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Broken Genius

von

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Erfinderwahn

Ich kam erst am späten Nachmittag wieder zur Villa und trotzdem schlief Kaiba noch. Wie viel Erschöpfung doch in seinen Knochen gesteckt haben musste, da wollte ich ihn bestimmt nicht wecken. Also wartete ich mit Mokuba zusammen.

„Er war zwischendurch schon kurz wach, weißt du?“, meinte der Kleine irgendwann, während wir auf dem Sofa saßen und Karten spielten.

„Tatsächlich?“

„Ja, aber ihm war schwindelig und er war zu erschöpft.“ Mokuba seufzte schwer. „Er hat es zwar versucht, ist aber einfach nicht hochgekommen.“

„Tja, wenn der elende Sturkopf einfach nicht weiß, wann Schluss ist?“ Innerlich tat es mir wirklich leid, dass er so litt, aber eigentlich hatte er sich das wirklich selbst zuzuschreiben.

„Er kann es nicht richtig kontrollieren.“, murmelte Mokuba belegt.

„Wie meinst du das?“

„Manchmal überkommt ihn diese Art Geistesblitz, eine Vision von etwas. Er hat mal gesagt, es wäre, als würde sich eine Idee in seinen Kopf schleichen und sich wie ein Parasit darin einnisten. Er könne an rein gar nichts anderes denken, als diese Idee, so lange, bis sie umgesetzt ist.“

„Du meinst, er ist quasi gezwungen, dieses Modell zu vollenden, ehe er wieder klar denken kann?“

„Naja, ich denke, du kannst es dir so vorstellen: mein Bruder war nie gut darin, nach Notizen und Skizzen zu arbeiten. Er macht alles sozusagen aus dem Kopf heraus. Alle Berechnungen, welche Längen, Breiten, Winkel und Materialien jedes Einzelteil haben muss, wie viele dieser Einzelteile notwendig sind, welche Kraft die Teile aufeinander ausüben und aushalten können müssen, wie sie ineinander greifen… All diese winzigen Details, damit es am Ende funktioniert. Er speichert das alles im Kopf, und du kannst dir vorstellen, dass das verdammt viele Kapazitäten erfordert. Da ist kein Platz für irgendeinen anderen Gedanken.“

Das klang, als wäre Kaibas Kopf ein Computer, auf dem ein Programm lief, das viel Arbeitsspeicher erforderte. Und um den zu gewährleisten zu können, mussten alle anderen Programme beendet werden, damit es nicht zum Systemabsturz kam. Kaiba der Computer. Krass.

„Dann ist er quasi so besessen davon, seine Erfindung zu beenden, dass er gar nicht mehr wahrnimmt, wie sehr er sich selbst damit zerstört.“

„Das merkt er dafür im Nachhinein umso deutlicher.“

Wenn ich bedachte, wie fertig er gerade war, glaubte ich das gern.

Mokuba legte die Spielkarten beiseite. Vermutlich war ihm die Lust darauf vergangen. „Weißt du, dass Gosaburo sogar versucht hat, ihm damit zu helfen, wenn auch auf ziemlich ungeschickte Art?“

Gosaburo, dieser angeblich so tyrannische Stiefvater. „Wie denn?“

„Er hat erkannt, dass Seto mit seinem Verstand unfassbare Dinge leisten kann, sich dabei aber selbst im Weg steht. Er wollte das Talent fördern, indem er einen Weg suchte, wie Seto arbeiten konnte, ohne sich dabei selbst kaputt zu machen.“

„Klingt doch gar nicht so schlecht.“

„Schon, aber er hat es versucht, indem er Seto zwingen wollte, alles aufzuschreiben, bevor er anfangen durfte zu arbeiten. Gosaburo hat ihn gezwungen, so lange am Tisch zu sitzen, bis er sich Notizen gemacht hat.“

„Und?“

„Nach zwei Tagen hat er es aufgegeben.“ Mokuba zuckte mit den Schultern. „Er hat nie wirklich verstanden, dass Seto alles im Kopf parallel überdenkt. Er kann nicht einlinig eins nach dem anderen aufschreiben, das kriegt er irgendwie nicht hin.“

Kaibas Denken war anscheinend auch für ihn selbst zu wirr. Irgendwie stellte ich mir das ziemlich belastend vor, wenn man die Gedanken nicht selbst steuern konnte. Einerseits war es der Wahnsinn, wie viel Genialität in ihm steckte, aber andererseits musste es ein wahrer Fluch sein, sich dem gar nicht entziehen zu können.

