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Broken Genius

von

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Kammermusik

Nach drei Tagen ging ich wieder zu Seto. Ein letztes Mal Therapie, bevor er morgen seinen Gips loswurde. Ich ging erst abends zu ihm, denn ursprünglich hatten wir ja abgesprochen, dass ich erst am nächsten Tag zu ihm kam, um ihm morgens die letzte Massage zu geben. Aber ich war so aufgeregt, dass er den Gips tatsächlich loswurde und ich vermisste ihn wahnsinnig. Ich hatte es einfach nicht ausgehalten, zuhause zu bleiben. Bestimmt fieberte er selbst auch dem nächsten Tag entgegen und dabei könnte ich ihm vielleicht die Wartezeit ein wenig verkürzen.

Hinzu kam ja auch noch, dass mir langsam die Zeit davonlief. Wir hatten nie darüber gesprochen, aber was war, wenn er den Gips nicht mehr brauchte? Dann wären auch die Massagen überflüssig und ich hätte keinen Vorwand mehr herzukommen. Also musste ich heute mein Glück versuchen und hoffen, dass er Lauren inzwischen weit genug überwunden hatte, um für meine Avancen offen zu sein.

Als ich durch die Flure zu seinem Zimmer lief, vernahm ich Musik. Der Klang eines Klaviers drang an mein Ohr. Spielte Seto etwa? Ich verstand ja nicht viel davon, aber für jemanden, der seit 14 Jahren spielte, klang das ziemlich stümperhaft. Oder es war Kunst.

So lautlos wie möglich schlüpfte ich ins Zimmer. Seto saß wirklich vor dem Klavier, allerdings schien er nicht selbst zu spielen. Sein Blick hing konzentriert an den Tasten, wirkte nicht ganz zufrieden. Mich schien er gar nicht wahrzunehmen.

„Hand eins: spiel drei.“, sagte er laut. Und schon erklang eine andere Melodie als davor, allerdings genauso unmelodisch. Die Tasten wurden nicht so schnell hintereinander angeschlagen, dass eine flüssige Melodie entstand.

Vorsichtig trat ich näher. Mir entkam ein Laut der Verblüffung, als ich sah, wer da spielte. Die beiden Skeletthände saßen an verschiedenen Stellen des Klaviers und die eine drückte auf die Tasten, schlug immer wieder die gleiche Reihenfolge an.

„Anscheinend hast du die Software doch schon erhalten.“, stellte ich fest. Und nicht nur das, er hatte die Hände damit sogar schon programmiert.

Seto zuckte zusammen, als ich ihn so unvermittelt ansprach. Er sah mich an, als fragte er sich, wo ich denn plötzlich herkam. Trotzdem war sein Blick ganz klar, kein Erfindermodus.

„Hand eins: Stopp!“ Die Musik verklang und das Modell stagnierte auf den Tasten. „Was machst du denn hier?“, fragte er verwirrt. „Waren wir verabredet?“

„Nein nein.“ Ich lächelte ihn unbekümmert an, doch innerlich fragte ich mich gerade, ob er über meinen Besuch überhaupt erfreut sein würde. „Ich dachte nur, ich leiste dir am letzten Abend mit Gips Gesellschaft, damit die Zeit schneller vergeht.“

Er sah mich schief an. „Warum sollte sie denn langsamer vergehen?“

Stimmte wohl. Er war ja anscheinend gut beschäftigt, was brauchte er da meine Gesellschaft? Irgendwie kam ich mir jetzt blöd vor. „Ungeduld?“, fragte ich kleinlaut.

Da blitzten seine Augen auf. „Ich nehme an, nicht ich bin hier der Ungeduldige.“

„Scheint mir auch so.“ Trotzdem nahm er es locker auf und ein schwaches Lächeln, das bei ihm ziemlich anziehend wirkte, erschien auf seinen Lippen. Vielleicht freute er sich ja doch, dass ich vorbeigekommen war.

„Du scheinst schon gut vorangekommen zu sein.“ Ich deutete auf die Hände.

„Als gut würde ich das nicht bezeichnen.“ Er blickte wieder zum Klavier, knirschte leicht mit den Zähnen. „Die Software zu programmieren, ist nicht so leicht.“

„Aber die Hände reagieren doch aufs Wort.“

„Mit zu langsamen Bewegungen allerdings. Vielleicht bräuchten sie stärkere Prozessoren dafür.“

Ich fand es erstaunlich, dass sie überhaupt reagierten, aber Seto wirkte sichtlich unzufrieden mit dem Resultat.

