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Bruderliebe

von

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~°~43~°~

 

 

Ich wachte in meinem alten Zimmer auf, was eher als Rumpelkammer diente, als wirklich zu einem Gästezimmer umfunktioniert zu sein schien. Nichts war hier noch von mir vorhanden. Keine Bilder, Kleidung oder alte Spielsachen – nichts. Nur ein Wäscheständer, der alte Staubsauger, diverse Putzeimer mit den dazugehörigen Wischern, die kleine Werkbank, die eigentlich in den Keller gehörte als in ein Zimmer, dies alles schmückte etwas lieblos den Raum. Aber die Tapete und der braune samtene Fußboden, die waren geblieben. Man konnte noch meine Posterabdrücke erkennen, selbst nach fünf Jahren. Vielleicht hatte meine Mutter die Sachen in den Keller gebracht und nicht fortgeworfen. Seltsamerweise war ich nicht unbedingt traurig darüber, war ich hier nicht wirklich oft genug zu Hause, um mich heimisch zu fühlen. Konnte ich es ihr da verübeln, nachdem ich so sang- und klanglos verschwunden war, dass sie die Sachen dann von mir wegtat? Nein!

Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf, blieb aber noch auf dem Gästeklappbett liegen, das unter meinen Bewegungen verdächtig knarzte, und starrte an die Decke. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wie ich mich nach meinem Outing fühlte, konnte ich nicht beschreiben. Auf jeden Fall war es kein schlechtes Gefühl.

Auf meinen Lippen kräuselte sich ein Lächeln. Endlich wusste es meine Mutter. Endlich!

Wenn ich doch früher nur den Mut dazu gehabt hätte, und doch … Nein, ich hatte alles richtig gemacht. Jetzt fehlte nur noch mein Vater, und der würde garantiert nicht so einfühlsam reagieren. Ein letztes Mal gähnte ich und trieb mir somit die letzte Müdigkeit heraus.

Der Kaffeeduft kroch bis in das Zimmer und umschmeichelte meine Nase.

Wie spät war es eigentlich? Ich hatte kein Zeitgefühl, hatte ich doch tief und fest geschlafen, und als ich auf mein Handy sah, das neben mir auf dem Boden gelegen hatte, stellte ich überraschend fest, dass es bereits weit nach elf Uhr war. Auch waren zwei Anrufe in Abwesenheit eingegangen – ich lächelte, die Frauen in Schenefeld machten sich tatsächlich Gedanken um mich. Es war schön, wenn man nicht allen egal war und daher rief ich zu Hause an, und teilte mit, dass alles in bester Ordnung war. Sabine schien neugierig und ich noch zu müde, um auf ihre vielen, sprudelnden Fragen zu antworten und vertröstete sie auf ein anderes Mal.

Basta hörte ich im Hintergrund bellen. „Drück ihn von mir“, sagte ich noch zum Schluss und legte das Handy zurück. Der Rollladen am Fenster bewegte sich unruhig und ich hörte einen heulenden Sturm.

Es muss ein Blizzard sein, dachte ich, als ich mich entschloss, endlich aufzustehen und ging ans Fenster, zog leicht die Jalousie ein Stück nach oben, um heraus zu spicken.

Ich hatte mit meiner Vermutung recht, es war ein Schneesturm, der nun gegen das Fenster peitschte und mich fröstelte es geschwind, obwohl das Zimmer gut beheizt war. Denn kurz flackerten Bilder vor meinen Augen von der damaligen Wanderung. Jetzt, wo ich wieder in meiner Heimat war, kamen viele Erinnerungen daran zurück. Doch berührten sie mich nicht mehr ganz so stark, wie ich noch vor meiner Reise erwartet hätte, die Ängste, die ich hatte, sie waren nicht so gewaltig.

Ich starrte gedankenverhangen auf die vielen vermummten Menschen, die gegen den Sturm ankämpfen mussten. Draußen lag alles unter einer dicken Schneedecke und mein Auto konnte ich nur darunter erahnen. Es musste die ganze Nacht durchgeschneit haben und ich sah die Lichter eines Streufahrzeuges.