„Aber was war mit den Händen? Du hast gesagt, er hatte dir Einzelteile dafür schon vorliegen.“, bemerkte ich. „Ich dachte er kann nicht aufhören, bis er es beendet hat.“

„Ja…“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Die Idee dafür kam ihm, weil er sich die Hand gebrochen hatte.“

Durch Gosaburo. Das hatte er mir erzählt.

„Die Teile vorbereiten ging gerade noch, aber du hast ja gesehen, dass er mit sehr viel Präzision arbeiten muss, wenn er seine Erfindung zusammensetzt. Und das geht mit gebrochener Hand eben nicht.“

„Also hat er die Idee fallenlassen?“

„So in der Art. Er hat vier Tage lang vor den Einzelteilen gesessen und sie angestarrt, ehe wir ihn langsam davon lösen konnten.“

Okay… Das war irgendwie krank. „Hat er solche Ideen… oft?“

„Geistesblitze hat er oft, aber so heftig wie bei den Händen oder jetzt ist es nur selten.“, murmelte Mokuba. „Ich weiß nicht, wovon es abhängt, aber bei manchen Erfindungen ist er so besessen wie jetzt und bei anderen halt nur stark damit beschäftigt, aber ohne sich dabei aufzurauchen. Er taucht dabei immer in seiner kleinen Erfinderwelt ab und ist kaum ansprechbar. Dann nimmt er kaum etwas um sich herum wirklich wahr. Aber meist dauert diese Stadium nicht so lange an.“

Hm… „Liegt es vielleicht an der Komplexität?“

„Keine Ahnung.“

Wäre doch eine mögliche Theorie. Einen ganzen Fuß zu rekonstruieren war bestimmt fordernder, als die Erfindung eines einfachen Büroartikels.

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, nahm ich eine Regung in dem riesigen Bett wahr. Scheinbar wachte Kaiba jetzt auf. Wir gesellten uns schnell an sein Bett. Nur langsam räkelte er sich unter den Decken, öffnete schwerfällig die Augen. Sie waren jetzt nicht mehr so gerötet und glasig wie gestern, aber dafür war der Blick niedlich, wenn er einen so verschlafen ansah. Und er machte sogar wieder meine Lieblingsgeste. Wie ein Waschbär rieb er sich den Schlaf aus den Augen.

„Seto…“ Mokuba krabbelte zu ihm aufs Bett und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Zumindest das Fieber ist weg.“

War doch gut. Und er konnte sich auch selbstständig aufsetzen, war also schon mal ein wenig zu Kräften gekommen. Er fasste sich an die Stirn, rieb über die Schläfen.

„Hast du Kopfschmerzen?“, fragte ich vorsichtig.

Sein Blick richtete sich langsam auf mich, aber er wirkte noch nicht so ganz wach. „Warum bist du hier?“, fragte er leise.

„Das beantwortet nicht meine Frage. Aber egal. Erst mal solltest du duschen.“

Er neigte den Kopf etwas, als verstünde er nicht, wie ich darauf kam. Aber ich erinnerte mich noch sehr genau an Laurens Satz. Also war ich einfach mal so dreist, kletterte auf sein Bett und strich durch sein Haar.

„Deine Haare haben nicht mehr ihren optimalen Flauschfaktor, weißt du?“, äffte ich Lauren nach. Aber sie hatte recht damit. Für jemanden wie Kaiba, der normalerweise stark auf sein Äußeres fixiert war, hatte er das in den letzten Tagen wohl wirklich ein wenig vernachlässigt. Zumindest waren seine Haare nicht mehr so seidenweich wie damals, als ich vor zwei Wochen durch die dunklen Strähnen gestrichen hatte.

Ah, heute war er wirklich wacher als gestern. Er schlug meine Hand weg und in seinen Augen erkannte ich, dass er sich gekränkt fühlte.

