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Mörderische Goldgier

"Geliebter Blutsbruder"- Teil II
von

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Glück im Unglück

Dreizehn Tage zuvor:
 

Als die jungen Goldsucher ihre anrührende Geschichte zu Ende erzählt hatten, warfen Winnetou und ich uns nur einen kurzen Blick zu und hatten dann schon unsere Entscheidung, ihnen zu helfen, getroffen, die wir den Mitgliedern der Familie Butterfield auch sofort mitteilten. Es fehlte nicht viel, und sie wären uns daraufhin ungestüm um den Hals gefallen, nur die unnahbare Aura Winnetous hielt sie wohl noch im letzten Moment davon ab und ließ sie weiterhin respektvollen Abstand halten. Ich erklärte ihnen unser Vorhaben:

„Mesch'schurs, wir werden heute zuerst alles daransetzen, Eure beiden Kameraden aus den Händen der Banditen zu befreien. Wir...“

„Dabei könnten wir doch helfen!“, rief einer der jungen Männer übereifrig dazwischen. „Wir reiten natürlich mit, und mit Euch und den anderen Westmännern werden wir die Halunken schon überwältigen, da bin ich mir sicher!“

Soso, jetzt auf einmal wurden diese Greenhorns, an denen Sam Hawkens die reinste Freude gehabt hätte, richtig mutig, dachte ich bei mir. Aber das fehlte noch, dass wir diese unerfahrenen Jungspunde auf ein solch gefährliches Unterfangen mitnehmen würden!

„Nein, junger Freund“, entgegnete ich ihm deshalb freundlich, aber bestimmt. „Das ist eine Aufgabe, die Ihr lieber erfahrenen Männern überlassen solltet, die sich hier im Westen auskennen!“

„Aber wir.....“ begann er nochmals einen halbherzigen Versuch, sich uns anzubiedern, doch ich ließ ihn nicht ausreden:
 

„Ihr könnt nun wirklich von Glück sagen, dass Ihr überhaupt noch am Leben seid! Eure Absicht mag ja eine löbliche gewesen sein, aber Eure Planung und die gesamte Ausführung waren erschreckend naiv, das muss ich Euch leider so hart sagen. Ihr habt keinerlei Erfahrung, seid noch nie richtig aus der Stadt herausgekommen; und da wolltet Ihr Euch allen Ernstes durch die Wildnis schlagen, umgeben von feindlichen Stämmen und weißem Gesindel? Tut mir leid, aber das ist nichts für Euch. Ihr werdet hier auf uns warten, und wenn wir Eure Kameraden befreit haben, danach werden wir Euch entweder wieder nach Hause bringen oder zu dem Ort begleiten, an dem die Bonanza Eures Großvaters liegt. Die genaue Entscheidung darüber liegt bei Winnetou. Niemand kennt dieses Land so gut wie er, und nur er kann Euch Gewissheit darüber geben, ob Eure Karte echt ist und es dieses Placer wirklich geben kann!“
 

Mit diesen Worten wandte ich mich wieder meinem Freund zu, und auch die Blicke der acht jungen Männer ruhten nun wie gebannt auf ihn. Der Apatsche verstand meine Aufforderung und begann, ein Familienmitglied nach dem anderen lange und intensiv ins Gesicht zu schauen. Einen Augenblick später fragte er den bisherigen Wortführer:

„Wie ist der Name des jungen Bleichgesichts?“

„Peterson, Sir!“, antwortete der Gefragte eifrig. „Elias Peterson. Ich bin auch der älteste hier aus der Familie!“

Winnetou nickte ihm zu, und ich spürte, wie er innerlich in sich hineinlächelte aufgrund des Übereifers und regelrechten Gehorsams des fast noch jugendlich wirkenden Mannes ihm gegenüber.

