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Dare o erabu kana?

Für wen soll man sich entscheiden?
von

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Immer an deiner Seite

„Woah! Ist das groß!“

Die Gruppe war gerade erst auf dem Festgelände angekommen, welches von Schaulustigen zwischen den vielen Attraktionen und Vergnügungsständen nur so überfüllt war. Die jährliche Veranstaltung war gut besucht; so gut, dass an den Ausgängen zum Stadtgeschehen sogar Kassen aufgebaut worden waren, die Plaketten an geflochtenen Halsbändern, Werbeplakate und Programmheftchen an die Besucher verkauften. Auch sie waren nicht ohne eine Eintrittsplakette davongekommen, doch sie hatten Glück, dass die beiden Kassiererinnen die Jungs sofort erkannt und sich als Starish-Fans entpuppt hatten. So profitierten sie nicht nur von dem Gruppenrabatt, sondern auch gegen Autogramme von einem Preisnachlass plus kostenfreie Programmheftchen, wer denn so eines mitnehmen wollte.

Und nun standen sie hier, vor einer Art riesiger Hollywoodschaukel, die über einer Wasserfontäne rotierte, sich mehrmals überschlug und die Insassen so zum Kreischen brachte. Die dazu eingespielte Pop-Musik ging in dem lauten Geschrei gnadenlos unter.

Lautes Gemurmel von vorbeigehenden Gästen und begeisterten Zuschauern vermischten sich mit lauten Rufen von verschiedenen Händlern und Standleuten, die von allen Seiten zu kommen schienen. Kinder lachten und zerrten ungeduldig an den Armen ihrer Eltern, während diese alle Mühe hatten, für wenigstens einen Augenblick an einem Fleck verweilen zu dürfen. Die warme Luft war gefüllt von dem süßen Geruch eines Süßwarenstandes, der irgendwo ganz in ihrer Nähe sein musste.

„Da weiß man ja gar nicht, was man zuerst machen soll“, sprach Otoya sein Erstaunen erneut laut aus, wobei er sich eine Hand schützend über die Augen hielt, um bei dem hellen Sonnenlicht mehr von der bunten Vielfalt erkennen zu können. Auch der Rest der Gruppe blickte sich neugierig um und schien unschlüssig, in welche Richtung sie als Erstes gehen sollten. Selbst die Map – ein großes Faltblatt, auf dem alle Attraktionen und andere interessante bis wichtige Anlaufstellen verzeichnet waren –, welche Haruka vor sich und den anderen hielt, machte die Entscheidung nicht gerade leichter.

„Das ist ja fast wie im Hirapa*“, befand Syo. Wie auch Masato, Tokiya und Cecil inspizierte er neben Haruka die Karte und kratzte sich dabei nachdenklich am Nacken. „Nur nicht gaaanz so groß“, fügte er seinem Vergleich hinzu.

„Warst du denn schon einmal im Hirapa, Syo-chan?“

Der Kleinere schüttelt auf die Frage des Freundes hin mit dem Kopf. „Nicht persönlich. Ich habe es nur schon einmal in einem Urlaubskatalog gesehen, als ich kleiner war. Und im Fernsehen. Ich wollte dort eigentlich immer mal als Kind hin, aber… wir sind stattdessen viel ans Meer gefahren.“ Aus diesen Worten drang eine gewisse Sehnsucht heraus, die von einem stummen Seufzen des Jungen begleitet wurde. Doch er sagte nichts weiter dazu.

„Ich denke, da will jedes Kind einmal hin“, kommentierte Tokiya diese Aussage, ohne den Kleineren dabei anzusehen.

Neben ihm nickte Haruka mit einem verträumten Lächeln. „Ja, das denke ich auch. Ich wäre dort auch gern einmal hingefahren, aber wir hatten nie das Geld für einen so teuren Urlaub“, erklärte sie.

„Naja, dafür haben wir ja das hier“, beteiligte sich auch Ren an der Unterhaltung, wobei er eine überflüssige Geste auf den weiten Bereich vor ihnen machte. Schmunzelnd korrigierte er den Sitz der schmalen, braungetönten Sonnenbrille auf seiner Nase. „Das ist doch auch was. Und es ist sehr viel günstiger als ein Vergnügungspark. Also, was stehen wir hier eigentlich noch herum?“

„Ne, Syo-chan! Wollen wir das dort nicht auch einmal ausprobieren?“, wandte sich Natsuki an seinen Kindheitsfreund, deutete auf die sich überschlagende Hollywoodschaukel vor ihnen und strahlte über das ganze Gesicht, als hätte er ein harmloses Ponykarussell vor sich.

Für einen Moment musterte Syo das längliche Gefährt, an welchem bunte Lämpchen in einem unrhythmischen Takt flimmerten. Gerade schoss eine neue Wasserfontäne unter den kopfüberhängenden Fahrgästen in die Höhe, woraufhin diese schrien, als hingen sie am Spieß.

Sein Blick verdüsterte sich, als er skeptisch zu dem Freund aufsah. „Du jedenfalls wirst nicht mit diesem Ding fahren!“, machte er seine Ansage deutlich.

Natsukis Lächeln wich einem entsetzten Ausdruck. „Eeeh? Aber wieso denn nicht?“

„Hast du schon einmal daran gedacht, was das ergeben soll, wenn du dabei deine Brille verlierst?!“, fuhr der Jüngere ihn an und machte dabei eine verdeutlichende Geste zu dem Gefährt, welches gerade einen Dreifachsalto schlug. Um die wahre Bedeutung hinter dieser Aussage nicht vor dem ahnungslosen Freund zu enthüllen, der ihn mit einem bohrend-fragenden Blick ansah, fügte er noch schnell eine alternative Erklärung hinzu: „Was denkst du, wer die da wieder herausholen soll? Und was ist, wenn sie bei dem Aufprall kaputtgeht? Willst du dann etwa blind herumlaufen?“

„Wie hoch ist seine Sehschwäche eigentlich?“, wollte Ren wissen, woraufhin ihm ein feindseliger Blick zugeworfen wurde. Eine eindeutige Warnung des Kleineren, die keiner weiteren Worte bedurfte. Sofort hob der Schönling in einer beschwichtigenden Geste die Hände vor sich in die Luft.

