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Every Little Thing

von  -Moonshine-

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Kapitel 10: Protection

Von einem seltsamen Geräusch wachte ich auf. Zuerst wusste ich gar nicht, wo ich mich befand und warum ich noch immer meine Kleidung vom Vortag anhatte, aber als mir bewusst wurde, dass Sean nicht mehr neben mir lag, war ich hellwach.
Im nächsten Moment riss ich auch schon die Augen auf, als ein dumpfes Schlagen gegen die Fensterscheibe ertönte.
Es war noch dunkel draußen, meine Funkuhr zeigte in roten, großen Ziffern gerade mal kurz nach zwei Uhr nachts an.
Ich setzte mich ruckartig auf, noch immer etwas verwirrt von dem Geräusch. Hatte ich mir das nur eingebildet und war es etwas gewesen, das ich mir in einer Traumphase erträumt hatte?
Ich lauschte angestrengt, doch es herrschte überall Stille.
Gerade, als ich wieder anfing, mich zu entspannen, hämmerte es von außen wieder gegen das Fenster.
Ich setzte mich ruckartig auf, presste mich rücklings gegen die Rückenlehne des Bettes und wagte es kaum, zu atmen, die Finger krampfhaft an die Decke geklammert.
Vor lauter Angst kniff ich die Augen zusammen und versuchte, wieder klar zu denken.
Wer auch immer da draußen stand und mir jetzt so eine Heidenangst einjagte, ich konnte ihn nicht sehen, denn Sean hatte die Rollladen, die von Innen angebracht waren, heruntergelassen. Ich war aber auch wie gelähmt und konnte mich kaum rühren. Das Letzte, das ich jetzt tun wollte, war, das Rollo hochzuziehen und dem Kranken ins Gesicht zu blicken. Womöglich hatte er eine Waffe dabei?!
Irgendwann, nach schier endlos langer Zeit, hörte das Hämmern auf und ich wartete mit klopfendem Herzen auf das, was als nächstes folgen würde. Irgendwo im hintersten Winkel meines Gehirns formte sich inmitten der lähmenden Furcht ein dringlicher Gedanke: Hol Hilfe!
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich aus dem Bett und suchte mit den Augen das dunkle Zimmer nach dem Telefon ab.
Mein Blick fiel auf einen weißen Zettel, direkt daneben. Ich griff danach und erkannte, dass Sean mir eine Notiz dagelassen hatte. Kurz überflog ich den Inhalt, bis ich an seiner Telefonnummer hängen blieb, die er mir freundlicherweise aufgeschrieben hatte.
Wie ein Ertrinkender, der nach einem Rettungsring greift, schnappte ich mir das Telefon, wählte mit zitternden Fingern die Nummer und verwählte mich vor lauter Nervosität ganze zwei Mal. Nachdem ich endlich die richtigen Ziffern eingetippt hatte, schon fast mit den Nerven am Ende, drückte ich auf den grünen Knopf, um zu wählen, doch...

Oh Schock! Die Leitung war tot!

Vollkommen außer mir wählte ich gleich noch einmal und fixierte die Nummer, die er mir in seiner leicht unordentlichen Handschrift aufgeschrieben hatte. Ich schniefte auf, als die Leitung noch immer tot war.
In diesem Moment wurde irgendetwas an mein Fenster geworfen, aber es klopfte zumindest niemand mehr dagegen.
Hinter dem Tisch sank ich kraftlos auf die Knie, kurz vor einem Nervenzusammenbruch, in der einen Hand das leblose Telefon, in der anderen Sean's Zettel.
Ich starrte auf seine Schrift, die vor meinen Augen langsam verschwamm, als ob sie mir irgendeine Antwort auf das Desaster geben könnte, das sich hier gerade abspielte.
Und da sah ich sie, die Antwort: einige Zeilen unter der Telefonnummer stand ein einziger Satz, ein PS, das meine bereits verlorene Hoffnung wieder ins Unermessliche steigern ließ.
Er hatte geschrieben, dass er mein Telefon ausgestöpselt hatte, damit ich in Ruhe schlafen konnte!
