Eiskalter Spätfrühling
„Kageyamaaaaaaaaaa!“
Hinatas Stimme hallte von den blanken Wänden der Sporthalle wider, unnötig laut, während der kleine Junge empört herumwirbelte. Mit quietschenden Sohlen überbrückte er die kurze Distanz zu Kageyama und baute sich vor ihm auf, die Arme weit ausgestreckt und der ganze winzige Körper vibrierte vor Empörung.
„Was war das denn für ein Wurf?!“
Kei schnaubte, unverhohlen amüsiert, doch er versteckte sein Grinsen hinter einer unauffälligen Geste, mit der er seine Brille zurechtrückte. Seit ihrem letzten kleinen Stelldichein in der Turnhalle hatte Kageyama rigoros versucht, Kei zu ignorieren – wobei die Betonung hierbei eindeutig auf versucht lag. Er scheiterte gnadenlos, was nicht nur einmal bisher darin geendet war, dass Kageyamas Augen in die falsche Richtung blickten, wenn er seinem Job nachgehen sollte – und prompt scheiterte ein Wurf, den Kageyama eigentlich im Schlaf beherrschen sollte. Selbst Tanaka reagierte mit einem gewissen Maß an Verständnis, freundlichem Schulterklopfen und aufmunterndem „Don’t mind“. Hinata hingegen war der Frust schon jetzt deutlich anzumerken, obwohl das vielleicht der zweite Wurf war, der danebengegangen war. Kei hörte gar nicht zu, was genau das Freak-Duo da hinten lautstark diskutierte, Hinata laut, Kageyama lauter werdend, und am Ende wandten sich beide mit einem genervten Schnauben voneinander ab und kehrten zu ihrem Training zurück.
Der nächste Wurf war akkurater.
Als Kei an der Reihe war, seine Schmetterbälle zu üben, hatte es sich mit den akkuraten Würfen schnell wieder. Der erste Wurf ging vollkommen daneben. Der zweite kam zu schnell, der dritte zu spät. Kageyama schien sich weigern zu wollen, überhaupt in seine Richtung zu blicken, soweit es nicht nötig war. Kei grinste dünn, grausam, als er den Blick fest auf den Schwarzhaarigen richtete.
„Ist seine Königliche Hoheit sich zu fein, dem Pöbel zuzuspielen?“, fragte er in falscher Liebenswürdigkeit, seine Stimme war leise genug, dass außer Kageyama niemand seine Worte hören durfte. Mit einem Knurren wirbelte der herum, stapfte auf Kei zu und packte ihn am Kragen, dass die Nähte an seinem Shirt lautstark protestierten.
Es sah aus, als wolle Kageyama etwas sagen, doch als Kei sein Handgelenk packte, um den Zug an seinem Kragen zu verringern, überlegte er es sich anders – wie von der Tarantel gestochen löste er sich, wirbelte herum und kehrte an seinen Platz zurück.
„Weiter.“
Leichter gesagt als getan, befand Kei, als auch der nächste Wurf nur ganz knapp erreichbar für ihn war.
Es störte ihn nicht. Er hatte längst auf dem Schirm, dass seine Königlichkeit ihm in Spielen nicht gern zupasste. Es war also kein großer Verlust, wenn sie nicht miteinander klarkamen.
Zu seinem Leidwesen stellte er viel zu bald fest, dass er der Einzige war, der das so sah.
Es war während des Aufräumens, ein paar Tage, nachdem die Stimmung zu kippen begonnen hatte, dass Sugawara ihn mit einem viel zu warmen, viel zu liebevollen Lächeln zu sich winkte. Kei riss sich nicht darum, die überall in der Halle verteilten Volleybälle aufzulesen, also drückte er seine bisher mickrige Ausbeute nur Yamaguchi in die Arme und schloss zu ihrem Vize-Captain auf, der ihn in die hinterletzte Ecke der Halle führte, in der es eindeutig weit ruhiger war als mitten im Geschehen. Er lächelte noch einmal, doch sein Lächeln war behutsamer geworden, fast ein wenig scheu, während er sich am Hinterkopf kratzte. Kei wartete, ruhig, während Sugawara die Hand wieder sinken ließ und in einem stummen Seufzen die Luft ausstieß, die Augen geschlossen. Als er wieder aufsah, war sein Blick wirklich ernst geworden, aber vor allem leuchtete Sorge in dem hellen Braun.