„Klar soweit?“, wandte sich Syo wieder an seinen Freund, die Hände in die Hüften stemmend.

Nachdenklich ließ Natsuki seinen Blick zu der Riesenschaukel schweifen. Eine Zeit lang beobachtete er die Insassen darin, welche gerade teils lachend, teils sichtlich erschöpft aus ihren Gurten entlassen wurden.

„Aber“, versuchte er einen erneuten Anlauf, den Freund zu überreden, „andere scheinen damit auch keine Probleme zu haben. Schau doch, Syo-chan, da sind auch Brillenträger wie ich dabei.“ Er deutete auf ein junges Pärchen, welches gerade ausstieg. Beide trugen Brille und hatten sie allem Anschein nach die ganze Fahrt über getragen.

„Die haben ja auch nicht dein unglaubliches Talent, ihre Brillen in den ungünstigsten Momenten zu verlieren. Du fährst nicht! Und damit basta!“ Damit war die Diskussion für ihn beendet. Ohne dem Freund auch nur die Gelegenheit zu lassen, noch etwas darauf zu erwidern, griff er ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Alle Proteste konnten den Jungen nicht erweichen. Sie waren bereits dabei, sich von der Gruppe zu entfernen, da drehte sich Syo noch einmal nach den anderen um: „Was ist? Kommt ihr nun, oder was?“

 

Das Festgelände war größer als von allen erwartet. Vielleicht kam es ihnen auch nur so vor, was den vielen Attraktionen zuzuschreiben wäre, die tatsächlich mehr das Gefühl vermittelten, sie befänden sich in einem Vergnügungspark. Von Achterbahn bis Kinderkarussell war scheinbar alles vertreten: Schaukelschiff, Highspeed Tassen, Dreh- und Wippkarussells, eine riesige Hüpfburg und auch Syos geliebter Autoscooter. Neben Schieß- und Losbuden waren selbst ein kleiner Streichelzoo mit Zirkustieren und Ponyreiten vertreten, worüber sich Natsuki sehr freute. Mittig des Schauplatzes war ein Riesenrad aufgebaut worden, so wie Natsuki angekündigt hatte, nur die gewünschten Wasserbahnen fehlten. Wirklich vermissen tat man sie jedoch nicht, dazu gab es auch gar keine Gelegenheit.

Ein kleines Spiegelkabinett erregte Harukas Aufmerksamkeit und sie überredete die anderen, es sich gemeinsam anzusehen. Es war ein lustiges Unterfangen, mit einigen Schreckmomenten verbunden, und mit mehreren Personen zusammen machte es gleich viel mehr Spaß.

Zwischen Süßwaren- und Eisständen versuchte die Gruppe eine kleine Verschnaufpause einzulegen, doch daraus wurde nichts. Die beiden Kassiererinnen am Eingang waren nicht die Einzigen, welche die Jungs sofort erkannt hatten, und so waren sie schnell von einigen Fans umzingelt, kaum dass sie zum Stehen kamen. Wie viele Autogramme sie in dieser Zeit geben und wo sie überall unterschreiben mussten, ließ sich kaum zählen, doch sie waren froh, dass sie es irgendwie schafften, die Fantrauben nach vielen Minuten wieder aufzulösen. Fluchtartig setzten sie sich in Bewegung, um nicht gänzlich in dem Trubel unterzugehen, den sie gar nicht für sich beabsichtigt hatten.

„Vielleicht wäre es besser, solche Ausflüge künftig erst von jemandem organisieren zu lassen“, hatte Tokiya irgendwann eingeworfen, woraufhin ihm jeder zustimmte. Ihnen war hiermit bewiesen, dass sie anscheinend noch immer unterschätzten, wie bekannt sie mittlerweile waren. Als Stars war es schwer, normal unter Menschen zu gehen. Zumindest dann, wenn genug von ihnen an einem Fleck versammelt und ausreichend ausgelassen waren, um die Jungidole binnen Sekunden laut kreischend zu umkreisen.

Folgend nutzten sie die Splitstrategie, um an Essen und Erfrischungen heranzukommen: Nur zwei von ihnen wagten sich ins Getümmel, während sich der Rest einigermaßen verborgen zurückhielt und auf die Bestellungen wartete. Gänzlich unbemerkt blieb das jeweilige Duo, welches sich stets abwechselte, zwar auch nicht, aber es war zumindest erträglicher und mit deutlich weniger Zeitaufwand verbunden.

Weniger anstrengend war es, wenn sie für eine Attraktion anstanden, da niemand wagte, aus der Reihe zu tanzen und seinen Platz in der langen Warteschlange zu riskieren. So ließ sich ihr kleiner Gruppenausflug doch noch ganz gut genießen.

„Haaa~, das hat Spaß gemacht!“, streckte sich Otoya genüsslich, nachdem die Gruppe die „Fliegenden Tassen“ – eine weite Plattform, auf der einige bunte Tassengestelle als Fahrzeuge dienten, die mit der Zeit immer schneller und wilder über die ganze Fläche im stetigen Wechsel um ihre eigene Achse rotierend drehten – erfolgreich überlebt hatte. Mehr oder minder zumindest, wenn man sich Masato betrachtete, der sich wehleidig den Kopf hielt und in seinem Gang schwankte.

