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Every Little Thing

von  -Moonshine-

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Kapitel 9: In These Arms...

Dienstag Mittag war ich mit meinen Nerven am Ende.
Mit zittrigen Fingern hob ich den Telefonhörer auf und drückte auf die "Anruf annehmen"-Taste, legte den Hörer wieder leise auf den Tisch und schlich mich aus dem Zimmer in die Küche, wo ich mich neuerdings am meisten aufhielt. Ich ertrug das ewige Klingeln nicht mehr und hatte das irrationale Verlangen, so weit wie möglich von ihm entfernt zu sein.
Unruhig machte ich mir einen Tee. Mein Lieblingsgetränk zurzeit, doch nicht mal der schaffte es mittlerweile, mich zu beruhigen.
Seit drei Tagen sah ich mich ständigem Läuten ausgesetzt und wenn ich dranging, war niemand da. Es kam auch kein Tuten oder sonst was aus der Leitung, es war einfach nur, als ob jemand schwieg. Und schwieg und schwieg.
Zuerst war ich etwas irritiert, dann habe ich mich schrecklich über diese dämlichen Streiche geärgert, aber als die Anrufe auch am Abend noch nicht aufgehört hatten, sondern, im Gegenteil, nur noch schlimmer wurden, bekam ich es mit der Angst zu tun.
Konnte es sein, dass das mein unbekannter Drohbriefschreiber war?
Spätestens da hatte ich auch verstanden, was die Nachricht, die zuvor wieder mal auf meiner Fußmatte gelegen hatte, bedeuten sollte. Ich nahm das Blatt Papier noch einmal in die Hand und starrte es an.

"Ich habe dich gewarnt!"

Und darunter, in denselben, dicken, schwarzen Lettern: meine Telefonnummer.

Der Anblick meiner Nummer hatte mir sofort die Luft zum Atmen geraubt und mich in eine Art Schreckstarre versetzt, bis mir einfiel, dass man sie ganz einfach im Telefonbuch nachschlagen konnte... Allerdings wusste dieser Irre auch, wo ich wohnte, was mich fast noch mehr beunruhigte. Meine Adresse war nicht verzeichnet und ich war dort eigentlich auch nur unter "E. Jones" eingetragen...
Ich überlegte eine Weile. Dasselbe stand auch auf meiner Türklingel und meinem Briefkasten. Würde das nicht bedeuten, dass... dieser Verrückte zuerst bei mir zu Hause gewesen war und erst dann meine Nummer herausgefunden hatte? War es derselbe, der bei mir eingebrochen hatte? Aber was wollte er noch von mir? Er hatte schon meine Edelstahltöpfe und meine alte Leselampe, wollte er mir noch meinen Verstand rauben?
Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich langsam den Kopf verlor.
Oder war es doch jemand anderer, der es auch mich abgesehen hatte? Und wie kam derjenige ständig rein, in den Hausflur? Jemand von drinnen musste doch erst den Summer betätigen.
Doch ich glaubte auch nicht, dass es irgendwer von den Nachbarn sein konnte. Erstens kannten die mich alle als "Emily" und nicht an "E. Jones" und zweitens... oder, warum eigentlich nicht? Das mit dem Namen konnte ja auch ein Ablenkungsmanöver sein... Aber wer von meinen allesamt recht netten und anständigen Nachbarn - Ausnahmen bestätigten wie immer die Regeln - würde so einen grausamen Sinn für Humor haben?
Ich bekam Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken. Ich würde es ja doch nicht herausfinden und durch die Stockwerke zu laufen und nachzufragen würde sicherlich auch nicht viel bringen.
Aber was sollte ich tun? Sean anzurufen traute ich mich nicht. Er hatte sich damals schon so viele Sorgen gemacht und ich wollte nicht... nun ja, wie eine Schutzbedürftige dastehen, die sich ohne ihn nicht zu helfen wusste. Nein, ihm würde ich auf keinen Fall Bescheid sagen.

