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Mord ohne Leiche

Das Gewicht einer Seele
von

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Getrennte Wege

Anabelle betrachtete nachdenklich ihren defekten Stahlkörper, der in den Ketten des Deckenkrans hing. Bislang hatte er jedem Versuch widerstanden, sich reparieren zu lassen. Das Zusammentreffen mit Madame Petrownas ehemaliger Meisterin – die irrsinnige Kälte und die Ablagerungen in den Gliedmaßen - waren der Technik nicht gut bekommen.

„Merde.“ Sie trat ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Dachbodentür stieß. Sie ließ den Korpus nicht aus den Augen. Was stimmte damit nicht?

Es gab kein einziges Teil, was sie nicht auseinandergebaut und gründlich gereinigt hatte. Wenn sie die Gelenke testete, funktionierten sie einwandfrei, aber sobald Zaida ihre Seele in die Maschine übertrug, fühlte sich der Körper fremd an. Sie konnte ihn kam bewegen. Vom mechanischen Standpunkt war alles in Ordnung, abgesehen von der dicken, blauen Kristallplatte, hinter der sich im Gebrauchsfall die Essenz ihrer Seele befand. Die feinen Spinnrisse konnten es doch nicht sein? Schließlich hatte der Angriff der Snegurotschka den schweren Edelstein doch nicht durchdrungen. Das wäre ihr unweigerliches Ende gewesen. Anabelle schauderte bei der Vorstellung. Aber der Gedanke ließ sich nicht von der Hand weisen. Sie bemerkte das Zucken ihrer Brauen mit milder Überraschung. In letzter Zeit bildeten sich immer häufiger menschliche Gesten in ihrem sonst neutralen Erscheinungsbild ab. Anabelle schüttelte den Gedanken ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Wichtiger war, wie sie an einen Ersatz für den Kristall kommen sollte? Sie konnte wohl kaum eine neue, so große Platte aus Bergkristall fertigen lassen. Allein dieses Stück wog mindestens acht Pfund. Sie reparieren zu lassen, war scheinbar nicht mehr möglich. Sie atmete - atmete? - nein, sie füllte die Blasebalge in ihrem Torso mit abgestandener, staubiger Luft und stieß sie wieder aus. Wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig als sich doch nach einer neuen Platte umzusehen, wollte sie je wieder in ihren vertrauten, wehrhaften Stahlkörper übersiedeln. Bei einigen ihrer Gegner musste sie in der Lage sein zu kämpfen. Das konnte sie nicht im gleichen Maß, wenn sie den aktuellen Leib nutzte. Trotzdem fühlte sie sich gerade viel Menschlicher und konnte die Zweisamkeit mit Zaida mehr genießen. Instinktiv strich sie über die wesentlich kleinere Diamantplatte, die oberhalb des ihres Busenansatzes saß und den Hohlraum ihrer Essenz verschloss.

Vielleicht war es gut so wie es gerade war …

Die Tür stieß in ihren Rücken. Wer störte jetzt wieder? Sie trat zur Seite. Madame Petrowna, Jewa, spähte in die Dachkammer. Zwischen ihren Brauen zog sich eine steile Falte nach oben und in ihren hellen Augen brannte Zorn. Sie schien verärgert zu sein. Seit die russische Gräfin unter Zaidas Dach lebte, lag eine besondere Spannung in der Luft, die sich zusehends verdichtete. Anabelle kannte das Geheimnis – Eifersucht. Weder Zaida noch Jewa ließen sich zu Gefühlsausbrüchen verleiten; sie zwangen sich die Form zu wahren. Aber zwischen den beiden Frauen stand die erste Annäherung Madame Petrownas – der sich Anabelle auch nicht wiedersetzt hatte. Zaida würde auch zukünftig diese Verfehlung nicht vergessen.

Anabelle kniff die Augen zusammen und massierte sich den Nasenrücken. „Alors, Madame, was ist passiert?“

Jewa schob die Tür hinter sich ins Schloss, verharrte kurz, bevor sie sich umwandte. Sie hielt den Blick gesenkt. Helle Locken fielen ihr in die Stirn. Ihre Lippen zitterten. Die unnatürliche Blässe stand im Gegensatz zu der gefurchten Stirn. Wenn Anabelle ihre Körpersprache recht interpretierte, stand keine Wut hinter ihrer Haltung.