Wie gut, dass ich nicht sofort nach Hause fahren musste. Ich streckte mich, die Knochen knackten und ich ließ meinen Nacken leicht kreisen, um die Verspannungen wegzubekommen, die sich über Nacht gebildet hatten, war es doch auf dem Gästebett nicht wirklich bequem gewesen. Dann holte ich frische Sachen aus meinem Koffer und ging duschen. Meine Mutter hatte alles vorbereitet, als ich das Bad betrat. Ein grünes Handtuch, dazu der passende Waschlappen, sogar eine frische Zahnbürste – sowie Rasierer und Rasierschaum, lagen ordentlich auf einem Hocker … Ich schmunzelte.

Als ich fertig mit der Morgentoilette war, ging ich dem aromatischen Kaffeegeruch, der immer noch in der Luft hing, nach, bis ich in der Küche stand. Meine Mutter war gerade am Geschirr abspülen und stand mit dem Rücken zu mir. Mein Blick fiel sofort auf den immer noch gedeckten Kaffeetisch. Als sie mich registrierte, drehte sie sich um und lächelte.

„Guten Morgen“, begrüßte sie mich weich und ihr Gesicht sah nicht mehr ganz so verhärtet aus, auch wenn ihre Falten nicht über Nacht weggegangen waren.

„Guten Morgen?“, erwiderte ich ebenfalls. „Nun ja …“ Ich lächelte ebenfalls. „… es ist fast Mittag.“ Dann runzelte ich die Stirn. „Musst du nicht arbeiten?“, fragte ich nach. Ich gab mir einen Ruck, ging auf sie zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und setzte mich an den gedeckten Tisch. Eine Geste, die so fremd war, die ich so gut wie nie bei ihr gemacht hatte, aber sich gut anfühlte.

„Ich habe beschlossen, dass ich einfach mal krank bin, außerdem will keiner bei dem Schneegestöber raus.“

„Das kenne ich so gar nicht an dir, stimmt aber schon, wer will wirklich bei dem Wetter raus, wenn man es hier drinnen schön warm hat.“

„Tja, dann wird es Zeit, dass wir uns richtig kennenlernen, mmh“, ging sie nur auf meine ersten Worte ein.

Ich nickte erstaunt, war ich von ihrer Wandlung überrascht. Wie sich doch alles änderte. Nein, ich sollte in der Tat nichts mehr hinterfragen und einfach positiv denken.

„Ja, das denke ich auch!“, sagte ich schließlich und rückte den Stuhl nach hinten, nahm mir dann eines der Brötchen, die einladend im Brotkörbchen lagen. Mein Magen knurrte und Hunger machte sich bemerkbar, als ich den Wurstaufschnitt sah, der liebevoll auf einem Teller angerichtet war.

Meine Mutter kam mit einer frisch aufgebrühten Kanne Kaffee an den Tisch, setzte sich ebenfalls. So frühstückten wir zusammen, obwohl es fast Mittag war, und führten zuerst Small Talk.

Ich verbrachte den ganzen Tag und auch den darauffolgenden viel Zeit mit meiner Mutter, und nicht nur das Wetter draußen wurde besser, sondern auch das Verhältnis zwischen uns. Dabei musste ich oft an Darian denken, während wir die verlorenen Jahre an Gesprächen aufholten. Ich stellte dieses Bedürfnis, ihn zu sehen, hinten an, wie auch das Treffen mit Susan und meinem Vater. Unsere Gespräche verliefen ungezwungen, was ich niemals gedacht hätte. Wir saßen die meiste Zeit gemütlich in der Küche und Helmut im Wohnzimmer, schaute fern. Dezent ließ er uns alleine, was ich ihm hoch anrechnete.

Meine Mutter erzählte viel von sich und von meinem Vater, auch von ihren Eltern. Sachen, die ich nie mitbekommen hatte. Es entstand ein Band zwischen uns, was von Stunde zu Stunde mehr an Festigkeit zunahm. Schließlich erzählte ich ihr von mir und die Zeit in Hamburg. Zum Schluss offen von meiner Liebe zu Carsten, wie er krank wurde und warum ich weiterhin in seinem Haus lebte. Die ganze Zeit über hatte sie mir schweigend zugehört. Als sie danach fragte, ob ich ein Foto von ihm hätte, zeigte ich ihr, mit einem gewissen Stolz, eines, was ich immer mit in meinem Geldbeutel bei mir trug.

