Ruiniertes Fest
Am nächsten Abend war die Stadt hell erleuchtet. Die Lampions warfen buntes Licht, das von den hellen Wänden der Gebäude zurückgeworfen wurde und in Kombination mit den Straßenlaternen und den beleuchteten Buden, an denen Händler ihre Waren anboten, wurde ein Lichtermeer erzeugt, das alles wirken ließ, als wäre es Tag. Als Daragh einmal den Kopf in den Nacken legte, kam es ihm vor, als wären alle Sterne verschwunden, was ihn nur darin bestärkte, dass es viel zu hell war.
Unter diesen Umständen konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass wirklich ein Dämon angreifen würde. Auch wenn es diesen eigentlich egal sein könnte, wann sie zuschlugen, da sie immerhin nicht erkannt werden würden, aber sie bevorzugten ganz offensichtlich die Nacht, was den Lazari nur recht sein konnte. Nur zu gern hätte er, zumindest einmal, in die Gedanken eines Dämons gesehen, um zu wissen, was darin vorging, aber leider war ihm das nicht möglich.
Während er noch immer die Betrachtung der nicht vorhandenen Sterne vertieft war, trat Marama neben ihm und sah ebenfalls hinauf. „Was siehst du da?“
„Gar nichts“, antwortete er. „Deswegen komme ich nicht davon los.“
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, das ausnahmsweise einmal ehrlich zu sein schien und nicht ihre übliche, starre Maske war.
„Man entdeckt am meisten, wenn man gar nichts ansieht“, sagte sie dann und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber jetzt komm, wir haben noch etwas vor. Erinnere dich an unseren Plan.“
Laut Zashis Vision würde der Angriff stattfinden, sobald die Tänze begannen, was, wie Marama erklärt hatte, um etwa Neun Uhr sein würde. Es war gerade kurz nach Acht Uhr, so dass ihnen weniger als eine Stunde blieb. Sie waren den ganzen Tag mit dem Schmieden von Plänen beschäftigt gewesen, deswegen war er noch nicht dazu gekommen, Raelyn zu besuchen – und so wie es aussah, würde er auch nicht mehr dazu kommen.
Marama führte ihn vorbei an all den Buden auf dem Hauptplatz, in denen allerlei Nahrungsmittel angeboten wurden, die Gerüche all dieser verschiedenen Gerichte vereinten sich zu einem überaus köstlichen Duft, der Daragh das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Aber Marama zog ihn einfach weiter, als er stehenzubleiben drohte.
Die Bühne, auf der später die Tänze stattfinden würden, war ebenfalls auf dem Hauptplatz aufgebaut, im Moment saßen dort aber nur die Arbeiter, die für den Aufbau verantwortlich gewesen waren und aßen. Es waren zwei junge Männer und eine Frau – und etwas an ihnen war so seltsam, dass selbst Marama für einen kurzen Moment stutzte, als sie die drei sah, dann aber schnell weiterlief und Daragh weiter mit sich zog.
„Glaubst du, sie haben etwas mit dem Dämon zu tun?“
„Nein“, erwiderte Marama. „Es sieht mir eher so aus, als ob sie mit Naturgeistern zu tun hätten.“
Daragh selbst war einem solchen noch nie begegnet, weswegen er das nicht bestätigen konnte, aber wenn sie es so sagte, musste es so sein, sie war mit Sicherheit bereits einem begegnet.
Da sowohl Lazari als auch Naturgeister die Welt vor Dämonen beschützten, kam es öfter vor, dass sie einander auf Missionen begegneten. Daragh war dabei die absolute Ausnahme, da er, zu seinem Bedauern, noch nie einen Naturgeist getroffen hatte.
Marama führte ihn schließlich in eine der Seitengassen, in der Zashi bereits mit dem Rücken gegen eine Wand lehnte und auf den Boden hinabsah. Außer ihm befanden sich nur einige Fässer hier, in denen sich Wasser aus den Regenrinnen sammelte, die zu dieser Jahreszeit aber nicht einmal zur Hälfte gefüllt waren.