„Madame Petrowna?“

Jewa zögerte, wobei sie ihre Finger in den teuren Stoff ihres Rockes grub. In ihrer Hand lag ein zerknitterter Zettel – die einzige Möglichkeit der Ausdrucksweise für die stumme Frau.

In Anabelle erwachte ein unangenehmes, schwer einzuordnendes Gefühl. Es kam an eine Mischung aus schwacher Sorge, Schuldbewusstsein und Unsicherheit heran. Hatte Zaida die Gräfin des Hauses verwiesen? Anabelle schob den Gedanken von sich. Er war zu unwahrscheinlich. Schließlich würde sich eine Dame wie Zaida nie solch eine Blöße geben.

Anabelle wies zum Schreibtischstuhl.

„Bitte, Madame Petrowna.“

Jewa straffte sich, bevor sie sich von der Tür löste. Noch immer bewegte sie sich langsam und unsicher. Sie rang die Hände. Neben dem ledergepolsterten Holzdrehstuhl blieb Jewa stehen und reichte Anabelle das Blatt. Zögernd glättete Anabelle den Zettel auf der zerkratzten Tischplatte. Eigentlich wollte sie nicht wissen, was Jewa ihr zu sagen hatte, aber sie konnte sich gegenüber den unangenehmen Dingen, die seit einigen Tagen in dem Haus vorgingen, nicht verschließen.

Wahrscheinlich ist es unerheblich, wenn ich mich in aller Form bei Ihnen und Madame Zaida entschuldige. Dennoch möchte ich es, denn ich habe diesem Haus nichts Gutes gebracht.

Meine liebe Mademoiselle Talleyrand, es lag mir fern, Ihnen auf solch unmögliche, ehrlose Weise zu Nahe getreten zu sein. Bitte glauben Sie mir, dass ich zu der Zeit nicht Herrin meines Körpers gewesen bin.

Um wenigstens den letzten Rest Anstand zu wahren, kann ich nicht länger in diesem Haus bleiben. Die Gastfreundschaft, die mir durch Madame Zaida zuteilgeworden ist, möchte ich gerne mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln vergelten. Sie beide haben auch für mich Unglaubliches geleistet und mir ein Leben in Ehre geschenkt. Umso mehr bedauere ich jedwede meiner Verfehlungen.

Anabelle verstand ihre Reaktion, aber Jewa war noch nicht in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen, Ehre hin oder her, aber selbst Zaida würde das nicht zulassen wollen, vollkommen gelichgültig, was sie sonst von der Gräfin hielt. Allein aus dem Gesichtspunkt der Gefahr, die Jewa für normale Menschen darstellte, war es unmöglich, sie wieder auf London loszulassen. Demonstrativ zerknüllte Anabelle den Brief und warf ihn in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch.

„Das halte ich von Ihren Zeilen, Madame.“

Jewa sprang fassungslos auf. Ihr Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren, nur um sofort hektisch rote Flecken auf ihre Wangen zu zaubern. Die steile Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Blanker Zorn erwachte. In etwa so hatte sie auch ausgesehen, als Anabelle sie eingelassen hatte. Spätestens jetzt lag die Vermutung nah, dass Zaida in etwa das Gleiche mit der Version des an sie gerichteten Schriftstücks getan hatte. Vermutlich hatte sie nur gemäßigtere Worte gewählt. Anabelle wandte sich ab. Sollte sich die Gräfin ruhig austoben, sprechen konnte sie nicht.

Natürlich zog Jewa sich Füllfederhalter und Papier heran. Das Kratzen der Spitze und die verkrampften Laute, die sie ausstieß, sprachen von ihrer Wut.