Meine Hände zitterten leicht, als ich ihr das kleine Passbild gab. Dann zog ich noch ein weiteres Foto heraus, eines, wo wir beide drauf waren. Eines der letzten Aufnahmen von uns.

„Er sieht … oh, er sah nicht schlecht aus, war aber älter als du“, korrigierte sie sich sofort, als sie ihren Fehler bemerkt hatte und ich dann traurig wurde. Ich steckte die Bilder zurück in die Geldbörse.

„Ja, er war älter, aber das störte mich nicht.“ Ich verfiel in eine Art Melancholie, die meine Mutter sofort registrierte.

„Du vermisst ihn sehr, stimmt’s?“

„Ja, ich vermisse ihn“, gab ich ehrlich zu. Es entstand eine kurze Stille. Ich hörte die Uhr in der Küche ticken.

„Verkauf doch das Haus und zieh wieder nach München“, schlug sie dann vor.

Das Haus verkaufen? Ich? Es ist Carstens Heim. „Nein, dort ist mein zu Hause, irgendwie. Der Tod traf mich zwar hart, ich machte eine sehr schwere Zeit mit und doch … Carsten gab mir die Kraft, alles zu überstehen. Ich denke nur gut von ihm, du hättest ihn gemocht. Ich kann sein Haus nicht verkaufen, zumal noch zwei Frauen aus meiner damaligen WG drin wohnen – und Basta.“

„Was für eine schwere Zeit?“ Ich zuckte nur mit der Schulter, wollte darauf nicht eingehen. Sie spürte, dass ich nicht darüber reden konnte, und auch nicht wollte. „Und wer ist Basta?“

„Basta?“ Meine Miene erhellte sich sofort, als ich an ihn dachte, wie er bestimmt Ina den letzten Nerv raubte, in dem er ihr ständig hinterher lief, oder auch Sabine. „Ja, Basta ist mein Schäferhund. Es war eigentlich Carstens Hund.“

Ihre Augen weiteten sich. „Du hast ihn nicht mitgebracht! Wo ist er denn? Ist er etwa in einem Hundeheim geparkt, das finde ich grausam.“

„Nein, beruhige dich, so etwas würde ich niemals machen.“

„Wo ist er dann? Zu Hause etwa, bei den Frauen?“ Der Gedanke schien sie zu besänftigen.

„Ich wollte ihn nicht hierher mitnehmen, weil ich nicht wusste, wie alles so verlaufen würde.“

„Mmh. Wenn du wieder zurückgehst, dann warte keine vier Jahre mehr, okay!“

„Ich verspreche es.“

Wir plauderten noch über dies und das. Doch was mich wunderte, meine Mutter erwähnte mit keinem Wort Darian. Mich beschlich die Angst, dass er gar nicht zurückgekehrt war. Vielleicht hatten sich meine Freunde geirrt! Sollte ich nach ihm fragen? Mir brannte es regelrecht auf der Zunge und ich dachte nicht mehr darüber nach, sondern setzte es in die Tat um.

„Ist Darian wieder zurück?“ Jetzt war es raus und meine Mutter hob die Augenbrauen an, musterte mich. Ich versuchte meine Neugierde nicht ganz an die Oberfläche zu lassen, was mir sehr schwer fiel.

„Ja, ist er“, meinte sie belanglos.

„Alleine?“, bohrte ich weiter.

„Nein, er wohnt mit seinem Freund, ich glaube, in seiner alten Wohnung. Warum fragst du? Habt ihr nicht miteinander geredet?“

Darian lebte also mit Miguel in der Wohnung, wo ich damals gewohnt hatte. Der Schock saß tief. „Nein, haben wir nicht. Ich denke, ich fange erst mit meinem Vater an, und Susan wollte ich auch besuchen“, versuchte ich mich abzulenken.

„Sag mal, kann das sein, dass Darian von deiner Homosexualität gewusst hatte?“

Ich wurde blass und nickte dann zögernd.