„Ich wollte ihnen Bewegung durch Klavierspielen beibringen, aber es klappt nicht so recht.“ Er seufzte frustriert. „Schon wieder der gleiche, blöde Fehler wie bei dem Fuß. Ohne Arme können sie nur etwa eine Oktave spielen.“

Darüber konnte ich nur schmunzeln. Solche Kleinigkeiten übersah er gern, weil er sich so auf die Details fixierte. Irgendwie süß.

„Es sind doch nur Prototypen.“, meinte ich sanft. „Alle Fehler, die du jetzt erkennst, kannst du ja auch ausbessern.“

„Soll ich etwa Arme bauen?“ Verständnislos sah er zu mir.

„Irgendwann mal, wieso nicht?“ Unter seinem skeptischen Blick setzte ich mich neben ihn auf die Klavierbank. „Welches Lied wolltest du den Händen beibringen?“

„Kein Bestimmtes. Nur eine kleine Melodie, aber wie gesagt, die Bewegungen sind zu langsam.“ Er legte die rechte Hand aufs Klavier neben das Modell. „Hand eins: spiel zwei.“

Die Skeletthand schlug wieder die Tasten an, spielte langsam einen Ton nach dem anderen. Setos Hand dagegen schien die gleiche Tonabfolge um eine Oktave versetzt zu spielen, allerdings flüssiger und schneller. „Siehst du den Unterschied?“, fragte er.

Ich nickte. Er spielte auch nicht schnell, aber der Unterschied im Tempo zwischen ihm und dem Modell war schon verdammt offensichtlich. Nicht nur das, bei der Skeletthand sahen die Bewegungen fast schon schwerfällig aus, bei Seto dagegen federleicht, als würde er die Tasten gar nicht richtig berühren.

„Hand eins: Stopp!“, sagte ich, freute mich, dass das Modell auch auf mich hörte. Unter Setos irritiertem Blick nahm ich die Hand vom Klavier und betrachtete sie. „Du hast ihr Schühchen angezogen?“, fragte ich schmunzelnd. Tatsächlich befand sich an jedem Finger ein kleiner Stoffschuh. Irgendwie niedlich. „Hast du die auch selbst gemacht?“

„Als könnte ich nähen.“ Er nahm das zweite Konstrukt an sich. Auch dem hatte er winzige Schuhe angezogen. „Die Dinger hab ich ein paar von Mokubas Sammelfiguren geklaut. Ich kann ja schließlich nicht zulassen, dass die Hände meine Tasten zerkratzen.“

„Ist das Klavier denn wertvoll?“

Er zuckte vage mit den Schultern. „Kommt drauf an. Das hier ist ein Blüthner Klavier aus dem 19. Jahrhundert. Für ein Konzert wäre es wohl ungeeignet, aber es hat einen Sammlerwert und einen charakteristischen Klang, den ich persönlich sehr schätze. Wenn es um den materiellen Wert geht, ist sicherlich der originale Steinway in der Empfangshalle höherwertig, aber was soll man mit einem Konzertflügel in einem Zimmer?“

Ich verstand nicht genug von Klavieren, um ihm zu folgen. „Klingt das Klavier in der Vorhalle denn anders?“

„Es ist größer und klangvoller. Damit kannst du eine ganze Halle mit Musik erfüllen. Das hier ist eher für Kammermusik.“ Seine Hand strich andächtig über die Tasten.

„Was kannst du darauf spielen?“

Er bedachte mich mit einem schiefen Blick, als fände er die Frage merkwürdig. „Man kann alles auf einem Klavier spielen.“

Ich runzelte die Stirn. „Also könntest du jedes Lied, wenn ich dir die Noten dazu besorge?“

„Naja, es wäre vielleicht besser, du lässt mich das gewünschte Lied einmal hören.“, meinte er ausweichend. „Noten lesen ist nicht gerade meine Stärke.“

Er konnte Klavier spielen, aber keine Noten lesen? Wie ging das denn? Trotzdem begeisterte mich die Erkenntnis, dass er dann einfach nach Gehör arbeiten konnte. „Könntest du etwas für mich spielen?“ Schon seit ich das Klavier das erste Mal gesehen hatte, hoffte ich auf eine Hörprobe.

„Bist du denn musikalisch interessiert?“

Naja, eigentlich war ich das nicht. Ich kannte mich in der Richtung nicht wirklich aus, sondern ging eher danach, was gut für mich klang. Trotzdem nickte ich einfach mal.

Er überlegte einen Moment, ehe er entschlossen seine Hände auf dem Klavier positionierte. Dann spielte er. Seine Finger glitten mit einer bewundernswerten Leichtigkeit über die Tasten.

