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Mörderische Goldgier

"Geliebter Blutsbruder"- Teil II
von

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Eine unvollständige Befreiung (zwei Wochen zuvor)

Zwei Wochen zuvor:
 

Nachdem Walter Hendrick die Behandlung unserer geringfügigen Verletzungen abgeschlossen hatte, raffte ich mich nochmals auf, wobei ich das Gefühl hatte, vor Müdigkeit von zentnerschweren Gewichten heruntergedrückt zu werden, und setzte mich wieder an die Seite meines Freundes, nahm seinen Kopf in meinen Schoß und hielt gleichzeitig seine Hand. Ich wandte ihm jetzt wieder meine ganze Aufmerksamkeit zu, die nur einmal noch kurz abgelenkt wurde, als ich Emery gewahr wurde, der sich jetzt mit einem weiteren Apatschen aufmachte, um Iltschi und Hatatitla sowie unsere am Ufer abgelegten Gegenstände zu holen.

Beim genaueren Hinsehen erkannte ich in dem Indianer Tsain-tonkee, den „Spähfuchs“ der Apatschen, der uns bei unserem Kampf gegen die Geierbande vor einigen Monaten eine große Hilfe gewesen war. Offensichtlich begleitete er den Engländer, weil er sich besser als dieser hier in der Gegend auskannte.
 

Meine Gedanken schweiften kurz ab zu der kleinen Höhle, in deren Nähe wir die Pferde angehobbelt hatten und in der wir vor gerade mal einer guten Stunde eine so leidenschaftliche Zeit verbracht hatten. Würden die beiden die Grotte entdecken? Und wenn ja, konnten sie dort irgendwelche Spuren finden, die auf das besondere Verhältnis zwischen Winnetou und mir schließen ließen? Innerlich zuckte ich mit den Achseln, es war mir im Moment aufgrund meiner Erschöpfung wirklich völlig gleichgültig - und selbst wenn den beiden irgendetwas auffallen sollte, würde es an meinem Verhältnis zu meinem geliebten Blutsbruder in keinster Weise etwas ändern - soviel stand für mich fest.

Im übrigen war ich mir seit geraumer Zeit sowieso nicht mehr so ganz sicher, ob Tsain-tonkee nicht doch etwas ahnte – es hatte in den letzten Monaten gewisse Andeutungen gegeben, die darauf hinwiesen. Er verhielt sich jedoch wie immer sehr höflich und und äußerst ehrerbietig uns gegenüber, und vor allem vor Winnetou hatte er größte Hochachtung, die er auch deutlich zeigte, und war ihm gegenüber unerschütterlich treu und ergeben. Somit konnte ich getrost davon ausgehen, dass er, wenn er wirklich von unserer körperlichen Liebe zueinander wusste, diese mit größtem Gleichmut und absoluter Selbstverständlichkeit hinnahm.
 

Ich sah wieder hinunter zu meinem Freund, der ruhig und tief atmend mit geschlossenen Augen in meinem Schoß lag. Er war noch etwas blass, schien aber den gnadenlosen Überlebenskampf im Wasser ansonsten gut überstanden zu haben. Walter hatte sich jetzt auch wieder neben uns niedergelassen, horchte nochmals die Lunge des Apatschen ab und nickte mir anschließend beruhigend zu. Dann meinte er:

„Am besten wird es sein, wenn wir hier an diesem Ort bleiben, bis er erwacht ist und sich wieder etwas erholt hat. Das wird wahrscheinlich ein paar Stunden dauern, aber anschließend wird er wohl in der Lage sein, zumindest bis zur Siedlung zu reiten, und dort könnt ihr beide euch ja wenigstens bis morgen ausruhen!“ Ich stimmte ihm zu, worauf er ergänzte:

„Du solltest jetzt auch versuchen, etwas zu schlafen, du hast es wirklich bitter nötig!“ Etwas zweifelnd sah ich ihn an, denn eigentlich hatte ich vor, noch etwas über den Grund seines und Entschah-koh's Aufenthalt ausgerechnet an dieser Stelle hier zu erfahren; und auch die Tatsache, dass sich Emery nebst Tsain-tonkee hier befanden, einschließlich neun weiteren ihn begleitenden Apatschen, irritierte mich ein wenig, denn ich hatte ihn bis jetzt im Pueblo vermutet. Und, zu guter Letzt, was hatte es mit den Goldsuchern auf sich, auf die die Siedler während ihrer Biberjagd getroffen waren und deretwegen sie so abgelenkt waren, dass sie nicht mehr auf die Kinder geachtet und damit das ganze Unglück ausgelöst hatten?
 

