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Bruderliebe

von

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~°~38~°~

 

 

Weit über eine Woche hatte es gedauert, bis ich von einem Wrack wieder zu einem halbwegs normalen Menschen wurde. Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich minutenlang in den Spiegel starrte, und die klarer werdenden Augen registrierte. Auch vernahm ich mit Wohlwollen, wie erholt ich aussah. Die Haut wirkte gesund und durch das viele Joggen sah ich nicht mehr ganz so blass aus, wie noch vor wenigen Tagen. Trotz Novemberwetter wirkten die kargen Sonnenstrahlen positiv auf mich. Ich war kein Narziss in dem Sinne – weder selbstverliebt noch sonst was, aber auf mein Äußeres war ich stets bedacht.

Mein gesamtes Erscheinungsbild, bis auf meine Haare, die dringend nach einem Friseurtermin riefen, war deutlich besser geworden. Genau in diesem Moment wusste ich, ich hatte es geschafft! Endlich!

Keine Gelüste auf Alkohol oder nach einer Zigarette gaben mir zusätzlich ein gestärktes Gefühl. Die Aversion gegen mich war verschwunden. Endlich konnte ich mich so akzeptieren, wie ich war. Wow!

Ob es allerdings an den Pflastern, die gegen das Rauchen wirkten, oder an der Medizin, die mein Verlangen nach etwas Alkoholischem abmilderten, gelegen hatte, das wusste ich nicht wirklich. Aber eines wusste ich mit Sicherheit – allein der eiserne Wille hatte den größten Anteil daran gehabt, dass ich gegenwärtig wieder mein Leben im Griff hatte. Vielleicht hatten auch viele Facetten zusammengespielt. Ich hinterfragte nichts, nahm mein neues Lebensgefühl so an, wie es jetzt war. Aber eines durfte ich niemals vergessen, Basta hatte viel dazu beigetragen. Die vielen Stunden mit ihm, wenn ich in Trauer verfiel, weil ich Filme anschaute, die Carsten und ich uns noch vor Kurzem angesehen hatten, Musikstücke, die uns verbanden, war der Hund die größte Stütze überhaupt gewesen. Wie konnte ich das vergessen?

 

Es war bereits Dienstag, als ich für das, was ich vorhatte, bereit war. Ausgepowert vom Joggen freute ich mich zuerst einmal auf meine Dusche. Der verschwitzte Körper nahm wohlwollend das Wasser entgegen, als ich kurze Zeit später unter dem warmen Wasserstrahl stand und mich kräftig einseifte. Wie gut das tat. Jeden Tag freute ich mich ein klein wenig mehr, banale, alltägliche Dinge einfach wundervoll zu finden.

Basta wedelte freudig mit dem Schwanz, als er ins Bad hereintrottete. Dem Hund gefiel es, gefordert zu werden, und wenn man ihn, wie ich, jeden Tag um sich hatte, konnte man richtig erkennen, dass er mehr Auslauf hatte. Er wirkte schlanker, sehniger und ausgeglichener.

„Basta, Basta!“ Ich schüttelte den Kopf, aber eher über mich, weil ich nie die Tür abschloss. Wenn man alleine in dem großen Haus wohnte – wozu auch, war ich doch alleine. Meistens war die Tür nur angelehnt, daher konnte Basta fast jedes Mal ungeniert hereinspazieren und ich verfluchte meine Unachtsamkeit, weil es dann viel zu spät war, um noch zu reagieren.

„Hey, wie wäre es mal mit anklopfen? Keine Manieren, tze!“, tadelte ich ihn, während ich das Wasser abstellte, aus der Dusche stieg und mich dann mit einem frischen Frotteehandtuch abtrocknete. Sofort legte sich ein Dampf über das Bad, da die Heizung voll aufgedreht war. Auf meine Lippen platzierte sich ein Lächeln, als ich sah, wie Basta den Kopf schief legte, dabei seine Zunge kurz heraus schnellte und dann brav vor mir Platz nahm, als ich mich vor ihm anzog. Der Hund rührte sich nicht vom Fleck und sah mir ungeniert weiter zu.

„Manchmal könnte ich meinen, du stehst auf Männer, du Hund“, frotzelte ich heiter. Dieser liebenswerte Vierbeiner war einfach unmöglich und brachte mich immer öfter zum Lachen. Als ich aber in seine Augen schaute, meinte ich so etwas wie Freude darin zu lesen. Spürte er etwa, dass heute ein besonderer Tag ist?