„Für Elise, das kenne ich.“, rief ich erfreut.

„Ein Klassiker für jeden Pianisten.“

Ja, das hatte ich auch mal gehört. „Wie Smoke on the Water für Gitarristen, richtig?“

Er nickte.

„Kannst du auch etwas anderes spielen? Vielleicht etwas schnelleres?“ Ich wollte einfach sehen, wie gut er wirklich war.

„Sicher.“ Er schlug eine andere Melodie an und jetzt flogen seine Finger regelrecht über die Tasten, so schnell, dass ich ihnen mit den Augen kaum folgen konnte. Bei ihm sah das so mühelos aus, auch mal über Kreuz zu spielen.

„Die eigentliche Kunst des Klavierspielens liegt allerdings nicht darin, schnell zu spielen.“, bemerkte er. Er sah mich an, während seine Finger weiter in dieser Rekordgeschwindigkeit tanzten. Er ließ es wirklich so aussehen, als wäre es kinderleicht, wenn er nicht mal hinschauen musste. „Die Kunst ist, mit Gefühl zu spielen, dem Zuhörer eine Stimmung zu vermitteln.“

Die Melodie wurde leichter und beschwingter, klang fröhlich, so dass ich das Gefühl hatte, dazu tanzen zu können.

„Wenn du gut darin bist, kannst du den Zuschauer von höchster Extase in tiefste Trauer stürzen lassen...“

Jetzt spielte er langsamer, die Melodie wurde schwer und düster, richtig erdrückend und traurig.

„... und ihn dann wieder in ein Hochgefühl bringen.“

Das Lied wurde wieder heller und fröhlicher, klang wie ein Happy End nach dem dramatischen Höhepunkt. Verdammt, das hatte er wirklich gut drauf. Wenn er spielte, riss mich die Melodie einfach mit und er wusste sehr genau, wie er damit Emotionen beim Zuhörer wecken konnte. Aber am erstaunlichsten fand ich, dass er dabei die ganze Zeit mit mir Blickkontakt halten konnte und kein einziges Mal auf die Tasten schauen musste. Als würde er das Klavier blind kennen.

„Du hast wahnsinnig schöne Hände.“, hauchte ich. Wahrscheinlich war das nicht die Reaktion, die er erwartet hatte, aber es platzte einfach aus mir heraus. Und es stimmte doch. Große, geschmeidige Hände mit schönen, langen Fingern und ausgeprägten Knöcheln, die wahnsinnig elegant über die Tasten tanzten. Selbst die noch nicht verheilte Wunde an seinem Daumen änderte nichts daran.

Er hielt inne in seinem Spiel, runzelte die Stirn. „Weil ich Klavier spielen kann?“

„Weil sie kräftig und trotzdem so unglaublich gefühlvoll sind.“ Wie erregend musste es sein, von solchen Händen gestreichelt zu werden? „Richtige Pianistenhände.“

Er neigte verständnislos den Kopf, als fragte er sich, was ich ihm damit sagen wollte. „Ob man spielen kann oder nicht, liegt wohl eher an der Übung und nicht an den Händen, oder?“

Innerlich schlug ich den Kopf gegen eine imaginäre Wand. „Ich meinte es als Kompliment.“, erklärte ich ruhig. „Ich wollte nur sagen, dass du sehr schöne Hände hast.“

Sein Blick glitt zu seinen Fingern, die nach wie vor auf den Tasten ruhten und dann wieder zu mir. So ganz schien er es immer noch nicht einordnen zu können, denn er sah mich einfach nur nachdenklich an.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?“

Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verwirrst du mich nur.“

„Inwiefern?“, fragte ich erstaunt.

„Weiß nicht.“ Ein wenig betreten senkte er den Blick wieder auf die Tasten. Langsam bewegten sich seine Finger wieder darüber, spielten eine leise Melodie. Versuchte er wegzulenken, weil ihm das Thema auf einmal unangenehm wurde? Immerhin hatte er ja gerade eingestanden, dass er mich nicht richtig einschätzen konnte. Allerdings wusste ich gerade nicht, ob das wirklich positiv war. Bei allem, was sich seinem Verständnis entzog, machte er nämlich sehr schnell dicht und er hatte ja schon zu Lauren auf dem Balkon gesagt, dass er mich nicht verstand. Verdammt, meine Taktik ging nicht auf.