„Da habt ihr beiden echt was verpasst, ihr hättet mitfahren sollen! … Huh? Wo sind sie denn?“ Suchend blickte sich der Rotschopf um, doch von dem Mädchen und dem Prinzen, die sie vor dem Fahrgeschäft zurückgelassen hatten, fehlte jede Spur. Cecil hatte abgelehnt, mitzufahren, da er sich die vielen Drehungen nicht zugemutet hatte, und Haruka hatte ihn nicht zurücklassen wollen. Doch nun waren sie weg, alle beide. „Nanamiii! Ceciiil!“

„Wo sind sie? Sie wollten doch hier warten.“ Syo war ratlos.

„Vielleicht hatten sie Durst und wollten sich etwas zu trinken holen oder mussten auf Toilette“, überlegte Natsuki neben ihm.

Tokiya schüttelte entschieden den Kopf. „Nanami hätte deswegen nicht ihr Wort gebrochen. Sie hätte gewartet, bis wir alle wieder zusammen sind. Das ist ausgeschlossen.“

„Vielleicht ist unser kleines Lämmchen unter dem vielen Geschiebe und Gedränge verloren gegangen und Aijima wollte sie zurückholen“, gab Ren seine Vermutung ab, die schon eher nach dem tollpatschigen Mädchen klang. Wirklich amüsant war diese Vorstellung jedoch nicht; noch weniger, wenn man bedachte, wie schnell so etwas bei einem kleinen und zierlichen Mädchen passieren und wie schwierig es werden konnte, ein solch verlorenes Schäfchen in der großen, lebhaften Menschenmenge wiederzufinden.

„Arme Haru-chan“, flüsterte Natsuki besorgt, was ihm einen Faustschlag gegen die Schulter von Syo einbrachte.

„Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Idiot!“

Noch einmal versuchte es Otoya mit einem lauten Rufen, auch wenn allen klar war, dass es nichts nützte. „Nanamiii!“

 

Als hätte sie jemanden nach ihr rufen gehört, drehte Haruka den Kopf, doch hinter ihr war niemand Bekanntes zu sehen. Sie musste es sich wohl eingebildet haben.

„Ist das wirklich okay? Vielleicht hätten wir besser auf die anderen warten sollen…“  Zum wiederholten Male suchte sie die vorbeiziehenden Menschen in der Nähe nach einem vertrauten Gesicht ab. Doch nichts, sie waren ihr alle fremd. „Sie werden sich bestimmt Sorgen machen, wenn sie merken, dass wir verschwunden sind“, ergänzte sie verunsichert.

Neben ihr strauchelte Cecil, welchen sie an Brust und Rücken stützte, so gut sie konnte. Für einen Sekundenbruchteil setzte ihr Herzschlag aus vor Schreck, da sie dachte, er würde stürzen. Doch der Prinz fing sich ab, was sie erleichtert ausatmen ließ.

„Tut mir leid, Haruka“, sprach er leise und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. „Ich hätte die letzte Fahrt vielleicht doch bleiben lassen sollen.“

Das Mädchen schüttelte mit dem Kopf. „Das ist schon okay. Immerhin haben wir dich dazu überredet, obwohl du gesagt hast, dass dir ein wenig schwindelig ist. Du bist solche Festveranstaltungen nicht gewöhnt, nicht wahr, Cecil-san?“

„Zugegeben… Als Natsuki etwas von „Fest“ sagte, habe ich mir etwas anderes vorgestellt“, gestand er. Daraufhin versuchte er sich an einem schiefen Grinsen, was jedoch eher wehleidig auf seinem, für seine Verhältnisse gesprochen, blassen Gesicht wirkte. „Zumindest weiß ich jetzt, wieso Syo wollte, dass ich mich noch einmal umziehe. Eine Kurta wäre keine gute Wahl für diese Art von „Fest“ gewesen, richtig?“

Seine Worte brachten sie zum Lachen. Nur kurz, aber von Herzen. „Ja, vermutlich.“

Vorsichtig gingen sie weiter über den holperigen Grund der Wiese, auf der sich neben ihnen noch viele weitere Festbesucher eingefunden hatten, um in den Schatten der hohen Bäume zu verschnaufen. Sie gaben Acht, dass sie niemanden anrempelten oder versehentlich auf Hand oder Fuß traten, während sie Ausschau nach einem freien Plätzchen hielten. Auf dem Veranstaltungsplatz hatten sie kein Glück bei ihrer Suche gehabt; sämtliche Bänke waren besetzt gewesen, ebenso wie sämtliche Stühle der näheren Cafés und Imbissbuden. Um nicht ganz in der unüberschaubaren Menschenmenge unterzugehen, hatte Cecil daher vorgeschlagen, es bei der Wiese direkt hinter den Buden zu versuchen. Dafür hatten sie außer Sichtweite der anderen gehen müssen, doch das war immer noch weniger riskant, sich gänzlich zu verlieren, als wenn sie weiter mit dem Strom gegangen wären.

„Da!“, rief Haruka plötzlich aus und deutet auf einen breiten Kirschbaum nur wenige Meter vor ihnen. Zwar hatte sich auch dort schon eine Familie eingefunden, doch es gab noch genug Platz, dass sie sich auf der anderen Seite des breiten Stammes dazusetzen konnten, ohne diese Leute zu stören oder gar zu belästigen. „Lass uns dorthin gehen. Dann kannst du dich setzen und ein wenig ausruhen“, lächelte sie ermutigend zu Cecil hoch. Sie hatten wirklich Glück.

