Kapitel 9 ― Saturday Night Fever
Punkt 1850T beendete Ruben seine Arbeit und meldete die geschäftliche Sitzung ab. Er pfiff eine fröhliche Melodie, während er den Krawattenknoten lockerte und sich vom Chefsessel erhob. Bevor er das Büro verließ, lief er an dem Punchingball vorbei und gab ihm einen kurzen Jab. Der Lederball, der mit Spanngurten an Decke und Boden befestigt war, schlackerte hin und her, als würde er Ruben zum Abschied winken.
Fünf Minuten später stand er im Soldatenwohnheim und suchte den Korridor, wo Tamia ihr Quartier hatte. Ruben hielt den nächstbesten Soldaten an. »Wo ist Corporal Rivero untergebracht?«
»Zimmer 0.2.28!«, brüllte dieser im militärischen Ton.
Zielstrebig lief Ruben den Flur entlang. Die Soldaten, die sich dort aufhielten, wichen zur Seite und gaben den Weg frei. Wenn Ruben an ihnen vorbeilief, salutierten sie und grüßten lautstark, aber sobald er sie passiert hatte, tuschelten sie wie Waschweiber. Schlappschwänze. Erst in den Arsch kriechen und dann lästern.
»Was hat die wohl für Scheiße gebaut, dass er sogar persönlich aufkreuzt?«, fragte jemand besorgt.
Hinter der verbissenen Miene grinste Ruben hämisch. Die Soldaten schienen nicht die geringste Ahnung zu haben, weshalb er sich in den Wohnbereich der Mannschaften begab. Falls die Brünette hinter dem Tresen die Klappe gehalten hatte, wussten nur sie und die Offizierskollegen von ihm und Tamia. Der Abend versprach einige schöne Überraschungen.
Zimmer 0.2.28. Ruben klopfte zweimal, eine Sekunde später öffnete sich die Tür einen Spalt und ein blonder Kopf schaute raus. Tamia musste sich die Haare frisch gefärbt haben, denn der Geruch von Wasserstoffperoxid lag in der Luft.
»Hallo … Ruben«, flüsterte sie behutsam. Sie schien es zu genießen, seinen Vornamen auszusprechen.
Sein Blick wanderte von ihren strahlenden Augen zum schönsten Lächeln in diesem Sonnensystem, dann den schlanken Hals hinunter bis zum BH, der mehr entblößte als stützte. Ruben versuchte sich auf die bunten Schmetterlinge zu konzentrieren, die als Schwarm von ihren Handgelenken starteten, ihre Arme hinaufflogen, über die Schlüsselbeine tanzten und beim verschnörkelten fly in der Mitte ihres Brustkorbs zusammenfanden. Brustkorb. Brüste. Die Lippen zusammengekniffen und die Fäuste geballt, riss sich Ruben zusammen, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
»Er geht ihr gleich an den Kragen!« Ein entsetztes Raunen holte ihn zurück.
Ruben packte Tamia an den Schultern und drückte sie ins Zimmer, bevor er die Tür mit einem Tritt gegen die untere Ecke zuknallte. Als er bemerkte, dass er sie angefasst hatte, ließ er hastig von ihr los. »Es ist achtzehnsiebenundfünzig.«
»Ich weiß. Du bist überpünktlich.« Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern und wandte sich dem Spind zu. »Hast du etwa erwartet, dass ich schon eine halbe Stunde vorher ausgehbereit hier hocke und auf dich warte?«
»Ich hab gesagt, dass ich du um … äh, dich …« Wie supraflüssiges Helium kroch sein Blick ihre schlanken Beine hoch und napfte sich an ihrem durchtrainierten Po fest. »I-ich meinte, neuzize… ah–«
»Was?« Die halbnackte Frau drehte sich um, stemmte eine Hand in die Hüfte und starrte ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Hey! Ruben? … Guck mir in die Augen, wenn ich mit dir rede!«
»Tu … ich doch«, brachte er stockend hervor.
»Ach ja?« Tamia hielt sich die flache Hand vors Gesicht. »Welche Farbe?«
Das war gemein! Wie sollte er in diesem Zustand darauf kommen? Ruben versuchte sich zu erinnern und riet: »Braun! Entschuldigung. Grün. Nein, doch braun …«
»Gerade noch mal so.« Lächelnd nahm sie die Hand herunter. Die Iris war tatsächlich braun; ein intensives Braun mit grünen Schattierungen. Er prägte sich ihre Augen ein, brannte sich das Bild in sein Gehirn – nicht nur, um weitere Fettnäpfchen zu vermeiden. Sie kam auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihm sanft die Lippen. Ihre warme, nach wildem Honig duftende Haut rieb an seiner Uniform.