„So frage ich Euch“, fuhr mein Freund fort. „Habt Ihr Vertrauen zu Winnetou?“

„Natürlich, Sir!“, antwortete Peterson wie aus der Pistole geschossen. „Wir mögen zwar absolute Neulinge im Westen sein, aber soviel haben wir doch über Euch und Mr. Shatterhand gehört und erfahren, als dass wir genau wissen, dass Ihr jedes Vertrauens würdig seid!“

„So bittet Euch der Häuptling der Apachen, ihm einmal das Leder zu zeigen, welches Euer Großvater aus der Hand des Indianers erhalten hatte!“
 

Ohne zu Zögern kam der junge Mann der Aufforderung Winnetous sofort nach. Er trug das für ihn so wertvolle Leder ständig bei sich, so dass er nur in seiner Innentasche danach greifen musste. Als er es auf den Tisch legte, konnte ich erkennen, dass es wirklich sehr alt aussah. Nun nahm Winnetou es in die Hand, um es mit konzentrierter Miene von beiden Seiten zu betrachten und zu betasten. Nach einer kleinen Weile nickte er zum zweiten Mal und legte die Karte wieder vor sich auf den Tisch. Dann sah er Peterson ernst an und begann:

„Dieses Leder wurde tatsächlich von der Hand eines Indianers gefertigt, und zwar von einem Krieger der Navajos. Sie bezeichnet eine Stelle am Ship Rock in der Nähe des San Juan River. Winnetou weiß, dass in dieser Gegend viel Gold im Fels verborgen liegt, da er selber eine solche Stelle dort gefunden hat. Es handelt sich dabei allerdings nicht um den hier auf dem Leder verzeichneten Ort. Dieser gehört auch deshalb rechtmäßig meinen weißen Freunden!“

Welche Wirkung die Worte des Apatschen auf die Männer hatte, lässt sich wohl denken! Sie jubelten auf, klatschten verzückt in die Hände und strahlten über das ganze Gesicht. Damit würde ihre Not endlich, endlich ein Ende haben! Sie konnten ihr Glück kaum fassen, und wenn sie nicht solch großen Respekt vor Winnetou gehabt hätten, dann wäre er mit ihren Fragen und Dankesreden förmlich bombardiert worden. So aber begnügten sie sich damit, ihm stumm die Hand zu schütteln und dabei nur leise und verhalten ihre Freude und ihren Dank zu äußern.
 

Winnetou aber warf mir einen bezeichnenden Blick zu und sofort wusste ich, dass er mit mir allein sprechen wollte. Darum entschuldigte ich uns für ein paar Minuten bei der Gesellschaft und trat mit meinem Freund vor die Tür, wo wir uns kurz davon überzeugten, dass sich niemand in unmittelbarer Nähe befand. Nun begann Winnetou mit einer Frage:

„Kennt mein Bruder die Gegend, in der sich der Ship Rock befindet?“ Ich antwortete:

„Ja, wenn auch nicht so gut wie du. Wir waren dort einmal jagen, richtig?“ Winnetou nickte.

„Richtig. Und glaubt mein Bruder, dass wir diese jungen Bleichgesichter unbeschadet bis dorthin geleiten werden können?“

„Hm!“, machte ich nachdenklich. „Wenn ich mich recht entsinne, müssen wir auf dem Weg dorthin an den Weidegründen der Kiowas vorbei. Das ist an sich schon gefährlich genug, und mit diesen Anfängern wird es mit Sicherheit nicht besser!“ Wieder nickte der Apatsche bestätigend.

„Die Kiowas sind seit vielen Sommern den Bleichgesichtern nicht mehr wohlgesonnen, und mit so vielen Menschen werden wir kaum unbemerkt an ihren Spähern vorbeikommen!“

„Richtig“, ergänzte ich. „Zudem habe ich das ungute Gefühl, dass diese ausgemachten Greenhorns das Unglück nur so anziehen werden. Eigentlich sollten wir sie auf direktem Weg wieder nach Hause geleiten, damit sie gar nicht erst in Gefahr geraten können!“

„Um dann alleine zur Bonanza zu reiten und ihnen die Erträge daraus zu bringen?“ fragte Winnetou.

„Hm!“, machte ich wieder. „Das wäre wahrscheinlich das Beste für die Familie, aber...“.