Ich versuchte, das Thema wieder in für ihn angenehmere Bahnen zu lenken. „Unabhängig von den Händen scheinst du zumindest Talent zu haben.“

„Ich denke, das hat weniger mit Talent als mit Übung zu tun. Ich spiele seit vierzehn Jahren, da verinnerlicht man das natürlich. Und kaum ein Instrument ist wohl so leicht zu lernen wie das Klavier.“

War Klavierspielen etwa genauso ein Tabuthema wie die Erfindungen? Konnte er dahingehend auch keine Komplimente vertragen? Ich wollte schon innerlich die Augen verdrehen, als er fortfuhr.

„Ich habe allerdings ein exzellentes Gehör, ein perfektes Rhythmusgefühl und ein überragendes, musikalisches Verständnis.“, fügte er schon ein kleines bisschen stolz hinzu. „Von daher würde ich sagen, dass ich durchaus ein gewisses musikalisches Talent habe, das mir erlaubt, nicht nur technisch perfekt zu spielen.“

Ah, doch kein Schwachpunkt. „Das definitiv.“

„Ist allerdings auch nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, dass mathematisches und musikalisches Verständnis mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zusammenhängen.“

„Also sind Musiker auch gute Mathematiker?“ Bei ihm traf es ja zu, denn er war ein verdammtes mathematisches Genie.

„Nicht immer, aber überdurchschnittlich häufig.“

„Ich finde, du spielst wirklich sehr gefühlvoll.“, sagte ich sanft.

Auch dieses Kompliment nahm er mit einem leichten Stirnrunzeln auf, und diesmal bildete ich mir sogar eine winzige Röte auf seinen Wangen ein. Irgendwie schienen meine wohlmeinenden Worte heute einfach nicht den gewünschten Effekt zu haben.

Ich biss mir auf die Unterlippe. So ein Mist! Ich wollte ihn doch für mich gewinnen, aber wie, wenn ihn jedes liebe Wort verschreckte. Mir lief die Zeit davon und er drohte, dichtzumachen, sobald ich auch nur das leichteste Lob aussprach. Wie sollte ich ihn da bezirzen oder auch nur ansatzweise verführen können?

„Gosaburo hat den Steinway in der Vorhalle gekauft.“ Anscheinend wollte er mein Kompliment einfach überspielen, also ging ich darauf ein.

„Ich dachte, er wollte dir alles, was mit Gefühl zu tun hat, austreiben.“, murmelte ich. „Wieso hat er das Klavier dann zugelassen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Er mochte den Klang, aber hatte selbst kein musikalisches Verständnis. Er hat nie begriffen, wie es ist, zu spielen.“

Also war das eine kleine Zufluchtsstätte für ihn gewesen unter diesem eiskalten Tyrannen.

„Außerdem ist ein Klavier in diesen elitären Kreisen natürlich ein sehr angesehenes Instrument, besonders wenn man sich auch noch so ein edles Exemplar leistet.“ Er schaute konzentriert auf die Tasten, als wollte er mich dabei einfach nicht ansehen. „Ein Kind, das Klavierspielen kann, erweckt einen gebildeten und disziplinierten Eindruck. Deswegen hat er mich oft für seine Gäste spielen lassen.“

„Zum Präsentieren?“

Er nickte. „Solange es ihm Vorteile verschafft hat oder repräsentativ war, duldete er es. Wie das Schwimmen ja auch. Solange ich immer schön gewonnen habe, konnte er sich mit seinem erfolgreichen Ziehsohn rühmen.“

Also stand immer Erfolgsdruck dahinter. Das erklärte auch, warum er immer so aufs Gewinnen fixiert war. Immerhin wurde er ja anscheinend auch darauf getrimmt. Zum Glück war er ein mental sehr starker Mensch und hatte sich dadurch weder Klavierspielen noch Schwimmen verleiden lassen. Seto hatte wirklich schon harte Zeiten durchlebt. Umso inniger war mein Wunsch, dass er glücklich wurde, am besten mit mir.

„Musik kann für Nichtkenner ziemlich trocken und langweilig sein.“, erklärte er. An zu intimen Themen hielt er sich nicht lange auf. Also würde ich einfach akzeptieren, was er bereit war, zu erzählen, während er jetzt wieder eine leise Musik spielte.

„Ach was.“, meinte ich lahm. Auch wenn er recht hatte.

„Chopin zum Beispiel ist ziemlich schwere Kost. Nicht gerade interessant für den Zuhörer.“

„Hm.“ Es stimmte schon, das Lied, das er gerade spielte, war bestimmt ein Meisterwerk von irgendeinem Meister, aber privat würde ich mir das nie anhören. Mich interessierten nur seine schlanken Finger, die so geschickt über die Tasten glitten.