„Komm schon, eine schöne heiße Dusche wird dir gut tun. Wir machen derweil Frühstück und dann kannst du dich stärken, okay?“

Er starrte mich wortlos an. Seinem Blick fehlte jegliche Intensität, und trotzdem hielt ich gespannt den Atem an. Dieser Moment entschied, ob er mich wieder duldete oder nicht. Gestern hatte er nicht mehr die Kraft, meine Anwesenheit zu hinterfragen. Was, wenn er mich jetzt wieder rauswarf? Seine blauen Augen fixierten mich, als versuche er, meinen Anblick einzuordnen.

„Warum bist du wiedergekommen?“, fragte er leise, wobei seine Stimme noch ein wenig heiser klang.

„Weil du elender Sturkopf schon wieder nicht auf dich selbst aufpassen kannst.“

„Ich hatte dich weggeschickt.“

Ich schluckte leicht. Das war mir schmerzlich bewusst. Trotzdem musste ich Fassung wahren. „Habe ich schon jemals auf dich gehört?“, fragte ich neckend.

Er neigte den Kopf, sah mich schief an. Ich befürchtete schon, er würde sauer werden, doch er sagte nichts, sah mich nur weiter unverwandt an.

„Glaub mir, du warst letztes Mal sehr deutlich und ich bin auch nicht dein Babysitter. Aber trotzdem bin ich hier.“

„Trotz meiner Worte... bist du wiedergekommen. Freiwillig.“ Ich hätte erwartet, Ärger in seiner Stimme zu hören, aber er wirkte darüber nicht mal erbost. Er analysierte nur. „Das erscheint mir ziemlich dumm.“

Wahrscheinlich war es das auch. Ich schluckte schwer. „Ich werde gehen, wenn du es von mir verlangst.“ Obwohl ich es ernst meinte, war mir bei dem Gedanken, er könnte das wirklich machen, richtig flau im Magen.

Sein Blick glitt wirklich nur flüchtig über meine Gestalt. Realisierte er, dass ich an all seinen Kritikpunkten meiner Person gefeilt hatte oder war er dafür gerade nicht zugänglich? Er tat mir zumindest nicht den Gefallen, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Stattdessen sah er mir nur wieder aufmerksam in die Augen. Was genau er dachte, wusste ich allerdings auch nicht.

„Geh duschen.“, meinte ich sanft. „Wir machen Frühstück, okay?“

Er starrte mich noch einen Moment an, doch schließlich nickte er nur widerwillig und krabbelte aus dem Bett. Das verbuchte ich mal als Sieg für mich. Er hätte mich wegschicken können, aber er tat es nicht. Vermutlich war es nur eine Duldung auf Zeit, doch diesmal würde ich vorsichtiger sein, genauer auf mein Verhalten achten und mich nicht einfach abschütteln lassen.

Mokuba und ich gingen in der Küche und bereiteten Frühstück zu.

„Er hat sich doch schon ganz gut erholt.“, bemerkte ich.

Mokuba seufzte schwer. „Ich wette, er setzt sich auch gleich wieder an seine Erfindung.“

„Dann zwingen wir ihn eben dazu, zu essen.“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es spricht ja nichts dagegen, wenn er seine Erfindung beendet. Und ich denke, je stärker wir ihn dabei unterstützen, desto schneller ist er fertig. Wir müssen ja nur dafür sorgen, dass er sich dabei nicht über alle Maßen verausgabt.“

Der Kleine hielt inne in seinen Vorbereitungen fürs Frühstück und sah mich verwundert an. „Traust du dir das etwa zu?“

„Man kann es ja wenigstens versuchen.“, meinte ich fest. „Du hast selbst gesagt, er kann nicht anders arbeiten. Dann ist es doch falsch, sein Verhalten ändern zu wollen. Wenn wir ihn so weit kriegen, dass er zumindest genug isst, trinkt und schläft, ist das alles ja wieder ganz unproblematisch.“

Mokuba dachte darüber nach. „Wenn das so einfach wäre.“

„Man braucht nur einen Zugang zu ihm.“

„Und wie?“

„Du hast gesagt, er schläft in der Zeit so gut wie nicht. Das heißt aber, er schläft, und unterbricht demzufolge auch seine Arbeit. Wenn wir wissen, wann er diese Unterbrechungen ansetzt, haben wir einen Ansatzpunkt.“

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. „Du hast das ganze echt gut analysiert.“

„Ich versuche, eine vernünftige Lösung zu finden, weil ich im Gegensatz zu dir nicht der Meinung bin, man sollte ihn von seiner Arbeit abhalten. Was er tut, ist nämlich absolut genial. Also weißt du, wonach sich seine Unterbrechungen richten?“

„Hm…“ Er überlegte. „Er hat mal irgendwas davon gesagt, er würde in Abschnitten arbeiten. Aber wie die aussehen, weiß ich nicht.“

Na gut, das ließ sich bestimmt herausfinden. Ich war mir sicher, dass man Kaiba knacken konnte, wenn man seinen Rhythmus erkannte. Und das würde ich auch. Es musste einfach einen Weg geben, dass er seine Genialität ausleben konnte, ohne so sehr darunter zu leiden.