Anabelle trat an das Konstrukt heran, ließ die Aufhängung herab und griff nach einem Stemmeisen. Später würde sie die Zeilen Jewas vielleicht lesen. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun, etwas das Zaida vielleicht versöhnlich stimmte und etwas Ruhe einbrachte. Der Körper war unbrauchbar, zumindest im Augenblick. Ein Splitter aus der Herzplatte wäre sicher ein sehr persönliches Geschenk für Zaida. Damit überreichte sie ihr einen winzigen Teil ihrer Seele und der Liebe, die sie empfand.

*

Zaidas Hände zitterten. Der Kontrast ihrer schwarzen Haut zu den hellen Briefbögen verstärkte den Eindruck. Warum hinterließ eine Vision solch einen starken Eindruck? Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf der Stuhllehne ab und stützte den Kopf in die Hand. Auf ihrer Stirn hatte sich kalter Schweiß gebildet. Mühsam atmete sie ein und schloss für einen Moment die Augen. Diese verbrennen der Realität und die blendend weiße Helligkeit mochten etwas mit Jewa Petrowna zu tun haben, aber unter den gegebenen Umständen ging von der Gräfin ungefähr die selbe Gefahr aus wie von der Snegurotschka. So lange die beiden hier waren, richteten sie keinen Schaden an. Zaida befeuchtete ihre Lippen. Die Eindrücke, die sie gehabt hatte, waren nicht die des Beobachters. Seit Jahrzehnten , nein seit Jahrhunderten erlebte sie eine Vision nicht aktiv sondern als unbeteiligte Beobachterin. Der Platz als Zuschauer reichte in den meisten Fällen auch vollkommen aus. Zaida hatte es gehasst, in den Körper eines Sterbenden gezogen zu werden. Die Schmerzen und das sichere Gefühl des endgültigen Endes waren ihr in vielen Fällen von den Menschen aufgezwungen worden. Sie hatte ihre Schmerzen ertragen, ihre Ängste und die Scheu vor dem Verlust ausgestanden, nur um andere zu entlasten und ihnen ein friedvolles Ende zu schenken. Und wofür? Weil sie es für wichtig erachtet und irrigerweise für ihre Pflicht gehalten hatte. Sie, die Priesterin der Sonne und des Lebens … Nein, das wollte sie nie wieder ertragen. Zwei Jahrhunderte mit unzähligen Schicksalen, die sich nie vollkommen verdrängen ließen, reichten für ein unendliches Leben aus. Zaida ballte die Faust vor der Stirn. Wie konnte das passieren? Durch Songa und Manikongo war sie geschützt. Wo trieben sich die beiden Raben überhaupt herum?

Es klingelte. Überrascht öffnete Zaida die Augen. Klienten?

Sie war sicher, dass in ihrem Auftragsbuch kein Termin für heute Vormittag verzeichnet stand. Langsam erhob sie sich und trat ans Fenster. Auf der Straße stand eine herrschaftliche Kutsche des Palastes und auf dem Bock saß ein rot livrierter Mann, dem das Regenwasser über die Krempe seines Hutes Mütze in den Mantelkragen rann. Dennoch verzog er keine Miene. Spätestens Morgen würde er die ersten Auswirkungen einer massiven Erkältung mitbekommen.

Zaida löste sich vom Fenster um zu öffnen. Vor dem Siegel über der Garderobenkonsole überprüfte sie den Sitz ihres Kleides und ihre Frisur. Selbst wenn es sich nur um einen Diener der Königin handeln mochte, so musste sie einen ordentlichen und guten Eindruck machen. Erneut klingelte es. In der oberen Etage schwang die Tür des Gästezimmers auf und der Schatten der Gräfin fiel auf die Stufen. Hoffentlich kam sie ihrer Neugier nicht nach. Nichts wäre ungünstiger als ihre Anwesenheit. Rasch öffnete Zaida die Tür.

Unter dem Vordach stand John Brown. In der rechten Hand hielt er seinen nassen Balmoral. Auf den Schultern seines Jacketts waren Regentropfen zerplatzt, standen aber auf dem dicken, schwarzen Stoff. Selbst jetzt trug Brown einen Kilt. Er schien nicht zu frieren.