„Dich scheint die Musik auch nicht sonderlich anzusprechen.“ Er bedachte mich nur mit einem flüchtigen Blick, ehe er wieder auf die Tasten schaute.

„Doch doch.“, meinte ich schnell. „Du spielst sehr schön, wirklich.“

„Schön spielen hat damit nichts zu tun. Hättest du Ahnung, wüsstest du, dass diese Nummer ein wahnsinnig hohes spielerisches Niveau verlangt.“ Er schlug eine hellere Melodie an. „Allerdings macht Niveau das Stück auch nicht interessanter.“

Woran sollte man das erkennen? Egal, was er spielte, bei ihm wirkte einfach alles so mühelos.

„Mein Vater meinte immer, durch Musik kannst du den Zuhörer zum Träumen verleiten oder zum Nachdenken bringen, alles nur durch eine kleine Melodie.“, erklärte er.

Sein Vater? Von dem sprach er nicht gerade oft. „Zum Träumen?“, fragte ich erstaunt.

Er nickte. „Wenn du dem Zuhörer eine Geschichte gibst, die er sich zu der Musik denken kann, dann kann er sich besser darauf einstellen.“

„Klingt zumindest interessant.“ Und alles, was mir half, ihn besser zu verstehen, war einen Versuch wert.

„Schließ die Augen und ich zeig es dir.“

Gehorsam folgte ich seinen Anweisungen.

„Atme tief und entspannt.“ Sein Spiel wurde leise, beruhigend weich. „Stell dir einen kleinen See vor. Die Ufer sind naturbelassen und zugewuchert.“

Vor meinem inneren Auge versuchte ich mir vorzustellen, was er beschrieb. Ein kleiner See mitten im Wald. Am Ufer wuchs Schilf und hohes Gras. Einige Bäume streckten ihre Kronen bis über das klare Wasser, in dem kleine Fische schwammen. Die Musik beschrieb eine friedliche Atmosphäre, obwohl die Melodie recht hell war.

„Hast du ein Bild?“

Ich nickte, konzentrierte mich genau auf meine Fantasie.

„Der See wird jetzt den Wandel der Jahreszeiten durchleben.“ Seine Stimme war ein sanftes Hauchen, das mir angenehme Schauer über den Rücken jagte. „Sei einfach offen dafür, die Melodie wird dich leiten.“

Ich konnte mir schwer vorstellen, dass das funktionierte, aber ich wollte es probieren. Andächtig lauschte ich der Musik. Immer die gleiche, helle Melodie. Langsam setzte dazu eine zweite Melodie ein, die wohl den Wandel darstellen sollte. Ich versuchte, sie zu interpretieren und mein inneres Bild anzupassen.

Langsam wurde das Gras am Ufer dunkler und die Blätter an den Bäumen grün, gelb und rot. Schließlich wurde die bunte Pracht der Kronen braun und fiel zu Boden. Einzelne Blätter landeten auf die Wasseroberfläche und tanzten darüber. Zurück blieben kahle Bäume.

Die Melodie wurde erst schwerer und stiller, dann dunkler und bedrohlicher. Langsam fror der See ein und Schnee breitete sich am Ufer aus. Durch die Luft tanzten Schneeflocken, entwickelten sich zu einem eisigen Sturm. Innerlich fröstelte ich, war froh, als die Musik leichter wurde, und damit auch der düstere Himmel über meinem kleinen See wieder aufklarte.

Der Schnee schmolz und unter dem starren Eis erwachte wieder Leben. Von einem über die Oberfläche gebeugtem Schilfhalfm fielen einzelne Wassertropfen auf die noch gefrorene Fläche. Als das Eis schmolz, tropften sie in den See, direkt über einem Fisch, der seine Bahnen durch den neu erwachten See zog. Auch am Ufer vorbei an frisch erblühten Blumen, von denen ein kleiner Schmetterling seinen Rundflug über das Gebiet startete.

Je länger Seto spielte, desto mehr schien meine Fantasie auszuufern, immer detailierter zu werden. Ich erkannte sogar kleine Hasen am Ufer, die zum Trinken kamen. Als die Melodie abrupt endete, erschrak ich regelrecht.

„Und?“ Neugierig musterte er mich, als ich die Augen öffnete.

„Wahnsinn!“ Ich erzählte ihm von meinen Eindrücken. Je mehr ich berichtete, desto mehr begannen seine Augen zu leuchten. Anscheinend begeisterte ihn das wirklich.