Zu meinen großen Entsetzen blieb das Telefon auch mitten in der Nacht nicht still. Ein, zwei Mal riss es mich in der Nacht zum Montag gewaltsam aus meinem sowieso schon unruhigen Schlaf und danach wagte ich nicht einmal mehr, die Augen für eine Sekunde zu schließen. Wenn der Unbekannte schon tagsüber hier auftauchte und mich nachts mit Telefonaten belästigte, dann konnte er auch ebenso gut plötzlich vor meiner Tür stehen – mitten in der Nacht.
Ein einziges Mal hob ich tatsächlich genervt den Hörer ab, es war irgendwann nach Mitternacht, und es war der Anruf gewesen, der meine Müdigkeit dazu veranlasst hatte, einer schier grenzenlosen Panik Platz zu machen.
Jemand atmete lautstark in den Hörer.

Geschockt ließ ich denselbigen fallen und mein Herz bollerte hart und unaufhörlich gegen meinen Brustkorb. Mit einem Satz war ich wieder beim Telefonhörer und drückte, ohne noch einmal zu horchen, die "Anruf beenden"-Taste.
Seitdem hatte ich keine ruhige Minute mehr. Auch am Montag setzten sich die Telefonate fort, doch ich nahm nicht mehr ab und auch die Nacht zum Dienstag verlief nicht anders. Es klingelte zwar nicht jede fünf Minuten und tagsüber auch öfter als nachts, in der es sich ungefähr auf drei, vier Anrufe summierte, aber es war oft genug, um mich jedes Mal die Kontrolle verlieren zu lassen.

Das Klingeln machte mich unheimlich wahnhaft und ich hielt es kaum noch aus. Bei jedem einzelnen Mal durchfuhr mich ein heißer, unangenehmer Blitz, als würde man sich auf's Tiefste erschrecken, und das Gefühl von tausend Nadeln, die in alle Richtungen abgeschossen werden, blieb in meinen Fingerspitzen und meinen Zehen stecken und klang erst dann allmählich ab. Adrenalin.
Nie hätte ich gedacht, was so ein harmloses Telefonklingeln alles auslösen konnte. Angstzustände, Zittern, und ich hatte das Gefühl, als gehörte mein Kopf schon gar nicht mehr zu mir. Oder waren das etwa tatsächlich meine Gedanken, die ich da hatte?

Dienstag Mittag, also kurz, bevor ich mich freiwillig einweisen ließ, ertönte schon wieder ein Klingelzeichen.
Wie gewohnt fuhr ich vor Schreck zusammen und brauchte erst mal eine Weile, um zu verstehen, dass es nicht das Telefon war, sondern dieses Mal die Türklingel. Zur Abwechslung.
Mit bebenden Fingern griff ich nach der Gegensprechanlage, was ich sonst eigentlich nie tat, und fragte unsicher, wer da sei. Es war Sean.