Er wollte sich lediglich mit ihr treffen, rief Ruben sich ins Gedächtnis. Kein Date, kein Sex, er wollte lediglich ein paar nette Stunden mit ihr verbringen. »Zieh dir«, stieß er stöhnend hervor. »… was an.«
»Ich hab doch was an!« Demonstrativ wackelte sie mit der Hüfte, an der ein Bändchen das hauchdünne bisschen Stoff zwischen ihren Beinen festhielt. Danach tänzelte sie durchs Zimmer und widmete sich wieder dem Kleiderschrank. Tamia wirkte wie ein Teenie, der sich für Samstagnacht fertigmachte. Und er wirkte wie ein Teenie, der seine Hormone nicht im Griff hatte.
Ruben konzentrierte sich, einen vollständigen Satz hervorzubringen. »Ich binde mir auch kein Schleifchen um den Hals und behaupte, ich hätte was an.«
»Fänd ich sexy.« Sie hielt ein winziges Kleidchen in die Luft, schüttelte den Kopf und packte es wieder zurück.
»Zieh dir gefälligst etwas Ordentliches an! Irgendwas, das deinen Arsch bedeckt«, schimpfte er und bereute sogleich den harten Ton. Ruben räusperte sich. »… bitte?«
Beleidigt schnaubte sie durch die Nase. Dann fasste sie mit den Händen hinter den Rücken, um den Verschluss des Büstenhalters zu öffnen, und ließ ihn auf den Boden fallen. Als Nächstes streifte sie sich diesen Hauch von Nichts über den Hintern. Die Bänder rutschten ihre Beine hinunter und lagen wie das Zeichen für die Unendlichkeit um ihre Füße. Tamia kickte das Höschen vom Knöchel. Nun war sie völlig nackt. Anstatt sich zu schämen, bückte sie sich und wühlte in der unteren Schublade.
Das machst du doch extra. Ruben stieß zischend die Luft aus, lehnte sich an die Tür und starrte an die Decke. Langsam zählte er bis zehn, bevor er einen Blick wagte. Das Warten hatte sich gelohnt: Nun trug sie eine ordentliche Unterhose, die ihre Backen bedeckte. »Na endlich.«
»Gut Ding braucht Weile.«
»Wir sind spät dran.«
»Hab dich nicht so!« Tamia zwängte sich in eine mit Nieten und Reißverschlüssen versehene Lederhose; um den Busen schnallte sie sich einen breiten Gürtel.
Fassungslos starrte er sie an. Tamia sah aus wie diese Frauen in den teuren Hochglanzmagazinen. Vor zwanzig Jahren hätte er sicherlich ein Poster von ihr in sein Jugendzimmer gehängt. Nun war er aber vierunddreißig und Männer in seinem Alter sollten keinen jungen Mädels hinterhersabbern. »Du ziehst dir was über.«
»Nachts sind es dreißig Grad! Außerdem entscheide ich, was ich anziehe.« Tamia verschränkte die Arme vor dem nackten Bauch und strafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, der mit jeder Sekunde, die er schwieg, verlegener wirkte. »… Findest du es doof?«
»Nein, es ist nur …« Nervös fuhr er mit beiden Händen durch die Haare, denn ihre Unsicherheit verwirrte ihn. Er wollte Tamia beruhigen, er wollte ihr irgendetwas sagen, was Frauen in solchen Situationen gerne hörten. Komplimente gingen aber häufig nach hinten los. Wenn Mann sie nicht überzeugend vermittelte, wurden ihm die Worte im Munde umgedreht. Und plötzlich hieß es, dass die Frau zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu blass wäre … oder einfach hässlich aussähe.
»Ich wollte dir gefallen«, gestand sie mit leiser Stimme.
»Wir treffen meine Kumpels!« Und er wollte nicht, dass seine Freunde sie begafften. Die Erklärung schien Tamia nicht gut genug zu sein, denn sie setzte ein Lächeln auf, das ihre Enttäuschung nicht verbarg. Weiber, dachte er. Sag doch einfach, was los ist!
Sie drehte sich von ihm weg und fuhr mit der Hand durch die aufgehängten Jacken und Hemden in ihrem Spind, sodass die Bügel laut aneinander klackten. Sie war eindeutig wütend. Ruben verstand den Grund zwar nicht, aber sie in Rage zu sehen, war ihm angenehmer als das kleine, unsichere Mädchen, das ihm vor wenigen Minuten gegenüberstand.