„Erstaunlich, dass du wirklich so viel hineininterpretieren kannst.“

„Das hat mir deine Musik doch vorgegeben.“

Er lächelte schwach. „Ich habe dir ein Bild und eine Idee gegeben, aber wie deine Gedanken durch die Musik wandern, kann ich nicht beeinflussen.“ Allerdings schien es ihn zu freuen, dass er meine Fantasie geweckt hatte.

„Hm.“ Das stimmte wohl. Wie blöd, zu glauben, er könnte meine Gedanken mit der Musik steuern. Er hatte mir nur eine Richtung vorgeschrieben und ich war ihr bereitwillig gefolgt. „Trotzdem hätte ich dir noch stundenlang zuhören können.“ Mein schöner, kleiner See war vor meinem geistigen Auge wirklich lebendig geworden. Eine tollte Erfahrung.

„Ab und an ist es ganz entspannend, zu spielen.“, meinte er. „Normalerweise bin ich zu eingespannt in der Firma, um Zeit dafür zu finden.“

„Steht deine Firma denn noch?“

„Natürlich steht sie noch!“ Er bedachte mich mit einem misstrauischen Blick. „Warum? Hast du etwas anderes gehört?“

„Nein.“ Ich musste lächeln. „Und das, obwohl du seit so vielen Wochen nicht mehr da warst.“

Er verdrehte genervt die Augen und zugleich wurden sie um einiges kühler. Oha, schlechtes Thema. „Ich bin nicht unabdingbar, schon klar. Das weiß ich auch so!“ Schnaufend nahm er mir die Skeletthand ab, die ich bis jetzt gehalten hatte, stand auf und stellte beide Modelle auf seinen Schreibtisch. „Ich verbringe so viel Zeit in der Firma, wie mir selbst angemessen erscheint, aber ich lebe da nicht wie die Medien immer so schön behaupten.“

Mir war es immer so vorgekommen, dass er seine gesamte Freizeit in der Firma verbrachte. Aber was wusste ich schon? Ich hatte ja gar keinen Einblick in seinen normalen Tagesablauf. „Dir scheint aber schon viel Zeit angemessen zu sein, oder?“

Er bedachte mich mit einem äußerst giftigen Blick. Anscheinend passte ihm das Thema gar nicht. So distanziert hatte er mich schon lange nicht mehr angesehen und das ausgerechnet heute. Mir lief doch so schon die Zeit davon.

„Massage?“, fragte ich kleinlaut. Verdammt, seine Funktion als Firmenchef war ihm wichtig und Kritik daran konnte er gar nicht vertragen. Warum hatte ich damit nur angefangen? Ich musste ihn ablenken.

„Du hast keine Ahnung, was überhaupt mein Job ist oder was ich mache, wenn ich in der Firma bin.“ Sein Blick war kalt, regelrecht erzürnt. „Ob du es glaubst oder nicht, meine Arbeit hat viele Aspekte, mit denen ich mich gern beschäftige. Es ist nicht nur trockener Schreibkram.“

Er hatte also Freude an seiner Arbeit? Das hätte ich wirklich nie vermutet. Allerdings war es jetzt zu spät, darüber nachzudenken, denn er wirkte sichtlich erbost darüber.

„Es tut mir leid, okay?“

Entnervt fuhr er sich durchs Haar. „Vielleicht solltest du gehen.“

Oha, er war wirklich sauer. So ein Mist! Nur durch eine unbedachte Bemerkung verspielte ich hier meine letzte Chance. Das durfte einfach nicht sein!

Energisch stand ich auf und schritt auf ihn zu. „Es tut mir wirklich leid.“ Ich sah ihm eindringlich in die Augen, die gerade so kühl wirkten. „Es war dumm und unbedacht von mir, zu glauben, ich könnte deine Arbeit beurteilen.“

Ich meinte es absolut aufrichtig. So ein Urteil stand mir ja gar nicht zu. Trotzdem blieb sein Blick abweisend und er verschränkte die Arme vor der Brust, absolute Abwehrhaltung.

Mir blieb nur, es mit absoluter Ehrlichkeit zu versuchen. „Als Firmenchef wirkst du immer so streng und gereizt, als würde dich alles nerven. Du hast recht, ich weiß wirklich nicht, was deine Aufgaben sind, ich bin nur nach dem gegangen, was ich wahrgenommen habe. Und du musst zugeben, dass du immer in der Firma warst, wenn irgendetwas war und wir dich gesucht haben.“

Er knurrte leise, aber immerhin wurde sein Blick eine kleine Nuance weicher.