Ich lächelte.

Doch war die Fröhlichkeit nur von kurzer Dauer, denn eine dunkle Wolke hatte sich in meine Gedanken geschoben. Meine Miene verfinsterte sich und ein zusätzlicher dumpfer Schmerz legte sich über mein Herz. Heute würde ich Carsten besuchen. Ich schwor mir, keinen Rückzieher mehr zu machen. Die ganze Woche über hatte ich es mir vorgenommen und jedes Mal, als ich gehen wollte, hatte ich es kurzfristig auf den nächsten Tag verschoben, weil ich mich noch nicht stark genug dafür gefühlt hatte. Doch heute würde ich es tun. Kein Verschieben mehr! Es war der letzte und wichtigste Schritt.

„Komm, gehen wir“, sprach ich laut aufmunternd zu Basta, als ich fertig war im Bad. Die Haare waren trocken geföhnt, ich war frisch rasiert und angezogen, wobei die auffordernden Worte eher mir gegolten hatten, als Basta.

Ich schaltete das Radio im Bad aus. Eine Angewohnheit seit meinem kleinen Entzug – im Bad laut Musik zu hören und dazu zu singen. Basta folgte mir brav auf Schritt und Tritt. Auch während des Joggens hatte ich mit ihm keine Schwierigkeiten. Nicht wie bei anderen Hunden, die dann in ein grauenhaftes Gekläffe wechselten, wenn ein anderer, vor allem einer der Marke ‚Yorkshire Terrier‘ meinte, den großen Macker heraushängen lassen zu müssen. Und das kam oft vor. Denn unweit von meinem Haus wohnte eine Dame mit solch einer Giftnudel, wie ich ihren Hund heimlich nannte. Ja, beim Joggen hatte ich schon manch ein Erlebnis zu verbuchen. Doch Beziehungen zu weiblichen Frauchen vermied ich dann besonders, wenn mich das starke Gefühl überkam, ich hätte sofort Kontakt in diese Richtung knüpfen können.

Arme Frauenwelt, doch für Männer hatte ich momentan ebenso keinen Kopf. Dazu war Carsten zu präsent – und Darian!

Wie gut, dass ich mich für warme Sachen entschieden hatte, als mir die kalte Luft entgegenwehte, ich von meinen Gedanken zurückkehrte und die Haustür aufmachte. Der November wurde immer ungemütlicher, und wenn man nicht in Bewegung blieb, dann konnte man schnell auskühlen. Daher zog ich fest meinen schwarzen Baumwollschal um meinen Hals, ließ die Gedanken jeden Raum durchwandern, ob ich alles an Elektrischem ausgemacht hatte, überprüfte die Pflanzen im Wintergarten, die ich Gott sei Dank hatte retten können, in dem ich sie wieder regelmäßig mit Wasser und Dünger versorgte. Es war nur eine, die mir eingegangen war.

Erst dann ging ich mit Basta zur Garage, wo zwei Autos Platz hatten. Mein altes Fahrzeug von früher hatte ich schon lange nicht mehr und es standen dort der BMW und das Cabriolet. Ich entschied mich für den sportlichen Flitzer, auch wenn es eher ein Sommerauto war, hatte er Sitzheizung und im geschlossenen Verdeck war es absolut wintertauglich. Erinnerungen stiegen auf. Das letzte Mal, als ich das Auto gefahren hatte, war bei der Hochzeitsfeier, danach immer nur den BMW.

Ja, die Hochzeitsfeier. Darian …

„Vergangenheit – ich lebe jetzt und hier.“

Nachdenklich und in Gedanken ließ ich Basta hinten Platz nehmen und stieg ins Auto. Er tat sich anfänglich bei der Enge etwas schwer und ich sah ihm über dem Rückspiegel sorgenvoll zu. Ich wusste, Basta war nicht mehr der Jüngste, aber daran wollte ich im Augenblick nicht denken. Der Rüde hatte sein Alter.

Ich startete den Wagen, fuhr aus der Garage, grüßte per Handzeichen im Vorbeifahren einige Nachbarn, die entweder von ihrem Einkauf gerade zurückkamen oder vom Fenstersims aus sich mit anderen unterhielten und winkten.