Augenblicklich krabbelte ich auf allen Vieren die zwei Meter zur Telefondose und sah es tatsächlich: das Kabel steckte wirklich nicht mehr drin!
Mit einem lauten "Platsch" flog wieder etwas gegen die Scheibe. Ich zuckte zusammen und schloss schnell das Telefon wieder in die Dose an, um einen neuen Versuch zu starten.
Was zum Teufel war das gewesen? Eier? Tomaten?
Das Tuten in der Leitung schien mir wie eine Erlösung, doch dann hämmerte es wieder wie wild ans Fenster. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Wand und zog die Knie dicht an meinen Körper, versuchte, mich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen. Das Telefon drückte ich so hart an mein Ohr, dass es beinahe schmerzte.
Sean ging sofort ran und er klang, als sei er noch wach gewesen.
"Hallo?"
Es war so gut, seine Stimme zu hören!
"S... Sean...", krächzte ich und meine Stimme versagte mir den Dienst, doch er war schon in Alarmbereitschaft.
"Emily? Bist du das?!"
"Ja, ich..." Ich schluchzte unwillkürlich auf. Meine Stimme war immer noch schrill und unnormal hoch. Komm, reiß dich zusammen, Emily! "Hier... ich meine... ist jemand am... am Fenster..."
Es klopfte wieder und irgendetwas quietschte auf. Mir entwich ein verängstigtes, leises Wimmern.
Ich war mir nicht sicher, ob er das auch hören konnte.
"Ich bin gleich da! Mach niemandem die Tür auf!" Er reagierte schnell und legte auf, noch bevor ich irgendetwas sagen konnte.
Ich dagegen presste den Hörer noch immer gegen mein Ohr und lauschte angestrengt dem Besetztzeichen, das nun Sean's Stimme ersetzte.


Nur zehn Minuten später - er musste gerast sein - klingelte es an meiner Haustür. Ich hatte bis dato immer noch unverändert an der selben Stelle gehockt und auf ein weiteres Fiasko gewartet, doch es schien alles ruhig geworden zu sein, auch, wenn ich dieser Stille nicht traute.
Sean's Klingeln holte mich aus meinem Apathiezustand heraus. Als ich zögerlich die Gegensprechanlage in die Hand nahm, ertönte auch bereits seine energische Stimme heraus: "Ich bin’s."
Kurz darauf stand er schon im Zimmer und drückte mich fest an sich, um mich zu beruhigen.
Wir standen noch immer im Dunkeln, aber ich versuchte, mich wieder zu fassen, auch, wenn ich noch immer am ganzen Leib zitterte.
Er führte mich in die Küche, während er mich noch immer im Arm hielt, und streichelte beruhigend über meinen Rücken. Dort angekommen machte er das Licht an und drückte mich auf einen Stuhl, sodass ich mich hinsetzen musste.
"Soll ich dir einen Tee machen?", fragte er besorgt und musterte mich, die ich emotionslos den Kopf schüttelte.
Sean löste meine Finger behutsam von seinem Hemd und ich bemerkte erst da, dass ich mich noch immer an ihm festgehalten hatte.
Er drehte mir trotzdem den Rücken zu und durchsuchte meine wenigen Schränke nach Tassen und Tee, setzte dann Wasser auf und widmete sich dann erst mir.
"Da... war jemand am Fenster." Ich löste mich plötzlich aus meiner Starre und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.
Er setzte sich augenblicklich in Bewegung. "Ich sehe nach."
Aber ich hielt ihn wieder fest, die Panik ergriff mich. "Nein!", protestierte ich hysterisch. "Vielleicht ist er noch da, vielleicht... hat er eine Waffe?!"
Sean hielt kurz inne. Ich vermutete, dass es nicht die Angst war, die ihn dazu bewog, doch nicht nachzuschauen. Vielmehr das aufgelöste Frauchen auf dem Küchenstuhl, das, so leid es mir auch tut, meine Wenigkeit war.
"Wir schauen nach, wenn es hell wird", sagte er sanft und tätschelte meine Hand. "Das Fenster ist doch noch heil, oder? Erzähl mir, was passiert ist."
