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Bruderliebe

von

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 Mir war sämtliches Zeitgefühl abhandengekommen. Ich starrte Sekunden, Minuten, keine Ahnung, wie lange, auf einen nicht vorhandenen Fleck vor mir auf die tapezierte Wand. Neben mir vernahm ich ein leises Surren. Mein starrer Blick löste sich von der Tapete und fokussierte das fliegende Objekt. Ein Nachtfalter hatte sich verirrt und schwirrte im Gang umher.

Während ich den Flattermann beobachtete, merkte ich, wie ich krampfhaft meine Hände zu Fäusten geballt hatte. Erst als sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Handballen bohrten, lockerte ich sie.

Zielstrebig ging ich an eines der Fenster und öffnete beide Flügel, um das Insekt in die Freiheit zu entlassen.

„Komm kleiner Flattermann, flieg in die große weite Welt hinaus. Lass dich nicht unterkriegen … Und verlieb dich niemals, das Herz wird einem zu schnell gebrochen.“ Ich sah dem Falter zu, wie er sich freudig über die neu gewonnene Freiheit den Weg nach draußen bahnte. Dann erst schloss ich das Fenster.

Meine Miene verdüsterte sich, als es wieder totenstill im Zimmer war. Die künstlich aufrechterhaltene Fassung brach nun endgültig zusammen. Ich fing wie Espenlaub an zu zittern und hustete. Die Wand hinter mir gab mir den nötigen Halt, um nicht umzukippen, denn meine Knie hielten mich nicht mehr. Langsam rutschte ich an der Wand herunter, bis ich den kühlen Laminatboden unter mir spürte. Mein Herz schlug schnell und der Kopf brummte, fühlte sich auf einmal schwer an, als ob er mit Blei gefüllt wäre. Daher lehnte ich meine Stirn auf meine angewinkelten Knie. Die Emotionen, die in mir schlummerten, kochten nun über; den lang zurückgehaltenen Tränen ließ ich freien Lauf. Ich musste nun niemandem mehr etwas vorspielen. Einsamkeit kam zu meiner Trauer hinzu und ich kam mir verlassener vor, als jemals zu vor, zudem noch wie ein Stück Dreck, weggeworfen.

„Du verfluchter Mistkerl“, brüllte ich meine Wut hinaus und steigerte mich weiter hinein. „Du hast mich wie einen Gebrauchsgegenstand, dem man überdrüssig geworden ist, fortgeworfen. Wie kannst du mir so emotionslos die Nachricht von der Heirat ins Gesicht schleudern? Wie kannst du mich nur derart verletzen? Wie kannst du meine Liebe, die ich für dich empfinde, so mit Füßen treten? Du warst es doch, der mit mir geschlafen hat, nicht umgekehrt!“ Ich verfiel in ein Schluchzen, mein Körper zitterte. Es war der seelische Schmerz, der wehtat, nicht mein Körper, denn der konnte heilen.

Darian wollte heiraten. Ich war für ihn nur ein Stück Dreck gewesen, den man benutzt hatte, weil die Freundin nicht parat war.

Also, was machte ich hier noch?

Während unseres gemeinsamen Abstiegs hatte ich die winzige Hoffnung gehabt, es würde sich noch alles zum Besseren wenden, aber mit Darians Entschluss, zu heiraten, war der letzte Funke erloschen.

Ich weinte eine ganze Weile, verbarg mein Gesicht zwischen den Beinen, dachte über alles nach und fasste einen Entschluss. Den Gedanken hatte ich auch schon in der Hütte – einfach zu verschwinden, alles hinter mir zu lassen.

Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wollte ich nur noch unter die Dusche, mich reinwaschen. Ich stand vom Boden auf. Meine Nase lief, und ich benutzte meinen Handrücken, statt ein Tempo zu verwenden. Selbst für meine Tränen! Was spielte es für eine Rolle, wie erbärmlich ich aussah. In meinem Zimmer holte ich aus dem Schrank frische Klamotten und ging ins gegenüberliegende Bad. Mein erster Blick fiel dann doch automatisch auf den großen Wandspiegel, der bis auf den Boden reichte und damit das kleine Bad als Hingucker dekorierte. Ich stellte mich davor. Mein Spiegelbild blickte mich traurig an. Ich sah in verquollene Augen, die gerötet waren und stumpf und glanzlos wirkten. Meine Nase war ebenso rot und wirkte in meinem ziemlich blassen Gesicht viel zu groß. Ich strich mir über die Haare, die völlig zerzaust aussahen, seufzte resigniert und begann, mich vor dem Spiegel auszuziehen. Mein Körper sah ausgemergelt aus, die spitzen Hüftknochen stachen hervor. Ich gab ein erbärmliches Bild ab. Als ich auf meine Schenkelinnenseite schaute, entdeckte ich noch immer die Spuren von getrocknetem Blut, welches ich nicht ganz weggemacht hatte. Mein After brannte. Ich stieg unter die Dusche.