Alles schien wieder normal. Keine vorwurfvollen Blicke mehr. Wie schön!

„Gehen wir Carsten besuchen, hm!“, sprach ich nach hinten zu Basta, und blendete alles um mich herum aus. Dann stellte ich das Radio an, wo prompt ein aktuelles Lied bassvoll das Auto erfüllte. Ich verzog das Gesicht, als ich die blecherne Musik weiter verfolgte. Die Songs wurde immer schlechter. Wie vermisste ich doch die gute alte Zeit, wo die Musiker zum Teil ihre Lieder selbst komponierten und nicht in irgendeinem aufgeblasenen Sender wettbewerbsmäßig ein Superstar werden mussten, um im Anschluss als hochgepuschte Sänger einen Plattenvertrag zu bekommen, bei dem der Hörer oder Zuschauer genau wusste, nach einem Song gehen sie unter und werden nie mehr gehört.

Eine Stunde Fahrt hatte ich zu bewerkstelligen, bis ich das Ziel erreichen würde, den Waldfriedhof, Waldbestattungen im Ewigforst Sachsenwald bei Hamburg. Je näher ich dem Zielort kam, umso nervöser wurde ich, bis zum Schluss meine Finger trotz der Autoheizung kühl und feucht am Lenkrad klebten. Der November zeigte sich nun richtig in allen Facetten. Denn die Sonnenstrahlen drangen nicht durch die Milchsuppe hindurch. Mich störte auch nicht der weiter aufkommende Nebel, als ich das Auto auf einem der Parkplätze abstellte.

Ich stieg aus und ließ Basta raus, legte ihn aber nicht an die Leine. Wir waren alleine.

„So, da wären wir.“

Das letzte Mal war ich hier, als die Beerdigung war. Ich konnte mich noch genau an den Weg erinnern und fand daher, ohne große Schwierigkeiten Carstens Baum – seine Eiche.

Ich hatte während des Weges einen Tannenzapfen aufgehoben, weil persönliche Sachen, die nicht verrotteten, durfte man nicht mitbringen.

Als ich davor stand, betrachtete ich die Eiche. Die Blätter hatte das Holzgewächs fast verloren und doch strahlte er was aus, was sich auf mich übertrug. Carsten lebte jetzt in ihm, dadurch wurde der Baum für mich lebendiger und zu etwas ganz besonderem. Ich schwor mir, von nun an diesen Ort regelmäßiger zu besuchen. Genau unter seinem Namensschild platzierte ich den Tannenzapfen, wo auch seine Urne vergraben lag, und gab einen Handkuss auf diese Stelle. Basta hatte sich neben mich gesellt und verhielt sich ruhig. Ich streichelte ihn, während ich meine Worte an meinen toten Partner richtete:

„Manches währt ewig, unsere Liebe ist es weiterhin, auch über den Tod hinaus. Ich wäre mit dir glücklich geworden. Wir waren glücklich, wenn auch nur für eine recht kurze Zeit. Du warst ein wundervoller Klavierspieler. Ich werde deine Musik niemals vergessen. Und doch …“ Ich schluckte schwer und ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Ich wollte reinen Tisch machen. „Ich will nicht lügen und dir sagen, dass Du die Liebe meines Lebens warst, das warst du nicht. Aber, ich hatte viele Gefühle für dich, gab dir die Liebe, die ich dir wirklich geben konnte …“ Mir liefen Tränen haltlos die Wangen hinunter, weil mir bewusst wurde, dass ich zu Carstens Lebzeiten nicht ganz ehrlich ihm gegenüber gewesen war. Trotzdem, auch wenn es eigentlich zu spät war, wollte ich ihm alles sagen. Wer weiß, vielleicht hörte er mir zu, vielleicht gab es so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Ich sprach schniefend weiter: „Ja, ich liebe meinen Bruder, hörst du. Auch wenn er mir so weh getan hat, habe ich niemals aufgehört, ihn zu lieben.“ Ich verstummte, verfiel in ein stummes Weinen. Im Wäldchen war es ruhig, der Nebel waberte zwischen den Bäumen. Es war gespenstig, denn kein Mensch war zu sehen, kein Vogel oder ein Rascheln von einem anderen Tier zu hören. Ich hörte nur meinen Herzschlag, der rasch in meiner Brust schlug. Dann sammelte ich mich, krallte mich in das Fell von Basta, der zu mir aufsah, brauchte moralischen Beistand. Und das gab mir der Hund, denn ich wollte Carsten wissen lassen, dass er mir dennoch sehr viel bedeutete. „Doch auch dich liebte ich, sehr sogar, und wenn mein Bruder nicht gewesen wäre ... Gerne wäre ich neben dir alt geworden … du fehlst mir sehr, weißt du das?“, beendete ich mein Gespräch. Ich schluchzte, weinte leise vor mich hin. Mittlerweile hatte ich mich vor dem Baum hingekniet, achtete weder darauf, dass meine Jeans schmutzig wurde oder sonst was. Es war unwichtig, denn das hier war wichtig für mich, ihm so nah wie möglich zu sein. Meine Hände hatten sich ins feuchte Unterholz gekrallt. Und so verharrte ich eine Weile, bis meine Tränen versiegten und ich so weit gefestigt war, um aufzustehen und zu meinem Wagen zurückzukehren. Ich klopfte mir die kleineren Äste und Blätter von der Hose.

