Gescheiterte Entschuldigung
Kei hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber die Stimmung wurde nur noch schlechter. Kageyama schien es aufgegeben zu haben, ihn völlig ignorieren zu wollen, stattdessen begrüßte er Kei beim Morgentraining mit einem unverhohlen hasserfüllten Blick, der beinahe schon an eine wortlose Morddrohung grenzte. Besonders bedroht fühlte Kei sich allerdings nicht, und so lächelte er Kageyama nur nichtssagend zu, woraufhin der das Kunststück vollbrachte, noch mörderischer dreinzublicken; Kageyama sah aus, als wolle er ihm den Hals umdrehen, und Kei konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er lachen oder lieber in Kageyamas hasserfülltes Gesicht schlagen wollte.
Er lachte.
Mit Beginn des Trainings blieb nicht mehr viel zu lachen übrig.
Kageyamas anhaltende Inkompetenz war selbstverständlich erheiternd, aber der Witz ging schnell verloren, wenn jeder verpatzte Wurf einherging mit aufmunterndem Schulterklopfen und kameradschaftlichen Worten, während Sugawaras Blicke in Keis Rücken eisig brannten. Sein Mund war zu einem schmalen, missgelaunten Strich verzogen, doch er blieb still, während in der Halle Rufe, Aufmunterung und aufprallende Volleybälle von den Wänden widerhallten.
Kei fand diese Stille fast noch beunruhigender als die letzte Konfrontation mit ihm.
In der Hoffnung, Sugawaras Aufmerksamkeit damit entkommen zu können, konzentrierte er sich wieder auf das Training, das allerdings auch nicht ertragreicher werden wollte. Kei erwartete sich ohnehin nichts von den Schmetterübungen, so viel Wurftalent, wie Kageyama bisher schon gezeigt hatte.
Aber dass der Ball gar nicht erst flog, das kam überraschend. Entgeistert sah er zu Kageyama hinüber, der den Ball, den er hätte weiterpassen sollen, in den Händen hielt, in seinem Blick lag eine Mischung aus Trotz und eisiger Ablehnung. Die ganze Halle war still. Selbst Hinata und Nishinoya hielten den Mund, starrten nur, und auf allen Gesichtern stand Unglaube geschrieben. Seine eigene Gesichtsentgleisung verbarg Kei hinter einer Geste des Brillehochschiebens, und als er die Hand wieder senkte, hatte er einen halbwegs neutralen Ausdruck auf sein Gesicht gebracht.
„So funktioniert das nicht“, durchbrach Tanaka bald die Stille, die sich wie ein Leichentuch immer schwerer auf sie niedergelegt hatte. Er trat vor und nahm Kageyama den Ball aus der Hand, den er dann unter den Arm klemmte, die andere Hand entschlossen in die Hüfte gestemmt. Er sah zu Nishinoya hinüber, der wortlos nickte, dann seufzte er.
„Wenn ihr beide euren Ehekrach nicht–“ – „Wir haben keinen Ehekrach!“, fuhr Kageyama sofort dazwischen, der laute Ausruf dröhnte in der gesamten Turnhalle. Die plötzliche Lautstärke ließ Yamaguchi zusammenzucken, und Hinata, der immer noch fassungslos zu sein schien, ließ vor Schreck den Volleyball fallen, den er gerade in der Hand hielt.
„Ryuu hat recht.“
Jetzt mischte sich Nishinoya ein. Kei sah nur aus dem Augenwinkel, wie Sugawara sich an einen der Zweitklässler wandte, der sich daraufhin wiederum in Bewegung setzte und kurze Zeit später trabte ein guter Teil des Teams auf respektvollen Abstand – eine absolut lächerliche Geste, die Kei die Nase rümpfen ließ. Als würden sie es aus fünf Schritten größerer Entfernung nicht auch alles hören.