Wir richteten das Frühstück her und begaben uns dann nach oben. Und wie Mokuba vermutet hatte, saß Kaiba wieder inmitten seiner Einzelteile. Aber wenigstens hatte er geduscht und frische Kleider angezogen.

Mokuba wollte die Tabletts auf dem Tisch aufbauen, aber ich wies ihn an, sie um Kaiba herum auf den Boden zu stellen, damit wir uns zu ihm gesellen konnten. Kaiba selbst nahm es zwar mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis, sah aber nicht weiter auf.

Mir fiel auf, dass sein Blick im Vergleich zum letzten Mal eher orientierungslos über die Einzelteile glitt. Wahrscheinlich hatte ich ihn gestern inmitten eines seiner Abschnitte unterbrochen und jetzt fiel es ihm schwer, wieder Anschluss zu finden. Aber das war gut, dann konnte man ihn wenigstens noch ansprechen.

Ich nahm ein Brötchen und drückte es ihm vorsichtig in die Hand. „Iss etwas.“, meinte ich sanft. „Wenn du dich stärkst, kannst du danach besser arbeiten.“

Nur zögerlich nahm er es entgegen, betrachtete es abschätzig. Dann sah er doch mal zu mir auf, bedachte mich mit einem kritischen Blick. Ich erwiderte seinen Blick gelassen, konzentrierte mich darauf, mich nicht in diesem momentan sehr klaren Blau zu verlieren. Scheinbar hatte er wirklich viel Kraft aus der ihm auferlegten Pause ziehen können, denn die Erschöpfung von gestern war ihm gar nicht mehr anzusehen.

Wir hätten diesen Starrwettbewerb noch ewig fortführen können, denn inzwischen war ich an diese intensiven blauen Augen zumindest stark genug gewöhnt, um mich davon nicht mehr völlig hypnotisieren zu lassen. Aber dann entdeckte ich etwas, dass mich doch schmunzeln ließ. Das war mir vorhin gar nicht aufgefallen.

„Du hattest recht, weißt du?“

Er neigte den Kopf etwas, starrte mich verständnislos an. „Womit?“

„Damit, dass du ein empfindlicherer Hauttyp bist als ich.“ Ich grinste ihn breit an. „Du hast richtig viele kleine Sommersprossen bekommen.“

Hatte er wirklich, und zwar einmal quer über den Nasenrücken und ganz leicht auf den Jochbeinen. Genau da, wo die Haut damals vom Sonnenbaden gerötet gewesen war. Die Sommersprossen waren nur klein und schwach ausgeprägt, aber dennoch deutlich erkennbar. Und sie sahen zum Niederknien niedlich aus. Bestimmt wurden sie stärker sichtbar, wenn er länger der Sonne ausgesetzt war.

Aber Kaiba selbst schien nicht so begeistert davon. Hastig schlug er sich eine Hand vor die Nase, verdeckte so die Sommersprossen und starrte mich vernichtend an.

Wow, das hörte er wohl wirklich nicht gern. Empfand er Sommersprossen tatsächlich als Makel auf seiner sonst so lupenreinen Haut? Die sahen doch süß aus. Allerdings verkniff ich mir diesen Satz lieber.

Ich spürte, wie Mokuba sich näher zu mir beugte. „Empfindliches Thema!“, zischte er warnend.

War Kaiba wirklich der Meinung, die Sommersprossen würden ihn entstellen? Verdammt, die Dinger verliehen seinem Gesicht ein unschlagbar schöne Nuance, eine Charakteristik, die mehr wert war als perfekte makellose Haut.

