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Ein Schatten der Zukunft

von

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"Die Welt ist so trist", das dachte sich Joshua jedes Mal, wenn er aus dem Fenster blickte. Tiefschwarze Wolken hingen am Horizont und die Dörfer unten am Fuß des Berges waren in Dunkelheit und Nebel gehüllt. Seit drei Tagen regnete es ununterbrochen.

Wenn Joshuas Laune nur mit dem Wetter zusammen gehangen hätte, wäre er nicht so betrübt. Schließlich war es für Seinesgleichen das Beste, was passieren konnte. Als Schattenwesen verbrachten sie ihr Leben. Gleich den Vampiren konnten sie bei Tageslicht nicht überleben, dann flohen sie in ihr Schloss hoch auf dem Berg, ihre einzige Zuflucht.

Sobald der Winter hereinbrach, begann ihre Zeit. Die Zeit in der sie vermehrt nach Draußen konnten. "Endlich frei!", war der allgemeine Gedanke, doch für Joshua war Freiheit etwas anderes. Er fühlte sich eher eingesperrt von der Dunkelheit und dem Schloss, ein Gefangener seines Selbst, auf ewig an den immerwährenden Wechsel von Licht und Finsternis gebunden.

Zudem, das empfand Joshua als noch viel trostloser, war das Loslösen vom Schloss keineswegs etwas Schönes, denn die Dörfler hatten Angst vor ihm und die Furcht trieb sie in die Häuser.

Joshua hätte nur ein einziges Mal in seinem Leben zu gerne erlebt, wie Menschen ihm herzlich begegneten. Keine verschlossenen Türen und auch keine Hacken und Äxte mit denen man nach ihm schlug.

Nachdem Joshua erkannt hatte, dass die Vorurteile ihm gegenüber nicht aus dem Weg geräumt werden konnten, blieb er vermehrt im Schloss zurück, wenn seine Familie auf die Jagd ging. Immerhin zwangen sie ihn zu nichts und ließen ihn zurück bleiben, aber dadurch wurde ihm auch schmerzlich bewusst, dass sie ihn einfach nicht verstanden.

Vielleicht dachten sie, er wäre auf Diät? Oder dass er ihre Gesellschaft nicht mehr ertrüge und lieber alleine jagen wolle. Dass er einfach nur keinen Spaß an seinem Leben fand, dass würden sie nie vermuten, denn so weit dachten Schattenwesen nicht, das war ihnen nicht angeboren.

Langsam wurde ihm klar, dass er mit seinen Problemen alleine zurecht kommen musste.

Niemand stand hinter ihm.

Niemand munterte ihn auf.

Er war ganz alleine.
 

„Joshua, wir gehen runter ins Dorf.“ Der große Schatten, der Joshua ansprach, war Ivanov. Als Anführer der Schatten war er dafür zuständig die Jagd zu leiten und verkündete wie jedes Mal, dass sie jetzt aufbrechen würden, fragte aber nicht nach, ob Joshua mit kommen wollte.

Schatten hatten keine anderen Bedürfnisse als die Jagd. Ein Verweigerer der Jagd war nicht mehr als ein toter Schatten. Gefühle wie Anteilnahme und Sorge waren unbekannt unter Schattenwesen, zumindest hatte Joshua bei seiner Familie nie etwas Derartiges wahrgenommen. Sie nannten sich auch nur "Familie", weil sie diesen Begriff von den Menschen aufgeschnappt hatten, aber nicht, weil sie sich zusammen gehörend fühlten.

Joshua sah zu, wie der große, dunkle Schatten Ivanov verschwand. Mit ihm gingen auch alle anderen Schatten davon. Wie jedes Mal blieb Joshua ganz alleine zurück.

Seufzend wandte er sich wieder dem Fenster zu und blickte hinaus. Er wusste nicht, was aus ihm werden sollte. Er wusste nur, dass ihm die Jagd nichts brachte. Der Hunger verging nicht. Das Leben veränderte sich nicht. Dieser Teufelskreis blieb für immer bestehen, "Bis zum Tod in der Sonne.", so lautete eine Redensart unter den Schattenwesen.

Für dieses Ende hatte Joshua allerdings nicht den Mut. Lieber litt er weiterhin an Hunger, schrumpfte kläglich zusammen und wurde immer kleiner und schwächlicher.
 