„Aber wir würden uns für immer dem möglichen Verdacht aussetzen, dass wir uns selber am dem Gold bereichert haben könnten, auch wenn es für den Moment so aussieht, als würden die Bleichgesichter uns das niemals zutrauen!“, beendete der Apatsche meinen Satz. „Mein Bruder weiß, was der 'Tödliche Staub' selbst aus einem rechtschaffenen weißen Mann zu machen vermag.“

„Ja, das ist wahr!“, entgegnete ich. „Und sei es nur, weil sie durch ihren plötzlichen Reichtum in falsche Kreise geraten und von daher auf solch schlechte Gedanken gebracht werden.“ Ich sah ihn an.

„Also bleibt uns wohl nur die Möglichkeit, die Familie unter unseren Schutz zu nehmen und zu ihrer Bonanza hin zu begleiten?“

„Ja“, sagte Winnetou schlicht. „Wir werden dann unsere Augen und Ohren für die jungen Bleichgesichter mit aufhalten müssen!“
 

Unser Ritt zum Ship Rock war damit also beschlossene Sache. Wir gingen wieder hinein, um den Goldsuchern das Ergebnis unserer Unterhaltung mitzuteilen, die daraufhin ihre bis dahin mühsam zurückgehaltene Freude und Begeisterung nun gar nicht mehr bändigen konnten und in laute Jubelrufe ausbrachen. Sie schüttelten uns überglücklich die Hände, aber als sie uns dann auch noch voller Übermut um den Hals fallen wollten, wehrten wir diese Liebesbezeugungen freundlich, aber energisch ab.

Ich machte den jungen Leuten in aller Ernsthaftigkeit deutlich, dass sie unsere Abwesenheit zur Befreiung der Gefangenen dazu nutzen sollten, um sich noch einmal gut auszuruhen, denn diese kleine Reise zu dem erhofften Fundort des Goldes würde alles andere als erholsam werden - und die Familie konnte nun absolut gar keine Übung und Erfahrung, was das Überleben in der Wildnis anging, aufweisen. Ich hoffte wirklich von ganzem Herzen, dass die Männer den kommenden Strapazen und Aufregungen gewachsen sein würden!
 

Mit Müh und Not gelang es Winnetou und mir, uns von den Butterfields und ihrer überschwänglichen Dankbarkeit zu lösen, denn nun mussten auch wir die letzten Vorbereitungen für die anstehende Befreiungsaktion treffen. Winnetou wechselte einige Worte mit seinem Unterhäuptling und wies ihn dann an, zurück zum Pueblo der Apatschen zu reiten, um einerseits den Bewohnern dort den Grund für unsere nun wohl länger andauernde Abwesenheit mitzuteilen, andererseits wollte er die Mescaleros auch unter dem Schutz und der Führung eines fähigen Kriegers wissen. Umsichtig wie immer gab er Entschah-koh alle nötigen Anweisungen für die kommende Zeit mit auf den Weg.

Tsain-tonkee und die ihn und Emery begleitenden zehn Apatschen sollten mit uns reiten, um die Gefangenen aus der Gewalt der Banditen zu befreien; und Emery ließ sich dieses Abenteuer sowieso nicht nehmen. Somit waren wir vierzehn fähige und teils sehr gut bewaffnete Personen, die es mit den dreizehn Verbrechern wohl aufzunehmen vermochten.

Der Doktor wollte derweil aufgrund seines ursprünglichen Vorhabens bei den Siedlern bleiben und gleichzeitig hier auf uns warten, da nicht auszuschließen war, dass es in nächster Zeit Verletzte geben konnte; die beiden Gefangenen würden sogar schon fast sicher seiner Hilfe bedürfen.

Dass Emery uns nicht allein reiten ließ und sich derweil im Müßiggang übte, war mir natürlich von vornherein klar gewesen. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn zu fragen:

„Sag einmal, mein Freund, bist du sicher, dass du überhaupt die Zeit für solch einen Ausflug hast? Ich dachte, im Pueblo würden wichtigere Dinge auf dich warten?“ Einen Augenblick lang wirkte der Angesprochene etwas überrascht – er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass jemand seine Bemühungen, das Herz der schönen Apatschin zu erobern, bemerkt hatte. Er fasste sich aber schnell wieder, zwinkerte mir zu und antwortete mit einem verschmitzten Lächeln:

„Oh, weißt du, diese wichtigen Dinge werden bis zu meiner Rückkehr auch noch wichtig bleiben! Außerdem: Gut Ding will Weile haben, nicht wahr?“ Lachend klopfte ich ihm auf die Schulter, dann kehrten wir zurück in das Haus der Schumanns.
 