„Hätte nicht gedacht, dass du der Typ für Sommersprossen bist.“, meinte ich sachlich. Ein bisschen nachstochern war ja wohl erlaubt. Oder auch nicht, denn sein Blick wurde gerade wirklich giftig. Oha, das könnte glatt ein Drahtseilakt werden, an dessen Ende er mich vielleicht doch noch rauswarf. Dabei meinte ich es durchaus als Kompliment.

„Du hast zwar unfassbar blaue Augen und helle Haut, aber vergleichsweise dunkles Haar.“

„Unfassbar blau?“ Seine Stimme war ein dunkles Knurren.

„Du redest dich um Kopf und Kragen!“, wisperte Mokuba. Aber helfen wollte er mir anscheinend nicht.

Seine blauen Augen waren auch ein empfindliches Thema? Was durfte man denn überhaupt ansprechen? „I-ich mein cool-blau. Extrem cool sogar.“

Er kniff die Augen zusammen, starrte mich durchdringend an. „Cool… blau?“

„Babyblau?“

Ich sah, wie sich ihm die Nackenhaare dabei aufstellten. Ehe er ansetzen konnte, etwas zu sagen, fuhr ich hastig fort. „Ein sehr intensives helles Himmelblau?“

„Himmelblau?“

„Du weißt schon. Ein bisschen heller als azurblau, fast so hell wie lichtblau, ohne den Stich ins grünliche. Aber ein wenig dunkler als weißblau und auf jeden Fall vollkommen rein.“

Nein, er wusste es nicht, das zeigte sein verständnisloser Blick. Ich hatte ganz vergessen, dass er Malen nicht leiden konnte. Demzufolge würde Kunst generell nicht sein Fachgebiet sein. Und mit Farbenlehre konnte er bestimmt auch nichts anfangen.

„Doch, helles himmelblau kommt hin. Sehr intensiv und gesättigt, unvergleichlich in seiner Reinheit“

Kaiba sah mich an, als wäre ich geisteskrank, aber zumindest schien es ihn davon abzulenken, wegen den Sommersprossen sauer zu sein. Dabei hatte ich es doch wirklich gut getroffen. Vielleicht behielt ich trotzdem lieber meine Meinung für mich, auch wenn es schade war, dass er in seinem Irrsinn perfekt zu sein, nicht erkannte, wie unfassbar schön ihn diese Feinheiten machten.

„Komm schon, iss dein Brötchen.“, meinte ich ruhig, um ihn von mir wegzulenken.

Eine Weile lang starrte er mich noch durchdringend an, ehe er langsam die Hand runternahm, mit der er seine Nase abgeschirmt hatte und seine Aufmerksamkeit dem Brötchen widmete.

Ich beschloss, ihn erst mal in Ruhe zu lassen. Wenn er sauer wurde oder wir aufeinander losgingen, brachte das hier gar nichts. Also entfernte ich mich mit Mokuba ein wenig von ihm.

„Was sollte das?“, fragte Mokuba. „Wolltest du ihn ärgern?“

Ich schüttelte den Kopf. „Woher sollte ich wissen, dass er so empfindlich auf Sommersprossen reagiert?“

Der Kleine seufzte resigniert. „Er meint immer, sie lassen ihn kindlicher aussehen und würden seine Autorität untergraben.“ Er verdrehte die Augen. „Außerdem sind Sommersprossen eine Hyperpigmentierung, also ein sichtbarer Makel der Haut, die zu extrem auf Sonnenlicht reagiert.“

Ja, so ein dämlicher Gedankengang passte zu Kaiba. Makel, pah! Perfektion war langweilig, solche Feinheiten machten besonders. Obwohl ich darüber schmunzeln musste. So ein mächtiger einflussreicher Mann fürchtete wegen ein paar Punkten im Gesicht um seine Autorität? Das war doch paranoid!

Wir frühstückten in aller Ruhe und beobachteten dabei Kaiba. Inzwischen hing sein Blick wieder an seinem Modell und den Einzelteilen, wanderte unstet darüber. Er suchte wieder Anschluss an seine unterbrochenen Gedankengänge. Aber wenigstens aß er dabei das Brötchen, wenn auch dermaßen langsam und bedächtig, dass er vermutlich bis zum Abendessen damit beschäftigt war.