Allerdings spürte ich jetzt immer stärker eine bleierne Müdigkeit, die mich zu überwältigen drohte. Auch die Wunden, die zwar völlig unbedeutend waren, bereiteten mir im Moment Schmerzen; und da es Winnetou im Augenblick relativ gut ging und ich genau wusste, dass der Doktor ein wachsames Auge auf ihn haben würde, beschloss ich, mir dann doch einen kleinen Erholungsschlaf zu gönnen. Ich legte mich so, dass mein Freund weiterhin in meinen Armen liegen konnte, und war dann auch Sekunden später eingeschlafen.
 

Ich erwachte, weil mir der köstliche Geruch gebratener Präriehühner in die Nase stieg und mich mein daraufhin laut knurrender Magen daran erinnerte, dass er überhaupt nichts gegen eine handfeste Mahlzeit einzuwenden hatte.

Mein nächster Gedanke galt Winnetou und sofort schaute ich zu meiner anderen Seite. Er lag immer noch friedlich schlafend in meinen Armen, während Walter seine Hand hielt und ab und zu nach dem Puls tastete. Als er bemerkte, dass ich erwacht war, flüsterte er mir zu:

„Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, es geht ihm gut!“ Ich nickte erfreut und sah mich dann nach den anderen Anwesenden um. Einige von ihnen hatten sich im Kreis um das große Lagerfeuer herum versammelt, bereiteten das Essen zu und unterhielten sich leise, andere hatten sich genau wie ich einen schattigen Platz für ein kurzes Nickerchen gesucht.
 

Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, hatte ich über zwei Stunden geschlafen, und so war es auch kein Wunder, dass ich mich vollkommen erholt fühlte. Da ich zudem keinen geringen Hunger und Durst verspürte, versuchte ich, mich so vorsichtig wie möglich von Winnetou zu lösen, damit ich ihn nicht um seine wahrscheinlich noch sehr notwendige Ruhe brachte, aber meine Bemühungen waren vergeblich. Kaum hatte ich meinen Arm unter ihm weggezogen, begann er, sich zu regen. Ein tiefes Durchatmen, ein kurzes Blinzeln, und schon schlug er seine Augen auf und sah mich an, wirkte dabei aber im Augenblick noch etwas verwirrt. Sanft streichelte ich über seine Stirn und fragte ihn, immer noch etwas besorgt:
 

„Wie fühlst du dich, mein Bruder?“ Einen Moment lang konnte er noch nicht genau einordnen, was geschehen war, das sah ich ihm deutlich an. Dann aber huschte ein spärliches Lächeln über sein Antlitz und mit einer leisen und etwas heiser klingenden Stimme flüsterte er:

„Es geht mir gut, Scharlih - aber weiß mein Bruder, ob die Kinder die Gewalt des Wassers ebenfalls überstanden haben?“ Es war wie immer. Seinen eigenen Zustand schnell überspielend, hatte er nur Sorgen für seine notleidenden Mitmenschen; und dieser bei ihm äußerst ausgeprägte Zug der Nächstenliebe rührte mich jedesmal wieder zutiefst an. Zudem war ich weiterhin voller Dankbarkeit für seine mit allerletzter Kraft ausgeführte Rettungstat, der ich höchstwahrscheinlich mein Leben verdankte; und so nahm ich aufgrund meiner jetzt überquellenden Gefühle der Rührung und Freude über sein Erwachen sein Gesicht in meine Hände und küsste ihm die Stirn, bevor ich ihm antwortete:
 