 „Komm!“, sagte ich zu dem Vierbeiner. Ich war mit mir im Reinen, eine Art Last war von mir abgefallen, als ich Carsten hinter mir ließ, in seiner Urne ruhend unter seinem Baum.

Ein neues Leben lag nun vor mir. Eines, das ich anders weiterführen wollte. Zufrieden mit mir, dass ich es endlich geschafft hatte, mich von Carsten zu verabschieden, startete ich den Wagen und fuhr nach Hamburg in die Stadt, wo ich mir einen Parkplatz suchte, um in eine Bäckerei zu gehen. Dort holte ich mir eine Tüte voll bestückt mit verschiedenen Donuts. Freudig sah ich die süßen Laster, die ich so vermisst hatte. Ein paar Mal hatte ich sie, seit ich Carsten kannte, gegessen, doch in letzter Zeit nicht mehr. Wie ich diese Dinger liebte, wurde mir erst jetzt wieder bewusst, als ich den Zucker und das Fett roch und mir das Wasser im Mund zusammenlief, als ich ins Auto stieg. Ich legte die Tüte, neben mich auf den Beifahrersitz, wo Basta sofort daran riechen wollte. Gerade rechtzeitig riss ich die Tüte an mich, verteidigte mein Essen, indem ich ihm einen mahnenden Blick zuwarf, verschloss sie fester und stellte sie dann runter auf die Fußmatte, damit Basta nicht mehr ran konnte.

„Nix da, das ist mein Laster und für Hunde absolut ungeeignet, gibt nur Diabetes.“ Ich grinste breit, woraufhin er ein kleines Jaulen von sich gab, war er doch ebenfalls ein Schleckermäulchen. Carsten hatte ihn ab und an mit Schokolade verwöhnt, aber nur dann, wenn ich es nicht mitbekommen sollte. Doch meistens hatte ich es aber mitbekommen, genau dann, wenn ich mit Basta tobte und er mit seiner Schnauze zu nah an mein Gesicht kam und ich die Schokolade riechen konnte. Nun gab es nur mich und ich würde auf ihn aufpassen, wollte ich, dass er noch lange fit bleiben sollte. Zwar wusste ich, dass Basta nun ohne meine Erlaubnis nicht mehr drangehen würde, aber sicher war sicher. Ein Hund war auch nur ein ... Wesen, das von Hunger und Durst getrieben wurde.

Ich stellte das Radio laut, brauchte die laute Musik, die der Sender hergab. Auch wenn es nicht meine Musikrichtung war, sang ich leise mit. Ich beugte mich zu der Bäckereitüte und angelte mir das Oberste, das mit dunkler Schokolade überzogen war. Genüsslich biss ich hinein und schleckte mir im Anschluss meine Finger sauber, als ich ihn in nur vier Bissen aufgegessen hatte.

Ist das lecker!

Die restlichen Donuts hob ich mir für zu Hause auf. Es fiel mir aber schwer, nicht noch einen Zweiten zu essen und ich dachte dabei an den Hund. Daher führte mich der nächste Weg zu einem Metzger. Dort holte ich für Basta ein paar schöne frisch ausgenommene Knochen. Ich wusste, neben Schokolade war das sein zweiter Favorit an Leckerbissen. Und wie oft bekam er vom Fleischer einen frischen Knochen. Seit Carsten tot war gar keinen, erst jetzt, es sei denn, Inge hatte ihm in dieser Zeit welche besorgt.