„Guten Morgen, Mr. Brown.“ Zaida trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung in den Hausflur. Schweigend kam der hochgewachsene, breitschultrige Mann ihrer Aufforderung nach. Er brachte mit der kaltnassen Luft den Geruch von Erde und feuchter Wolle herein. Sein Blick glitt an den Türen entlang und die Stufen hinauf. Glücklicherweise hatte die Gräfin sich zurückgezogen. Zaida öffnete die Salontür und bat ihn in den wesentlich kälteren Raum. Auf der Vogelstange saß Songa, den Kopf unter einem Flügel. Der Rabe schreckte auf, als Brown eintrat. Er krächzte kurz, schüttelte sein Gefieder und sank wieder in sich zusammen. Brown war stehen geblieben. Er musterte Songa. Zwischen seinen Brauen fraß sich eine steile Falte in die Haut. Er machte eine Handbewegung in den Flur. „Raus, Federvieh!“, befahl er.

Zaida bemerkte, wie sich Browns Kiefermuskeln unter dem Bart bewegten. Sie zuckten auch noch als Songa sich abstieß und nach draußen flatterte. Das war ganz und gar nicht gut … In Zaidas Kehle saß ein fester Kloß, der ihr das Schlucken erschwerte. Hatte die Königin etwas von dieser unsäglichen Affäre mit Lady Arlington mitbekommen? Wusste sie, dass hier ein Wintergeist in Anas Körper festsaß, oder war ihr zu Ohren gekommen … Langsam, schwer atmete Brown durch. Zaida wurde es schlecht. Unsicherheit und Angst versuchten sich in ihre nach oben zu zwingen. So hatte er zum letzten Mal reagiert, als sie Ana gegen den Willen der Königin bei sich aufgenommen und sie vor dem Gesetz geschützt hatte. Brown war der direkteste aller Diener der Königin. Sie saß vermutlich selbst draußen, in der Kutsche und wartete, dass er seinen Auftrag erledigte. Er hatte sich nicht gesetzt sondern stand reglos mitten im Raum. Noch immer arbeitete die Muskulatur in seinem klaren, ernsten Gesicht. Oh verdammt auch … Zaida klammerte sich an den Türknauf. Der Boden unter ihren Füßen schien zu wanken.

„Ich habe einen Auftrag für dich, Frau.“ Seine Stimme klang dumpf. Er starrte die Wand an.

„Soll ich Anabelle rufen?“

Er schüttelte den Kopf, bevor er sich umwandte. Seine Augen fanden erst jetzt einen Fokus. „Nein, das hat sie untersagt.“

„Ist es geheim?“, fragte Zaida zögernd.

„Warum glaubst du, habe ich dein sprechendes Federvieh sonst ausgejagt, Weib?“, schnappte Brown.

Über die barsche Ausdrucksweise sah Zaida hinweg. Brown duzte sogar die Königin und nannte sie Weib. Er war direkt, vielleicht der größte Vorteil des rüpelhaften Mannes und ein Attribut, was Zaida bei ihm schätzte. Er konnte nicht lügen und geheime Aufträge zu überbringen verlangte ihm mehr ab, als er geben konnte. Wenigstens sprach er nichts von den Verfehlungen der letzten Tage des alten Jahres an.

„Dann bitte ich darum, dass Sie zum Punkt kommen, Mr. Brown.“

„Es geht um einen Vorfall mit Lady Fortesque.“ Brown setzte sich nun doch. Mit seinen großen, kräftigen Händen drehte er den Balmoral Bonnet und zerrte am Hutband. Seine Brauen zogen sich zusammen. „Sie misstraut ihr.“ Er sah kurz auf, bevor er sich wieder auf sein schwarzes Barett konzentrierte.

„Lady Fortesque ist … wer?“ Zaida zögerte absichtlich um klar zu machen, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte.

Brown entspannte sich etwas. „Sagt dir Curver & Fortesque etwas?“

Bei der Erwähnung des Firmennamens hatte Zaida sogar ein klares Bild des Schriftzuges vor Augen. Natürlich war ihr Curver & Fortesque ein Begriff.