Es war langwierig und auch ziemlich langweilig, doch trotzdem nahm ich all meine Geduld zusammen, um Kaiba den Tag über genau zu beobachten während Mokuba sich nach dem Frühstück abseilte. Irgendwann fand er scheinbar wieder Anschluss an seine Gedankengänge vom Vortag und machte sich an die Arbeit. Es war ja wirklich bewundernswert, wie konzentriert und detailliert er arbeiten konnte. Aber für den Zuschauer doch ziemlich öde.

Zumindest erkannte ich irgendwann ein Schema in seiner Arbeit. Mit ein bisschen Fantasie waren die Einzelteile um ihn herum doch nicht wahllos verteilt, sondern in kleine abgegrenzte Felder sortiert. Ich beobachtete, dass seine Hände immer wieder zielsicher zu einem Feld wanderten und einzelne Teile herausfischten. Und Kaiba sah dabei nicht mal hin. Es war naheliegend, dass jedes Feld einem Gedankenabschnitt zugeordnet war. Also hieß das, ich musste nur warten, bis eine Fläche abgearbeitet war und konnte ihn dann jederzeit unterbrechen. Genial.

Am Abend nutzte ich diese neue Erkenntnis und sprach ihn an.

„Du solltest mal Pause machen.“, bestimmte ich.

Tatsächlich reagierte er sofort, sah fragend zu mir auf. „Mir geht es gut. Ich komme schon klar.“

Erstaunlich, wie viel es ausmachte, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Er wirkte ja fast schon entspannt. Das änderte aber nichts daran, dass er schon wieder seit fünf Stunden am Stück arbeitete.

„Du solltest auf Lauren hören und mehr auf dich achten.“

Das Argument schien bei ihm zu fruchten. Zumindest kam er etwas unbeholfen auf die Beine. War ja schön, wie folgsam er reagierte, aber es ärgerte mich, dass er das wohl nur tat, weil ich Lauren ins Spiel brachte. Ihm war ihre Meinung anscheinend sehr wichtig, was mich wieder zu der Frage brachte, welches Verhältnis zwischen den beiden vorherrschte.

„Wie wäre es, wenn du dich auf die Terrasse setzt und ich dir etwas zu Essen bringe?“

Er nickte nur, wandte sich mit schwerfälligen Schritten um. Also eilte ich zu Mokuba und bat ihn, etwas herzurichten. Nach Kaibas letzter Reaktion auf meine Kochversuche, wagte ich es nicht, selbst etwas in der Küche zu suchen und der Kleine würde seinen Geschmack sowieso viel besser kennen.

Als ich wieder nach Kaiba sah, hatte er sich bereits auf einer der Liegen auf der Terrasse niedergelassen. Er bedeckte mit einer Hand seine Augen, wirkte jetzt ein wenig erschlagen.

„Alles klar?“, fragte ich vorsichtig, während ich mich auf dem zweiten Liegestuhl niederließ.

Er nickte nur vage.

Ich warf einen Blick nach oben zum strahlendblauen Himmel. „Zu grell?“

Er murrte leise. Nur langsam und zögerlich öffnete er die Augen, blinzelte träge.

„Ein bisschen überempfindlich nach der langen Arbeit?“, fragte ich spitz.

„Unsinn!“ Fast schon beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Warum blinzelst du dann so oft?“ Wahrscheinlich wäre mir das bei keinem anderen Menschen aufgefallen, aber er hatte so lange dichte Wimpern, die dermaßen im Kontrast zu diesem hellen Blau standen, dass seine Augenpartie einfach unglaublich markant, ein riesiger Blickfang war.

„Weil es der natürlichen Funktion des Auges entspricht, zu blinzeln, um die Hornhaut feucht zu halten.“, erwiderte er bissig.

Sachliche Argumente, die brachte er oft, wenn er sich verteidigte. „Na gut, dann müssen deine Augen in Anbetracht der Frequenz, in der du blinzelst, ziemlich trocken sein. Trockene Augen können ihre Ursache darin haben, wenn über einen längeren Zeitraum die Lidschlagfrequenz verlangsamt war, zum Beispiel wenn man lange konzentriert arbeiten und dabei die Augen wegen der Detailgetreue anstrengen musste.“

Sein Blick wurde immer so niedlich, wenn man anders reagierte als er erwartete. So schön groß und blau und er rammte einen Eckzahn in die Unterlippe. Herrlich. Irgendwie genoss ich es, ihn wieder so natürlich, ein bisschen privater zu erleben und insgeheim wünschte ich mir, es würde immer so zwischen uns sein.