„Einer der Gründe, warum ich verschwand. Er hatte es zu dem damaligen Zeitpunkt nicht verstanden.“ Erzählte ich ihr den Teil der Wahrheit, den ich vertreten konnte. Meine Hände zitterten leicht. Ich war aufgewühlt. Darian lebte also wirklich mit Miguel zusammen. Sie waren ein Paar.

„Dieser Sturbock, dabei ist er selbst einer … wie sein Vater. Nun ja, dass ihr Brüder seid, könnt ihr nicht leugnen.“

„Wie meinst du das?“, spielte sie auf die Homosexualität an?

„Manchmal besucht er mich, soll ich ihm Bescheid geben, dass du da bist?“, fragte sie schließlich.

„Nein“, sagte ich eine Spur zu schnell und ich sah ihre misstrauischen Blicke. „Ich möchte ihn überraschen. Ich möchte mich bei ihm selbst melden“, fügte ich schnell hinzu.

„Ach so.“

„Ich werde mal meine Besuche machen, Vater, Susan …“ Ich stand auf und stellte meine Tasse Kaffee in die Spüle und schaute dann aus dem Fenster. Die Straßen waren freigeräumt, nur mein Auto war noch, wie viele andere Autos auch, unter einer Schneedecke.

 

Ich winkte wenige Minuten später meiner Mutter, als ich dick bepackt unten stand und sie aus dem Fenster sah, auch Helmut war ans Fenster getreten. „Komm nicht zu spät zum Essen, sie will Schweinekrustenbraten machen mit Knödeln und Rotkraut. Darauf freue ich mich ganz besonders, sonst macht sie den nur, wenn wir Besuch haben“, rief er gut gelaunt nach unten.

Ich lachte. „Okay, wenn mich Dad an einem Stück lässt, komme ich pünktlich. „Bis später.“ Zwar waren wir uns immer noch nicht ganz grün, aber ein besseres Verhältnis als in früheren Jahren auf jeden Fall. Vielleicht kam er jetzt eher damit zurecht, warum ich so herumlaufe und feminin wirkte, als ich an mir heruntersah.

Ich brauchte eine gute viertel Stunde, bis ich die Scheiben enteist und schneefrei hatte. Meine Hände waren bereits zu Eisklumpen gefroren, als ich mich ins Auto setzte und das Gebläse anstellte, da die Scheiben innen angelaufen waren. Als es im Auto wärmer wurde und ich meine Finger wieder einigermaßen spüren konnte, fuhr ich dennoch nicht direkt zu meinem Vater, sondern benötigte eine halbe Stunde länger. Ich hatte bewusst einen Umweg gemacht. Die vielen Eindrücke bei meiner Mutter in den letzten zwei Tagen hatten mich noch lange danach ausgefüllt, bevor ich mich meinem Vater stellen konnte.

Zuvor hatte sie mich nochmals gewarnt, weil bei Darian das Gespräch nicht gut verlaufen war, wie sie mir dann weiter berichtet hatte. Tja, so hatte ich auch meinen Vater eingeschätzt und trotzdem wollte ich es hinter mich bringen.

Die Werkstatt sah noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als ich ausstieg und mein Vater mir schon entgegenkam.

„Deine Mutter hat mich gerade eben angerufen, sonst hätte ich es nicht glauben können.“ Er wirkte mehr als nur überrascht und trat an mich ran, umarmte mich. Ich war sichtlich irritiert, erwiderte aber die Umarmung. Würde er mich ebenfalls so begrüßen, wenn er es wüsste.

„Wo hast du nur gesteckt?“, fragte er mich wenige Minuten später in seinem Arbeitszimmer. Hier war es ruhiger, da einige Kunden aufgrund des strengen Winters Blechschäden hatten und in der Werkstatt die Hölle los war.

Ich fackelte nicht lange und platzte mit der Wahrheit heraus.

Als ich mich vor ihm outete, war das Gespräch nicht ganz so gut gelaufen wie bei meiner Mutter.