Erst als Zashi die beiden kommen hörte, stellte er sich aufrecht hin und stemmte die Hände in die Seite. „Da seid ihr endlich. Hat Daragh zu lange die Sterne betrachtet?“
Keiner von ihnen antwortete, da er es ohnehin bereits wusste und warteten stattdessen darauf, dass er fortfuhr, was er auch sofort tat: „Marama und ich haben uns gestern die möglichen Gassen angesehen, in der dieser Dämon erscheinen wird.“
Bislang war es Daragh nicht bewusst gewesen, wie viele offenbar ähnlich aussehende Straßen es hier gab. Offenbar achteten die meisten wirklich nur auf die normalen Wege – und er gehörte eindeutig dazu. „Hast du jetzt gesehen, wer ihn beschwört?“
Zashis Visionen waren nicht immer gänzlich zuverlässig, deswegen war Flexibilität ein wichtiges Thema für sie und Daragh konnte die Male nicht zählen, bei denen sie fast gestorben wären, weil sie zu sehr auf die Verlässlichkeit vertraut hatten, nur um sich dann in eine Ecke spielen zu lassen. Manchmal, wenn er sich an besonders wichtigen Knotenpunkten des Schicksals – so nannte Zashi sie – befand, gelang es ihm allerdings, noch mehr von der Zukunft zu enthüllen und sowohl er als auch Daragh waren hoffnungsvoll gewesen, dass es auch diesmal so sein würde. Sie wussten zwar, dass jemand den Dämon rufen würde, aber nicht, um wen es sich dabei handelte – und dabei blieb es offenbar auch, denn Zashi schüttelte mit dem Kopf. „Da war gar nichts. Uns bleibt nur der Versuch, es zu verhindern oder den Dämon direkt anzufangen.“
„Lass mich raten: Es gibt mehr als drei dieser Gassen, also können wir gar nicht überall sein.“
Zashi lächelte ihm zu. „Richtig. Also sollten wir uns besser mal alle auf den Weg machen, damit wir rechtzeitig an unseren Punkten sind. Falls wir es nicht schaffen, den Dämon aufzuhalten, treffen wir uns auf dem Hauptplatz wieder.“
Daragh hoffte, dass es nicht so weit kommen müsste, damit die anderen Festbesucher ungestört blieben, aber er ging fast schon davon aus, dass sie es wirklich vermasseln würden – einfach nur weil es in sein Leben passte. Solange aber niemand verletzt oder getötet wurde, könnte er damit leben.
Er und Marama stimmten dem Plan also noch einmal zu und dann erst trennten sie sich alle voneinander, um ihre jeweilige Position einzunehmen.
Während Daragh wieder über den Hauptplatz lief, um zu seiner Gasse zu kommen, fragte er sich, ob er auf dem Weg wohl bei Raelyn vorbeikommen würde. Dummerweise wusste er nicht, wo sich ihr Stand befand.
Als er den Hauptplatz verließ, bemerkte er sofort, dass die drei, die vorhin auf der Bühne gesessen hatten, nun ebenfalls auf dieser Straße standen und sich leise flüsternd miteinander unterhielten. Unwillkürlich hielt er inne, um hinüberzusehen und herauszufinden, was vor sich ging.
Der Mann, der sogar blonde Strähnen in seinem braunen Haar hatte, seufzte gerade frustriert. „Das nächste Mal verlange ich genauere Anweisungen. Was denkt die sich nur dabei?“
„Du weißt doch, wie sie ist“, bemerkte die Frau und warf ihren Zopf zurück.
Der andere Mann, der ein rotes Stirnband trug, blickte zu Daragh hinüber und bemerkte offenbar, dass dieser ihrem Gespräch lauschte, denn er gab den anderen beiden flüsternd etwas zu verstehen, worauf sie sich ihm alle drei zuwandten.
Die Frau lachte nervös. „Hier ist gar nichts seltsam, wirklich.“
„Oh, sehr unauffällig, Nadia“, brummte der Mann mit den Strähnen, worauf sie sich ihm wütend zuwandte.