„Wir wollten euch die Gelegenheit geben, es selbst in den Griff zu bekommen“, eröffnete er in einem ruhigen, behutsamen Tonfall, so als habe er einerseits Sorge, Grenzen zu überschreiten, die er nicht zu überschreiten befugt war, und andererseits als sei er fest entschlossen, es trotzdem zu tun, weil es nötig war, „Aber langsam…“ Er brach ab und schüttelte den Kopf, sein Blick voller Kummer und Besorgnis. Kei hob die Augenbrauen, fragend, verschränkte die Hände lose vor dem Körper. Er wusste nicht, was diese Rede sollte, aber er hatte jetzt schon das dumpfe Gefühl, dass sie ihm nicht gefallen würde. Er mochte es allgemein nicht, sich von einem Senpai etwas sagen zu lassen.
„Wir Senpai sind immer für euch da, Tsukishima-Kun. Wenn ihr Probleme mit eurer Beziehung habt – du und Kageyama-Kun, dann–“ – „Was?“
Keis Augenbrauen wanderten noch höher. Sein Blick, seine Mimik blieben nichtssagend, aber innerlich schwankte er zwischen platter Fassungslosigkeit und lautem Gelächter. Letztlich gewann das Gelächter, das in Form eines belustigten Glucksens aus Kei herausbrach.
„Es gibt keine Beziehung. Das war nur eine Wette.“
Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. Sugawaras Blick war einen kurzen Moment vollkommen entgeistert, die braunen Augen groß und weitaufgerissen, dann verschwand mit einem Schlag der Erkenntnis jede Emotion aus seinem Gesicht. Keine Wärme, kein Ärger, nichts, das die üblicherweise ausdrucksstarke Mimik ausmachte, war noch übrig. Sugawaras Blick war so kalt, dass selbst Kei ein unangenehmer Schauer überkam.
„Was soll das heißen?“
Selbst seine Stimme klirrte wie Eis, so leise, dass sie tonlos war. Kei wollte nicht wissen, was für unangenehme Gefühle die fehlende Lautstärke verbarg. Er straffte die Schultern, hakte die Finger ineinander, reckte das Kinn vor. Er lächelte, aus reiner Gewohnheit heraus, lächelte, weil das um einiges überlegener war, als Beunruhigung zu zeigen.
„Es war eine Wette. Es gibt keine Beziehung, es gab nie eine, und es wird nie eine geben. Ich kann nichts dafür, dass Kageyama so einen kleinen Spaß unter Kollegen viel zu ernst nimmt.“
Für einen kurzen Moment war er fest überzeugt davon, dass Sugawara explodieren würde. Losbrüllen. Vielleicht zuschlagen. Der Drittklässler vor ihm war angespannt bis in die Haarspitzen, seine Ausstrahlung so frostig, dass die Antarktis dagegen kuschlig warm gewirkt hätte. Er explodierte nicht.
„Du wirst dich entschuldigen.“
Wieder leise, noch leiser gesprochen sogar. Trotzdem vibrierte seine Stimme hörbar vor unterdrückten Emotionen, mit denen Kei keine nähere Bekanntschaft machen wollte. Sugawara trat einen Schritt vor, in Keis Komfortzone, seine Augen waren kaum merklich verengt.
„Du wirst dich entschuldigen. Du wirst dich entschuldigen, und du wirst dafür sorgen, dass du und Kageyama-Kun wieder miteinander funktioniert, sobald ihr auf dem Spielfeld steht. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass du dieses Team nur noch von den Zuschauertribünen aus siehst. Hast du das verstanden?“
Im ersten Impuls war Kei kurz davor, einfach zu gehen. Volleyball bedeutete für ihn nicht die Welt, nicht wie für all diese Idioten, die sich Arme und Beine metaphorisch dafür ausrissen, besser zu werden, weiter zu kommen, das Unvermeidliche hinauszuzögern und dann doch zu verlieren. Im zweiten Impuls meldete sich sein Stolz, und mit seinem Stolz kam Ärger. Ärger auf Kageyama und dessen Drama, Ärger auf Sugawaras Mutterinstinkte, Ärger auf Yamaguchi, der den ganzen Unfug überhaupt erst losgetreten hatte. Ärger auf sich selbst, weil es ihm egal sein sollte, aber nicht egal war.
Er senkte den Kopf, in einer Bewegung, die so hektisch war, dass sie beinahe als Nicken durchgehen konnte, wandte den Blick von Sugawaras farblos braunen Eisaugen ab.