Mittlerweile hatte die Sonne fast ihren Höchststand erreicht. Uns wurde von unseren fürsorglichen Gastgebern noch ein schnelles, aber sehr schmackhaftes Mittagsmahl aufgedrängt, denn Joseph Schumann bestand auch in seiner Funktion als Vorstand der Siedler darauf, dass wir nur ordentlich gestärkt aufbrechen sollten. Also folgten wir, und das nicht ungern, seiner Aufforderung, bevor wir uns frisch und munter in die Sättel schwangen und voller Zuversicht und Tatendrang aufbrachen.
 

Wir befanden uns westlich des Rio Pecos. Um zu dem Lager der Banditen zu gelangen, hatten wir uns jetzt ungefähr fünf Stunden lang nordwestlich zu halten, ohne die Pferde dabei sonderlich anstrengen zu müssen. Von West nach Ost fließt ein Fluss namens Hondo durch New Mexiko, der bei Roswell in den Rio Pecos mündet. Wenige Meilen östlich seiner Quelle lagerten die Verbrecher, nahe der östlichen Ausläufer der Sacramento Mountains. In diesem Vorgebirge wollten wir ein gutes Versteck für Menschen und Pferde finden, um die Befreiung der Gefangenen und das Ausspionieren der Bande unbemerkt angehen zu können.

Während des Rittes wurde nicht allzuviel gesprochen; die Apatschen waren ja von jeher sehr schweigsam, und an Winnetous Seite hatte auch ich mir in all den Jahren diese Sitte angewöhnt, meine Umgebung mit allen Sinnen anzunehmen, ohne durch unnötiges Gerede die Aufnahmefähigkeit zu zerstören, und das nicht ungern. Einzig Emery konnte nicht allzu viel mit der Stille um ihn herum anfangen, und so versuchte er mal mit diesem, mal mit jenem ein Gespräch zu beginnen, fast immer ohne Erfolg. Als er sich dann schlussendlich an Winnetou heranmachte, um mit ihm über dessen lebensgefährlichen Rettungseinsatz für die Siedlerkinder im Pecos zu diskutieren, brauchte ihm der Apatschenhäuptling nur einen einzigen seiner unnachahmlichen Blicke zuzuwerfen, und der Engländer verstummte sofort. Schmunzelnd stellte ich fest, dass er einen Moment brauchte, um sich wieder zu sammeln, und sich dann direkt an meine Seite begab. Leise raunte er mir zu:
 

„Geht es unserem Freund nicht gut? Er ist so still, wirkt so in sich gekehrt!“ Jetzt musste ich doch laut auflachen.

„Emery, seit wann kennst du unseren Winnetou jetzt schon? Es geht ihm umso besser, je ruhiger und stiller er ist, das müsstest du doch langsam wissen! Warum soll man reden, wenn man seine Sinne sprechen und fühlen lassen kann? Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir noch genug Gelegenheiten für Gespräche haben, dessen sei sicher!“

„Hast ja recht“, murmelte mein Gefährte in sich hinein. „Ich bin wohl durch die Siedler und deren Überschwänglichkeit noch ein wenig aufgedreht. Ab jetzt genieße und schweige ich auch!“ Und an dieses Versprechen hielt er sich auch für den Rest unseres Rittes.