Ein lautes Klopfen unterbrach seine trüben Gedanken. Er spürte, wie tobender Wind in den kargen Raum eindrang und das Prasseln des Regens lauter wurde. Irritiert blickte Joshua Richtung Torbogen, der dem Raum, in dem er sich befand, als Zugang diente, bewegte sich jedoch nicht. Das Eingangstor zum Schloss musste aufgefallen sein, aber diese Erkenntnis beruhigte ihn keineswegs, denn er wusste, es konnte keiner der Schattenwesen sein. Schattenwesen konnten keine Klinken benutzen, stattdessen huschten sie durch jeden Spalt hindurch, der sich ihnen bot.

War also jemand in ihr Heim eingedrungen? Und wenn ja, wer?

Die Antwort kam in Form eines ansteigenden Hungergefühls, was normalerweise nur in Gegenwart von Menschen geschah. Er versuchte den Hunger sofort zu verdrängen.

Er hörte an den Steinwänden des Korridors widerhallende Schritte, begleitet jeweils von einem lauten Schmatzen und stetigem leisen Tropfen. Scheinbar trug der Eindringling matschige Schuhe und triefte vor Nässe.

Hätte Joshua ein Herz besessen, wäre es wahrscheinlich stehen geblieben, oder hätte geschlagen bis ihm die schattigen Ohren geplatzt wären. Da er aber kein Herz besaß, wusste er nicht, was davon wirklich zutraf. Er wusste nur, dass ihn das alles sehr nervös machte, was anders war als seine eher tristen Empfindungen. Eine geballte Ladung an Gefühlen überschwemmte ihn, sowohl Angst als auch Hoffnung.

Was war nur mit ihm los?

"Das ist der Hunger", dachte er, als die Schritte so laut waren, dass sie schon in Nähe des Durchgangs zu seinem Raum sein mussten. Er wartete und sah wie erstarrt zum Durchgang.

„Hallo? Ist denn niemand da?“ Eine fremde, männliche Stimme hallte vom Korridor in den Raum, in dem sich Joshua befand. Es war das erste Mal, seitdem er nicht mehr in das Dorf ging, dass Joshua wieder eine Stimme vernahm, denn die Schattenwesen selbst besaßen keine.

Joshua irritierte diese Frage, denn dieses Schloss würde für jeden Besucher wohl eher unbewohnt ausgesehen, da eine dicke unangetastete Staubschicht über Boden und Möbel lag und kein Feuer den Räumlichkeiten Wärme spendete. Schattenwesen besaßen keinen eigenen Körper und konnten daher nicht mit den Gegenständen interagieren, um ihr Umfeld zu reinigen, nicht dass sie das wollen würden.

Er entschied sich dafür, abzuwarten und zu hoffen, dass die Person bald wieder das Schloss verlassen würde, damit ihn nicht das Verlangen überkäme, deren Seele zu verspeisen. Außerdem war es ihm sowieso nicht möglich, auf die Frage zu antworten, da Menschen nicht empfänglich für Telepathie waren.

Für den Fremden sollte Joshua nicht mehr sein, als Dunkelheit in einem finsteren Zimmer. Er würde Angst verspüren oder, wenn er sehr empfänglich war, vielleicht auch eine unnatürliche Düsternis anstelle von der Leere projezieren, um das Angstgefühl zu erklären.

„Haaaallooooo?“ Die Person betrat laut rufend und scheinbar völlig unbeeindruckt von dem leerstehenden Schloss den Raum.

Eher skeptisch betrachtete Joshua die Erscheinung im Durchgang und ein irritierter Blick begegnete seinem. Sah der Fremde ihn etwa?

Joshua betrachtete den Eindringling genauer und erkannte, dass dieser weder eine Seele noch einen Schatten hatte und somit gar kein Mensch war.

"Keine Seele?", fragte sich Joshua. Wieso empfand er dann einen so großen Hunger?

"Oh, hi." Mit einem verlegenen Lächeln sah die Person ihn an. „Tut mir leid fürs Eindringen. Hoffe, ich hab dich nicht erschreckt. Ich bin Louis.“ Er winkte Joshua freundlich zu und trat näher an ihn heran, bis er Joshuas wachsende Nervosität zu bemerken schien und zwei Schritte entfernt stehen blieb. Zu gerne wäre der Schatten weiter zurück gewichen, aber er war bereits mit der Wand verschmolzen.

Louis, wie er sich nannte, war blond und hatte ein durchschnittliches Aussehen. Bis auf die Tatsache dass seine Seele fehlte, sah er aus wie ein normaler Mensch.

Bei genauerem Hinsehen gab es aber doch noch mehr Hinweise darauf, dass dem nicht so war.

