie einer der Roten sein Messer, welches sich direkt an meiner Kehle befand, etwas tiefer in meine Haut ritzte, während der Anführer wieder laut rief: „Will der elende Wurm, der sich Häuptling des dreckigen Stammes der Pimos nennt, nicht doch hervortreten? In wenigen Augenblicken wird sein Blutsbruder sein Leben verlieren, und an allen Lagerfeuern des Westens wird man sich erzählen, dass die Schuld daran nur der räudige Köter namens Winnetou trägt!“

Es half alles nichts, Winnetou musste sich ausliefern, um unsere beiden Gefährten und mich nicht dem Tod preiszugeben.
 

Das folgende Geschehen schilderte er mir jetzt mit nur wenigen, schmucklosen Worten:

„Winnetou wurde sofort gefesselt und wie seine Brüder, die immer noch ohne Besinnung waren, auf sein Pferd gebunden. Zuvor hatte der Unteranführer versucht, sich seines Iltschi und Old Shatterhands Hatatitla zu bemächtigen, was die klugen Hengste aber zu verhindern wussten. Auch fragte man nach Winnetous Waffen, aber er ließ keinen Ton über seine Lippen kommen. Die roten Männer suchten lange danach, doch sie fanden nichts. All dies ließ den Zorn des Anführers ins Unermessliche steigen.“
 

Er stockte kurz, um wieder zu Atem zu kommen, denn in seinem schlechten Zustand war selbst das Reden höchst anstrengend. Unter anderen Umständen hätte es mich schon belustigt, als ich mir das Bild vor Augen führte, wie der Kiowa-Unterhäuptling mehrmals auf unsere Rappen aufzusteigen versuchte und mit Sicherheit jedes Mal im hohen Bogen abgeworfen worden war. Aber mein Herz wurde mir schwer, als ich daran dachte, auf welche Weise diese widerliche Rothaut seine Wut über all die Misserfolge anschließend an meinem geliebten Blutsbruder ausgelassen haben musste!
 

Dieser fuhr jetzt wieder fort:

„Winnetou weiß, dass das Hauptlager der Kiowas sich im Augenblick einen und einen halben Tagesritt von unserem gestrigen Lagerplatz entfernt befindet, und in diese Richtung ritten wir auch. Dann aber wurde schon zwei Stunden später angehalten und gelagert, und Winnetou erkannte Motawateh, den lügnerischen und hinterlistigen Häuptling der Naishan-Kiowas, und Wayne Thomson, den nicht weniger hinterlistigen ehemaligen Unteranführer der Geierbande, die beide dort gewartet hatten. Motawateh schickte dreißig seiner Krieger weiter zum Hauptlager des Stammes, ließ die anderen Roten zwei Zelte aufbauen und brachte euch in diesem hier unter, während er mit Thomson und Winnetou sowie zwei seiner Krieger ein anderes betrat.

Vorher konnte ich mir die Lage der Zelte und die Umgebung aber noch genauestens einprägen. Die anderen Kiowas kümmerten sich zur gleichen Zeit um die Pferde; sie führten sie zu einem in einer kleinen Senke gelegenen Wasserlauf, und daher weiß Winnetou genau, wo sich unsere Tiere befinden. Zuvor hatte auch Motawateh versucht, sich unsere Rappen untertan zu machen, natürlich mit dem gleichen für ihn unbefriedigenden Ergebnis.“

Bei diesen Worten umspielte ein leises Lächeln Winnetous Lippen; trotz seiner Schmerzen und der nicht gerade zur Heiterkeit neigenden Situation bereitete ihm die Vorstellung des durch die Luft wirbelnden Motawateh noch nachträglich wohl ein gewisses Vergnügen. Seine Mimik wurde aber sofort wieder ernst, als er weitersprach.
 

„Winnetou wusste: Jetzt wurde er nur noch von diesen vier Männern bewacht, und eine bessere Gelegenheit würde sich nicht mehr ergeben. Er wollte seine Bewacher ausschalten und sich mit einem ihrer Messer befreien, um dann seine weißen Brüder zu retten. Fast wäre es ihm gelungen. Da mir die Hände nach vorne gefesselt worden waren, konnte ich Thomson und die zwei Krieger niederschlagen. Doch in dem Moment, als ich Motawateh ebenfalls niedergerungen hatte, kamen sieben der Krieger von den Pferden wieder zurück. Sie waren in der Überzahl und konnten mich daher überwältigen. Motawateh war nun voller Zorn und ließ diesen an mir aus, so dass ich für eine kurze Zeit ohne Besinnung war und nicht weiß, was währenddessen geschah.“
 

Er hatte diese Geschehnisse so nüchtern erzählt, als ob sie ihn gar nichts angingen, aber ich kannte meinen Blutsbruder genau und konnte mir jetzt denken, wie dramatisch der ganze Überfall in Wirklichkeit abgelaufen war, und wie sehr Winnetou nach seinem missglückten Fluchtversuch unter der Rache des Kiowa-Häuptlings zu leiden gehabt haben musste.
 