Als er vor meiner Tür stand, so glanzvoll wie eh und jäh und in seiner Polizeiuniform, die ihm so gut stand, atmete ich erleichtert auf. Es war doch kein armer Irrer, der mich verschleppen und in Stücke zerhacken wollte, nur, um meine Leichenteile im Wald zu verstreuen, wo ahnungslose Familien mit Kindern sie beim Sonntagsspaziergang finden würden... wie gesagt, meine Gedanken fühlten sich fremd und krank an, als wären es nicht mehr meine eigenen.
"Ah, hallo", begrüßte er mich und lächelte. "Du bist ja doch zu Hause." Was um Himmels willen meinte er denn damit?
Bevor ich mir dazu etwas denken konnte, fiel mein Blick automatisch auf seinen Gürtel.
Bei dessen Anblick begann ich, zu hyperventilieren und hatte Mühe, mich unter Kontrolle zu halten.
"Die Waffe kommt mir nicht ins Haus!", wies ich ihn panisch an und deutete anklagend auf den Waffengürtel, in dem, gut sichtbar, seine Pistole steckte.
Er zog verwundert eine Augenbraue hoch und betrachtete mich abschätzig. "Was soll ich denn tun? Sie auf der Fußmatte ablegen, solange ich drin bin?"
"Du könntest mich damit erschießen!", warf ich ihm mit schriller Stimme vor, kein Ohr für die ironische Belustigung in seiner Aussage. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich sie nicht mehr alle hatte. Die Angst hatte meine Denkfähigkeit deutlich gehemmt und ich sah überall nur noch Bedrohungen.
"Warum sollte ich das tun?!", wollte er reichlich verständnislos von mir wissen und schüttelte den Kopf, als ob er sich wunderte, was mit mir los war. "Glaub mir, wenn ich das wollte, würde ich nicht vorher noch mit dir darüber diskutieren."
Das sollte zwar ein Witz sein, aber mir war nicht zum Lachen zu Mute.
"Wie beruhigend", murrte ich missmutig, aber er unterbrach mich.
"Nur weil ich Polizist bin, heißt das nicht, ich kann einfach herumspazieren und Leute abknallen." Dann lächelte er mild. "Und dich schon gar nicht."
Ich sah mich geschlagen. Wer könnte seinem Lächeln schon widerstehen? Er hatte ja Recht. Ich war nur paranoid.
"Okay, okay... komm rein", seufzte ich ergeben und betrachtete das Ding an seinem Gürtel immer noch misstrauisch. Er grinste. Dass ich ihm aufgrund seiner Waffe so viel Respekt entgegenbrachte, schien ihm unheimliches Vergnügen zu bereiten, mir allerdings bereitet das geladene Teil nur Angstgefühle. Als hätte ich von denen nicht schon genug!
Nun hatte ich noch das Problem, dass ich das Ganze irgendwie vor ihm geheim halten musste. Er würde mich bestimmt zwingen, zur Polizei zu gehen, aber aus dem Fernsehen wusste ich, dass auch die mir nicht helfen können würde. Und vielleicht würde das alles nur noch verschlimmern, weil das den eklig atmenden Anrufer nur noch mehr verärgern würde. Außerdem wollte ich so wenig wie möglich mit dem Gesetz in Konflikt kommen und dass dieses mir in Gestalt von Sean immer wieder präsent war, reichte eigentlich auch.
Ich muss zugeben, ich hatte schon immer ein bisschen Ehrfurcht vor Polizisten gehabt und das war auch nicht besser geworden, seitdem ich ihn kannte. Ständig achtete ich darauf, bloß nichts falsch zu machen, auch, wenn er nicht gerade in der Nähe war. Wer wusste es schon? Vielleicht würden seine Kollegen mich bei ihm verpetzen oder sonst was. So unrealistisch das auch sein mochte, mittlerweile glaubte ich, das mir alles passieren konnte. Natürlich alles Unangenehme...