Zu seiner Überraschung knöpfte Nishinoya sich Kageyama vor, baute sich zu seiner ganzen mickrigen Größe auf, als er vor dem Kerl stand, die Hände genauso in die Hüften gestemmt wie Tanaka, was ihn ein bisschen wie eine lächerliche Karikatur des lächerlichen Glatzkopfes wirken ließ. Seine bernsteinfarbenen Raubtieraugen waren weit aufgerissen und aufmerksam auf Kageyamas Gesicht gerichtet.
„Was auch immer hier abgeht – ich hab keine Ahnung, und es geht mich wahrscheinlich auch nichts an! –, du benimmst dich wie ein Idiot!“
Kei unterdrückte ein amüsiertes Schnauben, aber die Genugtuung zupfte trotzdem sichtbar an seinen Mundwinkeln. Es war eine nette Abwechslung, zwischen allem Mitleid und Verständnis einmal jemanden zu sehen, selbst wenn es nur Nishinoya war, der einsah, dass Kageyama sich idiotisch verhielt. Kei verstand nicht, wie er so ein Theater machen konnte über diese Farce. Es war kein Monat gewesen, den sie zusammen verbracht hatten. In so kurzer Zeit konnte man sich doch gar nicht emotional so sehr an einen anderen Menschen binden.
Kei zumindest konnte es nicht, und es war eine Fähigkeit, die er auch nicht beherrschen wollte.
Kageyamas Reaktion war stoisches Schweigen, während er auf Nishinoya hinuntersah, die Hände zu Fäusten geballt und sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die so voll von Gefühlen war, dass es Kei viel zu mühsam war, sie auseinander zu sortieren. Er sah Wut, sah Verletztheit, und sah noch tausend andere Dinge, von denen er wirklich keinen Sinn sah, sie zu kategorisieren, denn Kageyamas Gefühle interessierten ihn nicht.
„Du landest am Ende auf der Bank, wenn du so weiter machst! Nicht Tsukishima!“
Nishinoyas Enthüllung brachte Schweigen mit sich. Sawamura sah beinahe schuldbewusst aus, Sugawara unglücklich. Unglücklich. Sollte er nicht lieber froh sein, dass er seinen Platz als regulärer Spieler wiederbekommen würde? Kageyama erstarrte, und er sah so entsetzt aus dabei, als durchlebe er ein altes Trauma neu. Kei zweifelte nicht daran, dass er es tatsächlich tat, dass sich vor seinem inneren Auge die vernichtende Niederlage von Kitagawa Daiichi im letzten Jahr wieder abspielte, die Schmach, die damit einhergegangen war, auf die Bank verbannt zu werden, weil das eigene Team ihm den Rücken gekehrt hatte. Und nun ging es wieder genauso los. Oder war es gar schlimmer geworden? Kageyama legte sich seine Steine dieses Mal schließlich ganz bewusst selbst in den Weg.
Mit einem undefinierbaren, verletzten Laut wirbelte Kageyama herum und stapfte in Richtung der Umkleiden davon.
„Warte, Kageyama!!!“
Hinter Kageyama verschwand Hinata und nach dem Knallen einer Tür herrschte plötzlich wieder Stille. Es war eine verärgerte, anklagende Stille, in der jeder unfreundliche Blick sich in Keis Richtung wendete und Yamaguchi zu Boden sah, als wäre der heute besonders spannend. Er war rot bis zu den Ohren, Scham und schlechtes Gewissen so klar in seinem Gesicht geschrieben, dass Kei am Liebsten gekotzt hätte. Sugawaras Blick war genauso anklagend wie die der anderen, doch immerhin fehlte die absolute Eiseskälte ihres letzten Gesprächs. Nur der kalte Zug um seine Mundwinkel erinnerte noch an eine Begegnung, auf die Kei eigentlich sein ganzes Leben lang hätte verzichten können. Er reckte das Kinn vor, neigte den Kopf leicht zur Seite – ein absolutes Sinnbild von Arglosigkeit und Unschuld.
„Ich habe mich entschuldigt, Sugawara-San“, erklärte er freundlich. Die einzige Antwort, die er bekam, waren verengte Augen, deren Blick durch die freundliche Fassade hindurch zu blicken schien, dann nickte Sugawara langsam, doch Kei hatte nicht im Geringsten das Gefühl, dass die Geste ihm galt. Dadurch, dass Sugawara sich von ihm abwandte, ohne weiter auf ihn einzugehen, bestätigte sich sein Verdacht nur.