Zuerst hatte er es nur seinem unfassbar guten Gehör zu verdanken gehabt, dass man ihn nicht wie uns sofort überwältigt hatte. Ich war mir sicher, dass Motawateh die allerbesten seiner Krieger für diesen Überfall ausgesucht hatte, denn sie hatten sich an uns heranschleichen können, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu verursachen – zumindest fast.

Anschließend hatte mein Freund seine Freiheit aufgegeben, um unser Leben zu retten, war aber vorher noch so geistesgegenwärtig gewesen, seine Waffen vor den Feinden zu verstecken, und zwar trotz der höchsten Eile, in der er sich befand, so gut, dass sie tatsächlich nicht gefunden wurden.

Später hatte er trotz Fesseln, trotzdem er vier wohl äußerst gut bewaffneten und vor allem mordlustigen Männern alleine gegenüber stand, es gewagt, sie anzugreifen, und ich bin sicher, er hätte sich und uns gerettet, wenn nicht zu allem Unglück genau in diesem Moment die anderen Krieger aufgetaucht wären.

Was dieser Choleriker namens Motawateh in seiner rasenden Wut dann meinem Freund angetan hatte, konnte ich mir mehr als gut denken, obwohl ich es mir eigentlich gar nicht vorstellen wollte. So, wie Winnetou aussah, hatte er zu diesem Zeitpunkt schon Furchtbares durchleiden müssen, und mich schüttelte es jetzt noch nachträglich vor unterdrückter Wut, wenn ich daran dachte.
 

Mein Freund hatte eine kurze Pause sowohl von seinem Bericht als auch von den Bemühungen, die Fesseln zu lösen, eingelegt, in der er äußerst erschöpft die Augen schloss und mehrere Male tief durchatmete. Allein das Reden strengte ihn schon sehr an, und das Lockern der Stricke um die Handgelenke, die zudem noch auf dem Rücken gebunden waren, verbrauchte mehr Kräfte, als ihm eigentlich zur Verfügung standen, von seinen Schmerzen mal ganz abgesehen. Aufgrund seiner steten Bewegung bluteten seine Wunden nun unaufhörlich. Meist waren es nur dünne Rinnsale, aber das Ganze währte ja schon viele Stunden lang, so dass ich die große Befürchtung hegte, dass sein Körper diese Strapazen nicht mehr lange ertragen konnte. Auch Emery und vor allem Sam beobachteten meinen Freund mit feuchten Augen, und in ihren Gesichtern spiegelte sich dieselbe furchtbare Angst um ihn, die auch ich empfand.
 

Ich verging fast vor Sorge und Mitleid, und meine Hilflosigkeit drückte mir schwer auf die Seele. Irgendetwas musste man doch für Winnetou tun können! Aber es gab für mich überhaupt keine Möglichkeit, sein Leid in irgendeiner Weise zu lindern, und so konnte ich ihn nur leise flüsternd fragen:

„Hat mein Bruder starke Schmerzen?“

Er sah mich daraufhin mit seinen dunklen Augen in bezeichnender Weise an, und ich erkannte, dass ich eine Frage gestellt hatte, die er nicht wahrheitsgemäß beantworten wollte und konnte, da unsere Kameraden zugegen waren und er Derartiges niemals ihnen gegenüber zugeben würde. Also antwortete er auch nur vage:

„Mein Bruder mag ohne Sorge sein, Winnetou kann es aushalten.“

Dass diese Antwort sich in keinster Weise dazu eignete, mich zu beruhigen, kann man sich wohl denken. Der Apatsche aber ließ mir keine Möglichkeit, dass ich weiterhin meinen trüben Gedanken nachhängen konnte, sondern fuhr mit seinem Bericht fort.
 