Er trat ein und folgte mir in die Wohnung. Ich war heute etwas früher zu Hause, weil ich Julie gebeten hatte, mich für den restlichen Tag zu entlassen. Es ging mir nicht gut, ich war unaufmerksam und nicht bei der Sache, außerdem war mir dauernd übel, wenn ich daran dachte - und meine Gedanken drehten sich praktisch die ganze Zeit um den Telefonterror und was wohl diese seltsame, unbekannte Gestalt von mir wollen könnte.
Ich schätzte, dass Sean gerade Mittagspause hatte, aber was machte er hier?
Die Antwort folgte auf dem Fuße, als ich mich zu ihm umdrehte und ihm etwas zu trinken anbieten wollte, ganz in dem Bemühen, mich so normal wie möglich zu geben. Doch er kam mir zuvor.
"Ich versuche schon seit zwei Tagen, dich zu erreichen", beschwerte er sich und blickte mir aufmerksam in die Augen, als würde er versuchen, mich zu durchschauen. Ob er merkte, dass etwas nicht stimmte? Der Gedanke ließ mein Herz vor Furch schneller schlagen und ich hatte noch mehr Mühe, mich ruhig zu halten. "Aber du gehst einfach nicht ans Telefon."
Noch immer starrte er mich an, seine Blicke so durchdringend und ernst, dass ich unwillkürlich weggucken müsste, aus Angst, er könnte in meinen Augen die Antwort lesen. Oder vielleicht war es mir auch auf die Stirn geschrieben.
"Stimmt was nicht?"
Ich zwang mich zu einem, wenn auch eher aufgesetzten, Lächeln und schüttelte heiter den Kopf. "Nein, was soll denn sein? Alles in Ordnung!"
Er schien argwöhnisch. Dann verzog er den Mundwinkel und kratzte sich etwas ratlos am Hinterkopf. "Hab ich... ich meine... Gehst du mir irgendwie aus dem Weg?"
Ooh, er klang so unsicher, dass ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, mein Gesicht an seine Brust gepresst und ihm alles erzählt hätte! Wie kam er nur auf so eine absurde Idee?
Aber klar - was sollte er sonst denken, wenn ich seine Anrufe ignorierte – wenn auch unwissentlich - und ihm dann beteuerte, dass alles in bester Ordnung sei?
"Aber nein!", versicherte ich ihm hastig, ein wenig erschrocken über seine Annahme. "Ganz und gar nicht!" Mist, ich hatte es nicht geplant, aber selbst in meinen Ohren hörte sich meine Tonlage mehr als nur verzweifelt an!
Sean runzelte die Stirn und war nicht viel klüger als vorher, jedoch war auch ihm das leichte Zittern in meiner Stimme nicht entgangen. "Okay, jetzt mach' ich mir erst recht Sorgen. Emily, was ist denn passiert?"
Warum musste er nur so lieb klingen? Ich würde das nicht lange aushalten. Mein Bedürfnis, jemanden von meiner Misere zu erzählen, nahm Überhand und je länger er mich mit diesem überaus besorgten Blick durchbohrte, desto schneller schmolz mein Widerstand dahin.
Seine nächsten Worte waren der Auslöser.
"Egal, wie schlimm es ist, ich werde solange nachfragen bis du es mir sagst." Das klang äußerst entschlossen und stur und eigentlich war es mir auch schon vorher klar gewesen, dass er nicht aufgeben würde.
Ich ließ meine Schultern hängen und senkte den Blick, wie zum Zeichen, dass er meine Abwehr durchbrochen hatte.
"Es ist eigentlich nichts...", versuchte ich noch ein letztes, verzweifeltes Mal, ganz fernab der Hoffnung, dass er mir das abkaufte. Er ging natürlich nicht einmal darauf ein, sondern schaute mich nur abwartend an.