Mit Mühe und Not und einer Menge Gestotter berichtete ich ihm von dem Horror heute Nacht. Er ließ sich nicht davon abbringen, dass ich es der Polizei melden müsste und ich hatte mittlerweile auch nichts dagegen. Aber für den Augenblick wollte ich keinen sehen, außer ihm, und schon gar nicht die ganze Geschichte noch einmal durchkauen.
"Ich mach das schon", versicherte er mir. "Morgen." In diesem Moment kochte das Wasser auf und der Kocher stellte sich mit einem leisen Klick selbst aus.
In aller Ruhe goss er mir eine Tasse Tee ein und stellte sie vor mich hin, setzte sich mir gegenüber und musterte mich geduldig, mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht.
Ich umklammerte die heiße Tasse mit beiden Händen und wärmte meine eiskalten Finger daran. Keine Ahnung, wo das ganze Blut vor Schreck hingepumpt wurde, aber meine Hände waren es ganz offensichtlich nicht.
Der Dampf stieg hoch und ich atmete den Pfefferminzduft ein, beruhigte mich ein wenig. Vielleicht, weil Sean hier war. Nein, ganz bestimmt sogar.

Ich betrachtete ihn zum ersten Mal in dieser Nacht genauer. Seine Haare waren noch feucht. Er hatte sich bestimmt zu Hause geduscht - und er trug frische Kleidung. Ein bordeauxfarbener Pullover, der ihm ausgezeichnet stand, darunter ein Hemd und eine Jeans.
Aufrecht saß er da, die Augen nicht von mir abwendend, geradezu... erhaben!
In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus einem nachsichtigen Lächeln und echter Besorgnis, als er mich dabei beobachtete, wie ich langsam den Tee trank und ihn dabei unverwandt anstarrte.
Seine Augen schienen müde, aber er sah frisch rasiert aus - und roch auch so - und sein Haar wirkte aufgrund der Nässe ganz dunkel.
Oh Gott, und diese Gottgestalt saß mitten in der Nacht bei mir in der Küche und sah mir beim Teetrinken zu!
Hinzu kam, dass er total perfekt aussah - und ich: zerknitterte Kleidung von gestern, übermüdet, verschreckt und das Nest auf meinem Kopf will ich lieber gar nichts erst erwähnen. Das Leben war so unfair!
Aber dann wiederum nicht, denn er war schließlich hier, bei mir, obwohl er überall anders hätte sein können.
Ich meine, was machten attraktive Männer um zwei Uhr nachts, wenn sie nicht gerade bei sich zu Hause im Bett lagen? Eben!
Unwillkürlich lächelte ich ihn verlegen an, als mir eben das bewusst wurde. Er schien überrascht, lächelte aber warm zurück.
"Geht's dir etwas besser?", fragte er sofort hoffnungsvoll und ich nickte. Wem würde es da nicht besser gehen?
Ich nippte an meinem Tee und trank die letzten Tropfen auch noch auf. Die heiße Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg durch meine Speiseröhre herunter und erwärmte für einen kurzen Moment meinen Körper spürbar von Innen.
Sean gähnte herzhaft hinter hervorgehaltener Hand und mir fiel wieder ein, dass er diese Nacht noch gar nicht geschlafen hatte.
Schuldbewusst blickte ich ihn an.
"Wenn du willst", begann ich zögernd, "kannst du dich gerne etwas... na ja, hinlegen."
Mir war schon klar, dass ich nur ein Bett im Zimmer hatte... weder Sofa noch sonst was.
Und ihm war das zweifelsohne auch klar. Um diese Peinlichkeit zu überspielen, redete ich schnell weiter. "Immerhin bist du meinetwegen immer noch wach und du musst ja arbeiten und so..."
Bei der ganzen sinnlosen Plapperei wurde ich wieder rot. Das Blut hatte seinen Weg anscheinend doch noch zurückgefunden. Oh welch Freude...
Ich sah schnell weg, konnte meinen Blick jedoch nicht lange genug von ihm abwenden. Er war wie das Licht, das die Motte anzog. Unnötig zu erwähnen, wer ich in diesem Gleichnis war...
Sean nickte nur dankbar und verkniff sich jeden weiteren Spruch. Vielleicht, weil die Lage gerade ein bisschen ernst war...