Aber er fasste auch immer schnell eine Gegenstrategie. „Ich könnte auch einfach nur etwas im Auge haben.“, merkte er trocken an. „Das ist kein Beweis für eine Überanstrengung.“

„Aber ein Indiz.“

Er runzelte die Stirn. „Woher plötzlich dieses Vokabular?“

„Bin ja nicht völlig ungebildet.“ Ich würde ihm bestimmt nicht auf die Nase binden, dass ich in den letzten zwei Wochen tatsächlich versucht hatte, meine Allgemeinbildung auf Vordermann zu bringen, nur um ihm ein bisschen ebenbürtiger zu werden. Verdammt, seine Meinung war mir viel zu wichtig. Aber zumindest nickte er fast anerkennend.

Bis Mokuba mit dem Essen kam, hingen wir unseren Gedanken nach, wobei ich mir sicher war, dass Kaiba schon wieder bei seiner Erfindung war. Zumindest wirkte sein Blick vollkommen konzentriert, obwohl er ins Leere starrte. Dank meiner Erkenntnis, wann ich ihn unterbrechen konnte, war er zugänglicher, aber ganz bekam er sein Projekt doch nicht aus dem Kopf.

Mokuba kam mit einem Tablett mit drei Tellern zu uns. Fisch mit Reis, Sauce und Salat. Sowas mochte Kaiba also? Interessant. Ob mich das so begeistern sollte, wusste ich noch nicht. Aber ich konnte ja erst mal probieren. Es schmeckte gar nicht mal schlecht. Der Fisch zerfiel geradezu unter der Gabel und alles schien perfekt abgestimmt zu sein. Der Koch hatte hier schon einiges auf dem Kasten. Das schien Mokuba auch so zu sehen, denn er schaufelte alles in sich hinein, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.

Nur Kaiba war nicht ganz so begeistert. Eher abwesend stocherte er im Essen herum, nahm ab und an mal einen Bissen.

„Hat deine Theorie nicht funktioniert?“, fragte Mokuba leise. „Er ist immer noch so angespannt.“

„Doch, ich zeig es dir.“ Wenn Mokuba sah, dass es funktionierte, war er bestimmt nicht mehr ganz so negativ gegen Kaibas Erfinderwahn eingestellt. Ich musste nur kurz überlegen, welches Thema ich wählen sollte.

„Kaiba, du bist mäkelig wie ein Mädchen.“, skandierte ich. Ein Guter Auftakt wie ich fand. Kleine Streitereien waren einfach unser Ding. Und in gewisser Weise hoffte ich sogar darauf. Ich wollte ihn lebhaft und leidenschaftlich sehen wie bei unseren Auseinandersetzungen. Die letzten Tage hatte er eher mechanisch wie eine Puppe gewirkt und das hatte mir fast schon Angst gemacht.

Allein mit dem Heben einer Augenbraue konnte er demonstrieren, wie angepisst er war. „Bitte?“ Oh, wie bedrohlich er dieses eine Wort hervorbringen konnte. Seine Stimme klang so ruhig, dass es an die allbekannte Ruhe vor dem Sturm, ach was dem Hurrikan, erinnerte. Ganz klar, ich bewegte mich auf millimeterdünnem Eis. Allerdings war das gefährliche Aufblitzen in seinen Augen schon ziemlich anregend.

„Dieses Essen ist der Wahnsinn, aber anscheinend nicht gut genug für deinen erlesenen Geschmack.“

Sein Blick glitt zu seinem fast unangerührten Teller.

„Oder hast du Angst zu fett zu werden?“

Ich sah, wie es in ihm arbeitete, wie er analysierte, was ich gerade versuchte. Dann stellte er den Teller neben sich auf den Boden, wandte sich mir mehr zu und vernichtete mich allein schon mit einem so intensiven Blick, dass ich Angst hatte, darunter zu Eis zu erstarren. „Vielleicht habe ich auch einfach keinen Hunger.“, knurrte er mit gefährlich dunkler Stimme. „Auch wenn das für eine dumme Töle wie dich unglaublich klingen mag, Wheeler, es gibt tatsächlich Menschen, die nicht gleich alles in sich hineinstopfen. Aber verständlich, dass ein armer Schlucker wie du frisst bis zum Umfallen!“

Er biss an, knüpfte an unsere alten Streitereien an. Aber irgendwie war sein Konter einfallslos und ohne Elan.