Der erste Wasserstrahl traf mich eiskalt. Nach und nach erwärmte es sich. Ich duschte lange und ausgiebig, wollte mich reinwaschen von allem. Reinwaschen von meinen immer noch verbotenen Gefühlen, weinte, weil Darian so viel in mir kaputtgemacht hatte.

Wenn er doch nur ein bisschen zärtlicher gewesen wäre? Wenn er nicht diese abscheulichen Worte gesagt hätte. Ich wusste nicht, was schlimmer war. Die Vergewaltigung oder die Worte von ihm.

„Du bist nur ein Loch“, der Satz der mich am schmerzlichsten getroffen hatte und alles übertraf, spukte immer wieder in meinem Kopf herum. Ich sackte alleine bei der Erinnerung in der Dusche zusammen, heulte abermals, bis nichts mehr kam, außer dem Wasser von oben. Keine Nacht würde ich hier überstehen können, das wusste ich genau. Die Erinnerungen an die Wanderung, an den Schmerz, seine Anwesenheit überhaupt, würden mich immer verfolgen.

Ich musste hier raus, fort von ihm, und weg aus der Stadt. Doch immer noch haderte ich mit mir und mein Entschluss, zu gehen, geriet ins Wanken. Um mich abzulenken, widmete ich mich meinem Körper, trocknete mich ab und versorgte anschließend mein After mit einer Wundsalbe, die wir immer vorrätig im kleinen Apothekerschrank hatten. Ich hatte noch Glück im Unglück, wie ich feststelle, als ich mit meinem Finger über den kleinen Riss fuhr, der am Anus nicht so tief war wie zuerst befürchtet. Es würde ohne ärztlichen Eingriff heilen. Nur den Toilettengang traute ich mich nicht. Mir fiel ein, dass auch zu dieser Sache mein Bruder nicht einmal nachgefragt hatte, ob ich Schmerzen hätte.

Ich zog mich an, dann kämmte ich mir die Haare und föhnte sie trocken. Hin und wieder spürte ich das unangenehme Kratzen im Hals. Ich betete darum, dass mir die Dusche geholfen hatte, und nahm mir aus dem Arzneischrank noch Hustensaft und Halstabletten heraus, was wir ebenfalls immer vorrätig hatten.

Mein Bruder war stets bedacht, immer alles zuhause zu haben.

Du hast nicht an meine Gefühle gedacht. Das hast du nicht vorrätig, dachte ich und schniefte. Ich nahm noch was gegen Schnupfen aus dem Schränkchen, da mich gerade eine Niesattacke überfiel.

Ich ging mit den Sachen auf dem Arm in die Küche, um mir endlich einen Tee aufzugießen, den ich mit Honig süßte. Auf den Gedanken, mir vielleicht auch was zu essen zu machen oder eine Fertigsuppe zuzubereiten, kam ich nicht. Der Hunger blieb weiterhin aus.

Ich setzte mich schließlich auf einen der vier mit rotem Stoff überzogenen Küchenhocker, die angereiht an der weiß-grau karierten Theke standen. Einen normalen Küchentisch hatten wir nicht – Darians Idee. Er wollte, dass es aussah wie in einer Cafébar mit langer Theke und allem Drum und Dran. Mir war egal, wie die Küche aussah, sie sollte nur ihren Zweck erfüllen. Ich nahm einen Schluck von meinem Kamillentee. Heiß und wohlig rann er meine Kehle hinunter, als ich dauernd auf die tickende Uhr schaute. Es war mittlerweile sehr spät, draußen war es stockfinster und mein Bruder war mit Stefanie noch nicht zurück. Stefanie – seine Braut! Er wird sie heiraten … heiraten … heiraten …

Mein Magen zog sich zusammen. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken als immer nur daran, doch ich schaffte es nicht.