Allerdings beobachtete ich meinen Winnetou jetzt für kurze Zeit doch etwas genauer, denn es konnte ja immerhin möglich sein, dass es ihm aufgrund des gestrigen Abenteuers nicht so wohl war. Nach einigen Minuten wusste ich aber, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte. Er war völlig in sich versunken, wie so oft seit dem schrecklichen Tag vor fast einem Dreivierteljahr, an dem er dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Seitdem er diesen einen kurzen Blick ins Jenseits hatte werfen können, befand er sich oftmals in einem innigen Zwiegespräch mit seinem Manitou, und jedes Mal hatte ich in solchen Momenten das Gefühl, als ob seine Seele für kurze Zeit seinen Körper verlassen hätte und sich in Gottes Hand befand. So war es auch jetzt, und deshalb achtete ich nun darauf, dass er in seiner Andacht nicht mehr gestört wurde.
 

Am späten Nachmittag hatten wir dann unser Ziel erreicht. Ein gutes Versteck war schnell gefunden, und bei Anbruch der Dunkelheit brachen Winnetou und ich auf, um die Bande und die Lage der Gefangenen auszuspionieren. Niemand machte uns diese Ersterkundung streitig; sie alle wussten, dass vor allem Winnetou ein Meister im Auskundschaften war, der nun mal seinesgleichen suchte.

Wir hatten etwa eine halbe Stunde strammen Fußmarsches zu bewältigen, bevor wir die von Emery gut beschriebene Stelle erreichten, ab der wir nun äußerste Vorsicht walten lassen mussten. Wir bewegten uns die ganze Zeit über in einem sehr lichten und mit nur wenig Unterholz oder Gesträuch behafteten Wald, welcher allerdings über einen weichen Moosboden verfügte, der uns das Anschleichen sehr erleichterte. Trotzdem mussten wir die größtmögliche Aufmerksamkeit auf unsere Deckung richten, die eigentlich nur die Baumstämme bieten konnten. Zusätzlich schien der Mond noch sehr hell, so dass es wirklich fast ein Kunststück zu nennen war, dass wir letztendlich, ohne bemerkt worden zu sein, so nah hinter den Banditen am Rand der Lichtung im hier zum Glück hohen Gras lagen und sie dabei fast berühren konnten.
 

Genau vor uns saß Wayne Thomson, und bei ihm befanden sich drei Männer mit wirklich schäbig anmutenden Verbrechervisagen, die offensichtlich genauso charakterlos waren wie Thomson selber. Was ich empfand, als ich so nahe an diesen Halunken herankam, der Winnetou so schwer verletzt hatte und fast für seinen Tod verantwortlich gewesen wäre, kann man sich vielleicht denken. Wäre unsere Verantwortung für die Goldsucher nicht gewesen, ich weiß nicht, ob ich mich hätte beherrschen können!

Sieben weitere Schurken saßen mittig auf der Lichtung am Feuer, bereiteten eine Mahlzeit zu oder tranken Whisky. Zwei fehlten noch, und ich nahm an, dass diese zur Wache eingeteilt worden waren und rund um das Lager patrouillierten, da wir während unserer vorsichtigen Annäherung zumindest eine Gestalt bemerkt hatten.

Die Verbrecher vor uns sprachen zwar miteinander, aber das bisher Gehörte war für uns völlig belanglos. Ich ließ deshalb meinen Blick auf der Suche nach den beiden Gefangenen über das Lager schweifen und wurde auch bald fündig. Sie befanden sich wenige Meter entfernt rechts von uns, ebenfalls nahe am Rand der Lichtung, und waren natürlich gefesselt. Ein großer Vorteil aber in Hinsicht auf eine spätere Befreiung war, dass sie zumindest nicht noch zusätzlich an die Bäume gebunden worden waren.

Leider standen genau an dieser Stelle nicht viele Bäume, und die wenigen waren auch noch sehr jung, verfügten also über keine dicken Stämme, hinter denen wir uns hätten verstecken können; auch war kein hohes Gras zum Verbergen vorhanden. Wir besahen uns noch einmal genau alle Einzelheiten, denn jede Kleinigkeit konnte für unser späteres Vorhaben wichtig sein.
 

Gerade eben wollten wir uns vorsichtig wieder zurückziehen, da hörte ich einige Worte von Thomson, die mein Interesse erweckten. Es schien sich um seine Flucht aus dem Fort vor seiner geplanten Hinrichtung zu handeln, und so hörte ich natürlich ganz genau hin.