„Als Winnetou erwachte, war es noch mitten in der Nacht. Man hatte ihn mit Hilfe von Wasser wieder zu sich kommen lassen, und Motawateh stand mit gezücktem Messer daneben, an seiner Seite der weiße Bandit sowie ein weiterer Kiowa. Winnetou wurde nun den Rest der Nacht immer wieder nach der Lage seiner Bonanzas gefragt, worauf er natürlich keine Antwort gab, was dem mutlosen Kiowa-Häuptling dann jedes Mal als Anlass diente, seine Rachegelüste zu befriedigen.

Als die feigen Kojoten feststellen mussten, dass sich der Mund des Häuptlings der Apatschen niemals öffnen würde, benutzten sie nun dessen Gefährten, vor allem seinen weißen Blutsbruder, um das Gold aus Winnetou herauszupressen. Jedes Mal, wenn sie wieder umsonst gefragt und auch mit Hilfe ihres Messers von Winnetou keine Antwort erhalten hatten, verließ einer der Männer das Zelt, um nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren und zu berichten, auf welche furchtbare Weise man seine Freunde gemartert hatte und dass man dieses noch solange weiterführen wollte, bis Motawateh und Thomson die Lage der Goldverstecke erfahren würden. Winnetou war sich zwar fast sicher, dass man nur seine Seele foltern und ihn damit erpressen wollte, aber immer blieb ein Stachel des Zweifels in seinem Herzen zurück und drückte sein Gemüt nieder.“
 

Hier stockte mein Freund erneut, und mir, der ihn besser kannte als jeder andere, war nun überdeutlich bewusst, dass es ihn im Augenblick unendlich viel Kraft kostete, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und seine Tränen zu unterdrücken. Mir ging es ja ganz genauso, und er tat mir unglaublich leid. Was musste er in den letzten Stunden gelitten haben! Natürlich, ich hatte ja genau die gleichen seelischen Qualen durchlebt wie er, hatte mich auch vor Angst und Sorge um ihn verrückt gemacht, aber immerhin hatte ich Sam und Emery in meiner Nähe gewusst, an denen ich doch etwas Trost und Halt gefunden hatte, während Winnetou völlig auf sich alleine gestellt gewesen war! Das alles war ein äußerst perfider Plan Motawatehs gewesen, der uns ganz bewusst voneinander getrennt hatte, um den jeweils anderen in einer zermürbenden Ungewissheit zu lassen. Ich musste wirklich an mich halten, um mich auf Winnetous nächste Worte konzentrieren zu können.
 

„Die Wut des Weißen und des Roten wuchs während dieser Nacht immer weiter, denn Winnetou tat das, was jeder furchtlose Apatsche in solchen Situationen tun würde: Er verlachte die räudigen Hunde, die weder ihre Zunge im Zaum halten konnten noch in irgendeiner Weise Mut oder Ehre oder Würde aufzeigten. Am frühen Vormittag dann wurde mir berichtet, dass mein weißer Blutsbruder seine Martern nicht überlebt hätte. Ich wusste nicht, ob ich das glauben konnte, denn ich war mir sicher, dass...“, hier brach er kurz ab, fuhr dann aber scheinbar ruhig fort:

„...dass ich deinen Tod gespürt hätte. Es gab aber keine Möglichkeit für mich, die Wahrheit herauszufinden, also ließ ich die Hundesöhne der Naishan nicht merken, wie sehr mich ihre Nachricht getroffen hatte. Statt dessen beleidigte ich den Kiowa, der mich gerade wieder das Messer hatte spüren lassen, auf eine solche Weise, dass dieser vor Zorn erblasste, seinen Thomahawk erhob und zuschlug – ich kann mich danach an nichts weiter erinnern, bis zu diesem Zeitpunkt, als ich hier im Zelt erwachte und zu meiner großen Freude meine weißen Brüder so gut wie unverletzt wiedersehen durfte!“
 

Winnetous Stimme war am am Ende immer leiser geworden, geriet dann ins Stocken und verstummte jetzt ganz. Seine unendliche Erleichterung darüber, dass er uns in einem einigermaßen akzeptablen Zustand vorgefunden hatte, konnte man bei seinen letzten Sätzen wirklich deutlich heraushören!

Er schloss nun wieder erschöpft die Augen und blieb erst einmal ganz ruhig liegen. Mir war jetzt so einiges klar geworden, dennoch wollte und musste ich noch so vieles fragen, so vieles mit ihm besprechen, um unsere Befreiung zu planen, aber es war klar, er musste nun mit seinen wenigen Kräften haushalten und ganz sparsam damit umgehen. Also ließ ich ihm die Momente der Ruhe, die er benötigte, um seine augenblickliche Schwäche zu überwinden.
 