„Eine Tuchmacherei, die sich durch recht moderne Maschinen hervortut und trotz der hohen Produktion gute Qualität liefert.“

Brown nickte. „Nahezu jeder, der gutes Geld verdient, kleidet sich in Stoffe von Curver & Fortesque.“

Langsam löste Zaida sich von der Tür und breitete die Hände aus. „Sie wollen sicher keine Werbung für eine Fabrik machen. Worum geht es wirklich?“

Brown versteifte sich. Er knüllte sein Balmoral. Die Adern auf seinem Handrücken traten deutlich hervor. Er presste die Lippen aufeinander. Er schwieg. Plötzlich erhob er sich. „Die Lady scheint jüngst mit Anaïs Talleyrand-Bergen in Kontakt gekommen zu sein.“

Zaida fuhr zusammen. Um ihre Brust spannte sich ein Stahlring, der nicht aufplatzen wollte. Atem holen konnte sie nicht. Anaïs, Anas Schwester lebte noch? Hinter ihren Schläfen pochte das Blut. Das konnte doch nicht sein! Anaïs Talleyrand-Bergen war tot. Zaida erinnerte sich deutlich an den angeketteten Körper, der Anabelle bis aufs Haar glich, an das entsetzliche Gefühl ihn mit Öl zu übergießen, nachdem sie der Maschine die künstlichen Augen zertrümmert und die Herzplatte mit Königswasser aufgelöst hatte. In all den Jahren war der Moment der brennenden Maschine noch immer präsent. Nervös befeuchtete Zaida ihre Lippen. „Das kann nicht sein.“

„Es ist so!“, presste Brown hervor. „Anaïs Talleyrand-Bergen hat mit Lady Fortesque direkt nach dem Tod ihres Mannes Kontakt aufgenommen. Erledige das Problem, schnell und unauffällig!“

Während er sprach fiel etwas Kaltes in Zaidas Kragen. Sie konnte Eis auf ihrer Haut schmelzen fühlen. Ich rann ein Schauder über den Rücken. Sie versteifte sich. Wieder hatte sie das Gefühl Schnee zu atmen …

„Kein Wort zu der französischen Maschine!“

Brown war aufgestanden und verließ den Salon. Er warf ihr ein paar Brocken vor und gab ihr kaum weitere Anhaltspunkte. Das konnte er nicht machen!

„Warten Sie, Brown!“ Sie trat auf den schmalen Flur zwischen Salon und Treppe. Tatsächlich blieb er an der Tür stehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll das?!“, fragte sie scharf. „Ein paar Informationen mehr würden mir die Arbeit erheblich erleichtern.“

Er schwieg nachdenklich, den Blick nach innen gerichtet. „Ich habe nicht viel, Nyasha.“

Nyasha? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zugleich rann ihr ein eisiger Schauder über den Rücken. Wie kam er zu diesem Namen? Beim Schlucken stieß ihre Kehle gegen den eng geschlossenen Vatermörder.

„Für Sie, Brown, bin ich Madame Zaida!“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Browns Miene blieb vollkommen unbewegt. Wie konnte es sein, dass er ihren Geburtsnamen kannte und offen aussprach. Was erlaubte er sich? Mühsam zwang sie die erste Wut hinunter. Sie musste sich mäßigen, schließlich war er der Vertraute und Privatsekretär der Königin. Vielleicht unterhielt sie sich mit ihm tatsächlich so offen über ihre Agenten.

„Wo finde ich Lady Fortesque?“ Sie konnte den nun heiß aufwallenden Ärger kaum aus der Stimme verbannen.

„Wahrscheinlich in ihrem Stadthaus in der Albany Street, in Camden.“

Das war nicht weit weg.