„Kann ja nicht jeder so ein reicher Pinkel sein!“, fauchte ich.

„Und du am allerwenigsten!“

Mokuba beobachtete unseren Streit, war anscheinend zufrieden damit, dass sein Bruder wieder mehr Elan hatte. „Ich halte mich da lieber raus.“ Er rutschte von der Liege und verschwand. Wahrscheinlich war er unserer Streitereien eh überdrüssig.

Ich wappnete mich innerlich für den Streit mit Kaiba, doch der stand nur plötzlich auf und verließ die Terrasse. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das schon wieder sollte, aber dann eilte ich ihm hinterher. Inzwischen hatte er sich wieder bei seinem Modell niedergelassen.

„Das wars?“, fragte ich ein wenig verwirrt.

„Mokuba ist beruhigt, wozu diese Farce weiterspielen?“

Er hatte also gleich erkannt, was meine Absicht gewesen war. Aber er ging gar nicht darauf ein. Irgendwie verhielt er sich wirklich sehr merkwürdig.

„Willst du denn nicht wenigstens noch etwas essen?“

„Hab keinen Hunger.“ Er sah nicht mal auf. „Aber ich würde es bevorzugen, wenn du jetzt gehst.“

Was brachte es, hierzubleiben? Er würde sich sowieso wieder über Stunden in seine Arbeit stürzen und heute ließ er sich vermutlich nicht nochmal von mir davon abhalten. Also würde ich morgen wieder nach ihm schauen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, und was es mit Lauren auf sich hat, erfahrt ihr im nächsten Kappi ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2014-12-28T22:44:41+00:00 28.12.2014 23:44
Joey tut was er kann, um Seto zu helfen. Mokuba macht sich ja zu Recht große Sorgen um seinen Bruder. Würde mir auch nicht anders ergehen. Doch Joey lässt Seto wenigstens seine Arbeit weiter machen, passt aber auch auf, dass Seto nicht wieder so übertreibt.

Der gespielte Streit war witzig. Das Seto schnell dahinter gekommen ist, war klar.
Tolles Kapitel wieder einmal. Und spannend obendrein.^^ ^^
Von:  Onlyknow3
2014-08-18T12:00:38+00:00 18.08.2014 14:00
Kaiba könnte man nach der Beschreibung von Mokuba für verrückt halten. Aber er ist halt ein Genialer Kopf und muss sich wahrscheinlich so verausgaben damit alles so gelingt wie es soll. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Lunata79
2014-08-18T09:29:28+00:00 18.08.2014 11:29
Tolles Kapi.
Jetzt würde ich wirklich gerne wissen, was in Kaiba vor sich geht, nachdem Joey sichtlich seine Kritierien versucht zu erfüllen. Ist es Kaiba eigentlich aufgefallen? Was muss er sich eigentlich dabei denken, wenn Joey versucht, seine Kriterien zu erfüllen? Ob er drauf kommt, dass Joey Interesse an ihm hat?
Zumindest wurde Joey diesmal nicht im Bösen aus dem Haus komplimentiert. Ob Joey Fortschritte bei Kaiba macht, sieht man hier auch noch nicht so offen.
Bin auf jeden Fall schon neugierig, wer diese Lauren ist.
Freu mich aufs nächste Kapitel.

Lg
Lunata79
Von:  JK_Kaiba
2014-08-17T19:41:48+00:00 17.08.2014 21:41
Wieder ein super Kapitel :-D
Wie du Kaibas Erfinderwahn beschreibst ist richtig gut und auch nachvollziehbar, zumindest ansatzweise kann man so verstehen wie ein Genie wie er denken tut...
Auch das Joey das gut findet und nicht ändern will, ist wichtig, sonst würde wohl eine Beziehung auch nicht funktionieren...
Nur ob Kaiba ihm diesen Streit wirklich nicht übel nimmt? Da bin ich mir nicht sicher, weil er ihn danach ja auch wegschickt?!
Aber schon niedlich, das Joey sich extra weiterbildet um Kaiba zu beeindrucken :-D
Nur Kaiba und Sommersprossen kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, das passt einfach nicht zu seinem Typ...
Bin schon gespannt wie es weitergeht und was es mit Lauren auf sich hat :-D

lg Jacky


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