„Du also auch, reicht es nicht, dass ...“ Er wirkte auf einmal um Jahre gealtert und mich beschlich das Gefühl, dass er niemals Darian und mir verzeihen würde. Mein Vater ging wortlos an mir vorbei und aus seinem Arbeitszimmer, ließ mich alleine zurück und kümmerte sich wieder um seine Kunden, gab Anweisungen an seine Mitarbeiter. Er beachtete mich nicht mehr.

Nachdem er mich wirklich weiterhin ignorierte, verließ ich seine Werkstatt, stieg schließlich irritiert in meinen Wagen. Zu Susan wollte ich heute nicht mehr, mir war die Lust nach einer weiteren Niederlage vergangen. Wer weiß, wie sie reagieren würde, wenn ich vor ihrer Haustür stand. Daher kam ich pünktlich zum Abendessen. Schweigend aßen wir zu Abend, bis meine Mutter mich nach meinem Vater fragte.

„Er hat mich wie Luft behandelt, als ich es ihm gesagt hatte“, platzte ich schließlich damit heraus. Das Essen war eigentlich köstlich, aber mir war der Appetit vergangen. Und so stocherte ich eher lustlos im Essen herum.

„Er ist und bleibt ein Sturkopf.“ Sie stand auf und nahm mich in den Arm. „Gib ihm Zeit, erst das mit Darian und dann mit dir. Eigentlich hatte er sich am Telefon richtig gefreut, als ich ihm mitteilte, dass du wieder da wärst.“

„Mmh. Morgen besuche ich Susan“, sagte ich nur und wir beließen das Thema. Ich hoffte, Susan würde besser reagieren. Die Nacht wurde unruhig, ich von wirren Outingträumen geplagt.

 

Wie überrascht ich war, konnte ich nicht beschreiben, als ich Susan am nächsten Tag hochschwanger antraf.

„Jaden!“ Ihre Augen waren groß, die Verwunderung, mich zu sehen, stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie hielt sich ihren dicken Bauch.

„Hallo Susan.“ Ich lächelte sie an, dann fielen wir uns in die Arme, was sich nicht einfach gestalten ließ, da ihr Bauch ein ziemliches Hindernis war.

„Du blöder Hund“, schimpfte sie dann aber, als wir uns losgelassen hatten.

„Im wievielten Monat?“, fragte ich sie und überspielte ihre Empörung.

„Im Achten, gibt ein Februarkind, einen Wassermann.“

„Junge oder Mädchen?“, bohrte ich weiter.

Sie zuckte mit der Schulter. „Ich lass mich überraschen.“ Dann musterte sie mich. „Gut siehst du aus, komm.“

Ich folgte ihr in die Wohnung. Nachdem sie mir meine Jacke und den Schal abgenommen und ich meine Schuhe ausgezogen hatte, gingen wir in ihr Wohnzimmer. Ich staunte nicht schlecht. Sie hatte eine völlig neue Einrichtung, alles wirkte edler und geschmackvoller. Mir gefiel es, und als ich Bilder von einem Mann und ihr drauf sah, deutete ich auf eines.

„Mein Mann. Ralf und ich haben letztes Jahr geheiratet. Er ist noch auf der Arbeit und kommt erst spät nach Hause“, verkündete sie mit gewissem Stolz. Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. „Du hast gefehlt, ich wollte dich als Trauzeugen. Du warst nicht auf meiner Hochzeit“, beschwerte sie sich.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen.

„Tut mir leid, aber jetzt bin ich ja hier. Glückwunsch noch nachträglich.“ Ich wusste, dass das kein Trost war, denn sie schüttelte nur mit ihrem Kopf.

„Ach Jaden.“

„Auf der Klingel steht aber immer noch dein Mädchenname“, fiel mir gerade ein.

„Nun ja, Ralf heißt mit Nachname Suff, das wollte ich nicht annehmen.“ Sie grinste.

„Ja, ähm ich denke, Neubauer klingt dann doch besser als Suff.“ Ich lächelte ebenfalls und kratzte mich verlegen am Kopf. Wie konnte man nur Suff heißen?

„Warum bist du einfach so abgehauen? Da muss doch damals etwas in der Hütte passiert sein.“ Diese Frage hatte ich befürchtet. Mir war klar, dass sie immer noch nach Antworten verlangte.