Der Tag neigte sich jetzt langsam seinem Ende entgegen. Zum ersten Mal, seitdem mein Blutsbruder zu sich gekommen war, meldeten sich jetzt auch wieder der Engländer und Sam Hawkens zu Wort. Der kleine Mann räusperte sich mehrmals leise, wie um seine innere Bewegung zu überwinden, und fragte mich dann:

„Eines will mir nicht so recht in meinen Kopf. Aus welchem Grund hat diese unbekannte Rothaut namens Motawateh uns heute morgen versucht weiszumachen, dass man nicht nur uns, sondern auch Winnetou am heutigen Abend an ihren berühmten Marterpfahl stellen würde, obwohl die Gauner zu diesem Zeitpunkt doch über Winnetous schlechten Zustand Bescheid wussten? Sie hatten ja sogar geglaubt, er werde....nun ja, er werde die nächsten Stunden nicht überleben...?“
 

Bevor ich antworten konnte, hatte Emery mir schon vorgegriffen:

„Ich war ja heute morgen schon der Meinung gewesen, dass die Kiowas die Absicht hatten, Charlie zu zermürben, indem sie ihn über Winnetous Aufenthaltsort im Ungewissen ließen. Zudem ließen sie keine Gelegenheit aus, die schrecklichsten Marterungen zu erwähnen, die man ihm schon angetan hätte und auch noch anzutun gedachte, genauso wie sie uns glauben ließen, dass es uns spätestens am Abend ebenso ergehen würde. All das, zusammen mit der Aussicht auf einen schnellen, schmerzlosen Tod oder sogar eine Freilassung, falls wir die Goldverstecke doch verraten würden, geschah nur, um Charlie zum Reden zu bringen – oder siehst du es anders?“ Mit dieser Frage hatte sich Emery wieder an mich gewandt.

„Nein, da bin ich ganz deiner Meinung“, erwiderte ich und sah dabei zu Winnetou, der immer noch die Augen geschlossen hielt.

„Und ich bin mir sicher, dass die Kiowas versucht hatten, Winnetou mit der gleichen Taktik zu zermürben, ist es nicht so, mein Bruder?“

Auf meine Frage hin nickte mein Freund leicht mit dem Kopf, seine Lider blieben aber geschlossen. Er sah so unglaublich erschöpft aus, seine Gesichtszüge waren gezeichnet von Leid und Schmerz, und mein Mitgefühl für ihn kannte keine Grenzen mehr.
 

Dieses Gespräch wurde natürlich äußerst leise geführt, denn immer noch waren wir in größter Sorge, dass ausgerechnet jetzt Thomson oder Motawateh das Zelt wieder betreten würden. Daher hätte ich am liebsten Winnetou jetzt angetrieben, weiterzumachen, dranzubleiben, nicht aufzugeben, denn umso schneller wäre ja die akute Gefahr gerade für ihn zumindest vorerst gebannt gewesen, aber er benötigte diese kurze Ruhepause so dringend; die Gefahr, dass er wieder das Bewusstsein verlieren würde, war ansonsten zu groß, wuchs sie ja schon jetzt von Minute zu Minute weiter an.
 

Eine kleine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen im Zelt, dann aber wandte ich mich doch wieder Winnetou zu, denn ich bekam allmählich große Bedenken, dass sein Bewusstsein langsam eintrüben könnte, wenn ich nicht versuchte, ihn durch Ansprache wach zu halten.

„Mein Bruder – warum hat Motawateh das große Bedürfnis, sich an dir zu rächen? Er und auch Thomson sprachen von einer Beleidigung, die du dem Kiowa zugefügt haben solltest?“
 

Auch nachdem ich meine Frage ausgesprochen hatte, blieb mein Freund noch regungslos und stumm liegen. Fast schon wollte meine Angst Überhand nehmen, dass er nun doch von einer Ohnmacht übermannt worden war, als plötzlich kurz ein abfälliges Lächeln über sein Gesicht glitt, bevor er noch leiser als vorhin antwortete:

„Motawateh ist eine feige Kröte! Das ist aber nicht nur heute so, seine Mutlosigkeit begleitet ihn schon seit vielen Jahren. Winnetou wollte vor einigen Sommern an den Gräbern seines Vaters und seiner Schwester zum großen Manitou beten und ihrer gedenken. Als er kurz vor Sonnenuntergang am Nugget Tsil eintraf, überraschte er dort den Kiowa, der damals noch nicht Häuptling und deshalb Winnetou auch völlig unbekannt war, mitsamt zehn weiteren Kriegern, welche die Gräber ausrauben wollten. Dem Häuptling der Apatschen gelang...“
 

Er wurde von einer Bewegung am Zelteingang unterbrochen. Und jetzt wurde meine schlimmsten Befürchtungen tatsächlich wahr, denn zu meinem größten Schrecken trat mit einem Mal Wayne Thomson ein, der uns mit grimmigen Blicken musterte. Hatte er Winnetou gehört? Mein Freund war so leise gewesen, dass selbst ich mich hatte anstrengen müssen, um ihn zu verstehen. Schnell warf ich ihm einen verstohlenen Blick zu. Er hatte sofort wieder seine Augen geschlossen und lag bewegungslos, mimte den Bewusstlosen. Ein Stoßgebet nach dem anderen sandte ich nun in den Himmel, hoffte von ganzem Herzen, dass sich dieser Widerling nicht schon wieder an dem Apatschen vergreifen würde.
 

Leider aber musste ich feststellen, dass Thomson, der wirklich zu allem fähig war, sich wohl nicht mehr lange würde beherrschen können. Er sah Winnetou einen Moment lang an, dann fragte er mich:

„Und? Ist die dreckige Rothaut zwischendurch erwacht?“

Innerlich seufzte ich auf vor Erleichterung – der Kerl hatte offenbar doch nicht bemerkt, dass mein Freund seine Besinnung wiedererlangt hatte! Ich sah ihm kalt ins Gesicht und antwortete:

„Nein, wie Ihr seht, zeigt Eure Behandlung keinen Erfolg. Ihr habt ihn zu schwer verletzt, darum müsst Ihr Euch jetzt halt in Geduld üben. Vielleicht dauert es die ganze Nacht, bis sein Körper sich wenigstens etwas erholt hat!“

Jetzt konnte ich nur hoffen, dass der Schurke wirklich nicht gerade die Weisheit für sich gepachtet hatte, so wie ich ihn anfangs eingeschätzt hatte. Würde er nur ein wenig sein Hirn anstrengen, musste er doch einsehen, dass sich aufgrund des andauernden Blutverlustes Winnetous Zustand umso mehr verschlechterte, je mehr Zeit verstreichen würde!
 

Der Umstand, dass er seine Chancen schwinden sah, doch noch an das Gold Winnetous zu kommen, verursachte bei dem Halunken eine äußerst miese Laune, die er jetzt auch verbal äußerte:

„Ach, hol Euch doch der Teufel! Ich habe keine Lust mehr, noch länger zu warten!“ Mit diesen Worten kniete er zu meinem Entsetzen bei dem Apatschen nieder, griff ihm mit der Hand in den Nacken, hob seinen Kopf an, sah ihm prüfend ins Gesicht, und als er keinerlei Reaktionen erkennen konnte, ließ er seinen Kopf unsanft wieder zu Boden fallen. Meine Fäuste ballten sich hinter meinem Rücken und ich knirschte vor mühsam zurückgehaltener Wut mit den Zähnen; wenn dieser Hundesohn mir jemals in die Hände fallen sollte, dann gnade ihm Gott!

Er aber war noch nicht fertig. Nochmals legte er seine Hand auf Winnetous Brust, um dessen Herzschlag zu ertasten, fand ihn erst nicht, und dann schien ihm das Ergebnis auch nicht zu gefallen. Wieder stieß er einen lauten Fluch aus, packte meinen Freund an beiden Schultern und schüttelte ihn aufs Heftigste, während er schrie:

„Verfluchte Rothaut! Mach endlich die Augen auf, verdammt noch mal!“ Auch diese Aktion erbrachte natürlich nicht den gewünschten Erfolg, und somit ließ er den Körper des Apatschen wieder mit voller Wucht auf den Boden krachen, stand auf und trat ihm nochmals vor Wut in die Rippen.
 