Die Joshua freundlich anfunkelnden Augen hatten einen leichten rötlichen Schimmer und beim Lächeln sah man die spitzen Zähne hervorblitzen. Deutliche Anzeichen dafür, dass er es mit einem Vampir zu tun hatte.

Louis, sichtlich verwirrt über Joshuas Schweigen, hob die Hände, um zu demonstrieren, dass er ihm nichts tun würde. „Wollte dich wirklich nicht erschrecken. Und wenn das Wetter nicht so schlecht wäre, würde ich gleich wieder gehen, doch … ich bin jetzt schon durchnässt und ich möchte mir keine Erkältung holen.“

Noch immer antwortete Joshua ihm nicht. Er war vollkommen damit beschäftigt, mit seinen Gefühlen fertig zu werden und als Louis erneut Anstalten machte, auf ihn zu zukommen, hielt der Schatten es nicht mehr aus. Er glitt an der Wand entlang und verschwand durch den Durchgang in den Korridor. Eilig wanderte er weiter bis zur nächsten Tür und drang durch den Türspalt hinein.

In dem Raum, welcher die unbenutzte Küche war, angekommen, versuchte er zur Ruhe zu kommen.

Er wusste, er sollte eigentlich keine Panik in der Gegenwart eines Vampirs verspüren, denn er konnte ihm nichts antun, so wie er dem Vampir nichts tun konnte.

Vampire saugten Blut, doch Schatten besaßen keinen Körper, also auch kein Blut, und Schatten ernährten sich von Seelen, etwas was Vampire nicht besaßen.

Hätte Joshua sich nicht so aufgewühlt gefühlt, wäre er auch nicht geflüchtet, doch er hatte noch immer diesen Hunger verspürt, eigentlich unmöglich in Gegenwart eines Vampirs.

Hinzu kam die Aufregung, die sein ganzes schattiges Sein eingenommen hatte. Die Nervosität und die Hoffnung, die ihn rüttelten, als wollten sie ihn aufwecken.

Das alles sollte er nicht fühlen.

Louis war nicht der erste Vampir, der ihm begegnete und würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht der Letzte sein, dennoch war es das erste Mal, dass er etwas spürte, was mehr war, als seine triste Hoffnungslosigkeit oder Hunger.

Diese Gefühle waren falsch. "Oder nicht?", dachte Joshua bei sich.

Joshua wartete und überlegte, denn er war verwirrt. Er wusste nicht, was er in dieser Situation tun sollte. Seine Familie würde noch für mehrere Stunden auf der Jagd sein, somit würde er sehr lange hier alleine sein. Durch die Dunkelheit des Schlosses hindurch konnte Joshua spüren, dass Louis immer noch hier verweilte undauch keine Anstalten machte zu gehen. Im Moment befand der Vampir sich im Wohnzimmer und hatte es sich in einem Sessel gemütlich gemacht. Joshua spürte selbst durch die Wände die Hitze des Kamins, der davor schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden war.

Er war alleine mit Louis und spürte weiterhin Hoffnung in sich keimen.

Das prickelnde Gefühl in seinem schattigen Körper sagte ihm, dass der Moment der Veränderung gekommen war. Jetzt war seine Chance. Er könnte sein Leben verändern und aus seinem eigenen Schatten treten, oder für immer sein tristes Sein bleiben. Dies könnte die einzige Gelegenheit in seinem Leben sein, etwas darin zu verändern.

Er musste die neuen Gefühle beim Schopf packen und handeln.
 

Der Schatten, verschmolzen mit der Dunkelheit, huschte an den Wänden vorbei und setzte sich am Boden fest. Joshua bemerkte, als er durch den Türspalt in das große Wohnzimmer floss, wie er von der Hitze der Flammen umhüllt wurde. Er schrumpfte in sich zusammen, so direkt getroffen, jedoch versengte es ihn nicht, wie es die Sonne wahrscheinlich tun würde. Er wurde vom Licht der Flammen seines Platzes verwiesen.

Louis schien ihn zu bemerken, sobald er auf dem Boden erschien. Mit einem freundlichen Lächeln drehte der Vampir sich zu ihm um und sah zu, wie der kleine, klägliche Schatten langsam hinter den Sessel huschte, um sich in der Dunkelheit vor dem Feuer zu verstecken.