"Das wäre schön...", sagte er erschöpft. "Du solltest dich aber auch noch mal hinlegen."
Ich schüttelte vehement den Kopf und lächelte gequält. "Keine gute Idee..." Als ob ich jetzt noch ein Auge zutun könnte! Ich wollte nicht wieder alleine aufwachen und weiterhin von einem Irren terrorisiert werden.
Sean nickte ernst, streckte seine Hand aus und griff nach meiner, fuhr mit dem Daumen gedankenverloren über meinen Handrücken. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf meiner Haut aus.
"Das wird schon wieder", versicherte er mir, aber ich hatte Schwierigkeiten, ihm zu glauben, also schwieg ich. Sicher, er meinte es nur gut, aber es konnte noch tausendmal schlimmer werden, bevor es sich endlich aufklärte - wenn überhaupt! Die Tatsache, dass Sean hier war, machte das Problem zwar etwas erträglicher, löste es aber nicht.


Wir standen beide unschlüssig vor meinem Bett.
"Soll ich äh... die Bettwäsche wechseln...?", fragte ich peinlich berührt. Immerhin schlief ich jede Nacht in diesem Bett und es wäre verständlich, wenn er lieber frische haben wollte... obwohl das auch wenig schmeichelhaft gewesen wäre.
Andererseits kam es mir so... intim... vor, wenn er in meiner Bettwäsche schlafen würde. Ich hatte sie zwar vor einigen Tagen noch gewechselt, aber dennoch...
Sean lachte schallend. "Mach dich nicht lächerlich", grinste er schließlich und entledigte sich sogleich seines Pullovers. Oh Gott! Wollte er sich ausziehen?
"Ist dir kalt?", wollte er in meine Gedanken hinein wissen, als er sah, dass ich wieder die Arme vor der Brust verschränkt hatte. War mir tatsächlich, aber wenn er so weiter machte, sicherlich nicht mehr lange!
Noch bevor ich antworten konnte, zog er mir mit einem süffisanten Lächeln seinen Pullover über den Kopf. Automatisch schlüpfte ich mit den Armen in die Ärmel. Er war mir zwar viel zu groß, aber er roch wunderbar nach ihm und war noch immer kuschelig warm. Ich atmete tief ein und der Duft stieg mir fast zu Kopf, sodass ich fast gar nicht mehr klar denken konnte.
Wie konnte ein einzelner Mensch nur so gut riechen? Bei niemandem zuvor hat mich das so... ja, angemacht, anders kann man es gar nicht sagen, wie bei Sean. Sähe er nicht so müde aus und wäre ich nicht ständig irgendwie befangen in seiner Gegenwart, aus Angst, etwas Dummes zu machen, hätte ich mich sofort auf ihn gestürzt, um ihm um den Hals zu fallen und... noch mehr zu tun.
Vollkommen trunken vor Glück lächelte ich selig und ehe ich mich versah, zog er mich sachte an der Hand mit sich, als er sich auf die Bettkante setzte und sich schließlich ganz auf das Bett legte.
Er rutschte ein wenig zur Seite und klopfte grinsend auf den freien Platz neben sich. Ich hatte mich wohl geirrt, er wollte sich lediglich seines Pullovers entledigen.
"Mach ruhig den Fernseher an, wenn du möchtest. Mich stört das nicht", bot er an, als ich zögernd meine Beine aufs Bett schwang, mich neben ihn bequemte und ein Kissen hinter meinen Rücken stopfte, um in halbwegs aufrechter Position sitzen zu können.
Er gähnte, schloss die Augen und tastete nach meiner Hand, die auf der Bettdecke lag. "Ich brauche nur ein paar Minuten...", murmelte er schlaftrunken und war sofort innerhalb weniger Sekunden weg. Der Druck auf meiner Hand ließ nach, doch ich ließ sie trotzdem unter der seinen liegen.
Eine Weile lang lauschte ich seinen regelmäßigen, beruhigenden Atemzügen. Er musste sehr müde gewesen sein, wenn er es so schnell hinkriegte, auszusetzen.