„Das Morgentraining ist beendet“, verkündete er mit leiser Stimme in die betretene Stille hinein. Obwohl er leise sprach, war er eindrücklich genug, dass jeder Kopf sich in seine Richtung drehte.
„Ennoshita, sorg bitte dafür, dass hier aufgeräumt wird. Daichi, ich möchte kurz mit dir reden.“
Es kam erst wieder Bewegung in die Überbleibsel des Teams, als Sugawara und Sawamura hinaus waren. Mit einem hörbaren Durchatmen klatschte Ennoshita in die Hände, gerade in dem Moment, als Nishinoya sich regte und dabei verdächtig so aussah, als hätte er noch mehr Zwergenweisheiten unter die normalgroß gewachsene Bevölkerung zu bringen.
„Aufräumen“, bestimmte Ennoshita fest, warf Nishinoya einen mahnenden Blick zu, der ihn innehalten ließ, „Los. Kinoshita, geh nach Kageyama und Hinata sehen und sag ihnen, dass für heute Morgen Schluss ist! Tanaka, Nishinoya, sammelt die Bälle ein. Ihr wollt nicht, dass Daichi-San wütend wird.“
Der Blick des Zweitklässlers war auf beunruhigende Art freundlich, als er in die Runde sah und schließlich bei Tanaka und Nishinoya hängen blieb. Die beiden tauschten einen alarmierten Blick, dann nickten sie hektisch. „Wird gemacht, Chikara!“
Und weg waren sie.
Kei schloss sich dem Aufräumkommando an, schweigend, nur einen kurzen Seitenblick warf er zu Yamaguchi hinüber, doch der schien noch sehr beschäftigt mit seinen Schuldgefühlen zu sein. Kei schnaubte, als er sich entfernte. Lächerlich.
Als er das nächste Mal die Turnhalle betrat, stand Yamaguchi beim Captain, die Schultern herabhängend und die Hände resigniert neben dem Körper liegend. Sawamuras Gesicht sah unheilverkündend streng aus. Sugawara war in ein Gespräch mit Kageyama vertieft, doch als Kei hereinkam, fiel sein Blick sofort in seine Richtung und die sonst so warmen Augen wurden spürbar kälter.
Kei ahnte schon, was kommen würde, als dann auch noch der Blick des Captains auf ihn fiel und er ihm mit einer Geste bedeutete, zu ihnen herüberzukommen. Er beeilte sich nicht besonders dabei, die Sporthalle zu durchqueren. Sawamura und Yamaguchi warteten in einer vergleichsweise ruhigen Ecke, die etwas abseits von quietschenden Hallenschuhen und dem Aufprallen der Volleybälle lag.
„Tsukishima.“
Kei nickte knapp zum Gruß und verhakte die Finger ineinander. Sein Gesicht war sorgfältig nichtssagend, um die Unzufriedenheit zu verbergen, die sich in seinen Blick schleichen wollte. Das Theater wurde langsam nicht nur lächerlich, sondern auch zu viel. Es war Kageyamas Problem, wenn er unfähig war, sich zusammenreißen, wegen – ja, warum eigentlich? Wegen so etwas lächerlichem wie einem gebrochenen Herzen? Kei unterdrückte ein Schnauben bei dem Gedanken. Nach nicht einmal einem Monat. Sicher doch.
Sein Blick fiel auf Yamaguchi, der ihn unverhohlen anstarrte, die Augen groß und unglücklich und kleinlaut – jetzt gibt’s Ärger, Tsukki, schien sein Blick sagen zu wollen. Kei hob zur Antwort abfällig die Augenbraue. Sofort senkte Yamaguchi den Blick wieder, und die ganze Geste schrie Entschuldigung.
Es war wirklich lächerlich.
„Captain?“
Sawamuras Blick war streng, aber weitgehend nichtssagend. Nicht herausragend wütend, aber auch nicht herausragend freundlich, ein relativ typischer Blick, wenn es darum ging, jemanden zu maßregeln.