Sein Blick, die Kälte, die darin gelegen hatte – alles kam wie ein Bumerang zurück.

„Schht, gleich ist es vorbei“, hatte er zu mir gesagt. Hatte Darian auch mit Männern geschlafen? Auf jeden Fall war es nicht sein erster Analverkehr, davon war ich überzeugt.

Oder, er nimmt seine Freundin … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Zumindest war das nicht sein erstes Mal, dass er so mit jemandem geschlafen hatte. Ich wollte mir nicht weiter den Kopf darüber zermartern.

Der Gedanke, dass er jetzt in diesem Augenblick mit seiner Freundin Sex haben würde, bereitete mir zusätzlich Übelkeit. Die Vorstellung, dass er zu ihr zärtlich war, was bei mir gefehlt hatte, machte das Ganze nicht viel besser, im Gegenteil. Darian behandelte seine Stefanie nicht so.

Die Übelkeit nahm so stark zu, dass ich es gerade noch zur Toilette schaffte. Ich spuckte so lange, bis nur noch Gallensaft herauskam. Die Sterne vor meinen Augen tanzten auf und ab, mein Kreislauf spielte verrückt. Nachdem ich meinen Mund ausgespült hatte, trank ich ein paar Schlucke Wasser aus dem Wasserhahn. Mein Kreislauf stabilisierte sich.

Ich ging auf mein Zimmer zurück, legte mich aufs Bett und hörte eine Weile Musik, die laut aus den Boxen drang. Düstere Klänge begleiteten mich in meiner Trauer. Zeitweise wechselte ich zu fröhlicherer Musik, vielleicht würde das helfen. Fehlanzeige! Dieses Mal konnte sie mich auch nicht auf andere Gedanken bringen. Ich war in meiner eigenen Hölle gefangen. Als es weit nach Mitternacht und Darian mit seiner Freundin immer noch nicht zurück war, fiel mein Entschluss nun endgültig. So beschloss ich, meinen Weggang auch wirklich in die Tat umzusetzen, meinen Bruder und all das hier hinter mir zu lassen und tatsächlich abzuhauen. Wenigstens mir wollte ich beweisen, dass ich von meinem Bruder loskommen konnte. Ich wollte nicht mehr auf ihn angewiesen sein, nicht weiter als Fußabtreter dienen. Aber um abzuhauen, fehlte mir das nötige Kleingeld. Mir kam eine Idee!

Ich wusste, wo das Haushaltsgeld aufbewahrt wurde – nämlich in einer Spardose, die sich zwischen den Marmeladengläsern befand. Ich hatte in diesem Punkt keine Skrupel mehr und nahm die darin befindlichen 500 Euro an mich. Als Entschädigung für den Schmerz, den er mir innerlich wie äußerlich zugefügt hatte. Damit rechtfertigte ich es.

Nun zögerte ich wirklich keinen Moment länger, packte die nötigsten Sachen in meinen alten Koffer. Vieles würde ich zurücklassen müssen, das war der Preis für einen neuen Start in ein frisches Leben. Als ich fertig war, stellte ich den geschlossenen Koffer neben das Bett und ging davor in die Hocke, holte darunter eine kleine Schachtel hervor. Eine schöne alte Zigarrenschachtel, die man heute nicht mehr zu kaufen bekam. Ich hatte sie auf einem Trödelmarkt für einen Euro einem Jungen abgekauft. Mir wurde schwer ums Herz, als ich den Deckel der Schachtel öffnete und mir Dutzende Bilder von Darian entgegen sprangen. Ich schniefte geräuschvoll, als ich wehmütig darauf schaute – doch dann wurde ich wütend. Ohne zu zögern, nahm ich eine Fotografie nach der anderen heraus und zerriss sie, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Als ich das letzte Foto ebenfalls zerreißen wollte, konnte ich mich rechtzeitig in meinem Zorn auf Darian stoppen. Ich starte auf das Bild. Sein strahlendes Lächeln weckte Erinnerungen an letztes Weihnachten, an dem das Foto geschossen wurde. Ich nahm es an mich und legte es mit in den Koffer, verschloss ihn, dann zog ich mir eine Jacke über und nahm den Koffer in die Hand. Zum Schluss ließ ich meinen Blick über mein Zimmer gleiten. Viel besaß ich nicht, doch das wenige, was ich noch besaß und nicht mitnehmen konnte, musste ich zurücklassen. Sollte sich doch mein Bruder mit seiner zukünftige Frau darum kümmern, was scherte mich das noch, genauso wie sein blöder roter Rucksack, der ungeöffnet in der Ecke stand und mir ins Auge stach. Angewidert wendete ich den Blick ab.