Ich versuchte mich mit der Frage zu beschäftigen, wie es nun weitergehen sollte, anstatt mich darauf zu konzentrieren, dass ich ab morgen früh wieder allein in dieser Wohnung sein würde, den Launen meines begeisterten "Fans" machtlos ausgesetzt.
Da ich auf keinen grünen Zweig kam und meine Gedanken mich aber noch mehr deprimierten, als dass sie mir halfen, einen Lösungsansatz zu finden, ergriff ich die Fernbedienung, die auf meinem Nachtschränkchen lag und schaltete den Fernseher an, stellte ihn so leise, dass ich gerade noch etwas verstehen konnte.
Ohne nachzudenken drehte ich meine Hand mit der Handfläche nach oben und verschränkte meine Finger mit Sean's.
Er schlief noch immer seelenruhig und regte sich kein bisschen. Beneidenswert.
Die Bilder flimmerten schnell über den Bildschirm, aber ich achtete nicht auf sie. Sie dienten mir höchstens dazu, mich von anderen Bildern in meinem Kopf abzulenken. Weniger bunten und fröhlichen Bildern.
Ich versuchte mich damit zu trösten, dass ich am nächsten Morgen nach einer Lösung suchen würde.
Momentan war es Nacht, ich wurde bedroht und konnte nicht klar denken. Keine gute Ausgangssituation.


Die ersten Sonnenstrahlen weckten mich und erschöpft öffnete ich meine Augen, die Lider fühlten sich dabei so schwer an wie Blei.
Ich war wohl mitten in der Nacht eingeschlafen. Der Fernseher lief noch leise und ich lag auf den Bauch gedreht, unter meinem Ohr hörte ich etwas pochen und es war erstaunlich warm...
Abrupt hob ich den Kopf. Ich lag auf Sean's Brust, er hatte den Arm um mich gelegt und schlief ebenfalls noch tief und fest.
Penibel darauf bedacht, ihn nicht aufzuwecken, als ich behutsam unter seinem Arm hindurchschlüpfte, setzte ich mich etwas verwirrt auf.
Ich musste mich dringend duschen und diese zerknitterten Klamotten loswerden, am besten, noch bevor er wach wurde. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es fünf Minuten nach sieben Uhr war.
In zwei Stunden musste ich zur Arbeit, er bereits in einer.
So leise wie möglich schlich ich mich an den Schrank und klaubte ein paar Klamotten zusammen, mit denen ich mich dann ins Badezimmer verzog.
Ich musste erst einmal aufwachen. Vorher wollte ich mich nicht mit all den Dingen beschäftigen, mit denen ich mich heute würde befassen müssen.
Jetzt, bei Tageslicht betrachtet, war es mir fast schon ein wenig peinlich, Sean mitten in der Nacht angerufen zu haben. Ich war echt erbärmlich. Dabei wollte ich doch alles andere als erbärmlich sein! Ich wollte unglaublich toll, selbstständig und... furchtlos sein!
Das konnte ich jetzt wohl vergessen.
Während ich das angenehm warme Wasser über meinen Kopf laufen ließ, ließ ich alles noch mal Revue passieren und schämte mich dabei in Grund und Boden.
Er war süß, klar, kein Zweifel, aber... ich war so... argh! Unfassbar dämlich!
Was er jetzt wohl von mir dachte? Herrgott... ich hatte wirklich den Verstand verloren, oder? Ich hätte es doch auch einfach ausharren können, ohne ihn zu belästigen. Aber irgendwie war mein Hirn wie leergefegt gewesen.
So war das halt mit der Angst. Ich seufzte und rechtfertigte mich vor mir selbst damit, unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Ja, genau. Das müsste vorerst als Erklärung reichen...

Als ich aus dem Bad kam, vollkommen angezogen, aber die Haare noch nass, war Sean anscheinend gerade erst aufgewacht. Erschöpft fuhr er sich durch seinen Schopf und kratzte sich am Hinterkopf, wo seine dunkelblonden Haare entzückend abstanden. Er sah irgendwie zerknautscht aus, einfach zum Drücken!
Als er mich sah, grinste er schief und stand auf.