„Verstanden.“
Der Gedanke, sich bei Kageyama zu entschuldigen, stieß ihm bitter auf. Kei sah es nicht ein. Er war angefressen von Sugawaras Predigt, und uneinsichtig, wieso er sich überhaupt entschuldigen sollte für etwas, das von vornherein so offensichtlich hätte sein sollen. Er konnte nichts dafür, dass Kageyama die emotionale Intelligenz eines Steins besaß. Oder, um bei seinem königlichen Image zu bleiben, von einem Edelstein.
Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sich nicht entschuldigt.
Ginge es nach Sugawara… Und so wenig Kei einsah, dass er tatsächlich eine Schuld trug, von der es sich zu befreien galt, so wenig wollte Kei Bekanntschaft machen mit all den mühsam verborgenen Gefühlen, die unter Sugawaras eisiger Fassade geschwelt hatten.
Als sie sich nach einem gemeinsamen Gang zu Coach Ukais Laden schließlich trennten, wie immer Hinata und Kageyama die ersten, die Abschied nahmen, spürte Kei Sugawaras Blick im Rücken, und ohne hinzusehen wusste er, dass der Kerl nicht zufrieden sein würde, wenn er sich nicht in Bewegung setzte. Er schnaubte leise, warf einen missgelaunten Blick in Yamaguchis Richtung.
„Warte hier.“
Yamaguchi nickte, wenn auch etwas verdattert – er hatte absolut nichts von dem vorangegangenen Drama mitbekommen. Jede Nachfrage, was Sugawara denn gewollt hatte, hatte Kei mit einem „geht dich nichts an“ abgeschmettert, und wenn man Yamaguchi auch sonst nicht viel gutes nachsagen konnte, er kannte seine Grenzen, sobald es um Kei und seine Launen ging. Er fasste Kageyama ins Auge, bedeutete ihm mit einem stummen Kopfnicken, ihn zu begleiten. Es erstaunte ihn nicht, dass Kageyama folgte – er schien Kei nicht der Typ zu sein, der gern eine Szene vor dem ganzen Team machte. Genau wie Kei, übrigens, aber da hörte es mit den Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf.
Ein paar Schritte vom Team entfernt blieben sie stehen, weit genug auf Distanz, um in Frieden reden zu können. Keis Blick zu der kleinen Menschentraube zeigte, dass Hinata schon abzog, und der Rest sich zu Kleingesprächen zusammenrottete. Selbst Sugawaras Aufmerksamkeit lag ganz taktvoll auf etwas anderem als ihnen. Kageyama sagte nichts. Sein Blick war feindselig wie noch nie, es lag eine Kälte darin, die neu war – eine Kälte, die aus Verletztheit geboren war, vermutete Kei, der nicht so ganz wusste, ob er darüber abfällig schnauben oder doch lachen sollte. Oder keins von beidem, denn der Anblick machte ihn irrational wütend.
Entspannt ließ er den Kopf leicht zur Seite fallen, brachte ein Lächeln auf sein Gesicht, das genauso liebenswürdig wie falsch war.
„Kageyama, ich möchte mich entschuldigen. Ich hätte dir gleich sagen sollen, dass es nur eine alberne Wette ist, dann hättest du dich nicht so sehr zum Idioten machen müssen.“
Kageyamas Blick entgleiste zwischen Wut und Entsetzen. Kei fuhr seelenruhig fort, ehe Kageyamas königlicher Verstand völlig aufarbeiten konnte, was er ihm gerade an den Kopf geworfen hatte: „Aber bitte, es muss doch nicht das ganze Team darunter leiden, nicht wahr?“
Kei lächelte noch einmal, und es sah sogar beinahe ehrlich freundlich aus.
„Du solltest es einfach vergessen.“
Kageyamas Antwort kam so plötzlich und unerwartet, dass Kei nicht reagieren konnte: Der Schlag saß, ehe er begriff, was passierte, und Kageyama hatte sich schon abgewandt, bevor der Schmerz überhaupt bis zu Keis Verstand durchgedrungen war. Kei verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse und zischte voller Abscheu, voller Ärger, und in seinem Magen rumorten Gefühle, denen er keinen Namen geben wollte, weil Kageyama nicht einmal diese Anstrengung wert war.
Bis auf Yamaguchi war niemand mehr da, als er zurückkehrte zu dem Punkt, an dem vorhin noch die kleine Team-Traube gestanden hatte. Besagter Yamaguchi sah ihn als, als würde er ein Gespenst sehen, machte den Mund auf – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“
Yamaguchi hielt die Klappe. Kei schnaubte, setzte sich in Bewegung und trat den Heimweg an.
Es war ein Segen, dass Yamaguchi konsequent die Klappe hielt. Selbst seine nervigen Abschiede sparte er sich.