Ich seufzte. "Also, ich hab schon wieder einen... eine Drohung bekommen, glaube ich...", murmelte ich leise und beobachtete ein bisschen ängstlich seine Reaktion. Er holte tief Luft und es kam mir so vor, als versuchte er, sich ruhig zu halten. Doch seine Augen verengten sich und er presste die Lippen zusammen, schweigend, als ob er wusste, dass da noch mehr war, das ich ihm zu erzählen hatte.
Ein wenig verunsichert davon, wie er auf die weiteren Neuigkeiten reagieren würde, fuhr ich nur zögerlich fort. "Und da sind noch... diese Anrufe..."
"Was für Anrufe?", kam es sofort wie aus der Pistole geschossen. Sein Tonfall war schneidend und todernst.
"Na ja, das Telefon klingelt..." Unnötige Information, Emily! Meistens klingelte das Telefon, wenn ein Anruf ankommt, zumindest im Normalfall! "Und dann schweigt jemand oder..." Ich schluckte. Das war ja das Schlimmste an allem!
"Oder?", drängte Sean äußerst beunruhigt.
"Oder es... es wird laut reingeatmet", schloss ich und merkte, wie sich meine Nackenhärchen aufstellten, als mir ein kalter, unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Unwillkürlich schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, als ob ich mich wärmen wollte.
In seine Augen trat ein Ausdruck des Entsetzens und einen kurzen Moment lang starrte er mich einfach nur an.
"Seit wann?", wollte er dann schließlich ziemlich emotionslos und geistesabwesend wissen.
"Seit Sonntag...", antwortete ich wahrheitsgemäß. Der Tag nach unserem schönen Treffen bei ihm zu Hause. So konnten angenehme Erinnerungen durch negative verdrängt werden... Irgendwer da oben gönnte mir wohl kein Glück.
"Und die Drohung?" Obwohl er versuchte, sich nicht von seinem Ärger beeinflussen zu lassen und ganz fachmännisch zu klingen, konnte ich es dennoch in seinem Inneren rumoren sehen. Ich wüsste nur gerne, ob er sich über mich ärgerte oder über das, was mir gerade passierte...
"Die hab ich gefunden, äh, Samstag Nacht..." Gleich würde ich mir sicherlich eine Standpauke anhören müssen...
"Samstag Nacht?", hakte er wie erwartet nach und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er mich musterte. "Als ich dich abgesetzt habe?!"
Ich nickte. Er klang ziemlich aufgebracht.
"Du hättest sofort anrufen sollen! Damit sollte man nicht spaßen!", schimpfte er, atmete dann noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen und fuhr sich zerstreut durch die dunkelblonden Haare. Auf seinem Kopf hinterließ er eine äußerst attraktive Spur der Verwüstung.
Ich fröstelte. Seine Wut machte mir nicht gerade mehr Zuversicht und eigentlich hätte ich mir ein bisschen mehr Verständnis gewünscht, wenigstens mal kurz in den Arm genommen zu werden. Immerhin wurde nicht er so belästigt und ich war sicherlich schlimmer dran.
Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken und blinzelte die aufkommenden Tränen erfolgreich weg, doch auf meinen Wangen hatten sich sicherlich schon verräterische Flecken gebildet.
Er blickte mich entgeistert an; ich konnte nicht sagen, was sich in seinem Kopf abspielte.
"Okay...", sagte er dann langsam und beherrscht und trat einen Schritt auf mich zu. "Okay, keine Angst... wir überlegen uns schon was, ja?" Es klang eher so, als wollte er nicht nur mich, sondern auch sich selbst beruhigen. Ich nickte stumm.