„.....und die armen Trottel von der Armee waren nach den vier Wochen, die ich auf der Krankenstation verbracht hatte, tatsächlich vollständig davon überzeugt, dass ich noch viel zu schwach und hinfällig sei, um ordnungsgemäß hingerichtet werden zu können! Ich hatte mich halt gut verstellt, und da sie ihren Militärarzt bei dieser dreckigen Rothaut namens Winnetou gelassen hatten, der ich mein ganzes Elend hier an Arm und Bein...“, er zeigte dabei auf seine linken Gliedmaßen, die ihm Firehand damals, kurz nach seinem Attentat auf Winnetou, in seiner rasenden Wut zerschmettert hatte, „...eigentlich zu verdanken habe, waren sie nicht in der Lage, meinen Zustand richtig zu beurteilen. Man hatte mir zwar eine Wache vor die Tür gestellt, aber da der Mann mich für bewegungsunfähig hielt, konnte ich mich eines Nachts mühelos an ihn heranschleichen und erstechen – mit einem Messer, dass ich kurz zuvor einem anderen Soldaten gestohlen hatte. Ich zog dem toten Soldat die Uniform aus, zog sie selber an, und so gelang es mir, unbehelligt aus dem Fort zu entkommen, wobei ich sogar die Waffen des Soldaten und ein Pferd mitgehen lassen konnte! Haha, die dummen Gesichter der Kerle am nächsten Morgen hätte ich zu gerne gesehen!“
 

Bei diesen Worten ballte ich unwillkürlich die Fäuste vor mühsam gezügeltem Grimm. Selbst auf dem Krankenlager hatte der Schuft einen Mord begangen, und das war mit Sicherheit nicht sein erster gewesen! Doch darüber konnte ich mir jetzt keine Gedanken machen, denn schon erzählte Thomson weiter:

„Zwei Tage später bin ich dann auf Bill Daniels gestoßen, der mir erstens verriet, wo ihr und eure Truppe zu finden seid, und zweitens mir sogar die Mitteilung machen konnte, dass dieser Dreckskerl namens Firehand, der meine Gliedmaßen und mein halbes Gesicht auf dem Gewissen hat, bei den Apatschen untergekrochen war. Mit dem Schuft habe ich noch eine Rechnung offen, die sich gewaschen hat! Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er um einen gnädigen Tod winseln, das schwöre ich euch. Und wenn ich bei dieser Gelegenheit den räudigen Köter namens Winnetou gleich mitnehmen kann, umso besser! Ich schickte also Bill los, um euch mitzuteilen, wo und wann wir uns treffen können, und machte mich auf, um vorher die Welt von mindesten einer, besser noch von zwei stinkenden Ratten zu befreien.“
 

Mittlerweile zitterte ich schon etwas vor unterdrückter Wut. Alles konnte ich ertragen, und wenn dieser Verbrecher mich noch so schwer beleidigt hätte, es wäre mir egal gewesen. Aber wie der Halunke da gerade eben über meinen Winnetou gesprochen hatte, auf eine solch abfällige Art und Weise, da hätte es schon eines Wunders bedurft, um in mir nicht den größten Zorn auszulösen. Winnetou dagegen, der natürlich auch alles mit angehört hatte, blieb wie immer die Ruhe selbst und legte mir sanft seine Hand auf meinem Arm, um mich zu beruhigen und mir durch diese Geste stumm mitzuteilen, dass ihm die Worte des Banditen überhaupt nichts anhaben konnten. Dadurch gelang es mir, mich wieder etwas zu sammeln und dem weiteren Bericht Thomsons zu verfolgen.
 

„Bei den Rothäuten angekommen, sah ich Old Firehand zusammen mit Old Surehand, die gerade für eine wohl längere Reise das Pueblo verließen. Ich überlegte kurz, ob ich ihnen folgen oder doch erst eine Gelegenheit abwarten sollte, um Winnetou vor die Flinte zu bekommen. Ich entschied mich für letzteres, da ich mir dachte, dass ich die Spur Firehands wohl mühelos wiederfinden würde. Also beobachtete ich einen halben Tag lang das Dorf der dreckigen Rothäute, um einen günstigen Augenblick zu erwischen, wurde dabei aber leider von einem Apatschen entdeckt – ich war mir zumindest sicher, dass er mich von dem hohen Felsen aus, auf dem er sich befand, gesehen hatte, und trat eiligst den Rückzug an.