„Suga hat mir alles erzählt“, eröffnete er das Gespräch, und er klang genauso ruhig, wie er aussah. Vielleicht wurde dieses Gespräch doch nicht so schlimm, wie Kei gefürchtet hatte. Bisher jedenfalls wirkte Sawamura um einiges angenehmer als Sugawara.
„Ah.“
„Uhm. Captain–“
„WAS HABT IHR EUCH DABEI GEDACHT?!“
Sawamuras Stimme hallte so laut von den Wänden wider, dass selbst Kei zusammenzuckte – Yamaguchi fuhr natürlich völlig zusammen – und von der bis gerade noch präsentierten Contenance war auf dem Gesicht des Captains überhaupt nichts mehr zu finden. Wie ein klarer Kontrast zu Sugawara loderte in Sawamuras Blick glühend heißer Ärger, als er einen Schritt vortrat und damit so nahe kam, dass es unangenehm wurde. Obwohl Kei zu ihm hinuntergucken musste, fühlte er sich – klein.
„Captain–“, setzte Yamaguchi noch einmal an, so in sich zusammengesunken, dass er gerade tatsächlich kleiner war als Sawamura, aber ein einziger Blick ließ ihn sofort wieder verstummen. Er senkte den Kopf noch weiter, zog die Schultern hoch und kniff die Augen zu, als würde er sich auf die Abreibung seines Lebens gefasst machen. Flucht- und Schutzreflexe, die typisch Yamaguchi waren, die Kei schon immer peinlich und erbärmlich gefunden hatte, und die Kei selbst völlig fremd waren. Er begegnete Sawamuras Blick stoisch ruhig, keine Miene verzogen.
„Tsukishima.“
Keine Aufforderung, ein Befehl. Kei presste unwillig die Lippen aufeinander. Egal, was er jetzt sagte, es würde Sawamura kaum zufriedenstellen, und Kei hatte überhaupt keine Lust darauf, irgendeine Form von Reue zu heucheln, die er nicht verspürte. Kageyama war ein Idiot, der an seinem Leid eindeutig selbst Schuld war, und Kei war nicht sein Sündenbock.
„Nichts“, erwiderte er nach einer kurzen Denkpause gleichgültig monoton. Was hätten sie sich auch dabei denken sollen? „Es ist eine Wette gewesen. Ein Spaß unter Freunden. Wer hätte denn ahnen können, dass seine Majestät–“
Klatsch! Keis Kopf ruckte zur Seite von der Wucht des Schlages und das Brennen seiner Wange zog sich hoch bis zu seinen Augen. Sein Kiefer schmerzte, und das lag nicht nur an den fest zusammengebissenen Zähnen.
„Raus aus der Turnhalle“, grollte Sawamura, so leise, dass man ihn kaum verstand. Kei rührte sich nicht. Yamaguchi auch nicht, wobei Kei es eindeutig auf dessen Entsetzen schob, das ihm so klar im Gesicht geschrieben stand, dass man beinahe davon erschlagen wurde.
„RAUS HIER!“
Diesmal reagierte Yamaguchi, zuckte zusammen und wich einen zittrigen Schritt zurück. Keis Hände krampften zusammen.
„In nicht einmal einer Woche steht die Vorrunde vor der Tür. Dieses Team braucht niemanden, der nicht dazu beiträgt, dass wir diese Vorrunde auch überstehen! Raus hier. Ihr könnt wiederkommen, wenn ihr euch entschuldigt habt – ernsthaft!“
Yamaguchis Blick wurde nur noch entsetzter, er hob hilflos die Hände.
„Captain–“ – „RAUS!“
Er fiel in sich zusammen. Kei schnaubte angewidert, wandte Sawamura den Rücken zu, bevor der sehen konnte, wie die sorgfältig monotone Maske bröckelte.
„Wir gehen, Yamaguchi.“ – „Aber Tsukki–!“ – „Wir gehen.“
Kei wollte überhaupt nicht mehr wiederkommen.