Mit einer noch größeren Tüte bestückt, als es meine war, setzte ich mich zufrieden ins Auto.

„Das ist für dich, aber erst, wenn wir zuhause sind.“ Ich musste ihm die Tüte vor der Nase wegnehmen, als er mit seinem Kopf schon fast drinnen war und bekam als Antwort ein weiteres Jaulen, das schon fast in ein Knurren überging. Ich streichelte ihm über den Kopf.

„Sei mir nicht böse, aber nicht hier im Auto, okay! Zudem habe ich noch etwas zu erledigen, bevor wir so richtig schlemmen können.“

Ich startete den Wagen erneut und fuhr zum erstbesten Friseur, den ich sah, hoffte, dass man mich dazwischen schieben konnte. Von außen sah der Laden nicht schlecht aus und innen haute es mich um. Auch wenn der Laden sehr geräumig wirkte, war viel los und ich musste warten. Da er mich aber wirklich ansprach, vom ganzen Ambiente her, wartete ich gerne diese eine Stunde. Ich verbrachte die Zeit im Auto und ließ die Standheizung laufen, als es hier drinnen auszukühlen drohte. Außerdem wollte ich Basta nicht alleine lassen, bis mir einer der Friseure, ein älterer Mann in extravagantem Outfit, der schon einem Herrn Joop ähnelte, vom Laden aus ein Zeichen gab, dass ich der Nächste bin.

„Bis gleich … und Finger weg von den beiden Tüten.“

Ich ließ mir meine Haare in einem schönen Blauschwarz einfärben, und der Friseur verpasste mir einen modischen Haarschnitt, der hinten im Nacken kurz geschnitten wurde, aber an den Seiten und vorne lang blieb. Als ich in den Spiegel schaute, gefiel ich mir viel besser.

„Perfekt.“ Ich bedankte mich bei ihm und seufzte innerlich, als ich einen stattlichen Preis dafür hinblättern musste.

„Wir haben es gleich geschafft“, sagte ich zu Basta, als mir noch was einfiel, was ich noch machen wollte.

Das nächste Ziel war ein Gothicladen, der neu in der Stadt eröffnet hatte. Die Adresse hatte ich aus dem Internet. Dort kaufte ich mir eine Bondagehose, einen Rock mit Nieten, dazu zwei passende Oberteile. Auch wenn ich mir heute viel gegönnt hatte, verschwenderisch wollte ich nicht werden, und bald würde ich mir eine Arbeit suchen müssen. Aber noch ging es mir gut und auf dem Konto waren noch Reserven vorhanden.

Carsten sollte auch hier stolz auf mich sein können. Ich wollte damit beweisen, dass er mich wirklich aufgefangen hatte.

Beschwingt packte ich alles in den Kofferraum, setzte mich in den Wagen. Der Blick fiel sofort auf die beiden Tüten, die Basta tatsächlich nicht angerührt hatte. Eines musste man dem Hund lassen, einen verdammten Willen hatte er.

„Hätte ich nicht geschafft. Wir sind bald zu Hause, nur noch eine kleine Sache, dann bekommst du deine Knochen, versprochen.“ Ich streichelte seinen Kopf, dann startete ich den Wagen und jonglierte mich schon beinahe akrobatisch aus der kleinen Parklücke. Ein Daimler hatte mich zugeparkt. Ich seufzte. Wie gut, dass ich einparken konnte und somit hatte ich keine Mühe, herauszukommen.

Der letzte Gang, der auf dem Rückweg lag, war Carstens alte Praxis, zu seinem Kollegen und jetzt alleiniger Praxisbesitzer. Der erstaunte Gesichtsausdruck sprach Bänder, als ich einfach vorbeischneite. Normale Patienten hätten nicht aufgemacht bekommen, schon gar nicht, wenn er gerade in einer Sitzung war, aber als er meinen Namen in der Sprechanlage hörte, machte er eine Ausnahme. Aber sogleich bedauerte er, nicht viel Zeit für mich zu haben. Auch wenn ich ihm am Telefon gesagt hatte, warum ich nicht mehr hier arbeiten wollte, war ein persönliches Vorbeikommen der richtige Weg gewesen.

