Unruhe
Red Roses of Snow White
~03: Unruhe ~
Vögel zwitscherten um die Wette, während aus einiger Entfernung das Heulen irgendeines Tieres zu vernehmen war. Seit einigen Minuten schon spielten seine Finger mit den Langen des anderen. Die blasse Haut an ihnen fühlte sich so weich an, obwohl sie von hauchfeinen Narben gezeichnet war. Man spürte nicht eine einzige von ihnen, als stammten sie von oberflächlichen Schnitten an der Haut, die normalerweise nicht einmal zu Narben geworden wären. Vieles an diesem Mann schien etwas widersprüchlich zu sein. Vor allem jedoch das Gefühl der inneren Ruhe, das sich bei Rei einstellte, wenn er diesem nahe war oder ihn gar berührte. Seit so vielen Jahren schon hatte er keine menschliche Nähe gesucht.
Und nun fühlte sie sich nicht einmal wie die eines Menschen an.
Er hatte sich sicherlich eine gute Viertelstunde hier gegönnt. Und obwohl es um ihn herum so kalt anmutete wie bestimmt auch schon in der Nacht zuvor, als sie vom Zirkus weg gegangen waren, so konnte er nach wie vor keine Kälte an seinem Körper spüren.
Lag das an dem anderen?
Sicherlich.
An wem denn sonst?
Rei war kein normaler Mensch, das nicht. Doch sein physiologisches Empfinden unterschied sich keineswegs von dem eines gesunden, jungen Mannes. Gewisse Zwischenfälle wie den von letzter Nacht und dem Abend davor ausgenommen.
“Wie heißt du?”
Seine Stimme klang leise, etwas kratzig und machte die Erschöpfung, die seinen Knochen noch innewohnte, deutlich.
Als er nach einiger Zeit - er konnte nicht mehr abschätzen, ob es sich um wenige Augenblicke, Sekunden, Minuten gehandelt hatte - noch immer keine Antwort erhalten hatte, blickte er schließlich auf.
“Ich würde gerne wissen, wie ich dich nennen soll, wenn wir schon zusammen unterwegs sind. Nenn mir wenigstens einen Namen.”
Obwohl sie ihn aufmerksam musterten, sich dabei wiederum alle Zeit der Welt ließen, wirkten diese roten Augen nach wie vor so leblos wie die einer Porzellanpuppe.
Zeit. Ein Faktor, der für ihn kaum eine Rolle zu spielen schien.
Wenn es so weit war, würde er das schon spüren. Das wusste er.
Schließlich beugte sich der andere etwas vor, schien die Gegend unter der Bank, auf welcher sie Halt gemacht hatten, nach etwas abzusuchen. Sobald er einen Stock entdeckte, nahm er ihn zur Hand und machte sich daran, einige etwas krumme, große Striche in den harten Waldboden zu kratzen.
Rei beobachtete dieses allmählich Gestalt annehmende Bild genau.
Es waren lateinische Buchstaben. Vielleicht war der Kerl sogar von hier, so kam ihm der Gedanke, doch verwarf er jenen im selben Augenblick auch schon wieder, da ihm dieser Mann nirgendwo hingehörig anmutete.
“Kai?”, hakte er dann überrascht nach, sah sich daraufhin wieder einem lächelnden Paar Lippen entgegen.
“Kai ...”, wiederholte er wie in Trance für sich, seinen Blick nicht von jenem Lächeln abwendend.
Er war sich sicher, noch nie jemanden mit einem solchen Namen kennen gelernt zu haben und doch klang dieser so vertraut, als sei es der ihm nahestehendste Mensch, der denselben Namen getragen hätte. Absurd.
Doch irgendwie schienen alle Empfindungen gegenüber ... Kai ... so anders als bei irgendeinem anderen Menschen jemals zuvor.
Es war so seltsam, so fremd, so ... schön, dass auch seine Lippen sich endlich wieder zu einem Schmunzeln verzogen.
“Ein schöner Name. Ich bin Rei ... wobei du mich wahrscheinlich sowieso nicht ansprechen wirst.”
Obwohl ihn diese Tatsache ein wenig kränkte, denn er mochte es sicherlich nicht, hier laufend Selbstgespräche zu führen, so fand er es schon einmal gut, dass man ihn auch so verstand - und zumindest einen wirklich netten Namen hatte.
Nett ...