Gesagt, getan. Mit wankenden Schritten gingen sie zu besagtem Baum hinüber, dessen weite, blütenlose Blätterkrone genug Schatten auf den Boden warf, und Haruka half dem Jungen, dass er sich setzen konnte. Etwas ungeschickt ließ er sich plumpsen, atmete sogleich tief durch, und auch Haruka kniete sich neben ihn in das einigermaßen kühle Gras.

„Ist es so besser?“, wollte sie wissen, woraufhin sie ein bestätigendes „Mhm“ erhielt. Erleichtert lächelte sie, doch schon kehrte ihre Sorge zurück. Ihr schlechtes Gewissen erwies sich als sehr hartnäckig und erneut schweifte ihr Blick über das weite Grün, um nach bekannten Gesichtern Ausschau zu halten.

Ein sanftes Kitzeln an ihren nackten Knien, über welche ihr kurzer Rock samt kurzer Leggins darunter nicht reichten, ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Es folgte, dass sich ein Gewicht über ihren Schoß ausbreitete, als Cecil seinen Kopf auf ihren Oberschenkeln bettete. Er hatte unbemerkt vom Sitzen in eine liegende Rückenlage gewechselt und nun stachen sanfte, türkisblaue Augen zu ihr hoch.

„So ist es noch viel besser“, sprach er leise, und Haruka spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten. Die Mittagssonne schenkte ihnen ohnehin schon einen sehr warmen Sommertag, doch hiermit hatte das wirklich nichts zu tun.

„Haruka?“ Unmerklich und ohne zu wissen, wieso, zuckte sie zusammen, als er sie ansprach. „Du machst dir Sorgen um die anderen, nicht wahr?“

Sie fühlte sich ertappt. Zaghaft nickte sie. „Mh.“ Und nach einem kurzen Zögern fügte sie noch hinzu: „Ich bin mir sicher, sie machen sich ebenfalls Sorgen und suchen schon nach uns.“

Cecil antwortete nicht, doch ihm war anzusehen, dass er mit ihrer Antwort unzufrieden war. Ihre Gedanken waren nicht hier, bei ihm, sondern bei dem Rest ihrer Gruppe. Das gefiel ihm nicht.

„Willst du zurück?“ Seine Frage klang ungewollt brummig.

„Dir geht es nicht gut“, erklärte sie leise und bemühte sich um ein Lächeln, „und ich will dich nicht allein lassen. Ich bin mir sicher, wenn wir es den anderen später erklären, werden sie es verstehen.“

Erneut schwieg er. Auch das war nicht die Antwort gewesen, die er sich erhofft hatte. Dennoch widersprach er ihr nicht. Wieso auch? Immerhin hatte er sie gefragt und sie hätte Ja sagen können. Hatte sie aber nicht, und er wäre dumm, würde er diese seltene Gelegenheit nicht nutzen, sie für sich allein zu haben. Die anderen würden zudem ganz genauso handeln, wären sie an seiner Stelle, daran hatte er keinen Zweifel. Wenn es um Selbstlosigkeit ging, war Haruka vielleicht die Einzige, die anders als sie alle zusammen war.

„Ich denke nicht, dass sie das werden“, sprach er seinen Gedanken etwas versetzt laut aus. Die Stimme gedämpft, doch in ihr klang eine Gewissheit heraus, welche Harukas Lächeln schwinden ließ.

„Wieso sagst du das?“, wollte sie leise wissen. Es klang heraus, dass sie seinen Worten nicht glauben konnte.

„Ich verstehe nicht“, überging er ihre Frage einfach und wandte seinen Blick von ihr ab, „wieso du dir immer so viele Gedanken um die anderen machst. Immer nur die anderen, nie denkst du erst an dich. … Weißt du, ich möchte es ja verstehen und ich versuche es wirklich, aber…“ Er verstummte, während er nach den richtigen Worten suchte. Nach nur wenigen Sekunden gab er dieses Unterfangen auf, schloss die Augen und wiederholte nur sein vorheriges „Ich verstehe es einfach nicht“.

Daraufhin wurde es still zwischen ihnen.

„Das stimmt so nicht“, flüsterte Haruka schließlich, nachdem sie für längere Zeit geschwiegen hatte. Cecil hob aufmerksam seinen Blick, doch sie bemerkte es nicht, da sie ihrerseits zur Seite wegschaute. „Ich bin nicht so selbstlos. Ich habe mich für die Saotome Academy beworben, aus dem einzigen Grund, weil ich Musik liebe. Vor langer Zeit hat mich jemand durch seine Musik gerettet, als ich verloren war. Ich wollte lernen, genau solche Musik machen zu können, um all das an andere weitergeben zu können, was ich selbst einmal erfahren durfte. … Ich lernte Tomo-chan, Ittoki-kun und die anderen kennen. Sie haben mir so viel gegeben und ich habe viel durch sie gelernt. Aber… ich hatte immer das Gefühl, dass ich das niemals an sie zurückgeben könnte.“

Für einen Moment verlor sie sich in ihren Gedanken, bis sie fortfuhr: „Als ich dann für das Abschlusssingen zwischen ihnen wählen sollte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Sie alle sind wundervolle Sänger und jeder ist auf seine Weise besonders. Und mir… hat jeder von ihnen viel bedeutet. Ich… konnte eine solche Wahl nicht treffen.

Dann bin ich dir begegnet.“ Bei diesem Satz fand sie den Mut, ihn anzusehen, und ein zaghaftes Lächeln wagte sich auf ihre Lippen zurück. „Erst dank dir habe ich begriffen, dass ich das gar nicht muss. Dass es noch einen anderen Weg gibt, auf mein Herz zu hören. … Ohne dich gäbe es Starish heute nicht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nie den Mut gefunden, es wenigstens zu versuchen. Es ist allein dir zu verdanken. Du hast uns allen etwas wirklich Wundervolles geschenkt, Cecil-san, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“

Nachdem sie geendet hatte, wurde es still zwischen ihnen. Auf Cecils Gesicht hatte sich eine dezente Röte geschlichen, was dem aufrichtigen Lächeln zu schulden war, welches Haruka ihm schenkte. In dem Moment fand er keine Worte, die er ihr erwidern könnte.