„Schön, dass du mir Gesellschaft leistest“, kam es von Louis begeistert. Anders als die alten Vampire, denen Joshua bisher begegnet war, hatte Louis noch die Energie der Jugend in sich. Er war noch das, was er als Mensch gewesen war, zeigte Gefühle und seinen eigenen Charakter. Der Hauch seiner verlorenen Seele tat ihm gut und dies war es wahrscheinlich auch, was Joshua so anzog. Das Frische an ihm, was mal da gewesen war und er noch fühlen konnte.

Joshua wollte sich nicht mehr skeptisch zeigen und öffnete sich dem Vampir mit einer Frage: "Woher kommst du?“ Das waren die ersten Worte seit langem, die von ihm auskamen. Nicht durch einen Mund, denn er hatte ja keinen, sondern durch Gedanken zu seinem Gegenüber getragen.

Das Grinsen auf Louis Gesicht wurde breiter. Er sah glücklich aus und das machte Joshua gleichermaßen froh. „Ich komme von hier. In einem der Dörfer am Fuß des Berges bin ich geboren worden. Ich bin viel gereist die letzten Jahrzehnte, aber jetzt hatte ich Heimweh.“

Als er von seiner Heimat sprach, wirkte er, als würde er sich an etwas sehr Schönes erinnern. An eine Zeit, die ihm lieb und teuer war. Die Zeit, bevor er zu einem Vampir geworden war.

„Du erinnerst dich an die Zeit vor deiner Schöpfung?“

Bisher hatte Joshua etwas Derartiges noch nie gehört. Er hatte schon viele Vampirgeschichten vernommen, doch in keiner war je von der Zeit vor ihrer Verwandlung die Rede gewesen.

„Ja. Etwas seltsam, nicht? Meine Freunde halten mich deswegen für verrückt. Darum bin ich auch alleine hierher gekommen. Keiner glaubt mir. Aber ich weiß, was ich weiß! Und ich weiß, dass ich aus dem Dorf stamme.“

Joshua hätte ihn auch für verrückt halten sollen, doch aus irgendeinem Grund war Joshua sich sicher, dass sein Gegenüber die Wahrheit sagte.

„Und was möchtest du jetzt tun?“

„Weiß ich noch nicht“, gestand Louis aufgeregt. „Ich wollte zuerst einmal runter gehen und nachschauen, was aus meinem Heimatdorf geworden ist. Vielleicht treffe ich Verwandte?“

„Das klingt verrückt.“

„Ich weiß.“ Louis Lachen fühlte sich gut für Joshua an und er spürte, wie sein Schatten leicht vibrierte, als versuchte sich sein nicht vorhandener Körper daran zu erinnern, wie man lachte. „Aber ich werde es trotzdem machen!“

Diese Zuversicht steckte Joshua langsam an. „Und wann?“

„Sobald es aufhört zu regnen. Ich möchte den Dorfbewohnern keine Angst machen.“

Verblüfft hielt Joshua inne, bevor er eine weitere Frage stellte. Konnte es denn sein? Er hätte es nie geahnt, aber es gab ein weiteres ‚Monster‘, das seine Weltanschauung teilte, denn auch Joshua wollte den Menschen keine Angst mehr einjagen. Er ertrug die Schreie und die Schmerzen nicht, die er jedes Mal sah, wenn die Schatten auf die Jagd gingen.

Nie hätte er seiner Familie davon erzählen können, denn sie würden es nicht verstehen. Die Jagd war ihr einziger Antrieb und er empfand diese als verabscheuungswürdig. Wie sollten sie jemanden verstehen, der so anders dachte, als sie selbst?

Joshua war ein Schatten, doch hätte er zwei Augen gehabt, hätten sie in diesem Moment hoffnungsvoll zu Louis aufgesehen.

Mit bebender Stimme übertrug er Louis in Gedanken etwas, von dem er nie gedacht hätte, dass es ihm je passieren würde: „Ich verstehe dich..“

Es hätte jetzt alles passieren können und Joshua machte sich auf jegliche Reaktion gefasst, doch als Louis ihn nur verständnisvoll anlächelte, war er schier erstaunt. Er spürte eine Verbindung, tief in ihm, die ihn zu Louis zog, und einen unsäglichen Hunger, der in ihm entflammte.

Einen Hunger nach Verständnis und Veränderung.

Einen Hunger nach dem Leben.
 

„Findest du es auch so trist? Findest du dein Leben auch so leer? Ich möchte so nicht mehr weiter machen.“, klagte der Schatten und suchte nach Zustimmung.