„Mein Bruder sei ohne Sorge, die Kinder sind versorgt und in Sicherheit...“ Ich wurde nun von dem Doktor unterbrochen, der noch etwas genauer ausführte:

„Ich kann dir mit gutem Gewissen versichern, Winnetou, dass es ihnen soweit gut geht. Ich habe mich schon um sie gekümmert, sie befinden sich jetzt auf dem Weg zur Siedlung, wo sie natürlich ein paar Tage das Bett hüten werden.“ Mein Freund drehte bei diesen Worten schnell seinen Kopf in Richtung des Arztes und sah ihn überrascht an.

„Wie ist es möglich, dass sich mein weißer Bruder hier befindet?“ fragte er leise. Auch ich hatte Interesse an der Antwort des Doktors, da ihn der Weg vom Pueblo der Apatschen zu den Siedlern, den er mit Entschah-koh hatte zurücklegen wollen, eigentlich ein paar Meilen weiter südlich vorbeigeführt hätte.

Walter gab uns denn auch sogleich Auskunft:
 

„Nun, wir waren ungefähr auf der Hälfte unseres Weges angelangt, als sich uns von hinten mit größter Eile ein Reitertrupp näherte. Das waren die verunglückten Kinder mit ihren Vätern und drei weiteren Begleitern, die die Kleinen so schnell wie möglich nach Hause bringen wollten, da diese völlig erschöpft und stark unterkühlt waren. Sie waren natürlich heilfroh, uns unterwegs zu treffen, da ich nun sofort eine hinreichende Erstversorgung leisten konnte. Anschließend wollten wir eigentlich mit ihnen zur Siedlung reiten, erfuhren dann aber von den Männern, dass ihr beide euch kurz zuvor in Lebensgefahr begeben habt, um die Kinder zu retten. Keiner von den Männern wusste, ob es schon gelungen war, euch ebenfalls in Sicherheit zu bringen. Da es für mich deshalb unklar war, in welchem Zustand ihr euch befandet und man mit ziemlicher Sicherheit annehmen konnte, dass ihr auch der Hilfe bedurftet, kehrten Entschah-koh und ich schnellstmöglich um; und ich denke, das war eine gute Entscheidung!“
 

Bei diesen Worten warf er Winnetou einen bedeutsamen Blick zu.

„Das war mal wieder äußerst knapp, mein Freund! Eigentlich hatte ich gehofft, nie wieder eine solche Situation mit dir erleben zu müssen....“ Er schüttelte kurz den Kopf, wie um die schreckliche Vorstellung abzuschütteln, was alles hätte geschehen können, und fuhr dann fort:

„Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn der Häuptling der Apatschen sich heute und morgen noch ein wenig schonen würde, um einer gesundheitlichen Gefährdung aus dem Weg zu gehen, so dass wir alle uns wirklich keine Sorgen mehr machen müssten!“ Ich musste jetzt doch etwas in mich hinein schmunzeln, denn das war eine recht geschickte Taktik unseres Doktors, Winnetou auf diese Art zur Ruhe zu zwingen, da er wusste, dass der Apatsche alles tun würde, um uns jegliche Unannehmlichkeiten zu ersparen. Dieser schenkte ihm jetzt auch ein leises Lächeln und versicherte:

„Winnetou wird seinem weißen Bruder gerne seinen Wunsch erfüllen. Ist es ihm dennoch erlaubt, sich aufzusetzen?“

Dies wurde ihm von Hendrick gestattet. Er bedurfte dabei noch nicht einmal mehr meiner Unterstützung, und ich war äußerst froh und dankbar, dass unser Abenteuer offenbar keine schwerwiegenden Folgen für ihn gehabt hatte.
 