„Haben Sie eine Hausnummer oder wenigstens Anhaltspunkte?“ Zaida verengte die Augen. „Beispielseise in der Nähe des zerstörten Colluseums oder am Regent‘s Park?“

Er nickte. „Regent’s Park.“

„Haben Sie mehr für mich?“ Ungeduld schwang in ihrer Stimme nach. Er zögerte kurz, bevor er sagte:

„Wenn sie nicht mehr dort sein sollte, finden Sie sie in ihrem Cottage in Northumberland.“

Offenbar hatte er genügend Informationen gegeben, denn er tippte sich an den Balmoral und wandte sich zum gehen. Einen Moment später schlug die Haustür zu. Zaida registrierte es nur am Rande. Die innere Kälte nahm zu. Verdammt, wie sollte sie damit umgehen? Wenn Anas Schwester noch lebte, konnte es gut möglich sein, dass auch Robert von Bergen nicht umgekommen war. Allein bei der Vorstellung rann körperlich schmerzhafte Angst durch Zaidas Körper. Sie rieb sich die Arme um das Gefühl loszuwerden. Allein gegen eine Kampfmaschine und einen Magier? Wie groß waren ihre Chancen?

*

„Annabelle?“ Zaidas Stimme drang gedämpft durch die Tür. Sie klopft sacht dagegen. „Hast du einen Moment Zeit?“

Nicht ausgerechnet jetzt. Gequält stöhnte sie und warf einen Blick auf ihre Taschenuhr, die auf der Arbeitsplatte lag. Erst vier Uhr? Tee gab es doch frühestens in einer Stunde.

Sie schob Diamantfeile und Bohrer in den Werkzeuggürtel über ihrer Lederschürze, nahm den kleinen, blau verfärbten Splitter vom Tisch und schlug ihn in einen öligen Lappen ein. Zaida sollte ihr Geschenk nicht unbearbeitet sehen. Mit einem Blick überprüfte sie, ob die restlichen Gegenstände, die sie zur Herstellung der Kette brauchte, möglichst unverfänglich wirkten. Nicht wirklich. Die Fassung aus Zahnrädchen, die wie Schmetterlingsflügel übereinander verlötet waren, lagen prominent im Weg. Leider war das Kupfer noch zu warm, um es einfach einzustecken. Vorsichtig drapierte sie eine Schachtel mit Schrauben und eine weitere mit Muttern davor. Zufrieden trat sie zurück, öffnete aber mit aufgesetzt finsterer Miene. Hoffentlich bemerkte Zaida die Charade nicht. Offenbar hatte ihre Freundin nicht mit solch einem Unmut gerechnet. Zaida wich instinktiv einen Schritt zurück. Ihre Augen weiteten sich.

„Ana?“, fragte sie. Unsicherheit schwang in ihrer Stimme.

Ging es vielleicht um Jewa? Vielleicht hatte Zaida sie doch … nein, solch eine Verfehlung würde ihr nicht ähnlich sehen.

„La Lettre, Madame Petrowna hat dir sicher auch einen Brief übergeben“, begann Anabelle. Sie hoffte, dass Zaida nicht deshalb hinaufgekommen war.

„Ja, sicher. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn nicht akzeptieren kann und ihn im Kamin verbrannt.“ Zögernd streckte Zaida die Hand aus und legte sie sacht über Anabelles Wange. Die Berührung tat gut. Sie fühlte sich wundervoll zärtlich und vertraut an.

„Hat sie dir einen ähnlichen Brief gegeben?“

Anabelle löste sich aus Zaidas zärtlicher Geste und wies mit der Hand über die Schulter. „La corbeille à papier. Ich habe ihn gelesen und weggeworfen, denn ich denke, dass sie außerhalb des Hauses für sich und andere eine Gefahr bedeutet. Aber ich kann sie verstehen. Sie fühlt sich nicht akzeptiert …“ Anabelle biss sich auf die Unterlippe. War jetzt der richtige Zeitpunkt Zaida darauf anzusprechen?

Kurz versteifte sich ihre Freundin, senkte aber die Lider.

„Du hast recht, Liebes. Ich kann sie nur nicht ansehen ohne die Gewissheit, dass sie dich …“ In ihrer Stimme schwang Schmerz und Wut mit.