„Ja. Ich weiß, was du meinst. Ich fühle mich gefangen, obgleich ich hin gehen kann, wohin ich will. Dem möchte ich trotzen.“

„Ich auch!“ Joshua spürte eine Flamme in sich. Einen kleinen Funken, der angeschürt wurde. Ein Antrieb, den er bislang nicht gekannt hatte.

„Lass uns raus gehen! Komm mit mir!“ Ein Leuchten in den Augen des Vampirs blitze auf, denn er hatte einen Plan gefasst und Joshua wusste sogleich, dass er mit ihm gehen würde, wohin die Reise auch immer gehen würde.

Sein tristes Leben ödete ihn schon so lange an und er wollte unbedingt hier raus. Er würde seine Familie zurück lassen, um einen Neuanfang zu wagen. Lieber ging er mit einem Fremden mit, der mit ihm so viel gemeinsam hatte, als bei einer Familie zu bleiben, die ihm so fremd erschien.
 

Es brauchte keine Worte mehr, um sich einig zu werden. Joshua würde sich Louis anschließen. Obgleich das Wetter weiterhin schlecht war, wollten sie ihren Plan sofort in die Tat umsetzen. Joshua wollte keine Zeit vergeuden, aus Sorge den neu gewonnen Antrieb wieder zu verlieren.

Im Korridor standen sie dann vor dem hölzernen Eingangstor, dessen rechter Flügel bereits offen stand und im Wind hin und her schwang. Eine Pfütze hatte sich auf dem kalten Steinboden gebildet. Sie blickten in den Regen hinaus, der noch immer alles in einen trüben Schleier einhüllte.

Louis stand aufrecht davor und schien auf einen Ort weit entfernt zu blicken. Joshua befand sich am Boden neben ihm.

"Ich werde versuchen mich an dich fest zu hängen", erklärte Joshua. Er wusste nicht, ob es funktionieren würde, da er es noch nie ausprobiert hatte. Heute war sein Tag der Neuanfänge, also würde er auch hiervor nicht zurückschrecken.

„Ich bin bereit!“, erklärte Louis und blickte mit größter Zuversicht auf Joshua hinab, welcher über den Steinboden auf ihn zu floss und ihn an den Schuhen berührte. Er bewegte sich über die Sohlen hinauf, die Beine entlang, bis er auf der Brust von Louis zum Stehen kam.

Dass es so einfach sein würde, wie sich über Wände zu bewegen, hatte Joshua nicht erwartet, genauso wenig wie dass Louis sich so viel besser anfühlen würde als Steinböden. Der Vampir strahlte Wärme aus, die Joshua sanft einhüllte und ihm das Gefühl gab, alles schaffen zu können Sobald Louis sich bewegte, erlebte Joshua das erste Mal, wie es war, zu schweben. Er fühlte sich frei von allen Fesseln und hätte vor Freude aufgeschrien, hätte er eine Stimme besessen.

Louis rannte durch das offene Tor in den Regen hinein, spreizte die Arme und johlte freudig auf, obgleich er nass bis auf die Haut wurde. Der Schatten spürte, dass Louis die selbe unbändige Freude empfand, wie er selbst. Gemeinsam rannten sie über den steinigen Boden Richtung Abhang, dem weiten Himmel entgegen.

„Ich fühle mich, als könnte ich die Sonne besiegen!“, rief Louis freudig.

Joshua lachte. Er lachte gemeinsam mit Louis, als wären sie eine Person. Sie teilten die gleichen Gefühle, die gleichen Gedanken und die gleiche Freiheit. Ihm war, als könnte sie nichts und niemand aufhalten.

„Lass uns fliegen!“, schrie Joshua in Louis Kopf, mit schallendem Gelächter.

Der Abhang kam immer näher und als sie ihn erreichten, sprang Louis ohne zu zögern, die Arme weiterhin ausgebreitet. Der Abgrund kam ihnen immer näher. Die Bäume und die Dörfer sahen klein aus von hier, wurden aber immer größer.

Sie fielen langsam tiefer und tiefer, wie vom Wind getragen, als wollte die Natur ihnen sagen, dass es gut war, was sie hier taten.

Der Regen störte sie nicht. Die Wolken waren ihnen egal. Dass sie Schatten und Vampir waren, war vollkommen gleichgültig. Sie waren eins.
 