Die anderen Anwesenden hatten inzwischen bemerkt, dass wir beide uns wieder unter den Lebenden befanden und kamen schnell zu uns herüber. Wir wurden denn auch sofort mit einem reichhaltigen Mittagsmahl versorgt, worauf vor allem ich herzhaft zulangte. Winnetou wurde jetzt natürlich von allen Seiten mit Lob und Dank nur so überhäuft, was er aber nach wenigen Augenblicken mit den Worten abwehrte:

„Wenn meine weißen Brüder nicht möchten, dass Winnetou sich sofort entfernt, dann sollten sie jetzt nicht mehr von Dingen sprechen, die für Manitous Kinder eine Selbstverständlichkeit sein sollten! Der Häuptling der Apatschen würde viel lieber erfahren, was es mit den Goldsuchern auf sich hat, die sein weißer Freund Schumann vorhin erwähnte!“ Das Oberhaupt der Auswanderer hatte ihm nämlich Augenblicke zuvor in aller Kürze berichtet, wie der Unfall der Kinder von statten gegangen war und hatte dabei auch beiläufig die Fremden erwähnt, die ihn um dringende Hilfe gebeten hatten.
 

Schumann kam der Aufforderung sogleich nach und berichtete:

„Well, wie schon gesagt, wir waren gerade dabei, die Biberfallen zu leeren und neu aufzustellen, als wir aus dem hinter uns liegenden Wald lautes Hufgetrappel nahen hörten. Kurz darauf erschienen acht Reiter, die allesamt einen sehr verängstigten und aufgeregten Eindruck machten. Sie schienen heilfroh zu sein, auf andere Menschen treffen zu können, und baten uns sofort um unseren Schutz und unsere Hilfe. Wir waren natürlich zuerst recht verwundert, denn sie benahmen sich, als ob sie verfolgt werden würden, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Aus ihren verworrenen Berichten wurden wir zuerst auch nicht schlau, dann aber, nachdem wir die Männer etwas beruhigen konnten, erzählten sie uns, dass sie Goldsucher seien und sich zwei Stunden zuvor noch an ihrem Lagerplatz befanden, wo sie die Nacht verbracht hatten.

Sie waren gerade im Begriff gewesen, alles zusammenzupacken und weiter zu reiten, als sie plötzlich hinterrücks überfallen wurden. Zwei von ihnen wurden sofort niedergeschlagen, die anderen aufs gröbste beschimpft und bedroht, und so waren die im Westen recht unerfahrenen Leute völlig verängstigt und nicht in der Lage, sich zu wehren, obwohl die Anzahl der Banditen nur geringfügig größer war. Sie hatten es einem unglaublichen Zufall zu verdanken, dass sie sich befreien und fliehen konnten. Im Wald hinter ihnen waren auf einmal Geräusche zu vernehmen, die auf sich entfernende Personen hinwiesen. Die meisten Banditen nahmen sofort die Verfolgung auf; sie dachten wohl, einer der Goldsucher wäre entflohen. Nur ein oder zwei der Halunken blieben als Wächter zurück, aber ihre Aufmerksamkeit war permanent auf das Geschehen im Wald gerichtet, so dass sich die Überfallenden heimlich miteinander verständigen konnten. Da sie noch nicht gefesselt worden waren, nahmen sie all ihren Mut zusammen, überwältigten ihre Wächter, schnappten sich ihre Pferde und flüchteten, so schnell sie konnten. Einzig ihre niedergeschlagenen Kameraden mussten sie zurücklassen, und dass ist auch der Grund, warum sie jetzt Hilfe suchten. Sie wollen ihre Gefährten natürlich nicht ihrem Schicksal überlassen, wagen sich aber nicht, diese ohne die Anwesenheit mutiger und gut bewaffneter Männer aus der Gefahr zu befreien!“
 

Nachdem Schumann seinen Bericht beendet hatte, sah ich meinen Freund an, der sinnend zu Boden blickte. Ich kannte ihn so gut wie niemand sonst, und mir war nun sogleich vollkommen klar, dass er jetzt nicht mehr darüber nachdachte, ob, sondern nur noch, auf welche Weise er beziehungsweise wir den gefangenen Goldsuchern zu Hilfe kommen wollten. Schon hob er den Kopf und sah Schumann an, um weitere Einzelheiten zu erfahren:

„Wo befinden sich die Männer jetzt, die Eure Hilfe erbaten?“ Der Deutsche antwortete:

„Einige unserer Leute haben sie mit zur Siedlung genommen, wo sie sich erst einmal etwas von ihrem Schrecken erholen können. Wir hatten eigentlich vor, allesamt mitzureiten, aber dann geschah der Unfall unserer Kinder, so dass wir anderen uns um den Jungen und die Mädchen gekümmert haben.“ Winnetou nickte, aber jetzt hatte ich noch eine Frage:
 

„Wie ist es möglich, dass Tsain-tonkee und Emery sich hier bei Euch befinden? Wir wähnten die beiden zur Zeit eigentlich im Apatschenpueblo.“ Auf meine Worte hin sah Winnetou mich einen Augenblick lang verwundert an; er hatte die beiden von mir Genannten ja noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Noch bevor Schumann mir diese Frage beantworten konnte, unterbrach ich ihn sofort wieder und meinte, an Winnetou gewandt, lächelnd:

„Tsain-tonkee und Emery können meinem Bruder und mir unsere Frage selbst beantworten; sieh hinter dich, dort kommen die beiden gerade mit unseren Pferden zurück!“
 

In diesem Moment betraten die beiden Erwähnten tatsächlich unseren Lagerplatz und setzten sich sofort zu uns, wobei Emery dem Apatschen seine Hand auf die Schulter legte, sie kurz drückte und sein Gesicht einen höchst erleichterten Ausdruck annahm. Tsain-tonkee übte sich natürlich in indianischer Zurückhaltung, aber seine Augen leuchteten erfreut auf, als er seinen geliebten Häuptling offenbar gut erholt wieder vor sich sah. Winnetou gab ihnen ein beruhigendes Handzeichen, und dann stellte ich meine Fragen noch einmal. Der schweigsame Späher der Apatschen überließ dem Engländer das Antworten, und dessen Bericht hielt nun doch einiges an Überraschungen für uns parat!

Emery begann also:
 

„Nun, Mesch'schurs, wie ihr wisst, hatte ich überhaupt nicht die Absicht, heute einen Ausritt zu unternehmen, denn ich hatte mir eigentlich etwas anderes vorgenommen...“ Bei diesen Worten zwinkerte er mir unauffällig zu, und ich hatte sofort Tsen-tainte vor Augen, die schöne Apatschin. Unser Gefährte fuhr fort:

„Ihr wart erst ungefähr seit zwei Stunden fort gewesen, da kam Tsain-tonkee von einem Botenritt zurück ins Dorf, und er war sehr in Eile. Kurz vor dem Pueblo war ihm eine Person am gegenüberliegenden Ufer des Pecos aufgefallen, die offenbar bemüht war, sich nicht von den Bewohnern sehen zu lassen. Unser Spähfuchs hier hatte ihn auch nur aufgrund seiner erhöhten Lage oben am Weißen Felsen und seiner außergewöhnlich guten Augen entdecken können. Um mehr über diesen Mann zu erfahren, hat er sich schnellstens so weit wie möglich an das Flussufer herangeschlichen und den Kerl dann auch tatsächlich erkannt – und jetzt darfst du einmal raten, Charlie, wer uns da wohl ausspionieren wollte!“ Ich zuckte kurz die Schultern und antwortete:

„Tut mir leid, Emery, aber mir steht gerade nicht der Sinn nach Ratespielen, also berichte bitte doch einfach weiter, ja?“
 

Der Engländer folgte meiner Bitte und fuhr fort:

„Es ist jemand, den keiner von uns jemals wiedersehen wollte, das könnt ihr mir glauben! Sagt irgendeinen von euch der Name 'Wayne' noch etwas?“ Auf seine Frage erntete er nur ratlose Blicke, also gab er rasch selber Aufklärung:

„Gut, aber vielleicht erkennt ihr, wen ich meine, wenn ich den Begriff 'Geierbandit' davor setze?“ Jetzt konnte ich nicht mehr verhindern, dass mir ein überraschtes Keuchen entfuhr. Ein Geier namens Wayne! Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Entsetzt stieß ich hervor:

„Wayne? Du meinst doch nicht wirklich diesen Wayne? Den Unteranführer der Geier, der Winnetou.....“Ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen, die Erinnerung an das fürchterliche Attentat auf meinen Freund, das eigentlich mir gegolten hatte, war einfach zu schrecklich. Emery nickte, und nun liefen vor meinem inneren Auge wieder all die entsetzlichen Szenen ab, die sich nach dem Schuss dieses Verbrechers damals abgespielt hatten und die ich am liebsten für immer im Dunkel des Vergessens gelassen hätte.

Winnetou ahnte natürlich sofort, wie es in mir aussah und legte mir beruhigend seine Hand auf den Arm. Das half, zumindest soweit, als dass ich wieder einigermaßen klar denken konnte. Auch den anderen Anwesenden war mittlerweile ein Licht aufgegangen, das konnte ich an den schockierten Gesichtern ringsherum deutlich erkennen.

„Emery! Wie ist das möglich? Wie...“ Der Doktor, der zu dieser Frage angesetzt hatte, stockte mittendrin, auch er war zutiefst betroffen. Ich nahm mich mühsam zusammen und versuchte, möglichst ruhig zu erscheinen, als ich weiter nachforschte:

„Der Kerl wurde doch damals ins Fort überführt, um dort abgeurteilt zu werden, oder nicht? Und soviel ich weiß, war der Halunke von Old Firehand so schlimm zugerichtet worden, dass kaum noch jemand daran glaubte, dass er es überhaupt bis dorthin überleben würde. Also, wie um alles in der Welt soll er es jetzt bis zum Pueblo geschafft haben? Ist mein roter Bruder sicher, dass er sich nicht geirrt hat?“ Ich wandte mich mit dieser Frage direkt an Tsain-tonkee, voller Hoffnung, dass er vielleicht doch einer Täuschung unterlegen war.

Dieser aber antwortete mit größter Bestimmtheit:

"Tsain-tonkee irrt sich nicht. Er vergisst niemals ein Gesicht, schon gar nicht das eines Verbrechers und erst recht nicht das eines Mannes, der beinahe für den Tod unseres Häuptlings verantwortlich gewesen wäre. Dieser feige Kojote war ganz sicher der Mann am Fluss. Allerdings ist sein Körper nicht frei von Beeinträchtigungen; er humpelt und die eine Hälfte seines Gesichtes ist völlig entstellt durch die Verletzungen, die unser weißer Bruder Old Firehand ihm zugefügt hatte!“
 

Diese Nachricht mussten wir jetzt erst einmal alle verdauen, und so breitete sich ein nachdenkliches Schweigen unter allen Anwesenden aus. Auch Schumann und seine Siedler waren regelrecht schockiert. Sie waren vorher von Emery nur grob über den Grund seines Hierseins informiert worden und dabei hatte der Engländer den Geier noch nicht erwähnt. Nun fuhr er mit seinem ausführlichen Bericht fort:

„Leider befand sich der Halunke auf der anderen Seite des Pecos und war zudem noch in Begriff, sich in den nahen Wald zurückzuziehen. Ihr wisst, wie breit der Fluss an dieser Stelle ist, und somit bot sich für Tsain-tonkee keine Möglichkeit, schnell und vor allem ungesehen dort hinüber zu kommen und sich auf die Spur des Verbrechers zu setzen. Er tat das einzig Richtige, ritt schnellstmöglich zurück ins Dorf und informierte uns. Da ihr beiden sowie Entschah-koh nicht anwesend wart, traf ich dann die Entscheidung, selber mit unserem Spähfuchs sowie neun weiteren Kriegern der Fährte des Kerls zu folgen, denn ich wollte unbedingt wissen, wieso er sich plötzlich in den Weidegründen der Apatschen aufhält und was er vor hat; und ich denke, ihr stimmt darin mit mir überein!“ Ich nickte bestätigend, und Winnetou erwiderte lobend:

„Mein weißer Bruder hat genau richtig gehandelt. Hatte er Erfolg bei der Spurensuche?“
 

Emery erzählte also weiter:

„Wenn sich Tsain-tonkee in der Nähe befindet, hat man mit jeder Spurensuche Erfolg! Wir hatten kaum über den Fluss gesetzt, da hatte er die Fährte auch schon gefunden, und nun machten wir uns in aller Vorsicht auf den Weg, denn wir wollten den Kerl ja erst einmal finden und dann, wenn möglich, belauschen. Es dauerte auch gar nicht lange, da hatten wir ihn kurz in unserer Sichtweite. Wir ließen uns daraufhin so weit zurückfallen, dass er uns nicht entdecken konnte, und folgten ihm bis zu einer Lichtung im Wald, die nur ungefähr zwei Meilen von dem Lagerplatz der Goldsucher entfernt lag.“ Der Engländer unterbrach sich jetzt kurz, denn er hatte einen überraschten Blick meinerseits aufgefangen und klärte mich sogleich auf:

„Du wunderst dich, weil ich den Aufenthaltsort der Goldsucher kenne? Der Grund wird dir gleich klar werden, gedulde dich noch ein wenig.

Auf der Lichtung angekommen, lagerte sich dieser Wayne in einer solchen Weise, dass wir uns gleich denken konnten, dass dieser Platz als Treffpunkt dienen sollte. Wir brauchten auch gar nicht lange warten; nach gerade mal einer Viertelstunde näherten sich zwölf weitere Reiter, denen man die Verbrechervisage auf drei Meilen Entfernung ansehen konnte und die sich sofort zu unserem Freund setzten. Die Bäume standen nicht sehr dicht um die Lichtung herum und es befand sich auch nicht sonderlich viel Gesträuch dort, so dass das Anschleichen auf Hörweite äußerst lange währte, aber letztendlich ist es Tsain-tonkee und mir dann doch gelungen; allerdings hatten die Verbrecher bis dahin wohl schon das Wichtigste besprochen. Aus dem Wenigen, was wir dennoch erlauschen konnten, schlossen wir, dass sich ganz in der Nähe eine Gruppe Goldsucher aufhielt, die die Bande gleich im Anschluss ihrer Besprechung überfallen wollte, da die Digger schon in Kürze aufbrechen wollten. Die genauen Umstände, also woher die Halunken von ihren baldigen Opfern wussten und wie der Überfall von statten gehen sollte, erfuhren wir nicht mehr, denn es wurde dann auch sofort aufgebrochen.

Tsain-tonkee und ich mussten dann erst einmal wieder zu den Unsrigen zurückkehren, ohne entdeckt zu werden, und das nahm natürlich Zeit in Anspruch. Wir machten uns anschließend so schnell wie möglich auf den Weg, um den Überfall noch irgendwie zu verhindern, kamen aber zu spät; die Goldsucher waren an ihrem Lagerplatz schon überwältigt worden. Wir hätten sie vielleicht in einem offenen Kampf befreien können, aber das Risiko, dass dabei ein Unschuldiger vielleicht verletzt oder gar getötet worden wäre, war uns zu groß, und so entschlossen wir uns zu einer List.
 