Ich glaube, er wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor. "Du hast ja einen wirklich tiefen Schlaf", stellte ich munter fest. Teilweise auch, um ihm zu zeigen, dass ich letzte Nacht zwar etwas durch den Wind gewesen war, das aber durchaus nicht zu meiner Normalverfassung gehörte.
Sein Grinsen vertiefte sich.
"Ich kann immer und überall", erwiderte er grinsend, ein bisschen heiser. Ach du liebe Güte...! Das wollte ich gar nicht wissen... Irritiert, und absolut ahnungslos, was ich auf dieses Geständnis antworten sollte, starrte ich ihn an. Immer diese Witze, aber... was für welche! Total anzüglich...
"Ich brauch dringend eine Zahnbürste", erklärte er mir dann, wieder ganz sachlich, als sei nichts gewesen.
"Ähh..." Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, war aber froh, die Thematik zu wechseln. "Ich glaub, ich hab noch eine neue oben im Spiegelschrank." Die hatte ich zwar letztens für mich gekauft, aber was soll's...
Er nickte und verschwand, gerade, als mir siedend heiß einfiel, dass ich dort auch meine anderen Utensilien gelagert hatte. ARGH! Peinlich!
Ich würde einfach so tun, als wäre nichts gewesen...

Wie sich herausstellte, verfolgte er dieselbe Strategie, als er zurückkam. Oder, vielleicht machte es ihm auch einfach nichts aus, einen genauen Einblick in das detailreiche Hygieneleben einer Frau zu werfen... Nein - ich glaube, es war doch die Strategie!
Einen Moment lang starrten wir uns unschlüssig an. Ich wusste nicht, was er dachte, aber ich dachte an den Inhalt meines Badezimmerschrankes. Und dann sagte ich mir, dass es mittlerweile auch egal wäre! Zuerst meine Unterwäscheschublade, dann meine Hygieneartikel... somit hatte er schon fast alles von mir gesehen, was in irgendeiner Art und Weise intim war. Fehlte nur noch, dass ich... egal! Konzentration, bitte!
"Das Fenster!", fiel ihm wieder ein und er wandte sich von mir ab, zum Fenster hin, das immer noch von den Jalousien verdeckt wurde. "Ich schau mir das mal an und danach fahren wir zur Polizei. Ich muss sowieso zur Arbeit", fügte er schmunzelnd hinzu, trat an näher und zog an der Schnur des Rollos, das daraufhin auch sofort nach oben schnellte.
Was ich dann sah, traute ich meinen Augen nicht. Ich hatte mit Eiern gerechnet, oder Tomaten, aber das entzog sich meiner Vorstellungskraft: die ganze Scheibe - absolut schlammverkrustet!
Jemand hatte Schlamm an mein Fenster geworfen und es danach auch noch an einigen Stellen verschmiert. Bis ganz nach oben war derjenige allerdings nicht gekommen, meine Decke und die Fenster waren zu hoch, und ohne Stuhl oder Leiter kam man nicht heran. So schien das Sonnenlicht durch die paar freigelassenen Lücken, doch ansonsten bedeckte eine dünne, trockene Matschschicht das Glas.
Sean runzelte die Stirn und ließ die Schultern hängen, als er das Desaster betrachtete.
Ich stand einfach nur wie erstarrt daneben und konnte es nicht fassen.
Welcher Irre machte so etwas? Welcher kranke Mensch tauchte nachts an einem Fenster auf, um dagegen zu hämmern und es mit Schlamm - oder sonst was - zu bewerfen?
Würde das jetzt jede Nacht so weitergehen? Ich konnte es einfach nicht fassen - und ich fragte mich, wozu ein Mensch, der solche kranken Ideen hatte, noch in der Lage sein würde? War das erst der Anfang von diesem Terror?
Langsam begriff ich, dass dieser Verrückte es wirklich ernst meinte - Drohbriefe auf die Fußmatte legen und Telefonterror betreiben, das konnte jeder. Das war wie Klingelmännchen spielen, das konnte sogar ich, auch, wenn ich das nie tun würde. Aber nachts jemandem eine Heidenangst einzujagen, da gehörte ein bisschen mehr zu als jugendlicher Leichtsinn. Wenn Steine in dem Matsch drin gewesen wären, hätte derjenige eventuell die Scheibe zerschlagen.