Ich dachte bei mir, dass ich vorerst keine Möglichkeit mehr haben würde, da die Kerle jetzt wohl gewarnt waren. Daher suchte ich unseren Treffpunkt auf, damit wir alle zusammen Firehand folgen können, denn gegen Firehand und Surehand tritt man besser mit so vielen Leuten wie möglich an. Na gut, jetzt sind uns halt die Goldsucher dazwischen gekommen, die uns wohl irgendwann ihr Goldversteck verraten werden, und das ist mir im Augenblick noch mehr wert als die Rache an Firehand. Der Kerl entwischt mir schon nicht - den hol ich mir noch!“
 

Es war ein wirklich hochinteressantes Gespräch, was wir da erlauscht hatten. Also auf Firehand und auch auf Winnetou hatte es diese elende Kreatur abgesehen! Sobald die Zeit es zuließ, mussten wir Firehand eine Warnung zukommen lassen, damit er ab sofort auf der Hut war. Ich war zwar fest davon überzeugt, dass wir Thomson noch heute Nacht überwältigen würden – und dann wollte ich ihn für seine Taten zur Rechenschaft ziehen, und zwar an Ort und Stelle, damit er nicht noch einmal die Gelegenheit zur Flucht haben würde – aber man konnte ja nicht wissen, ob es nicht noch weitere Verbrecher gab, die von ihm auf Firehand angesetzt worden waren!

Was jetzt weiter erzählt wurde, war für uns nicht mehr von Belang, und so zogen wir uns in aller Vorsicht zurück, bis wir wieder sicheres Gelände erreicht hatten.
 

Die Gefährten hatten unsere Rückkehr schon mit Spannung erwartet, und so berichteten wir schnell, was wir gesehen und gehört hatten. Emery geriet ebenso wie ich vorher in große Wut, als er von der Frechheit des Geiers hörte, und hätte alles darum gegeben, diesen jetzt genau in die Finger zu bekommen. Doch nun galt es erst einmal, einen vernünftigen Plan zu schmieden, um die zwei jungen Männer unbeschadet zu befreien und möglichst alle Banditen lebend gefangen zu nehmen.

Eine heimliche Befreiung war aufgrund der fehlenden Deckung hinter den Gefesselten nicht möglich. Da wir aber vierzehn fähige Personen waren, die allesamt keine Schwierigkeiten haben würden, sich unbemerkt an das Lager heranzuschleichen, beschlossen wir, uns der Lichtung vorsichtig zu nähern und sie zu umkreisen, dabei die beiden Posten auszuschalten und anschließend durch unsere Übermacht die Banditen zu überraschen und zu überwältigen, bevor die überhaupt Gelegenheit bekamen, zu ihren Waffen zu greifen.
 

Wir warteten also eine Zeit lang, bis das der Mond hinter den Bergen verschwunden war und die dadurch entstandene Dunkelheit uns einen besseren Schutz bieten konnte, dann griffen wir an.

Die Wachen wurden von Winnetou und mir ausgeschaltet, und dann gelang es uns tatsächlich, die Bande völlig zu überraschen und mit gezogenen und durchgeladenen Gewehren hinter ihnen zu stehen, bevor sie überhaupt daran dachten, eine Bewegung der Abwehr zu machen!

Winnetou und zwei seiner Apatschen waren im Nu bei den Gefangenen, die glücklicherweise nicht verletzt worden waren. Sie hatten allerdings Schwierigkeiten, ihre Gliedmaßen zu bewegen, da die Fesseln ihnen tief ins Fleisch geschnitten und die Blutzufuhr dadurch unterbrochen hatten. Die beiden standen also äußerst wackelig auf ihren Füßen, und als sie die ersten Schritte mit Unterstützung von Winnetous Kriegern tun wollten, sank einer von ihnen mit einem lauten Schmerzensschrei wieder zu Boden.
 