Susan setzte sich mit ihrem Umstandskleid etwas schwergängig auf einen der Sessel und ich nahm genau gegenüber von ihr in dem anderen Platz.

Sie musterte mich und ich atmete tief durch.

Dann, bevor ich groß darüber nachdachte, platze ich mit der Wahrheit heraus.

„Darian und ich hatten Sex in der Hütte“, fiel ich mit der Tür ins Haus. Warum ich gerade ihr das so mitteilte, wusste ich nicht, nicht einmal dem Therapeuten war ich so offen. Jetzt war es raus und es fiel mir leicht.

Susan reagierte anders, als ich es erwartete hätte. „Weißt du, dass sich Darian geoutet hat?“, fragte sie stattdessen und verblüffte mich immer mehr.

Ich nickte. „Von meiner Mutter hab ich es erfahren. Aber ich wusste es auch vorher schon, dass er ebenfalls auf Männer steht.“

Jetzt war sie überrascht und schaute mich erstaunt an. „Woher? Willst du was trinken, Wasser, Kaffee … ein Bier?“

„Ähm ...“ Ich war etwas überrumpelt. „Wasser“, sagte ich daher. Sie stand auf, ging in die Küche und kam mit zwei vollen Wassergläsern zurück.

„Danke.“ Ich nahm ihr eines aus der Hand und nahm gleich einen Schluck. Meine Kehle tat dieser Schluck gut.

„Also woher noch?“, fragte sie erneut.

„Darian war in Hamburg auf einer Hochzeitsfeier mit einem Freund von uns aufgetaucht. Zufälle gibt’s.“

Die Frage, wie mein Bruder nach Hamburg kam, war schlechthin die Masterfrage aller Fragen. Ich war immer noch am Grübeln, wie es dazu gekommen war.

In ihrem Gesicht begann es zu arbeiten, dann stützte sie ihre Hände auf ihrem Schoß ab.

„Darian war damals bei mir, er hat mir gesagt, was zwischen euch vorgefallen ist. Ich meine das in der Hütte. Er hat nach dir gesucht. Zuerst war ich so sauer auf ihn, doch dann tat er mir irgendwie leid.“

„Oh.“ Mein Kopf war voll von verschiedenen Gefühlen. Über meinen Bruder zu reden, und Sachen über ihn zu hören, war für mich eine emotionale Achterbahn.

„Du hättest es mir gleich sagen sollen und nicht erst nach so vielen Jahren.“ Sie klang enttäuscht und ich konnte sie verstehen.

„Es tut mir leid, wirklich. Ich konnte nicht anders“, gab ich ihr gegenüber zu. Es war tatsächlich so gewesen, dass ich damals einfach nicht konnte.

„Du hättest wissen müssen, dass ich immer deine beste Freundin bin, und du hättest dich mir anvertrauen können, aber stattdessen nahmst du die Flucht nach vorne.“ Es war, auch wenn wir es nicht wollten, eine Kluft entstanden, die Jahre hatten uns entzweit, voneinander entfernt. Die Schuld trug ich ganz alleine. „Stefanie war am Boden zerstört“, erzählte sie weiter und nippte ab und zu an ihrem Wasser.

Ich errötete, konnte mir vorstellen, wie es für Stefanie gewesen sein musste. Auch wenn ich damals auf sie eifersüchtig gewesen war und sie Brummer nannte, tat wie mir nun leid.

„Wie geht’s ihr denn?“, fragte ich daher höflich.

Susan winkte ab. „Stell dir vor, sie ist wieder mit jemandem zusammen. Also ihr geht’s wieder gut. Aber über Darian will sie bis heute nicht reden. Die Scheidung war alles andere als schön zwischen den beiden. Nun ja.“ Susan stand auf und ich auch, obwohl ich mein Glas Wasser nicht ausgetrunken hatte.

„Ich sollte gehen.“ Ich hatte viele Fehler gemacht, der größte war, Susan so fallen zu lassen. Auch wenn sie nett zu mir war, spürte ich ihre Enttäuschung.

Sie nickte nur und begleitete mich an die Tür. Ich zog meine Schuhe an und dann den Rest.

