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Bruderliebe

von

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So hatte ich mir das Wiedersehen mit meiner Mutter nicht vorgestellt. Nein, so gewiss nicht.

Eine Gänsehaut zog sich über den gesamten Körper. Ich fröstelte. Mir war bereits vom Wetter her sehr kalt. Auch wenn die Wohnung gut beheizt war, ließ sie mich jetzt nicht aufwärmen, im Gegenteil. Ich hüllte mich fester in meine Jacke, die ich zum Glück nicht ausgezogen hatte, den Schal, den ich im Auto gelassen hatte, hätte ich auch gut gebrauchen können.

Meine Mutter machte uns in der Zwischenzeit einen Kaffee in einer Senseo, nachdem sie den Herd ausgeschaltet hatte, damit das Essen nicht anbrennen konnte. Hackbraten roch ich heraus, war mir aber nicht sicher. Wieder sah ich mich in der Küche um. Einiges hatte sich verändert. Neue Küchengeräte, wie die Kaffeemaschine, zudem sah es frisch tapeziert aus, ein neuer PVC-Boden. Aber der Rest, wie der alte Herd, die gelben Fliesen über der Spüle, die einem der üblichen staatlichen Schwimmbäder ähnelten, dies alles war geblieben. Selbst der Fleckerlteppich, den ich schon immer verabscheute, weil er altmodisch aussah, lag noch am gleichen Platz.

Der Raum füllte sich mit dem Röstaroma und der Duft vom Braten wich etwas zurück. Als sie mir den Kaffee hinstellte, ohne zu fragen, ob ich Zucker oder Milch haben möchte, war ich gewillt, darum zu bitten, ließ es aber sein, als ich in ihre starre Miene blickte. Es waren Dinge, gerade wie mit der Milch im Kaffee, die mich an Carsten erinnerten, als es mir schlecht ging und er mich so aufbaute.

Und noch etwas stimmte mich nachdenklich, Carsten hätte so gerne meine Eltern kennengelernt, wie er mir an seinem Sterbebett gebeichtet hatte. Er war es auch gewesen, der mich dazu aufmunterte, mit meinen Eltern endlich ins Reine zu kommen, wenn ich so weit wäre, um zurückfahren zu können.

Zwischen meiner Mutter und mir war kein weiteres Wort gefallen, seit sie mir den Kaffee hingestellt hatte. Sie nahm, als sie ihren Kaffee fertig hatte, ebenfalls Platz, setzte sich genau gegenüber von mir und beobachtete mich, hielt dabei ihren Becher in der Hand, als ob er jeden Moment umkippen könnte.

Dass ich meine Jacke anbehielt, schien meine Mutter nicht zu stören.

Die ganze Situation wirkte paradox, mal davon abgesehen, dass man um diese Uhrzeit keinen Kaffee mehr trinken sollte, ich Hackbraten roch und das Zeitfenster überhaupt nicht stimmte.

Ich ließ mir nichts anmerken und trank still das Getränk, malte mir in der Zeit aus, wie ich das Gespräch anfangen sollte, fühlte mich dabei unbehaglich, gar schwach, hinterfragte das Ganze immer wieder, ob es überhaupt klug gewesen war, hierher zu kommen. War es vielleicht zu früh gewesen – oder gar zu spät, hatte man mich abgeschrieben? Warum war ich nicht einfach in Hamburg geblieben? Die vielen Fragen brannten sich hinter die Stirn.

Etwas linkisch stellte ich die Tasse auf den Unterteller und machte dabei ungewollt ein schepperndes Geräusch, was mich, bei dem eigen verursachten Ton, etwas zusammenzucken ließ. Wie gut, dass sich ihr Mann ins Wohnzimmer verkrümelt hatte. Es hätte gerade noch gefehlt, dass ich von beiden begafft wurde. Ich fühlte mich immer unwohler unter ihrer ganzen Begutachtung und strich mir nervös übers Haar, während ich weiter grübelte, was ich denn nun sagen sollte. Aber das erübrigte sich, als sie von sich aus die Unterhaltung anfing, dabei ließ sie mich weiterhin nicht aus den Augen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit ganz auf sie, wappnete mich auf das Schlimmste.