Wenig später unterbrach sie den intensiven Blickkontakt, sah abermals zur Seite und zog die Schultern nach vorn. Nur leise, beinahe zögerlich, sprach sie: „Dennoch… Es war wohl ziemlich egoistisch von mir, Ittoki-kun und die anderen zu bitten, dass sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen und statt allein, gemeinsam singen. Ich denke oft, dass das nicht fair von mir ihnen gegenüber war…“

Für einen weiteren, kurzen Moment schwieg er. Bis er schließlich nickte und ihr mit sanfter Stimme bestätigte: „Ja, das war bestimmt sehr egoistisch von dir.“

Sie wandte sich zu ihm, doch statt dass sie von seinen Worten verletzt war, strahlte sie über das ganze Gesicht. „Und doch… bin ich sehr glücklich darüber“, flüsterte sie genauso leise und sanft zurück, als sei es ein Geheimnis, welches nur sie beide untereinander teilten.

Ihr munteres Lächeln übertrug sich auf ihn. Schweigend hob er seinen Arm und kurz darauf ruhte seine Hand warm auf ihrer Wange. Sie fühlte sich weich unter seinen Fingern an. Die schüchterne Röte, welche nun ihre Wangen zierte, brachte seine Augen regelrecht zum Leuchten. „Und ich bin sehr glücklich, wenn du glücklich bist, my Princess.“

Doch schon im nächsten Moment ermattete sein Lächeln schwindend. Machte erst einem Anflug von Traurigkeit Platz, bis es ernst wurde. „Jedoch“, begann er vorsichtig, die Stimme von Besorgnis getränkt. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass es ewig so sein wird. … Aber ich fürchte, das kann ich nicht.“

Fragend legte sie den Kopf schief. Sie verstand nicht. – Natürlich nicht.

Noch einmal ließ er seine Finger sanft über ihre Wange fahren, dann ließ er von ihr ab. Er senkte seinen Arm, schloss dann die Augen, um ihrem Blick auszuweichen. „Starish“, sprach er ruhig und beantwortete damit ihre stumme Frage. „Die anderen, ebenso wie du und ich.“ Eine kurze Pause folgte, bis er an ihrem anhaltenden Schweigen anknüpfte: „Hast du es noch nicht bemerkt, Haruka?“

„Was meinst du?“, fragte sie erneut, leiser und irgendwie vorsichtig. „Was habe ich noch nicht bemerkt? Sag es mir bitte, Cecil-san.“

Nur leicht öffnete er die Augen, ohne sie anzusehen. Obwohl er noch immer auf ihrem Schoß lag und ihr so nah war, war es, als wäre er ihr nie ferner gewesen. „Sie haben es anscheinend auch noch nicht bemerkt“, murmelte er vor sich hin und schien mehr mit sich selbst als mit Haruka zu sprechen.

„Wer? Ichinose-san und die anderen? Wovon sprichst du?“

„Oder…“, fuhr er gedankenverloren fort. Er schien sie gar nicht zu hören. „… vielleicht haben sie es, aber es ist wie Tokiya sagte und sie sind sich dessen nur nicht bewusst.“

„Cecil-san?“

„Aber Shining Saotome hat es bemerkt…“

Cecil-san!

Erst als sie seinen Namen rief, blickte er zu ihr hoch. Ihm wurde just bewusst, dass er in seinen Gedanken abgedriftet war und sie mit seinen Worten zunehmend verwirrt hatte. Das hatte er nicht gewollt, und es tat ihm augenblicklich leid. Doch es war zu spät. Gesagtes war gesagt und er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Sie flehte um Antworten, und die war er ihr schuldig, wenn er es nicht noch schlimmer machen wollte.

Schon öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, doch er wurde noch in seinem Atemzug unterbrochen, als Harukas Handy klingelte.

„Entschuldige bitte“, gab sie gezwungen von sich, begann in ihrem kleinen, weißen Umhängetäschchen zu kramen und holte das Mobiltelefon hervor, bevor es aufhören konnte zu klingeln. Nur kurz prüfte sie das Display, ehe sie eilig abnahm. „Ja? … Ittoki-kun!“ Ja, natürlich! Wieso war sie nicht früher darauf gekommen, die anderen einfach anzurufen und ihnen so Bescheid zu geben, wo sie waren?

Die Aufregung der Jungs am anderen Ende der Leitung war durchaus berechtigt. Selbst Cecil konnte Otoya und Syo deutlich heraushören, wie sie sich durch das Telefon überschlugen. „Ja… Nein, mir geht es gut. … Tut mir leid… Ja, Cecil-san ist bei mir. Ihm ging es nicht- … Auf der Wiese hinter den Buden gegenüber den Tassen, wo wir zuletzt waren. Es war nichts- … Ja… Tut mir leid, wirklich! … Ja, okay. Wir bleiben hier und warten. … Tut mir- … Ja… Ja, okay. Versprochen.“ – Klick.

Sie seufzte einmal schwer und ließ die Schultern nach vorn fallen. Dann steckte sie das Handy behutsam in ihr Täschchen zurück, bevor sie sich wieder an Cecil wandte. „Tut mir leid, das waren die anderen. Sie kommen uns gleich abholen. … Ähm, du wolltest…?“

Besorgt verzog er die Augenbrauen. Kurz zögerte er, dann besann er sich aber darauf, dass er sie erlösen wollte.