Um dem drohenden Streit zu entgehen, hob Daragh rasch die Hand, ehe er weiterging und endlich seinen Platz einzunehmen. Doch er war gerade einmal drei Schritte gelaufen und befand sich noch immer in Hörweite des Streits, als plötzlich ein lautes Brüllen erklang, gefolgt von den erschrockenen Schreien der bis dahin Feiernden.
Wie elektrisiert blieb er wieder stehen. Er hob den Kopf, um auf die Turmuhr zu blicken und bemerkte, dass es gerade einmal eine Viertelstunde nach Acht war. Eigentlich viel zu früh für den Angriff.
Die beiden Streitenden hielten ebenfalls inne, der Mann mit den Strähnen fluchte unverständlich. „Das sollte eigentlich nicht sein.“
Daragh ging zu den drei hinüber, statt sich direkt in den Kampf zu stürzen und vertraute einfach darauf, dass Marama und Zashi sich darum kümmern würden. „He!“
Sofort wandten sie sich ihm wieder zu, aber keiner von ihnen machte ihm den Eindruck, etwas mit dieser Sache zu tun zu haben. Dennoch war es seine Pflicht, diese Sache nicht einfach auf sich ruhen zu lassen und solange es noch andere Lazari vor Ort gab, war es kein Problem, dem nachzugehen. „Also, was wisst ihr über diesen Angriff?“
Der Tag verging, ohne dass Daragh vorbeikam – aber eigentlich war Raelyn sogar froh darum. Zum einen kam sie kaum zum Schreiben, da sie sich selbst andauernd ablenken ließ und zum anderen kamen ihr die Versuche, die sie machte, viel zu ungelenk vor. So etwas wollte sie ihm sicher nicht zeigen, besonders nicht, nachdem er sich so darauf gefreut hatte.
Stattdessen unterhielt sie sich mit den Händlern an den Ständen neben ihrem und zufällig vorbeikommenden Touristen, die sich besonders für die Bücher ihres Vaters interessierten.
Zumindest tat sie das, bis ein junger, schwarzhaariger Mann vor ihr stehenblieb und den Blick über den Stand schweifen ließ. Sie begrüßte ihn lächelnd, was von ihm ebenso erwidert wurde, ehe er den Kopf neigte. „Wo ist denn der Mann, der sonst an diesem Stand ist?“
Raelyn schloss das Buch, in dem sie, im hellen Licht des Lampions, geschrieben hatte und lächelte entschuldigend. „Mein Vater ist kurz nach dem Fest letztes Jahr gestorben. Warst du ... äh, ich meine, wart Ihr ein Freund von ihm?“
Gerade noch rechtzeitig fiel ihr Blick auf das Revers seines Hemds, wo eine kaum sichtbare Anstecknadel mit dem Wappen der Kavallerie von Király angebracht war. Auch wenn Gladshem weit weg von New Kinging war, kamen hin und wieder Kavalleristen vorbei – und diese sahen es wohl nicht sonderlich gern, wenn man sie respektlos behandelte. Zumindest besagten das die Gerüchte und sie wollte da lieber kein Risiko eingehen.
Er blinzelte allerdings irritiert, deswegen deutete sie auf die Nadel, so dass sein Gesicht sich wieder aufklärte. Rasch fuhr er mit der Hand darüber. „Oh, beachte das einfach nicht. Die trage ich ... einfach nur so.“
Sie lachte leise, worauf er ihr die Hand reichte und sich vorstellte: „Ich bin Nolan.“
„Raelyn“, erwiderte sie, als sie ihm die Hand schüttelte.