Ein Zittern lief durch meinen ganzen Körper, als mir das alles nach und nach bewusst wurde. Es war, als wäre im ersten Moment etwas abgeschaltet worden, die Fähigkeit nämlich, schnell zu reagieren, und nun kam es langsam alles wieder, noch tausendmal stärker.
Angst, Panik, Hilflosigkeit. Und ich stand noch immer hier, bewegungslos, und machte rein gar nichts!

Ein plötzlicher Ruck ging durch mich. "Ich muss hier weg!"
Sean betrachtete schweigend, wie ich hektisch meinen verstaubten Koffer aus der Ecke zwischen dem Schrank und der Wand hervorzerrte, ihn auf dem Boden platzierte und den Deckel aufklappte.
"Wo willst du denn hin?", wollte er ruhig wissen, seine Augen nicht mehr auf das verschmierte Fenster, sondern ganz auf mich gerichtet.
"Zu Joanna natürlich." Eilig durchquerte ich das Zimmer und riss abwesend die Schranktür auf, griff nach den erstbesten Kleidungsstücken, die mir unter die Finger kamen.
"Und wo wohnt Joanna?" Irgendwie hatte ich das Gefühl, er nahm mich nicht richtig ernst, oder wie sonst sollte ich diesen lockeren Tonfall deuten?
Ich schwieg trotzig, als ich mich wieder zurück zu meinem Koffer begab und vor ihm in die Hocke ging.
"Also?", ermunterte er mich, ging um mich herum und setzte sich auf die Bettkante.
"In Südafrika momentan", brummte ich schließlich kleinlaut und mied seinen belustigten Blick. Er hatte zumindest den Anstand, nicht laut loszulachen.
Mein Mund war mal wieder schneller als mein Verstand gewesen. Zu verlockend war aber die Vorstellung, einfach zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen oder sich elterlichen Verhören aussetzen zu müssen. Sich endlich wieder sicher zu fühlen.
"Du willst also nach Südafrika", fasste er unnötigerweise noch mal amüsiert zusammen.
Niedergeschlagen ließ ich die Schultern sinken und schmiss die Klamotten mutlos in den Koffer, weil ich keine Kraft mehr hatte, sie zurück in den Schrank zu stopfen. Aus der Hocke sank ich auf die Knie und fühlte, wie die Ohnmacht und Hilflosigkeit wieder langsam über mich kamen. Konnte ich denn gar nichts tun?
"Na, na", lächelte Sean. "Ich hab eine bessere Idee. Eine, bei deren Ausführung du nicht direkt den Kontinent verlassen musst."
Ich schaute ihn zweifelnd an.
"Ich ziehe einfach bei dir ein", schlug er munter vor, doch als er meinen wenig überzeugten Blick sah, fügte er hinzu: "Oder du zu mir. Meine Wohnung ist sowieso größer."
Ich runzelte die Stirn. Hatte er jetzt auch schon den Verstand verloren?
"Sehr witzig", erwiderte ich trocken und rollte die Augen, aber er schüttelte ungeduldig den Kopf.
"Das meine ich ernst. Mir wäre verdammt unwohl dabei, dich hier allein zu wissen. Vor allem nachts! Vor allem nach der heutigen Nacht!"
Da sagte er mal was... mir war auch sehr unwohl dabei. Nein – schon allein der Gedanke daran lähmte mich vor Angst!
Vielleicht war das Ganze eine Überlegung wert...
"Du kannst deine Sachen mitnehmen und wir können immer herkommen, wenn du was brauchst", versuchte er mich zu überzeugen. "Es ist ja nicht so weit und falls du dich dabei unwohl fühlst, dann..." Er suchte nach den richtigen Worten. "Es ist nur so lange, bis sich das Ganze aufgeklärt hat. Aber ich lass dich hier sicherlich nicht allein zurück."
Das war wirklich süß... er machte sich tatsächlich Sorgen und er dachte, ich würde mich in seiner Gegenwart, in seiner Wohnung, nicht wohl fühlen!