„Shining Saotome hat es eigentlich bereits gesagt. Und Ringo auch“, versuchte er es ein letztes Mal in der Hoffnung, dass sie noch von selbst darauf kommen würde, was er ihr zu erklären versuchte. Doch ihr zaghaftes Kopfschütteln symbolisierte ihm, dass sie ihm weiterhin nicht folgen konnte.

Er seufzte einmal schwer, gab sich dann aber einen Ruck. „Der Direktor hat dein letztes Musikstück abgelehnt, nicht wahr?“

Sie nickte. Ein erstes Anzeichen, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Cecil senkte das Kinn, wodurch er sich von ihrem Blick löste. „Es war nicht die Melodie... Was Saotome kritisiert hat, war nicht das Lied gewesen.“ In einer kurzen Pause schien er seine nächsten Worte genau abzuwägen. Er atmete tief durch. „Das Lied ist gut, sehr gut sogar! … Aber das ist es auch nicht, was er gemeint hat.“

Haruka spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag kehrten zurück, setzten sich in ihrem Kopf fest, und sie konnte die Worte des Direktors wieder ganz genau hören, was er zu ihr gesagt hatte. „Halbherzig“, wisperte sie zittrig, und alles war wieder da:  Die Zweifel, die Ängste, ihre Selbstvorwürfe… und all die vielen Fragen. „Er sagte, es sei halbherzig.“

Cecil öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Offenbar wusste er nicht, wie er sagen sollte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Nach einem kurzen Hapern entschied er sich schließlich zu einem anderen Weg, schloss die Augen und atmete tief ein.

Leise begann er jene Melodie zu summen, welche Haruka für sie komponiert hatte. Er kannte sie ebenso gut wie all die anderen Melodien, zu denen Starish schon gesungen hatte. Unzählige Male hatte er sie schon vor sich hin gesummt, wenn er allein gewesen war, und immer hatte es dieses gewisse Gefühl in ihm hervorgerufen, nach welchem er nun bewusst in seinem Inneren suchte.

„Mhmmm mhh mhh, mhhh…“ Die Melodie war sanft, anfangs eher ruhig, wurde für die Strophen etwas heiterer und der Refrain hatte etwas Verspieltes. Cecils eher weiche Stimmlage war wie geschaffen dafür, sie vorzusummen, obgleich es ein Lied für sie alle war.

Haruka schwieg und lauschte. Natürlich hätte sie genauso gut mit einstimmen können, schließlich kannte sie ihre Melodien. Doch sie konnte nicht. Es war beruhigend, entspannend, Cecil zuzuhören. Zugleich aber löste es Unbehagen in ihr aus, denn so gut die Melodie für sie auch klingen mochte, die Gewissheit blieb, dass der Direktor anderer Meinung gewesen war. Und es schmerzte.

Dann, mitten in der zweiten Strophe, stoppte er plötzlich und verstummte. Beinahe konnte sie ihren Herzschlag hören, wie es heftig gegen ihre Brust hämmerte. Es war unerträglich, doch sie wartete, bis er etwas zu ihr sagen würde.

„Es ist…“, setzte er an, überdachte die folgenden Worte einen Moment, bevor er seinen Erklärungsversuch wagte, „… ein Gefühl. Es ist schwer, zu beschreiben. … Das Lied an sich ist schön, sehr warm. Doch zugleich… stimmt es nicht. Es ist nicht richtig.“

‚Nicht richtig?‘, wiederholt sie seine Worte in Gedanken. Ihre Stimme versagte ihr den Dienst, und sie konnte nur hoffen, dass er weitersprechen würde.

Zum Glück tat er es. „Es ist anders als sonst. Wie soll ich sagen? Mh… Es… ‚stolpert‘. Das Herz in dem Lied ‚stolpert‘.“

Mit diesen Worten ging ein Ruck durch Harukas Körper. Sie war sich nicht sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte, aber sie lösten etwas in ihr aus. Irgendetwas, das sie nicht zu benennen wusste, doch es sorgte dafür, dass ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Geradeso, als wäre es bei etwas ertappt worden, von dem sie selbst nicht wusste, was es war.

„Haruka.“ Schon wieder zuckte sie zusammen. Sie wagte kaum, ihn anzusehen. Doch das tiefe Blau seiner Augen bannte sie. „Es ist dein Herz. In jedem deiner Lieder steckt ein Stück deines Herzens. Deswegen ist deine Musik immer aufrichtig, berührt die Menschen und verbindet sie miteinander. Das Herz in deiner Musik lügt nicht. … Auch in diesem Lied lügt es nicht.“

Nach seinen Ausführungen verstummte er und richtete sich auf. Es war ein seltsames Gefühl, als sein Gewicht von ihren Schenkeln wich, doch sie sagte nichts. Cecil fand sich in einen halbaufgerichteten Schneidersitz, lehnte sich etwas vor und haftete seinen Blick auf das grüne Gras vor ihm. „Dein Herz ist verwirrt“, schloss er seine kleine Predigt, als sei das die Lösung auf all ihre Fragen. Für ihn war es das zumindest, allem Anschein nach.

„Ich… verstehe nicht.“

Er schwieg. Erst sein schweres Seufzen, gefühlte Minuten später, brach diese Stille wieder. „Er muss es sich vorgestellt haben.“

„Wer?“

„Saotome.“ Kurz schien er zu überlegen. „Ich bin mir sicher, er hat es sich vorgestellt. Wie Starish zu dem Lied singt…“, doch er brach diese Überlegung ab, ließ sie offen im Raum stehen und driftete in seinen Gedanken ab.