Winnetou hatte das alles über sich ergehen lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; nicht die kleinste Regung oder das Zucken eines Muskels wies darauf hin, dass er diese neuerliche Peinigung bei vollem Bewusstsein durchstand und alles mitbekam. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn, trotz meines übergroßen Zorns und meiner fast schon an Raserei grenzenden Wut, für seine stoische Ruhe und diese unglaubliche Selbstbeherrschung einfach nur bewundern! Er hatte die Wucht, mit der Thomson in hatte fallen lassen, und auch die seines Fußtrittes durch unmerkliches Anspannen bestimmter Muskeln abzumildern gewusst, so dass sich die neuerlichen Schmerzen wohl in Grenzen hielten und auch die Gefahr abgewehrt wurde, dass mein Freund durch die schmerzhafte Behandlung erneut das Bewusstsein verlieren könnte.
 

Aber leider war das noch nicht alles, was Thomson in seiner ungeduldigen Wut an Quälerei einfiel. Meine Gefährten völlig ignorierend, die ihn mit zornigen Flüchen nur so überschütteten, zog er wieder sein Messer, und jetzt wurde mir wirklich himmelangst um meinen Freund. Wenn es diesem nur endlich gelingen würde, seine Hände freizubekommen! Ich war mir sicher, trotz seines schlechten Zustandes und seiner Schwäche hätte er den feigen Schurken mühelos überwältigen können, aber leider war es ihm ja nicht möglich, an seiner Befreiung weiterzuarbeiten, während Thomson sich im Zelt aufhielt.

Dieser trat aber jetzt auf mich zu – zum Glück, wie ich bei mir dachte – hielt mir seine Waffe ganz dicht vor die Augen und zischte:

„Kann es sein, dass Ihr Euch gar nicht so recht bemüht habt, dass Euer Freund hier wieder zu sich kommt? Vielleicht wollt Ihr ja gar nicht, dass....“

„Wie kann man nur so dumm sein!“, zürnte ich unbeherrscht los, zitternd vor Wut. Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten, die letzten Stunden hatten zu sehr an meinen Nerven gezehrt.

„Wenn Ihr Euch weiterhin so an ihm vergreift, schwinden seine Chancen, dass er überhaupt noch mal zu sich kommt, doch von Minute zu Minute! Und Ihr braucht ihn, verdammt, um Euch noch eine Möglichkeit offen zu halten, an Euer verfluchtes Gold zu kommen! Ich würde alles tun, um ihm irgendwie helfen zu können, Himmel noch mal!“
 

Thomson zuckte ob meines plötzlichen lauten Ausbruchs erst leicht zurück, grinste mich dann aber höhnisch an, wandte sich wieder Winnetou zu, zückte urplötzlich wieder das Messer und setzte zwei, drei schnelle Schnitte auf dessen Brust, nicht tief, aber wieder floss Blut.

Ich brüllte auf vor rasendem Zorn, ebenso wie Sam und Emery, aber das ließ den Kerl völlig kalt. Er richtete sich wieder auf, und seine Augen wiesen einen fast schon irren Ausdruck auf, als er mit einem höllischen Grinsen auf dem Gesicht in meine Richtung rief:

„Dem ist nicht mehr zu helfen, und Euch wohl auch nicht! Einem Indianer helfen!Wo hat man denn sowas schon mal gehört? Einer dreckigen Rothaut! Hahaha! So etwas Verrücktes wie Euch habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen!“

Er begann tatsächlich, lauthals zu lachen, wurde dann aber noch einmal ernst, als er mir mit grimmiger Miene drohte:

„Ich lege mich jetzt aufs Ohr, und Ihr habt die ganze Nacht Zeit, Eure heißgeliebte Rothaut zum Leben zu erwecken. Wie Ihr das anstellt, ist mir egal, Ihr könnt ihm ja etwas vorsingen oder sonst was erzählen, hahaha! Glaubt aber ja nicht, dass einer von Euch dafür von seinen Fesseln befreit wird! Sollte der Indsman morgen früh immer noch nicht in der Lage sein, mir zu sagen, was ich wissen will, zerfleische ich ihn vor Euren Augen, so wahr ich hier vor Euch stehe!“

Und mit diesen unheilschwangeren Worten verließ er, jetzt wieder aus vollem Herzen lachend, das Zelt.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Onlyknow3
2015-09-19T20:51:13+00:00 19.09.2015 22:51
Das war knapp, aber jetzt hat Winnetou etwas Zeit sich seiner Fesseln zu entledigen ohne das sie noch mal gestört werden. Vielleicht gelingt es ihm ja auch sich zu Scharli zu robben das dieser ihm hilft. Bin gespannt wie dieses Abenteuer ausgeht. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


Zurück