Sie waren den ganzen Tag unterwegs. Rannten und tobten. Es war die pure Freude, die sie antrieb, bis sie sich am Abend Schutz in einer Höhle suchten und dort schliefen. Joshua lag als Schatten auf Louis Brust. Er wusste, er hatte noch nie geschlafen, doch es schien ihm das Normalste auf der Welt zu sein, hier und jetzt einzuschlafen und erst am nächsten Morgen aufzuwachen. Ihm war klar, dass sein Freund ebenso empfand, denn als Vampir brauchte er genauso wenig Schlaf, doch hier und jetzt genoss er es und konnte nicht anders, als sich nach dem anstrengenden und schönen Tag auszuruhen.
 

Am nächsten Morgen wurde Joshua durch die Bewegung von Louis Körper geweckt. Der Vampir setzte sich auf und gähnte laut. Joshua spürte, wie er selbst als Schatten gähnte, obgleich Schatten normaler Weise nichts dergleichen taten.

„Gut geschlafen?“, fragte Louis ihn und Joshua nickte auf ihm. Er fühlte sich, wie eine neue Person. Eine Zufriedenheit durchströmte seinen ganzen Körper. Die tristen Gedanken waren vollkommen verschwunden und er freute sich nur noch auf die Tage mit Louis.

Das Wetter hatte sich aufgelockert. Die Sonne schien und ihre Strahlen wärmten die Umgebung. Vom Dunkeln der Höhle aus blickten sie nach draußen und bewunderten wie die Sonne sich in den Pfützen spiegelte.

„Und was machen wir heute?“, fragte Joshua.

„Wir gehen in die Sonne!“

Dieser Satz hätte Joshua erschrecken sollen. Der Satz bedeutete nichts anderes als ‚Lass uns zusammen sterben‘ und dennoch fürchtete Joshua sich nicht oder flüchtete. Er überlegte. „Wieso sollten wir das tun?“

„Es fühlt sich richtig an!“, gestand Louis. „Ich habe das Gefühl, wieder in der Sonne laufen zu können, wenn ich dich bei mir habe. Und seit dem ersten Moment ist mir so, als wärst du das, was mir fehlt. Meine Seele, mein Spiegelbild, mein Schatten.“

Als er diese Worte vernahm, bemerkte Joshua, dass er das Gleiche fühlte. Davon mitgerissen, begegnete er Louis' Worten: „Alle sagen, die Sonne schadet einem, aber ich habe es nie gesehen.“ Er ließ sich von Louis' Wahnsinn anstecken. „Lass uns in die Sonne gehen. Lass uns eine Person sein und unter den Menschen leben!“
 

Die älteren Vampire und Schattenwesen hätten sie eines Besseren belehrt, hätten sie gescholten und abgehalten, wenn sie davon gewusst hätten oder es ihnen nicht gleichgültig gewesen wäre, aber sie waren alleine. Nur sie zwei. Es war niemand da, der sie hätte aufhalten können. Es war, als würden sie sich bei der Hand halten, während sie nach draußen traten.

Ein Vampir und ein Schatten, eigentlich dazu verdammt in der Dunkelheit zu leben.

Das Licht blendete sie und Louis musste den Arm vor die Augen halten. Die Sonne traf auf seinen Arm und kitzelte die Haut mit ihrer Wärme. Sie spürten wie sie gänzlich von dem Schein eingenommen wurden.

„Arg!“ Plötzlich krümmte Louis sich und hielt sich die Hände an das Gesicht. Schmerzen verzerrten seine Züge. Der Schatten Joshua spürte die gleichen Schmerzen und bemerkte darüber hinaus nicht den Sog, der ihn nach unten zog, bis er auf den Boden sackte.

Der Moment dauerte an. Beide krümmten sich, aber keiner von beiden brannte oder löste sich auf.

Irgendwann wurde der Schmerz schwächer. Louis löste seine Hände von seinem Gesicht und blickte auf seinen Schatten, der ihm alles nach ahmte. Sie lebten. Sie hatten die Sonne überlebt und sie waren eins. Joshuas Schattengestalt war mit seinen Füßen verschmolzen.

Louis tastete prüfend seinen Mund ab um in Erfahrung zu bringen, was ihm solche Qualen bereitet hatte. Seine Fangzähne waren weg. „Ich spüre keinen Hunger mehr“, flüsterte Joshuas Stimme in seinem Kopf.

„Ich auch nicht.“, antwortete Louis mit seiner eigenen Stimme. „Ich fühle mich menschlich.“

„Wir haben es geschafft!“, dachten sie sich beide und ein Grinsen lag auf Louis Gesicht. Er wusste, ohne es sehen zu können, dass Joshua ebenfalls grinste und dass sich ihrer beiden Welten nun für immer verändert hatten. Sie waren eins. Sie waren ein Mensch.



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