„Je ne … Es war nicht nur ihre Verfehlung. Du darfst es ihr nicht zum …“, Anabelle spürte, dass sie sich heiß redete, denn das Wort fehlte. „reproche … Vorwurf machen, denn zu diesem Zeitpunkt konnte sie ihre Jagdinstinkte noch nicht beeinflussen. Jetzt ist sie zumindest für dich und mich keine Gefahr mehr.“

Zaida lächelte bitter. „Das rufe ich mir immer wieder in Erinnerung. Allein deshalb kann ich Madame Petrowna nicht gehen lassen, denn die Gefahr, dass sie sich wieder rückentwickelt, ist gegeben.“

Anabelle umarmte sie. Es ging einfach nicht anders. Sie folgte blind dem Gefühl, was Zaida in ihr hervorrief. Diese impulsive Art kannte sie nicht an sich. All die Jahre, vollkommen gleich ob in ihrer menschlichen oder metallenen Hülle, hatte sie nie den Wunsch verspürt ihren Emotionen nachzugeben. Es fühlte sich falsch an, aber andererseits richtig, denn Zaida streichelte sie, schob ihre langen, schlanken Finger unter ihren Haaransatz und berührte die Anschlüsse in ihrem Nacken, das Nervenzentrum ihres Körpers. Anabelle spürte dem wundervollen Gefühl nach. Plötzlich flüsterte Zaida: „Ich bin nicht wegen Madame Petrowna hier, Liebes.“ Der Ernst in ihrem Tonfall ließ Anabelle aufschauen.

„Mais?“, fragte sie. „Warum sonst?“

„Inspektor Hailey wartet unten. Kannst du dich um ihn kümmern?“

Hailey? Anabelle spürte die bittere Eifersucht auf den Inspecteur. Konnte er ihnen nicht eine Woche ohne seine Anwesenheit gönnen?

„Ein neuer Fall?“, fragte sie. Wahrscheinlich konnte sie ihre Haltung ihm gegenüber nicht aus ihrer Stimme streichen, denn Zaida hielt sie an den Schultern, trat aber einen Schritt zurück. Ihr stolze Haltung schmolz tiefer Erschöpfung. Zaida senkte sie den Blick. Das Licht der Werkstatt schimmerte auf ihren schwarzen Wangen. Ihre Hände sanken herab. Sie schien sich unwohl zu fühlen und nestelte an dem schlichten, dunklen Kostüm. Ein Auftrag, aber nicht an sie beide, sondern nur an Zaida. Das Kochen in ihrem Inneren nahm zu. Oh wie sie Hailey manchmal hasste!

„Du trägst Reisekleidung, ma cher? Der Auftrag führt dich von London fort?“

„Nicht Haileys.“ Zaida atmete tief durch. Sie straffte sich. „Mr. Brown überbrachte mir vorhin ein dringendes Anliegen der Königin; die zwingende Aufforderung, mich bis zum Ende der Woche bei Lady Fortesque einzufinden. Die alte Dame muss wohl …“ Einen Moment zögerte sie. Dachte sie sich eine vertretbare Version der Wahrheit aus? „Die Lady hat ein paar schwer lösbare Probleme, die ich beseitigen soll.“

Immerhin nicht Hailey. Trotz allem zog sich Anabelles Essenz zusammen. „Du allein, nehme ich an?“

Zaida nickte traurig. „Leider ja, Liebes. Ich möchte dich bitten, dass du Hailey hilfst, denn ich kann es dieses Mal nicht.“

„Wann hattest du mir vor, von deiner Reise zu erzählen?“

„Eigentlich gleich nachdem Brown ging. Hailey kam leider dazwischen.“ Sie griff nach Anabelles Händen. „Ich will diese Reise gar nicht antreten, denn ich habe eine böse Ahnung …“, ihre Lippen zuckten. „Ich hatte die Vision im Schnee zu ersticken.“

„Die Snegurotschka?“, fragte Anabelle. Sie hatte das Gefühl ihr nicht mehr vorhandenes Herz bis in die Kehle schlagen zu fühlen.

Knapp, kaum merklich, schüttelte Zaida den Kopf. „Ich kann mir das Szenario nicht einmal erklären.“

Ihre Stimme versank mit der Stille des Hauses.