Wir veranstalteten also etwas Lärm im den Lagerplatz umgebenden Wald und machten so die Schurken auf uns aufmerksam. Die meisten von ihnen nahmen auch sogleich unsere Verfolgung auf, wobei einige unserer Apatschen die Kerle weiter vom Lagerplatz weglockten, während wir anderen zu den Überfallenen zurückkehrten, um sie zu befreien. Diese sorgten aber im gleichen Moment für ein ziemliches Durcheinander: Es war ihnen zwar gelungen, ihre beiden Wächter zu überwältigen, allerdings ohne sie sofort dingfest zu machen. Sie flohen dann auch voller Angst Hals über Kopf und unter viel Lärm und Geschrei in Richtung Pecos, ließen dabei aber zwei ihrer Kameraden zurück, die bei dem Überfall niedergeschlagen worden waren und immer noch nicht ihre Besinnung wiedererlangt hatten. Die von dem plötzlichen Widerstand der Goldsucher überraschten Wächter stellten sich nun sogleich mit gezogenen Waffen zu den Bewusstlosen, um sie als Geisel zu benutzen, falls deren Gefährten nochmals zurückkommen sollten. Gleichzeitig kehrte auch der Großteil der anderen Banditen zurück, so dass wir keinerlei Möglichkeit mehr hatten, auch diese zwei Goldsucher ohne Gefahr für sie zu befreien. Wir beließen es also dabei, die Gruppe weiterhin zu verfolgen, und glücklicherweise haben sich die Verbrecher ein paar Meilen entfernt einen Lagerplatz gesucht, an dem sie sich allen Anschein nach wohl zwei Tage oder mehr aufhalten werden. Sie waren allerdings immer noch höchst wachsam, denn wahrscheinlich rechneten sie mit einer Befreiungsaktion der anderen Digger. Daher beschlossen wir, erst einmal den geflohenen Goldsuchern zu folgen; dabei trafen wir auf die Siedler, die sich um zwei der von euch bereits geretteten Kinder kümmerten, und somit waren wir die nächsten Stunden erst einmal damit beschäftigt, uns unendliche Sorgen um euch, aber vor allem um unseren geliebten Apatschenhäuptling hier zu machen!“
 

Mit einem gespielt tadelnden Blick auf meinen Freund hatte Emery nun seinen langen Bericht beendet, und einen Augenblick lang herrschte nachdenkliches Schweigen in der Runde. Winnetou durchbrach es als erster; er schüttelte kurz ungläubig den Kopf und meinte dann:

„Diese Goldsucher müssen das Gehirn einer Kröte besitzen!“ Das war seine knappe Zusammenfassung des soeben Gehörten, und ich ergänzte zustimmend:

„Das ist wirklich der einzig richtige Schluss, den man aus dem Verhalten dieser Menschen ableiten kann!“ Jetzt wandte ich mich an Emery und Schumann:

„Habt ihr auch den Eindruck, dass es sich um äußerst unerfahrene Leute handelt?“ Schumann nickte, und der Engländer ergänzte:

„Unerfahren? Das ist sogar noch sehr freundlich und zurückhaltend ausgedrückt! In meinen Augen sind sie nämlich mehr als dumm! Lassen sich am hellichten Tag an einem nicht viel Deckung bietenden Platz beschleichen, belauschen und dann sogar noch überwältigen – und laufen anschließend brüllend und voller Angst wie aufgescheuchte Hühner durch den Wald! So etwas habe ich vorher noch nie gesehen, außer im Theater vielleicht!“ Er schnaubte jetzt richtig vor mitleidiger Empörung.
 

Wir hielten nun eine kurze Beratung ab, in deren Verlauf wir uns entschlossen, erst einmal die Siedlung aufzusuchen, um mit den sich dort aufhaltenden Goldsuchern noch einmal in Ruhe selber zu sprechen und dann zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollten. Es lag aber vor allem in unserer stillen, unausgesprochenen Absicht, Winnetou noch ein paar Stunden etwas Erholung zu gönnen, möglichst bis zum nächsten Tag, und ich hoffte sehnlichst, dass uns das auch möglich gemacht werden würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2015-08-29T12:05:49+00:00 29.08.2015 14:05
Das ist ja wieder so was von klar das Winnetou mehr an seine Mitmenschen denkt als an sich. Old Shatterhand musste das sehr oft schon miterleben, auch wenn sie nicht gerade Kopf und Kragen vorher riskieren mussten.
Jetzt heißt es aber sich um die beiden Goldsucher zu kümmern, die noch in der Hand der Banditen, oder einer weiteren Gruppe von Geiern befinden. Vielleicht sind sie auch die Drahtzieher hinter dem Überfall auf Winnetou, Old Shatterhand, und die anderen die nun von den Kiowas gefangen sind. Mach weiter so, ich freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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