Wäre er noch gänzlich bei Verstand, würde er sicherlich längst das Weite gesucht haben. Er wusste - bis auf den Namen - rein gar nichts über jene seltsame Gestalt. Und doch erschien es ihm absurd, über den jungen Mann zu urteilen, war er selbst nicht sehr viel freigiebiger mit Informationen über seine Person.
So streichelten seine Fingerkuppen immer noch den weichen Handrücken, als ein leises Seufzen seiner Kehle entrann.
“Wir sollten ... gen Süden gehen. Der Winter steht vor der Tür und macht sich in dieser Region schon bemerkbar. Es wird für uns leichter sein in wärmerer Umgebung. Irgendwo sollten wir dann auch für einige Zeit einen Unterschlupf und vielleicht etwas Arbeit finden, um uns für einen weiteren Weg wappnen zu können.”
Erst gen Ende hin hatte er den Blick von ihren Händen, deren Treiben er geradezu neugierig verfolgte, obwohl er selbst aktiv daran mit beteiligt war, wieder zu dem ihm allmählich auch schön wirkenden Gesicht gehoben.
Kai lächelte.
Nun hatte er einerseits das Gefühl, ein wenig von diesem auf die Schippe genommen zu werden. Er machte sich ernsthaft darüber Gedanken - und äußerte sie zum ersten Mal vor einem anderen, sprach sogar von einem “wir”, wo er Begleiter gar nicht gewohnt war - und dieser mutete an, als habe er jeden einzelnen Satz bereits seinem Kopf entnehmen können, noch bevor er diesen extra für ihn ausgesprochen hatte.
Die beleidigte Mimik, die Rei diesem Mann nun entgegenbrachte, veränderte den Ausdruck in dessen Gesicht jedoch um kein Stück, so dass in das Reis wiederum Verwunderung einkehrte. Ein wenig schien ihm, als würde er mit einer Skulptur auf dem Friedhof reden. Obwohl er Friedhöfe hasste. Vielleicht auch mit einer Porzellanpuppe. So, wie diese schrecklichen Biester auf den Regalen in allen Zimmern des alten Hauses seiner Großmutter ihren Platz gefunden hatten. Hässliche Sammelleidenschaft, welche die alte Frau da gehabt hatte.
Gerade, als er Kai dazu auffordern wollte, weiter zu gehen, stand dieser auch schon auf. Es war wirklich so, als würde der andere genau wissen, was in seinem Kopf vorging und das noch bevor Rei dies selbst zu verbalisieren schaffte.
Andererseits gab ihm dieser Mann nämlich das Gefühl, als sei er geradezu ein Teil von ihm. Keiner, der seinen Schmerz empfinden konnte, jenen vielleicht sogar ein wenig zu dämpfen schaffte und doch nicht wie ein neben ihm herlaufender Fremdkörper, sondern ein Teil seiner Selbst.
Als er die ersten Schritte noch hinter ihm herging, dem Druck der größeren Hand Folge leistend, ihn erwidernd und dem etwas Größeren folgend, sprach er diesen beim vorhin erst in Erfahrung gebrachten Namen an. Doch Kai reagierte nicht darauf. So, als wüsste er ganz genau, dass Rei nur mal sehen wollte, ob er wie ein normaler Mensch auf dieses Ansprechen reagieren und ihn ansehen würde. Einfach so. Ohne tieferen Grund. Doch er tat es nicht.
Und einmal mehr schien er Rei, obwohl er so voller Kraft vor ihm herging, ihn mitzog und ohne sich umzusehen genau die Richtung zu wissen schien, mehr tot als lebendig. Dieses Gefühl sollte Rei auch nicht so schnell wieder loswerden.
Da sämtliche weiteren Versuche - und Rei hatte es weiß Gott nicht auf Anhieb aufgegeben - eine Konversation zu führen ausnahmslos scheiterten, ging irgendwann auch der Schwarzhaarige dazu über, den gemeinsamen Weg schweigend fortzusetzen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, Kai zu betrachten, während ihn dieser selten eines Blickes würdigte. Eigentlich könnte Rei sich gut jeden Augenblick losreißen und davonlaufen. Ob Kai ihn verfolgen würde oder nicht, wusste er nicht zu sagen. Ob er dies wollen würde allerdings schon: Er würde.