„Ich habe dich privat kennengelernt, so völlig anders als dein Firmenchefimage. Nimm es mir nicht übel, aber da ist der Gedanke, dass du Freude an deiner Arbeit hast, etwas überraschend.“

„Trotzdem ist das allein meine Sache!“

Ich nickte eifrig. „Deine Firma geht mich nichts an, schon klar.“

„Exakt.“ Nur langsam ließ er seine Abwehr wieder sinken, aber immerhin tat er es.

„Du könntest mir davon erzählen.“, meinte ich etwas sanfter. Als er damals in der Limousine so sauer gewesen war, hatte es auch geholfen, ihn zu besänftigen. „Wie wäre es, wenn wir uns auf die Couch setzen, ich dir den Rücken massiere und du mir von deiner Arbeit erzählst?“

Er starrte mich einen Moment durchdringend an, dachte angestrengt nach. War er unschlüssig? Für einen kurzen Moment machte es den Anschein, als wollte er etwas sagen, aber schließlich schüttelte er einfach nur unmerklich den Kopf. Erneut verschränkte er die Arme vor der Brust und trat einige Schritte zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. „Es ist doch schon recht spät.“, meinte er nur.

Die indirekte Bitte zu gehen. Mist! „In Ordnung.“ Ich seufzte geschlagen. „Ist es dir recht, wenn ich dich morgen trotzdem zum Arzt begleite?“

„Wie du willst.“ Bei ihm klang es völlig gleichgültig. Er schenkte mir kaum noch Beachtung, sah einfach an mir vorbei.

„Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.“, meinte ich leise. Letzter Versuch.

Er wandte mir den Rücken zu, starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Bist du nicht. Ich muss nur... nachdenken.“

„Worüber?“ Irritierte ich ihn immer noch so sehr? Ich hatte doch diesmal wirklich ganz offen und ehrlich versucht, auf ihn zuzugehen. Ohne taktieren.

„Einiges.“ Er schüttelte leicht den Kopf, ehe er wieder zur mir sah. „Wenn du morgen unbedingt mitkommen willst, kannst du meinetwegen eines der Gästezimmer benutzen. Mokuba kann dir sicherlich eines zeigen.“

„Okay.“ Niedergeschlagen verließ ich sein Zimmer. Da war heute eh nichts mehr zu retten. Vielleicht konnte ich es als winzig kleinen Erfolg verbuchen, dass er mir anbot, hier zu übernachten. Anscheinend war er sich nicht ganz schlüssig, ob ich wirklich gehen oder bleiben sollte, also das Gästezimmer als Kompromiss. Das war aber auch schon alles Positive. Morgen war meine letzte Chance, ihn von mir zu überzeugen und die Zeichen standen momentan nicht gut.

Auch ohne Mokubas Hilfe fand ich das Gästezimmer wieder, in dem ich schon einmal übernachtet hatte. Es war mit einem großen, weichen Bett ausgestattet, aber ich bezweifelte, dass ich diese Nacht viel Schlaf bekommen würde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, die Entscheidung rückt näher. Im nächsten Kappi bahnt sich endlich der große Höhepunkt an. Seid gespannt. ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von: abgemeldet
2014-12-29T15:57:54+00:00 29.12.2014 16:57
Man, Joeys Fantasie ist ja großartig schön. Der Wechsel der Jahreszeiten und die Details. Hach, herlich.
Ein schönes Kopfkino.
Ich hoffe, das endlich einer von beiden seine Gefühle zum anderen ausspricht im nächsten Kapitel. Oder vielleicht etwas mehr.^^
Von:  losichou93
2014-11-25T13:01:23+00:00 25.11.2014 14:01
Wirklich ein schönes und vor allem tiefsinniges Kapitel. Seto hatte es wirklich nicht leicht und so wie du ihn beschreibst kann man wirklich mit ihm fühlen.
Nur einer der beiden muss ja mal über seinen Schatten springen sonst wird das nie was.
Freu mich schon aufs nächste kappi ^^
Von:  JK_Kaiba
2014-11-24T17:06:35+00:00 24.11.2014 18:06
Hi,

wieder sehr schönes Kapitel. Besonders das Gespräch zwischen Seto und Joey, wo Seto ihm all das erzählt, was ja auch zeigt das er ihm irgendwie doch schon vertraut. Nur muss Joey wohl mal deutlich zeigen, was er will, denn so verwirrt er Seto nur, sieht man ja wie er die Komplimente nicht einzuordnen weiß. Aber ist ja auch verständlich, nicht nur weil Joey ein Mann ist, sondern auch weil sie sich bisher immer gestritten hatten...
Da ist Joey ihm aber zu nahe getreten mit der Firma, aber auch nachvollziehbar, das er sich da in seinem Stolz angegriffen fühlt...