Ich brauchte nur ein paar Termine, wollte reden. Einen Therapeuten, dem ich vertrauen konnte, und das tat ich, da Carsten sehr viel von ihm gehalten hatte. Er war auch damals der, der mir zu den Medikamenten geraten hatte, als ich meinen Entzug machte.

So vereinbarten wir für die nächsten zwei Wochen vier Termine. Ich dankte ihm herzlich dafür, denn ich wusste, dass Wartezeiten angesagt waren und da war Carsten immer noch mein Vitamin B. Der Therapeut rief bei einigen seiner Patienten an und verschob die Termine. Da ich es nicht über die Krankenkasse abrechnen wollte, war ich sozusagen Privatpatient und er konnte mich so vorziehen. Billig waren die vier Termine nicht, aber das war es mir wert, meine Gesundheit war es.

„Danke! Dann bis übermorgen.“ Ich verabschiedete mich.

„Jetzt geht es wirklich nach Hause“, als mich Basta schon knurrend anblickte, als ich im Auto saß. Ich hatte dem Hund wirklich viel Geduld abgesprochen und nun war Schluss damit. Ich nahm den schnellsten Weg zurück.

Endlich, als Basta und ich zuhause ankamen und ich meine ganzen Sachen verstaut hatte, bekam der Vierbeiner seine Knochen, die er mir beinahe schon aus der Hand riss. Ich hingegen setzte mich wenige Minuten später genüsslich an den Küchentisch, vor mir den Laptop und in der rechten Hand einen leckeren Donut. Ich hatte beschlossen, wieder ein paar Artikel zu schreiben. Der Verdienst war zwar gering, aber besser als nichts, zumal man sich die Zeit dafür einteilen konnte, wie oft man was schreiben wollte und konnte. Es war ein kleiner Einstieg ins normale Leben.

 

Die Termine beim Therapeuten taten gut, mehr als das, und da er eine Schweigepflicht hatte, erzählte ich ihm schließlich, als ich komplett das Vertrauen zu ihm gefasst hatte, von der Liebe zu meinem Bruder. Schweigend hörte er mir zu, gab mir Tipps und verurteilte mich nicht. Immer wieder stellte ich mir hinterher vor, wie sich Darian gefühlt haben musste, als er an meiner Stelle seine Gefühle Carsten gegenüber preisgegeben hatte. Hatte Carsten ihn da verurteilt?

Die wenigen Gespräche mit ihm halfen mir, meinem Leben weiterhin einen Sinn zu geben.

„Wenn ich noch etwas für dich tun kann?“ Da wir uns kannten, war das kein Thema, das wir all das Förmliche wegließen.

„Nein, ich denke, ich bin jetzt so weit. Ich schaffe das.“

„Wenn was ist, du weißt, wie du mich erreichen kannst und wenn du einen Job brauchst, der steht dir hier immer noch zur Verfügung. Ich könnte wirklich jemand gebrauchen.“

„Nein, lass mal … Danke dennoch“, winkte ich ab und er nickte nur. Ich verabschiedete mich von ihm.

 

Ich machte nicht mehr den Fehler, mich zurück in ein Schneckenhaus zu ziehen, das keinesfalls, sondern besuchte oder traf mich mit einigen Freunden, wie mit Inge und Peter, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel oder wenn ich mit meinen Artikeln fertig war und ich mit meiner Zeit nichts anzufangen wusste. Dennoch fehlte mir etwas und das war nicht nur Carsten.

Ich fühlte mich nicht vollständig, spürte eine Lücke, spürte die Sehnsucht, die von Tag zu Tag größer wurde, die auch meine Freunde nicht kitten konnten. Als ich meinen 29. Geburtstag hinter mich brachte, beschloss ich endlich, in meine Heimat zurückzukehren. Zwar hatte ich meine Freunde in Hamburg, doch wollte ich zurück. Schon lange hatte ich mir das vorgenommen.

Ob es für immer sein würde, das würde sich zeigen, zuerst sollte es ein Besuch werden. Inge bot mir an, auf das Haus aufzupassen, aber ich hatte eine andere Idee und erinnerte mich an meine WG-Zeit zurück. Es unterstrich meine Idee nur noch mehr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

©Randy D. Avies 2012



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Veri
2015-09-04T10:44:44+00:00 04.09.2015 12:44
Wieder mit viel Tränen verbunden ! :(


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