„Wie… wäre es denn, wenn Starish dazu singt?“, hakte sie vorsichtig nach. Sie war sich eigentlich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte,  doch irgendetwas sagte ihr, dass es wichtig für sie war. Sehr wichtig sogar, auch auf die Gefahr hin, dass sie es wieder nicht verstehen würde.

„Es wäre nicht gut“, sprach er, ohne wirklich darüber nachzudenken, als würde er mit sich selbst sprechen. „Es würde gut klingen, ohne Zweifel. Aber… da wäre keine Harmonie. Harukas Herz und das der anderen, sie könnten sich nicht verbinden. Das ist… unmöglich. Auch die Herzen der anderen-“ Mitten in seinem Satz brach er ab, wobei er gleichzeitig aufschreckte, als habe er sich bereits verplappert. An dieser Stelle war eine Grenze erreicht, von der er intuitiv wusste, dass er sie nicht überschreiten durfte. Dazu hatte er kein Recht.

Vorsichtig, vielmehr prüfend, schielte er zu Haruka hinüber, doch ihren fragenden Augen nach zu urteilen, ahnte sie nichts von der Bedeutung seiner letzten Worte. – Glück gehabt.

„N-nicht so wichtig. Was rede ich denn da, haha! Mach dir keine Sorgen“, plauderte er etwas zu schnell darauf los, wedelte aufgeregt mit beiden Händen in der Luft herum, als wollte er das Thema vertreiben wie eine lästige Fliege. Dabei versuchte er sich an einem unbekümmerten Lachen. – Er war so ein schlechter Lügner, und das wusste er selbst.

Schweigend senkte sie ihren Blick zu Boden. Ihr war anzusehen, dass sie einen inneren Konflikt mit sich austrug. Die Verwirrung nahm überhand, ließ nur weitere Zweifel aufkommen, und sie suchte sichtlich nach Antworten.

„Haruka“, hörte sie Cecil leise ihren Namen flüstern, bevor sie seine Hand erneut auf ihrer Wange spürte. Warm, und irgendwie tröstend. Sie blickte auf.

Cecil saß noch immer neben ihr, den Oberkörper ihr zugewandt und etwas vorgebeugt, sodass er unter Augenhöhe und somit imstande war, ihren Blick unausweichlich aufzufangen. Er selbst wirkte unsicher, als er sprach: „Es tut mir leid, Haruka. Ich wollte dich nicht traurig machen.“

Minimal schüttelte sie den Kopf, es war kaum zu sehen. „Nein“, flüsterte sie zurück, „das hast du nicht. Ich bin nicht… traurig.“

„Haruka…“ Für einen Moment schwieg er. Dann rückte er dichter an sie heran, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Ihr Atem schlug warm auf seine Lippen. „Hör mir bitte zu: Ich verspreche dir, was auch passieren mag, ich bin da. Ob du glücklich bist oder traurig, ich bin immer an deiner Seite.“ Seine Worte begleitete ein sanftes Lächeln. Zärtlich streichelte er ihre Wange, und leise flüsterte er seine kleine Zauberformel: „Ich liebe dich, Haruka, my Princess.“

Sie wurde sich der Intimität erst bewusst, als ihr das Herz aus der Brust zu springen drohte. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, seine Finger brennend, als er ihr noch näher kam. Nur wenige Millimeter trennten ihre Lippen noch von den seinen. Er… er würde doch nicht?

In dem Moment flog dem Prinzen etwas entgegen. Ein weißes, kleines Päckchen landete gezielt in seinem Gesicht, woraufhin er zurückwich und um ein Haar aufgesprungen wäre. Jemand hatte es auf ihn abgesehen! – Mit einer Eistüte.

„Hey!“, hörten sie auch schon jemanden brüllen und Haruka erkannte die poltrige Stimme sofort. „Was glaubst du, was du da tust?! Lass deine Griffel von ihr! Wie oft muss man dir das noch sagen?!“

„Syo-kun?“

„Nanami!“ Otoya eilte auf sie zu. Sorge und Erleichterung zusammen blickten ihr aus seinen rubinroten Augen entgegen, als er die Hand nach ihr ausstreckte, um ihr aufzuhelfen. „Geht es dir gut? Wir haben uns so große Sorgen um dich gemacht!“

„J-ja, mir geht es gut“, stammelte sie schuldbewusst und ließ sich aufhelfen.

„Wieso habt ihr niemandem Bescheid gegeben? Wir hätten euch in der Menge verlieren können“, machte ihr Tokiya zum Vorwurf, berechtigt. Unter dem Ernst seiner Stimme war Besorgnis herauszuhören, was bei ihm eher selten vorkam.

„Tut mir leid… Cecil-san hat sich nicht gefühlt und wir haben nichts gefunden, wo er sich kurz hätte setzen und ausruhen können.“

„Raffiniert.“ Ren schmunzelte zwischen Syo und Natsuki. Ihn schien die Situation als Einzigen zu amüsieren. „Ein Leiden vorzutäuschen, um sich von der Gruppe lossagen zu können und mit dem Lämmchen allein zu sein. Nicht gerade die feine Art, aber-“

„Nein“, sah sich Haruka sofort in der Pflicht, den Prinzen zu verteidigen. „Er hat es nicht nur vorgetäuscht, Jinguji-san. Ihm ging es wirklich sehr schlecht!“

„Haru-chan“, klang auch der sonst eher fröhliche Natsuki besorgt, „wir hätten euch verlieren können.“

„Tut mir leid…“

Masato war der Einzige, der nichts sagte. Er trat lediglich auf Otoya und Haruka zu und nahm die Komponistin entgegen, um sie bei der Gruppe „in Sicherheit“ zu bringen. Sein Blick war vorwurfsvoll, als er zu Cecil zurücksah, welcher gerade das weiße Tütchen mit den rot-blauen Streifen inspizierte, dem er einen roten Abdruck auf der Wange zu verdanken hatte wie bei einer indirekten Ohrfeige.