Ruben schloss die Augen und versuchte sich in das Gefühlsleben einer Frau hineinzuversetzen. Warum war sie wütend? Er hatte doch nicht gesagt, dass er ihren Aufzug doof fand! Er hatte bloß gesagt, dass sie heute seine Freunde trafen. Warum interpretierten diese Wesen mit den homozygoten Geschlechtschromosomen auch jede Aussage negativ? Schließlich bemerkte er, verschwiegen zu haben, dass er sie verdammt heiß fand. »Es bedeutet bloß, dass dein Outfit für diesen Anlass nicht geeignet ist. Es ist nur, dass …«
Tamia fuhr herum. »Nur was?«
Innerhalb einer Millisekunde entfiel ihm der gesamte Wortschatz, er sah nur diese leidenschaftliche Frau vor sich. Die Augen funkelten erzürnt, die Schneidezähne gruben sich in ihre weichen Unterlippen, an der er zu gern nippen würde. Als hätten seine Hände ein eigenes Leben, legten sie sich an Tamias schmalen Hals und drückten sie gegen die Wand. Hart presste er seinen Mund an ihren und verlangte sofortigen Einlass. Sein Vorsatz, sich bloß ein paar »nette Stunden« mit ihr zu verbringen, bekam eine neue Bedeutung.
Tamia riss den Kopf zur Seite. »Ich bekomme keine Luft!«
Er hielt sie an die Wand gedrückt, während er in ihr Ohr raunte. »Nur dass ich keinen Bock habe, den ganzen Abend wie ein alter, geiler Sack dir sabbernd hinterherzulaufen. Erst recht nicht vor meinen Freunden.«
»Aha?« Ihre feste Stimme legte sich wie ein Strick um seinen Hals und drohte ihn zu erdrosseln.
Ruben drückte die Erregung in seinen Lenden gegen ihren Bauch. »Verstehst du es jetzt?«
»Ich gefalle dir?«, fragte sie ungläubig.
»Gefallen? Ich fall gleich tot um, weil kein Blut mehr mein Hirn erreicht.« Endlich ließ er von ihr ab, um sich zu beruhigen. »Beeil dich bitte. Wir kommen so was von zu spät!«
»Tut mir leid ... Ich hab voll lange überlegt, was du an mir mögen könntest.« Tamia schlang die Arme um seinen Bauch und legte ihre Wange an seinen Rücken. »Ich wollte nicht eingeschnappt sein.«
»Und ich wollte nicht so spitz wie nach einem halbjährigen Auslandsdienst sein.« Ruben löste sich von ihr und ging auf Abstand. »Es ist nicht besonders hilfreich, wenn du deine … Brüste an mich reibst.«
Wie der Mond die Erde umkreiste, folgte Tamia ihm und lief um ihn herum, bis sie ihm ins Gesicht lachen konnte. »Soll ich dir helfen, Druck abzulassen?« Sie streichelte über seine stoppelige Wange.
»Nein!«, herrschte er sie an, sodass sie erschrocken die Arme hochriss. Sanft fasste er ihr Handgelenk und küsste entschuldigend die Handfläche. »Sorry, Mia. Ich habe dich wieder angeschrien.« Testosteron machte aggressiv.
»Tamia.«
»Mehr als zwei Silben auf einmal kriege ich nicht über die Lippen«, begründete er, obwohl es ihm nur zufällig herausgerutscht war. »Gib mir fünf Minuten.«
»Ich dachte, wir haben es eilig?«
»Mia!« Ruben warf erst ihr, dann unauffällig der Beule zwischen seinen Beinen einen mahnenden Blick zu. So konnte er auf keinen Fall hinausgehen.
»Mia«, wiederholte sie nachdenklich. »Dafür brauche ich keine Jacke anziehen.« Tamia stellte sich an den Spiegel und öffnete ein Schminktäschchen. »Kannst ruhig wichsen. Ich guck dir nicht zu.«
Ruben verdrehte die Augen und setzte sich zum Warten auf ihr Bett. Es roch himmlisch nach seiner Lieblingssoldatin. Er biss sich auf die Zunge, damit der Schmerz ihn von seinen Fantasien ablenkte. Schließlich löste sich Tamia vom Spiegel und schnappte die Handtasche, die über dem Stuhl hing. Dann griff sie nach seiner Hand und zog ihn aus dem Zimmer. Ruben war verdutzt, plötzlich im Korridor zu stehen; die Soldaten, die dort neugierig warteten, starrten ihn genauso perplex an.
Ruhe bewahren, sprach er sich zu. Er zwang ein selbstsicheres Grinsen auf seine Lippen und gab Tamia einen Klaps auf den Hintern. »Vorwärts marsch.«