„Als du weg warst, machte ich mir und vor allem auch deinem Vater schwere Vorwürfe. Aber auch Darian, der sehr verschlossen mir gegenüber war, als ich aus ihm versuchte herauszubekommen, warum du dich über Nacht aus dem Staub gemacht hattest. Doch dein Bruder druckste nur herum, meinte, er wüsste nichts. Und Susan … deine Freundin hattest du wohl am meisten vor den Kopf geschlagen, als sie mich anrief. Ihr wart schließlich fast verlobt. Wie konntest du sie so im Stich lassen? Oder ihr nicht sagen, wo du bist. Wie konntest du nur verschwinden, ohne dich von mir zu verabschieden?“ Sie hatte sich leicht in Rage geredet.

Susan und ich?

Oh je, das kam dabei heraus, wenn man alles immer verheimlichte. Ich raffte all meinen Mut zusammen.

„Ich wollte ein neues Leben anfangen, meines war nicht mehr das, was ich wollte. Ich musste einen klaren Schnitt für mich machen, daher die übereilte Flucht …“ Es war in der Tat ein neues Leben, das ich angefangen hatte. Zurück in mein altes Schema wollte ich nicht gehen – auf keinen Fall.

„Hättest du nicht mit mir reden können?“ In ihrer Stimme schwangen Vorwürfe – aber nicht diese, die man machte, wenn man auf einen sauer war, es klang anders, das überraschte mich.

Ich atmete tief durch, bevor ich ihr antworten konnte. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, wurde größer und größer, aber es wurde auch nicht besser, nichts zu sagen. Eigentlich sollte ich mich verteidigen, wollte einiges ins rechte Licht rücken … und ich verteidigte mich.

„Wie ich das machen konnte?“ Es entstand eine kurze Pause, um mich zu sammeln, dabei umklammerte ich eher unbewusst die Tasse, als dass ich meine Umgebung wirklich wahrnahm. „Ihr habt doch immer alle in mir einen Versager gesehen.“ Irgendwie schaffte ich es, meine Stimme fest und nicht weinerlich klingen zu lassen. Ebenso fest, wie meine Stimme klang, sah ich ihr in die Augen. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine auffallende Unruhe und ich behielt Recht. Denn plötzlich knallte die Hand meiner Mutter auf den alten, gewachsten Küchentisch, hinterließ einen dumpfen Laut, wodurch ich unwillkürlich zusammengezuckte.

„Genau das war es, warum wir so zu dir waren, warum ich so zu dir bin. Weil du keinem wirklich etwas von dir erzählst. Wir wussten nicht, wie wir dich noch behandeln sollten, außer mit einer gewissen Strenge.“ Es entstand eine Stille, die sogar für mich schier unerträglich erschien. Jedes Argument dagegen blieb mir im Hals stecken, ich konnte sie nur anstarren. „Warum bist du tatsächlich gegangen?“ Ihr Blick war fest auf mich gerichtet. Knapp fünf Jahre Trennung waren eine lange Zeit, um meiner Mutter zu erklären, dass mein Halbbruder an allem schuld war. Trotzdem wollte ich ihn nicht mehr an den Pranger stellen. Ich wollte gerade dieses Kapitel abschließen, und als ob sie genau wusste, dass ich gerade jetzt an meinen Bruder dachte, sprach sie das Thema an. „Weißt du, dass dein Halbbruder einen Freund hat?“, fing sie aus heiterem Himmel an.

Sollte ich überrascht wirken oder eher erschrocken, ich wusste es nicht, und doch hatten ihre Worte genau dort getroffen, wo sie treffen sollten – mitten in mein Herz, das zu zerbersten drohte. Genauso fühlte ich mich innerlich.

Der tiefe, dumpfe Schmerz, aber auch Eifersucht kam im gleichen Tempo zum Vorschein. Nur mit Mühe konnte ich das alles unterdrücken. Ich hatte es gewusst, aber es aus ihrem Mund zu hören war noch mal etwas anderes. „Nein ...“, log ich und versuchte, gelassen zu wirken. Ich verfiel in Gedanken. War Miguel wirklich Darians richtiger Freund, Lebenspartner, oder war das nur eine Übergangslösung? Verdammt, was wusste ich eigentlich noch von meinem Bruder?

„Vor drei Jahren, eine Weile nach seiner Scheidung, verkündete er plötzlich, nur auf Männer zu stehen … jetzt frag ich dich, war das der Grund, warum du auch abgehauen bist?“

Auch?

„Ist Darian abgehauen?“ Meine Stimme hatte zu zittern angefangen. Die Situation wurde immer grotesker. Ich hielt die Tasse weiterhin fest umschlossen und war nicht auf ihre Frage eingegangen.