Wir.

Sean umarmte mich und presste mich an seine Brust, bis mein Herzschlag und auch ich mich wieder beruhigt hatten. Eine ganze Zeitlang standen wir so da, still und schweigend, und ich versuchte, meine Fassung wiederzuerlangen, während er nachdenklich aus dem Fenster schaute, ohne mich loszulassen.
Das war so viel besser, als wenn er wütend auf mich war! Es hatte etwas so unfassbar Tröstliches, wenn auch die Umstände etwas unglücklich waren... oder wahrscheinlich gerade deswegen.
Schließlich ließ er doch los und warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr am rechten Handgelenk. Ich ahnte mit einem flauen Gefühl im Magen, was jetzt kommen würde. Ich wollte nicht, dass er ging, Wenn er hier war, war alles fast in Ordnung. Oder zumindest fühlte ich mich etwas sicherer in seiner Gegenwart.
"Ich muss wieder zur Arbeit, meine Mittagspause ist bald vorbei", bestätigte er meine Befürchtungen und klang dabei ein bisschen gestresst. Kein Wunder, wahrscheinlich machte das auch ihm zu schaffen.
"Kannst du... Zeigst du mir den Brief?", fragte er ernst. "Ich will ihn mir genauer angucken."
Ich nickte zögerlich und ging herüber zu meinem Schreibtisch. In der untersten Schublade hatte ich ihn versteckt, unter all dem anderen Papierkram, als würde von ihm irgendeine Art böse Aura ausgehen. Aber ich hatte das Bedürfnis gehabt, ihn so weit und tief wie möglich zu vergraben, als würde dieser Umstand etwas daran ändern können, dass die kurze Notiz mir allgegenwärtig im Kopf herumschwirrte.
Als ich dem Umschlag, in dem das ominöse Blatt Papier sich befand, aus der Schublade zog, fiel mein Blick wieder auf die schwarze Schrift mit meinem Namen drauf und ich bekam noch mal eine Gänsehaut. Wer trieb da so grausame Spielchen mit mir? Das war fast nicht auszuhalten...
Schnell reichte ich ihn Sean, denn ich wollte nur so kurz wie möglich Hautkontakt mit dem bösen Brief haben.
Er nahm ihn an sich, holte den Brief aus dem Umschlag heraus und faltete ihn auseinander. Seine Augen huschten in Sekundenschnelle über die zwei kurzen Zeilen und wurden wieder zu zwei Schlitzen. Seine Lippen bildete eine dünne, harte Linie.
Er wandte sich wieder mir zu. "Darf ich ihn mitnehmen?"
Diese Anfrage überraschte mich ein wenig. Er hatte doch nicht vor...? Mit geweiteten Augen sah ich ihn erschrocken an und wollte ihn gerade bitten, das unter uns zu halten, als er den Kopf schüttelte und seufzte.
"Ich zeige ihn niemanden, wenn du nicht willst. Ich möchte ihn mir nur genauer ansehen."
"Ääh...", machte ich unsicher. Sollte ich ihm glauben?
"Ich versprech's dir", versicherte er mir, und das ziemlich glaubwürdig, wie ich fand. Na gut, ich würde ihm vertrauen - müssen.
"Okay...", murmelte ich, wieder etwas entmutigt, als mir einfiel, dass er gleich gehen und mich mit diesem Teufelstelefon zurücklassen würde. Oder doch dem Telefonteufel?
Bedrückt ließ ich meinen Kopf hängen. Ich konnte ihn ja wohl kaum anflehen, zu bleiben. Reiß dich gefälligst zusammen, Emily!, schalt ich mich, doch es wollte nicht so recht gelingen.
Ich blickte auf. Sean stand plötzlich dicht vor mir und lächelte mich an. Zugegeben, es war ein etwas verzagtes Lächeln, aber immerhin.
"Ich komme nach Feierabend noch mal vorbei, dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen. Das heißt, wenn du noch nichts anderes vor hast?", fügte er schnell hinzu und ich musste an seinen Spruch beim ersten Mal denken, als er mich um eine Verabredung gebeten hatte. "Dann hätten Sie das ja absagen müssen", hatte er mir mit einem frechen Grinsen gesagt und ich hatte mich fürchterlich geärgert - über ihn und über meine weichen Knie.
Ich schüttelte erleichtert den Kopf. "Nein, hab ich nicht." Der Mann konnte Gedanken lesen! Oder aber, ich hatte ja immer noch die Theorie von der Schrift auf meiner Stirn... war ich so leicht zu durchschauen? Ich befürchtete es.
"Gut, dann bis später und..." Er warf eine unruhigen Blick zu meinem schnurlosen Telefon, das auf meinem Schreibtisch in seiner Halterung stand und - bis jetzt - noch stumm gewesen war. "Geh nicht ans Telefon."
Klasse Ratschlag. Aber ich nickte trotzdem gefügig und es fühlte sich an, als wäre mir ein halber Steinbruch vom Herzen gefallen, als er verkündet hatte, dass er später wiederkommt. In dieser Erleichterung würde ich jedem Vorschlag von ihm zustimmen!
Ziemlich unerwartet beugte er sich noch zu mir herunter und drückte mir einen kleinen Kuss auf die Lippen, und das so schnell, dass ich nicht mal dazu kam, ihn zu erwidern. Und mit einem engelsgleichen, aber doch spitzbübischen Lächeln verschwand er auch schon aus meiner Haustür, nachdem er zum Abschiedsgruß noch kurz die Hand gehoben hatte.

Zwei Minuten später klingelte das Telefon und holte mich aus meiner kurzzeitigen Hochstimmung wieder auf den harten Boden der Realität zurück.
Autsch.


Sean stand tatsächlich am späten Nachmittag vor meiner Haustür und seiner Arbeitskleidung nach zu urteilen, kam er direkt vom Revier zu mir, ohne einen Zwischenstopp bei sich zu Hause eingelegt zu haben. Diesmal ließ ich ihn sofort herein, obwohl mir die dämliche Pistole immer noch Sorgen bereitete.
Ich hatte ganz einfach Angst vor Waffen und auch, wenn Sean mir nichts Böses wollte... dieses Ding konnte ja auch einfach so losgehen. Oder?
Nachdem ich ihm versichert hatte, dass alles in Ordnung und nichts Weltbewegendes während seiner Abwesenheit vorgefallen war, bot ich ihm etwas zu essen an. Es stellte sich heraus, dass er ganz ausgehungert war, weil er in der Mittagspause - meinetwegen! - nichts gegessen hatte.
Dass ich daran schuld war, sagte er natürlich, so nett, wie er nun mal war, nicht, aber ich wusste das auch so.
Während dem Essen erwähnte er mit keinem einzigen Wort unser Gespräch vom Mittag, doch als er fertig war mit der Hühnchen-Reispfanne, setzte er einen ernsten Gesichtsausdruck auf.