Wir hatten die Banditen noch nicht entwaffnet, sondern hielten sie im Augenblick nur in Schach; durch den Schrei wurden alle einen Augenblick lang abgelenkt, und das war einer zu viel. Sofort hatte Thomson seinen Revolver gezogen, und jetzt flog uns das Blei nur so um die Ohren.

Er hatte zuerst Winnetou im Visier, aber da dieser sich gerade bückte, um dem gefallenen Jüngling aufzuhelfen, verfehlte die Kugel nur um Zentimeter ihr Ziel. Gleich darauf hatte mein Freund sein Gewehr angelegt und schoss auf Thomson, aber auch diese Kugel ging fehl, weil der Schurke urplötzlich eine Rückwärtsbewegung machte, sich dann umdrehte und zwischen den Bäumen verschwand. Ich wollte ihm sofort nachsetzen, als ich einen scharfen Schmerz an der Wange verspürte. Ein weiterer Bandit hatte ebenfalls die Pistole gezogen und auf mich geschossen, doch zu meinem großen Glück war es nur ein Streifschuss.

Augenblicklich war Winnetou neben dem Kerl und schlug ihn mit vor Zorn blitzenden Augen mit dem Kolben seines Gewehrs nieder, so dass dieser schon das Bewusstsein verloren hatte, bevor er überhaupt den Boden berührte. Die anderen Halunken wurden jetzt im Nu überwältigt und sofort gefesselt, damit sie nicht nochmals solch eine Gelegenheit zur Gegenwehr erhielten.
 

Außer Thomson hatte allerdings noch ein Mitglied der Bande das Weite gesucht, und beide wurden jetzt von einer Handvoll Apatschen verfolgt. Die Chancen standen allerdings schlecht, dass die Verbrecher von ihnen gestellt werden würden, da es mittlerweile stockdunkel war und man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Während Emery und der Rest der Apatschen sich um die beiden befreiten Goldsucher bemühten, wollte ich ebenfalls den Entflohenen nachsetzen, aber Winnetou hielt mich zurück.

„Mein Bruder mag die Verfolgung meinen Kriegern überlassen!“, bat er mich, ging zu seinem Iltschi - die Pferde waren gerade von einem Apatschen aus ihrem sicheren Versteck geholt worden -, entnahm etwas seiner Satteltasche und kehrte zu mir zurück.

Er hielt jetzt ein weiches Tuch in der Hand, legte seine Rechte unter mein Kinn, um meinen Kopf zu halten, während er mit seiner Linken begann, den Streifschuss an meiner Wange zu versorgen, so sanft und vorsichtig, dass ich keinerlei Schmerzen verspürte. Die Fürsorge und Zärtlichkeit, die mein geliebter Freund mir dabei zuteil werden ließ, bewirkten, dass mir ein Schauer nach dem anderen den Rücken herunterlief und ich wirklich an mich halten musste, um ihn nicht sofort in meine Arme zu schließen und fest an mich zu drücken.
 

Kurz darauf kehrten die Apatschen, wie erwartet, unverrichteter Dinge zurück, was uns zwar ärgern musste, sich aber leider nicht ändern ließ. Wir sagten uns, dass wir die Kerle schon noch erwischen würden, denn der Rachedurst von Thomson würde ihn wahrscheinlich unweigerlich wieder in unsere oder in Old Firehands Nähe treiben, und dann Gnade ihm Gott!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2015-09-12T17:37:37+00:00 12.09.2015 19:37
Das war wirklich Glück im Unglück, das nicht mehr passiert ist als der Streifschuß, das hätte auch anders ausgehen können.
Das die beiden Gefangenen nun befreit sind ist gut, das die Banditen gefesselt sind ist super, aber der Anführer entwischen konnte, bekommen sie dann ja auch Haut nah zu spüren. Mir geht es immer nocht durch Mark und Bein das Winnetou da halb tod vor den dreien liegt und keiner was tun kann um ihm zu helfen zu mal dieser Thomson auch noch ein Messer in der Hand hat. Sehr gutes Kapitel. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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