„Weißt du schon einen Namen für dein Baby?“ Irgendwie wollte ich dennoch wieder an ihrem Leben teilhaben.

„Wenn es ein Mädchen wird, soll sie Lara heißen, wenn es ein Junge wird, dann Jaden. “

Überrumpelt sah ich sie an. „Du benennst dein Kind nach mir?“ Ich war überrascht und auch geschmeichelt.

„Ja, nach meinem besten Freund. Ich dachte, ich sehe dich niemals mehr wieder.“ In ihren Augen traten Tränen und ich umarmte sie spontan.

„Verzeih mir.“ Ich drückte sie noch enger an mich, so weit, wie es ihr Bauch zuließ.

„Schon gut. Mach das nicht mehr wieder, okay, und auf meine Babyparty kommst du, ist das klar.“

„Versprochen.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie biss sich kurz auf ihre Lippe, als sie mich weiterhin betrachtete. „Im Übrigen, Jaden, Darian schmeißt Ende dieser Woche eine Party, vielleicht solltest du ihn besuchen.“ In ihrer Stimme lag etwas, was ich nicht deuten konnte.

„Wie?“

„Ich denke, du solltest dich mit ihm aussprechen, bevor es zu spät ist.“

„In die alte Wohnung zurückzukehren fällt mir nicht leicht“, gab ich ihr zu verstehen.

„Er wohnt nicht mehr dort.“ Susan schrieb mir eine Adresse auf und drückte mir den Zettel in die Hand.

„Danke!“

„Wofür? Dafür nicht.“

„Gehst du zur Party?“

„Nein, was sollte ich dort und zudem kann ich auch aus einem anderen Grund nicht, schon wegen meines Zustandes.“ Ihre Augen verrieten mir, dass es nicht der wahre Grund war, doch fragte ich nicht nach. Susans Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. Ich verabschiedete mich von ihr und versprach, mich bei ihr zu melden.

Als ich bereits im Auto saß, entschied ich mich spontan in die Innenstadt zu fahren. Ich parkte das Auto in einem Parkhaus und schlenderte gedankenverhangen durch München.

Wie hatte mir die Stadt gefehlt. Wie hatte mir Susan gefehlt. Und doch grübelte ich noch lange über ihre Worte bezüglich Darian nach.

Darian gab eine Party? Eine Einweihungsparty etwa?

Die Sonne kam heraus und ließ den Schnee, der noch an einigen Stellen lag oder aufgehäuft war, und nicht durch den Streudienst weggeschmolzen war, glitzern.

Ich steckte meine Hände tief in die Taschen, um sie warmzuhalten. Ich hatte vergessen, mir Handschuhe überzuziehen. Mich überkam eine Melancholie. Wie fehlte mir Carsten und wie sehr vermisste ich Darian. Ich grübelte weiter, besonders über die Sache mit der Party. Sollte ich wirklich einfach so auftauchen? Ich kramte den Zettel aus meiner Jackentasche und starrte auf die Adresse.

Er wohnte in einem Vorort von München – Germering.

Germering war ein teures Wohnpflaster. Ich wusste es noch, als ich selbst früher auf Wohnungssuche war. Als ich Susan zum Schluss gesagt hatte, dass meine Mutter dachte, er wohnte noch in der alten Wohnung, hatte sie nur mit dem Kopf geschüttelt. Dann hatte meine Mutter auch nicht alles gewusst.

Gerade jetzt in diesem Augenblick dachte ich an die Beerdigung zurück und wie ich meinte, Miguel und Darian damals gesehen zu haben. Ich ging zu meinem Auto zurück.

 

Die Woche zog sich wie Kaugummi, auch wenn ich viele Sachen mit meiner Mutter unternahm, so konnte ich kaum den Tag abwarten, auf seiner Party aufzutauchen. Von daher war der Entschluss, ihn dort anzutreffen, schon längst beschlossen gewesen. Vorher wollte ich nicht auftauchen. Warum das so war, konnte selbst ich nicht begründen. Es war einfach so.

Auch wenn mein Bruder in festen Händen zu sein schien, was hatte ich noch zu verlieren?

Ihn?

 

©Randy D. Avies 2012

 



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