Aber dann dachte ich an Susan, die nichts getan hatte und womöglich vor den Kopf gestoßen sein würde, wenn sie erfuhr, dass ich nicht mehr da war. Ich hoffte, sie machte sich keine Vorwürfe deswegen, hatte sie es doch nur gut mit der Wanderung gemeint. Betrübt darüber, dass ich eine gute Freundin zurückließ, verabschiedete ich mich still von ihr. Gerne hätte ich ein Foto von ihr mitgenommen, doch ich hatte keines, wo sie alleine drauf war. Daher schwor ich mir, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie heute ausgesehen hatte. Ich war entschlossen, ein Lebenszeichen von mir zu geben, sobald ich irgendwo untergekommen war, damit Susan wenigstens meinen Eltern Bescheid geben konnte. Vielleicht per Brief. Per Telefon konnte ich es mir nicht vorstellen. Ihre Stimme würde ich nicht verkraften. Doch ob ich meiner Freundin in einem Brief die Wahrheit schreiben konnte, stand auf einem anderen Blatt.

Ich griff nach meinem Schlüsselbund, der stets neben meiner Tür hing, und legte ihn demonstrativ auf die einzige Kommode im Gang, sodass er jedem sofort ins Auge stechen musste, wenn man den Flur betrat.

Ich brauchte die Schlüssel nicht mehr. Alles hier brauchte ich nicht mehr.

„Leb wohl, Darian.“ Bitterkeit lag in meiner Stimme. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, um meine roten Augen zu verdecken, auch wenn es dunkel draußen war, und verließ mit nur einem Koffer in der Hand die Wohnung. Zielstrebig setzte ich einen Fuß vor den anderen in Richtung Bahnhof; das endgültige Ziel: noch unbekannt! Ich ließ mein bisheriges Leben einfach zurück.

 

 

 

 

 

©Randy D. Avies 2012



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Veri
2015-08-16T13:54:59+00:00 16.08.2015 15:54
Ich würde auch gehen, das steht fest. Ich freue mich wenn's weitergeht (⁎❝᷀ົ ˙̫ ❝᷀ົ⁎)
Antwort von:  randydavies
17.08.2015 10:10
Kann man irgendwie nachvollziehen, wenn man so von einer Person verletzt wird die man liebt.

Morgen geht es weiter!

LG Randy
Antwort von:  Veri
17.08.2015 10:27
Ich bin ein kleiner Stalker, habe dich auf Facebook abonniert ! :3
Freu mich schon ganz doll auf morgen ! <3
Antwort von:  randydavies
17.08.2015 10:35
Ähm, man kann mich gar nicht abonnieren... hast du vielleicht meine verwaiste FB-Seite verwischt? Also wennn man mich suchen möchte dann findet man mich unter diisem Profil https://www.facebook.com/profile.php?id=100007843727079 ;)
Antwort von:  Veri
17.08.2015 16:40
Ich wusste, irgendwas stimmt da nicht :D Moment, ich schau nach :3
Antwort von:  randydavies
17.08.2015 19:10
Jetzt hast du mich gefunden! ;)
Antwort von:  Veri
17.08.2015 19:20
Ich hoffe das war nicht zu forsch !
Von:  Sephania
2015-08-16T13:38:33+00:00 16.08.2015 15:38
Maaan jetzt musste sogar ich weinen. Das ist so traurig T.T
Aber ich hätte bestimmt auch nicht anders gehandelt. Freue mich auf mehr. :3

LG
Eine traurige Sephania
Antwort von:  randydavies
17.08.2015 10:13
Oh je... *Taschentuch reicht*
Nicht raurig sein, okay... :(

Morgen gibt es drei weitere Kapitel! :)

LG Randy


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