"Ich würde dir nur auf die Nerven gehen", startete ich einen ziemlich unüberzeugenden Versuch, aber er winkte nur ab.
"Unsinn. Ich werde DIR auf die Nerven gehen." Sean grinste und ich musste unwillkürlich schmunzeln. Als ob!
"Darfst du das denn?", wollte ich schließlich zweifelnd wissen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass seine Vorgesetzten es billigen würden, wenn er der Sache auf eigene Faust nachging. Ein Opfer bei sich einziehen zu lassen, um es zu beschützen - das ging doch zu weit. Oder?
Er schien sich nicht daran zu stören. "Eigentlich nicht“, grinste er. "Aber sie können mir ja nicht verbieten, mit meiner Freundin zusammenzuziehen, oder?"
Freundin? Ich schluckte aufgeregt und sah ihn aus großen Augen an, mein Herz klopfte lautstark.
"Wir können ja so tun als ob."
Oh. Ich versuchte, mir meine übergroße Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und während er mild lächelte, wandte ich mich von ihm ab, wieder niedergeschlagen, aber nun aus anderen Gründen.
"Ach so...", murmelte ich und strich mit der Hand fahrig über das gefaltete T-Shirt ganz oben im Koffer.
Wir taten also nur so als ob. Was war ich denn dann? Was war er? Was waren wir? Waren wir überhaupt "wir" oder waren wir gar nichts? Das warf mich jetzt ganz schön aus der Bahn...
"Was sagst du?", hakte er nach, als ich noch immer nicht in Begeisterungsstürme ausbrach.
"Von mir aus..." Alles war besser, als die momentane Lage, und ich war schon resigniert genug. Doch fiel mir noch etwas ein.
"Ich will dich aber nicht auch noch in Gefahr bringen!", rief ich aufgebracht und sah ihn ängstlich an.
Er lächelte nur, griff nach meinem Handgelenk und zog mich zu sich auf's Bett, was ich natürlich bereitwillig mit mir geschehen ließ.
"Da mach dir mal keine Sorgen." Mit der einen Hand zog er mich noch näher zu sich heran und legte mir schließlich den anderen Arm um die Schultern, drückte mich an sich.
Wirklich, ich wurde nicht schlau aus ihm. Absolut nicht. In Momenten wie diesen dachte ich, dass es vielleicht doch ein wir gab... geben könnte?
Ich atmete wieder diesen charakteristischen Duft ein; er hatte etwas Männliches, aber auch Beruhigendes an sich, schloss die Augen, konzentrierte mich darauf, zu atmen, während es in meiner Brust hämmerte und diese fast zu zerplatzen drohte.
"Weißt du was?", raunte er mir zu und ich fühlte seinen heißen Atem an meinem Ohr, während er mich vorsichtig nach hinten in die Kissen drückte und sich seitlich über mich beugte.
Ich blickte in seine dunklen, grünen Augen, die mich geheimnisvoll anfunkelten, und war nicht fähig zu einer Antwort. Alles in mir flatterte aufgeregt und mein Mund war staubtrocken. Mit größter Anstrengung drehte ich den Kopf schwach hin und her, um ein "nein" zu signalisieren.
Er lächelte belustigt und beugte sich wieder ganz nah zu mir herunter, seine Lippen streiften meine Wange, mein Kopf war voller Nebel und das Atmen hatte ich schon längst wieder aufgegeben.
"Du bist mir rettungslos verfallen", flüsterte er, seine Lippen strichen langsam über mein Gesicht, bis sie auf die meinen trafen.
Für einen Moment die Ewigkeit... bis mir die Realität da draußen wieder bewusst wurde.
Ich drückte ihn energisch von mir weg.
"Ich kann nicht atmen!", keuchte ich außer Puste und blickte ihn anklagend an. Das war nicht der richtige Zeitpunkt!
Er grinste nur selbstgefällig. "Das spricht doch nur für mich."
Das war ja klar. Ich verdrehte die Augen und schubste ihn von mir runter, bevor er wieder anfangen konnte, mich schwach zu machen.
"Lass uns gehen", seufzte ich, nach einem Blick auf die Uhr. "Es wird sonst spät."


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