„Na ja, ich würde jedenfalls nicht sagen, dass dein Vater und ich befreundet waren, aber wir haben zumindest öfter miteinander gesprochen, wenn ich ihn auf dem Fest getroffen habe.“
„Das wird jetzt wohl nicht mehr funktionieren.“
Er lächelte überraschend charmant. „Bei einem so faszinierenden Ersatz ist das ein Gewinn für mich.“
Während Raelyn noch überlegte, ob sie das als Kompliment für sich oder als Beleidigung gegen ihren Vater betrachten sollte, wurde ihm offenbar bewusst, was er gerade gesagt hatte, denn er blickte sie sofort panisch an. „D-das meine ich nicht so! Also, ich meine ... mein Beileid.“
Seufzend ließ er den Kopf hängen, worauf sie erneut nicht anders konnte, als leise zu lachen und ihm dann zu versichern, dass es schon in Ordnung wäre. Darauf lächelte er glücklicherweise wieder. „Normalerweise funktionieren meine Sprüche besser.“
„Normalerweise verwendest du sie vermutlich nicht so unpassend. Außerdem habe ich ja nicht gesagt, dass es nicht funktioniert.“
Sie schob das Buch, in dem sie gerade geschrieben hatte, beiseite und stützte die Ellenbögen auf den Tisch. Er beugte sich ein wenig vor. „Wie wäre es, wenn ich uns etwas zu essen hole und wir das Gespräch dann bei einem Abendessen fortsetzen?“
Unwillkürlich musste sie an Daragh und seine Reaktion am Vortag denken, nachdem er sie mit einem Freund beobachtet hatte. Sicher würde er es nicht sonderlich gut finden, wenn sie jetzt mit einem quasi fremden Kavalleristen essen würde – aber warum sollte sie das eigentlich kümmern?
Ist ja nicht so, als wären wir ein Paar. Wir kennen uns kaum.
Und eigentlich glaubte sie inzwischen kaum noch, dass er vorbeikommen würde, nachdem er es den ganzen Tag lang nicht geschafft hatte. Also nickte sie Nolan lächelnd zu. „Das wäre wirklich großartig.“
Er zwinkerte ihr zu und richtete sich wieder auf. „Kommt sofort.“
Doch gerade als er sich abwandte, war vom Hauptplatz her ein lautes Brüllen zu hören. Sofort verstummten sämtliche Gespräche an den umliegenden Ständen, Nolans Gesicht wurde ernst, als er die Brauen zusammenzog. „Das ist kein neuer Programmpunkt, oder?“
„Ich glaube nicht.“ Ganz sicher war sie sich zwar nicht, aber da auch alle anderen überrascht verstummt waren, konnte es nicht sein, dass sie das bei der Planung einfach verpasst hatte.
Im nächsten Moment waren panische Rufe zu vernehmen, die ebenfalls vom Hauptplatz her kamen, was nun erst recht verriet, dass es sich um keinen Programmpunkt handelte.
Nolan griff an seinen Gürtel, fluchte dann aber leise, als er dort nichts vorfand, was Raelyn sagte, dass er bereits im Kavalleristenmodus war. Da es ihm aber nicht möglich war, zu kämpfen, überlegte er offenbar bereits, was er nun tun sollte.
„Ich glaube, wir sollten hier weg.“ Raelyn stand auf und nahm das Buch an sich, um es keinesfalls zu vergessen.
Nolan horchte auf und sah zu ihr hinüber, dann nickte er lächelnd. „Du hast recht. Und mach dir keine Sorgen, ich bringe dich schon in Sicherheit.“
„Ohne Waffe?“
„Ich kriege das schon hin.“ Er wirkte derart zuversichtlich, dass sie es ihm sogar glauben konnte.
Also kam sie hinter ihrem Stand hervor und nickte ihm dann zu. „Dann vertraue ich dir.“
Dafür gab es zwar keinen Grund, aber etwas an Nolan wirkte derart ruhig und verlässlich, dass man ihm sofort alles anvertrauen wollte – fand Raelyn zumindest. Wenn sie Daragh gefragt hätte, wäre es diesem sogar möglich gewesen, ihr die Begründung dafür zu verraten, aber an diesen dachte sie im Moment nicht einmal.
Stattdessen folgte sie Nolan, der bereits nach ihrer Hand gegriffen hatte. Dabei bemerkte sie nicht, dass ein in der Dunkelheit kaum zu erkennendes Wesen auf einem der Häuserdächer saß und sie beide mit glühenden Augen beobachtete.