Das Gefühl von Hitze und Tränen strömte durch Anabelles Essenz. „Was hast du gesehen?“

„Kälte und Schnee“, begann Zaida. Sie legte die Hände übereinander. Schwer überschatteten die Wimpern ihre dunklen Augen. „Ich …“ Ihre Finger verkrampften sich, „war nicht in der Lage mich zu bewegen, konnte nicht sprechen, nur atmen und sehen. Dann stürzte ich in den Schnee, das Gesicht voran. Ich konnte die beißende Kälte fühlen, habe Schnee und Wasser geatmet. Es war wie in fester Materie zu ertrinken.“

Anabelle presste die Lippen aufeinander und nahm ihre Hände. Sacht massierte sie die feinen, langen Finger. Sicher fühlten sie sich jetzt kalt an. Zaida fürchtete sich. Selbst wenn diese Eindrücke nichts mit ihrem Auftrag zu tun haben sollten, würden sie Zaidas Fähigkeiten stark beeinträchtigen und ihre Konzentration stören.

„Kommt die Vision durch Jewa?“ Anabelle fühlte sich bei den Worten mehr als unwohl.

„Es wäre wahrscheinlich logisch“, flüsterte Zaida. Sie schüttelte schwach den Kopf. „Seit die Gräfin bei uns ist, hatte ich nicht eine Vision. Außerdem hatte ich das Gefühl der Lähmung. Ich bezweifele, dass sie die Quelle ist. Dahinter verbirgt sich eine Warnung, die ich nur noch nicht deuten kann.“

„Dann weise den Auftrag der Königin und den Haileys ab, Zaida.“

Schmerzlich schüttelte die Magierin den Kopf. „Gegen einen königlichen Befehl kann ich nicht aufbegehren.“

Enttäuschung kroch betäubend durch Anabelles metallenen Körper. Normalerweise fiel es ihr nicht so schwer, Zaida für eine Weile ziehen zu lassen. Aber allein die Erwähnung einer bösen Ahnung, wie Zaida sich ausgedrückt hatte, machte ihr Angst. Hinter ihren Worten verbarg sich mehr. In Anabelle wuchs das Gefühl von lauernder Gefahr, die sich in der Tageshelligkeit verbarg, offen, und doch unterschwellig. „Geh nicht, bitte.“

„Mir wird nichts passieren, Liebes“, flüsterte Zaida.

Zumeist hatte sich jedwede Sorge um eine mächtige, alte Magierin wie Zaida, als lächerlich erwiesen. Es war eine Tatsache, dass es kein Wesen gab, das der Macht der Sonne und der Erde wiederstehen konnte. Trotzdem ließ sich diese immer präsenter werdende Angst nicht vertreiben. Umstimmen lassen würde Zaida sich nicht. Ein Befehl war ein Befehl. Resigniert nickte Anabelle. Zaida strich sanft über ihre Wange, tasteten nach ihren Lippen … Anabelle hob den Blick.

Ihre Freundin zog sie an sich. Die Wärme ihres Körpers war sogar für sie spürbar. Seufzend lehnte sie sich an Zaida. „Ich kümmere mich um Haileys Probleme, promis, Zaida.“

„Danke, Liebes.“

Zaida lehnte ihre Stirn gegen Anabelles. Tränen schimmerten in ihren schwarzen Augen. Sie fürchtete sich. Anabelle schauderte, auch wenn sie keine Kälte wahrnahm. Zaidas Angst war nicht unbegründet. Wie konnte Anabelle Hailey unterstützen, wenn ernstzunehmende Gefahr drohte?

„Bitte bleib mit mir in Kontakt, Zaida, schick mir Telegramme oder entsende Songa und Manikongo. Ich muss einfach sicher sein, dass dir nichts passiert.“

Sie schlang ihre Arme um den Nacken Zaidas und reckte sich, um diese weichen, dunklen Lippen zu küssen. „Promis?“

„Versprochen“, flüsterte Zaida. Ihr warmer, feuchter Atem streifte Anabelles Haut. „Mach dir keine Sorgen, Liebes.“

Die Worte klangen ehrlich, steigerten aber Anabelles Ängste.

„Wenn ich dir doch nur glauben könnte, ma cher.“



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