Es war sehr ungewohnt für ihn, nicht zu wissen, was ihn bei einem Menschen so erwartete. Also war es in gewisser Weise auch seine Neugierde, die ihn dazu trieb, seinen Weg mit Kai fortzusetzen. Allmählich gelangte er nämlich zu der Einsicht, dass er so etwas Einzigartiges nicht an sich vorbei gehen lassen durfte. Er würde sowieso ständig an ihn zurückdenken. Vielleicht würde ihn das auch zu sehr ablenken und er liefe Gefahr, dadurch seinen Verfolgern in die Hände zu fallen, weil er unachtsam werden würde. Außerdem hatte Kai ihn schon einmal gerettet. Und er hatte sie offensichtlich auch wahrgenommen. Oder sogar spüren können. Er war mit ihm vor ihnen geflohen. Also würde er kaum zu ihnen gehören.
Hoffte er.
Eine ganze Weile noch, die sie unterwegs waren, machte er sich stumm Gedanken über den anderen. Es hätte ohnehin nichts gebracht, diesem Fragen zu stellen. Rei war sich langsam darüber im Klaren, dass er keine Antworten erhalten würde. Zumindest nicht jetzt. Alles geschah zu einem bestimmten Zeitpunkt und offenbar war dieser noch nicht eingetreten. Er hatte immerhin einen Namen.
Das heiße Wasser umspülte angenehm seinen Körper, löste die verspannten Muskeln und hauchte abgefroren geglaubten Fingern und Zehen wieder etwas Wärme ein. Wie angenehm so eine heiße Quelle doch sein konnte. Sie waren wirklich rar und er hätte nicht geglaubt, recht am Fuße der Berge eine solche zu entdecken. Wobei - eigentlich war nicht er es gewesen, der diese Entdeckung gemacht hatte. Viel mehr war er Kai gefolgt, welcher ihn hierher geführt hatte. Seit dem letzten Vorfall war er jenem mehr hinterhergestolpert, als dass er ihm gefolgt war, doch so wirklich bewusst wurde ihm das erst jetzt, da seine Kleider auf einem Stein am Rande der Quelle lagen, darauf wartend, anschließend von ihm gewaschen zu werden. Sein nackter Körper sog die Wärme des heißen Wassers begierig auf. Ob nun so viel in der Kälte unterwegs oder unter eine warme Decke gekuschelt - nach solchen Vorfällen fror es ihn früher oder später jedes Mal gnadenlos durch.
"Vorfälle" ... er dachte schon im Plural an jene Vorkommnisse und doch wurde ihm dadurch nur bewusst, dass das eben - vorhin - vor einer Weile - was wusste er schon, wie lange es denn tatsächlich her war - so anders gewesen war als sonst.
Während Bilder vor seinem inneren Auge einander jagten, viel zu schnell, als dass er in der Lage wäre, sie einzeln zu erfassen, bewegten sich seine Hände geradezu mechanisch, säuberten dennoch regelrecht andächtig seinen von der langen Reise erschöpften Körper.
Schließlich ließ er die Finger durch sein langes, seidenes, schwarzes Haar gleiten. Immer wieder und immer wieder. Diese Geste beruhigte ihn ein wenig. Noch. Wer wusste schon, wie lange, wie oft ihm das noch gelingen würde, durch ein wenig Selbstkontakt wieder halbwegs zu Sinnen zu kommen.
Und während er so viele Strähnen zwischen seinen Fingern kämmte, starrten seine Bernsteine geistesabwesend auf die dampfende Wasseroberfläche, sahen sich in ihr Szenarien spiegeln, welche aus seinem Kopf zu entrinnen suchten. So lange, bis die Schreie in seinen Ohren unerträglich laut wurden - und anschließend, als hätten sie ihren Höhepunkt erreicht, mit einem Mal allesamt verstummten.
Stille.
Auf dem Wasser breitete sich eine Blutlache aus. Er hörte leise Knochen auseinander brechen. Ein dumpfes Geräusch, als ein Körper so tief unten im Brunnenschacht auf dem vor Jahrzehnten ausgetrockneten Boden aufkam. Kein Zappeln mehr, keine Gegenwehr. Nur dieses entsetzte Kreischen, welches nach wie vor nachhallte, bis sich alles in Rauch aufzulösen schien und in feinen Staubpartikeln nach oben wehte.
Wie konnte er nur.
Man hätte sie vielleicht retten können.
Nein, eigentlich war ihm bewusst, dass dies nicht mehr möglich gewesen war. Und dennoch entrannen seinen Augen salzige Tränenflüsse, die sich mit dem warmen Dampf der Quelle auf seiner Haut vermengten.
Es tat so fürchterlich weh.
Und es war noch lange nicht vorbei.
03: Unruhe - Ende / Fortsetzung folgt