Finde du stellst Setos Gefühlwelt schon gut da, so nach dem Sprichwort harte Schale, weicher Kern, was finde ich bei ihm auch zu trifft und du ihm nicht nur in dieser Geschichte jetzt "andichtest"

Bin mal gespannt wie es weitergeht und über was Seto alles nachdenken muss...^^
Von:  Kemet
2014-11-24T01:04:08+00:00 24.11.2014 02:04
Sehr schönes und vor allem tiefes Kapitel. Nicht nur, dass es eine Seite an Seto Kaiba zeigt, die man sich trotz aller Widrigkeiten und Charakteristiken durchaus vorstellen kann, sondern es zeigt auch, dass er nicht perfekt ist. Seine Gefühlswelt ist eine Baustelle, wenngleich eine sehr aufgeräumte. Was ich nicht kenne und was schwer für mich zu erfassen ist, schiebe ich zur Seite.
Kaiba ist nicht sensibel, aber ziemlich unwissend. Zumindest was das betrifft.

Die Musik ist genau das, als was Kaiba sie beschreibt. Sie leitet einen, erzählt eigene kleine Geschichten und doch stammen all die Bilder und Empfindungen von einem selbst. Wahnsinnig schön beschrieben. Ein Kapitel zum Träumen.

Für mich stellt sich aber weniger die Frage: HAT Kaiba Gefühle? Ich denke eher, dass er lernen muss seine Eigenen so zu verpacken, dass er sie für sich versteht. Egal ob freundschaftlich oder aber auch liebend. Alles mit dem Aspekt behaftet, dass sein Verhältnis zu Joey ein gänzlich Anderes geworden ist - Schon jetzt.
Beide sind für sich sehr starke, facettenreiche Charaktere. Das ist es, was sie in ihrer Komplexität so dermaßen passend füreiander macht. Diese Eigenschaften gibst Du wunderbar wider, weswegen Deine Geschichte, wenngleich sie auch fast schon beschwingt trivial den Alltag beleuchtet, eine sehr große Tiefe aufweist. Die Nähe, die Wünsche, aber auch der Weg sich diese zu erfüllen.

Ich freue mich sehr auf das nächste Kapitel. :)
Von:  Niua-chan
2014-11-23T21:45:50+00:00 23.11.2014 22:45
Es ist der Wahnsinn wie sensibel du Seto darstellst, als wenn er ein rohes Ei wäre. Ein wirklich interessanter Aspekt.
Das Kapitel war wirklich zoll, allerdings tut mir Joey schon ein wenig leid sich ständig zügeln zu müssen ist auf Dauer sehr anstrengend und kann zermürbend wirken.
Von:  Onlyknow3
2014-11-23T20:22:25+00:00 23.11.2014 21:22
Was geht in Seto vor, wir wissen ja das er mit Gefühlen nicht umgehen kann und das ihm Komplimenteeher zu wider sind als das sie ihm gefallen weil ihn bisher jeder einfach nur nieder gemacht hat. Seto ist da eben nicht geübt darin mit so was sich zu befassen. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Nathalie
2014-11-23T19:50:45+00:00 23.11.2014 20:50
Schönes Kapitel.
Warte schon gespannt auf das nächste.

Lg

Nathalie
Von:  Lunata79
2014-11-23T18:41:04+00:00 23.11.2014 19:41
Hm, ... hat Joey überhaupt eine Chance?
Selbst, wenn Seto herausfinden sollte, dass Joey Gefühle für ihn hegt, weiß man doch nicht, was Seto eigentlich für Joey übrig hat? Ob er überhaupt was für Joey empfinden könnte. Oder anders gesagt, ob Seto Joey nicht einfach, wegen der Tatsache, auslacht. Aber andererseits, hat sich die Beziehung zwischen den beiden schon gewaltig verändert, seid Seto sich den Knöchel gebrochen hat. Da kann man für Joey echt nur das Beste hoffen.
Freu mich aufs nächste Kapitel, wenn sich der große Höhepunkt anbahnt.

Lg
Lunata79
Von:  Roxi_13
2014-11-23T16:24:25+00:00 23.11.2014 17:24
Ich hoffe das Seto sich entlich bewusst wird was Joye für ihn entfindet
das mit dem Klavier fand ich sehr schön
Ich freu mich schon aufs nächste Kapittel

Lg
Roxi_13


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