„Ja, als Vater ihn vor Enttäuschung enterben wollte, abgehauen nicht direkt, eine Auszeit wollte er von allem hier. Ich fand es eher eine Art von Flucht, nur mit dem Unterschied, dass er sich wenigstens verabschiedet hatte.“

„Was ist mit dir?“ Die Frage war dumm, das wusste ich, aber in meinem Kopf herrschte ein Chaos. Ich konnte kaum klar denken. Darian hatte sich geoutet, meine Familie wusste, was er war. Er war mir daher einen Schritt voraus, denn mir stand das Outing noch bevor.

„Was soll schon sein? Er ist nicht mein leibliches Kind, doch sollte man deswegen sein Kind nicht verjagen, nicht wegen so etwas. Und das Darian der Fehltritt eures Vaters ist, dafür kann er nichts, das weiß ich endlich. Ich brauchte nur eine Zeit, das alles zu verkraften.“

War das wirklich meine Mutter, die mich ständig verkuppeln wollte? Sie wirkte jetzt irgendwie … einfühlsam?

„Du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet“, hakte sie nach.

„Wie war deine Frage noch mal?“, ich versuchte, mich zu konzentrieren.

„Ob du deswegen abgehauen bist, weil du schon vorher von seiner Neigung gewusst hattest? Schließlich seid ihr Brüder und da erzählt man sich eventuell etwas mehr wie seinen Eltern.“

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich hatte das Darian nicht zugetraut. Niemals!

Meine Mutter rieb sich angestrengt über die Stirn und fuhr fort. „Auf jeden Fall hätte es Stefanie eine Menge Kummer erspart, wenn Darian etwas ehrlicher ihr gegenüber gewesen wäre. Es ist ja kein Weltuntergang. Vielleicht für eine Mutter, die auf Enkelkinder hofft, nicht gerade toll. Nun ja …“ Sie rieb sich weiterhin die Stirn und ich sah sie mit offenem Mund an.

Dann, als ob der Zeitpunkt perfekter nicht hätte sein können, outete ich mich, bevor mich der eigene Mut im Stich ließ. „Mama, ich bin ebenfalls schwul.“

Helmut hatte sich zu uns gesellt, genau dann, wenn man ihn nicht gebrauchen konnte. Mir rutschte das Herz in die Hosentasche.

„Ich hab’s gewusst“, fiel er sofort mit der Tür ins Haus.

„Wie gewusst?“ Ich wirkte nicht nur schockiert, ich war es. Schockiert und überfahren, wie von einem Traktor.

„Von Anfang an, als ich dich sah, wusste ich es.“ Das war sein Argument daraufhin.

Ich drehte mich auf dem Sitz zu ihm, was ein quietschendes Geräusch hinterließ.

„Ach ja?“, meinte ich sarkastisch, da ich zu glauben wusste, auf was er anspielen wollte – auf meine Klamotten, auf mein Aussehen, wobei ich heute recht normal aussah.

Meine Mutter räusperte sich und ich sah wieder zu ihr. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht geäußert, wirkte überrascht im Gegensatz zu ihrem Mann.

Ich studierte ihre Mimik, wollte herauslesen, was sie dachte, was ich aber nicht konnte. Auf jeden Fall war keine Abscheu darin zu erkennen und das beruhigte mich ein wenig. Hastig nahm ich einen Schluck Kaffee, der inzwischen lauwarm war. Meine Finger fühlten sich hingegen kalt und klamm an. Obwohl die Tasse noch eine Restwärme abgab, so reichte sie nicht für meine innerliche Kälte, die nach außen drang.

„Seit wann?“, fragte sie ruhig und sah von mir zu ihrem Mann. Er war die ganze Zeit am Türrahmen angelehnt und ging nun zu meiner Mutter, stellte sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter. Eine ungewohnt vertraute Geste. Denn sie hatte seine Hand ergriffen und drückte sie. Waren sie früher auch so zueinander gewesen? Ich konnte mich kaum daran erinnern.

„Schon als Kind.“ Ich räusperte mich, versuchte, den Frosch im Hals endlich zum Schweigen zu bringen.

„Und Susan … warst du …“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber ich wusste, auf was sie hinaus wollte, was ihre Anspielung war.

„Susan hat es von Anfang an gewusst. Sie war eine gute Freundin – mehr aber nicht.“ Wieder nahm ich einen Schluck, spürte und schmeckte kaum noch die Flüssigkeit und stellte die Tasse dann unsanft ab.

 

 

 

©Randy D. Avies 2012



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