Der Übeltäter, dem dies zu schulden war, verschränkte gerade die Arme vor der Brust. „Ich habe doch gesagt, diesen Kerl mitzunehmen, ist keine gute Idee. Das wird ein Nachspiel haben, Cecil!“

„Syo-chan“, schnappte Natsuki nach Luft und ging um Ren herum, um seinem Freund die Hände auf die Schultern zu legen, „bitte beruhige dich, okay? Es ist ja nichts passiert. Wir haben sie gefunden und das wird bestimmt nicht mehr vorkommen. Nicht wahr, Cecil-kun?“

Erst jetzt blickte Angesprochener zu der Gruppe auf. Sieben Augenpaare lagen auf ihm und musterten ihn, teils fragend, aber überwiegend anklagend. Er zog einen Schmollmund, wandte seinen Blick von ihnen ab und machte sich stattdessen daran, das Tütchen zu öffnen. „Ich habe Haruka nichts getan“, murmelte er lediglich zu seiner Verteidigung, kaum hörbar. „Also behandelt mich nicht wie einen Schwerverbrecher…“

 

Sehr viel später waren sie wieder im Wohnheim angekommen. Der frühe Abend war bereits über sie hereingebrochen, als sie die Türen hinter sich geschlossen hatten. In einer nahezu peinlichen Stille hatte sich die Gruppe anschließend aufgeteilt, einige verzogen sich auf ihr Zimmer, ein paar andere verteilten sich anderweitig im Haus. Die Situation war unangenehm angespannt.

Schwer seufzend ließ sich Haruka auf ihrer Bettkante sinken. Die letzten Stunden waren unsagbar anstrengend gewesen und sie hatte sich mies gegenüber den Jungs gefühlt, sehr mies. Obgleich sie ihr versichert hatten, dass alles wieder okay sei, doch es machte nicht den Anschein, ganz im Gegenteil. Den Rest des Nachmittages hatten die anderen Cecil überwiegend gemieden. Sogar Otoya und Natsuki hatten sich anfangs noch distanziert zu ihm verhalten, obwohl sie sonst stets friedfertig und auf Harmonie bedacht mit dem Rest waren. Es schien selbst dem Rotschopf Überwindung gekostet zu haben, das Schweigen mit dem Prinzen irgendwann zu brechen und ihn wieder mehr mit einzubeziehen. Cecil selbst hatte das ganz locker genommen, augenscheinlich zumindest.  Ohne zu murren oder sich zu beschweren, hatte er den Unmut der anderen ihm gegenüber akzeptiert, doch Haruka hatte ihm ansehen können, dass es ihn durchaus belastet hatte.

Und nun? Nun waren sie wieder in diesem alten Trott der letzten Wochen, in denen jeder irgendwie gereizt und angespannt gewesen war. Dabei hatte Haruka gehofft, mit diesem gemeinsamen Ausflug würde sich das lockern und sie könnten in ihrem Urlaub wieder schönere Zeiten miteinander teilen. Sollte sie sich irren?

Um sich von diesen Gedanken abzulenken, erhob sie sich schwerfällig und trottete hinüber zu ihrem Schreibtisch. Stumm starrte sie auf das leere Notenblatt, welches dort auf sie wartete. Als würde es ihr zuflüstern, klangen Cecils Worte in ihren Ohren wider: „Es ‚stolpert‘. Dein Herz ist verwirrt.“ – Ihr Herz…

Erschrocken fuhr sie zusammen, als der Pianoklingelton ihres Handys durch die Stille brach. Es brauchte zwei Atemzüge, ehe sie zu ihrem Bett zurückeilte und in ihrer Handtasche nach dem Minitelefon kramte. Als sie es endlich erwischt hatte, prüfte sie das Display nach dem unerwarteten Anrufer.

Tomo-chan.
 


 

* „Hirapa“ ist die Kurzform von „Hirakata Park“,  einem beliebten, verhältnismäßig kleinen Vergnügungspark in Japan/Hirakata. Zur  Veranschaulichung der Parkgröße, siehe hier (http://www.hirakatapark.co.jp/guidemap/).



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2013-06-28T16:41:41+00:00 28.06.2013 18:41
Guten Abend. :)

Also ich habe mir die FF gerade das erste mal durchgelesen und muss sagen, dass du einen sehr fesselnden Schreibstil hast, das kann nicht jeder. :D
Ich bin nur ein bisschen traurig, dass es "nur" etwas über 15.000 Wörter sind, ich war viel zu schnell fertig. D:

Heißt: Ich würde sehr gerne mehr lesen. :)

Liebe Grüße,
abgemeldet
Antwort von:  Shizana
28.06.2013 18:48
Hallo abgemeldet,

vielen Dank für deine lieben Worte. Ich freue mich sehr, dass du dich zu "Dare o erabu kana?" gefunden hast. :)
Wenn es dir ein Trost ist: Gerade sitze ich an dem nächsten Kapitel und fahre volles Tempo, um es hoffentlich spätestens morgen hochladen zu können. Leider hat sich der Upload wegen des Wichtelns verzögert, doch da die Aktion nun vorbei ist, hoffe ich, dass ich den regulären Upload wieder aufnehmen kann. Es wird auf jeden Fall die Tage weitergehen.
Wenn du magst, bleib also gern am Ball! Ich würde mich freuen. Es wird noch einiges kommen und ich verspreche, mir alle Mühe zu geben, weiterhin gut mit dieser FF zu unterhalten. :)

Liebe Grüße
Shizana


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