Im Wohnzimmer bat er mich, ihm alles genauestens zu erzählen, was ich auch tat. Auf seine Frage hin, warum ich ihm nicht Bescheid gegeben hatte, erzählte ich ihm nur die halbe Wahrheit.
Er sollte sich keine Sorgen machen. Den Teil mit der kleinen Schutzbedürftigen, für die er mich womöglich halten könnte, behielt ich lieber für mich.
Meine geäußerte Befürchtung, ihm Kopfzerbrechen zu bereiten, wischte er mit einer einzigen Handbewegung und einem ungläubigen Gesichtsausdruck einfach beiseite.
"Das sollte deine geringste Sorge sein", garantierte er mir. "Das ist doch keine Kleinigkeit, die du einfach so für dich behalten kannst."
Auch, wenn er immer noch etwas verständnislos war, war er zum Glück nicht mehr so verärgert wie zuvor. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht gemerkt hatte, dass ich kurz vor einem Tränenausbruch gestanden habe... Glücklicherweise hatte er den ja noch verhindern können. Ob das Absicht war?
"Ich wollte dich nicht... belasten." Auch nur die halbe Wahrheit. Ich wand mich unter meinen eigenen Worten. Wie konnte ich es genau so ausdrücken, dass er es verstand, ohne gleichzeitig zu verstehen, dass ich ein bemitleidenswerter und hoffnungsloser Fall war. Ich wollte nicht die Prinzessin auf der Erbse sein, die nichts alleine hinkriegte und einen Mann brauchte, um auf sie aufpassen.
Dass ich mich tatsächlich nach einem Mann sehnte, der stark und cool war... der Sean war, meine ich, wagte ich nicht mal mir selbst einzugestehen.
Sean lachte freudlos, als hätte ich einen überaus schlechten Witz gemacht.
"Du belastest mich doch nicht, red dir das ja nicht ein. Wenn das das nächste Mal passiert, oder irgendwas passiert, will ich das sofort wissen."
Das wollte er auch letztes Mal und ich habe mein Versprechen auch da schon nicht gehalten... aber irgendwas war diesmal anders und ich glaubte ihm, dass es ihm nichts ausmachen würde, wenn ich ihm das "nächste Mal" Bescheid gab. Ich hoffte nur, es würde gar nicht erst zu einem "nächsten Mal" kommen...
"Warum?", platzte es aus mir heraus und ich wunderte mich selbst, woher diese Frage so plötzlich kam.
Er blickte mich einen Moment lang unergründlich an und lächelte kurz. Wirklich nur ganz kurz, aber hinreißend.
"Na, weil du mir wichtig bist und ich mir auch Sorgen um dich mache. Weißt du das denn nicht?"
Ich verstummte augenblicklich, während ich innerlich nur so zerfloss, und sagte gar nichts mehr. Er gab mir wirklich den Rest und überdies gab er mir ein paar wirklich sehr gute Gründe, um ihn nur noch mehr zu mögen...

Während er mit vor der Brust verschränkten Armen an meinem Schreibtisch lehnte und alles, was ich sagte, nachdenkdicklich, nickend oder stirnrunzelnd aufnahm, saß ich auf der Kante meines Bettes, die Hände gegen eben jene gestemmt und erzählte oder beantwortete seine Fragen. Ich kam mir vor wie bei einem Verhör, nur dass Sean viel netter war und auch besorgte Fragen über meinen Gemütszustand stellte.
"Hast du denn wenigstens mit deinen Eltern darüber geredet? Oder mit deiner Vermieterin?", wollte er fachmännisch wissen. "Vielleicht weiß sie ja, wer hier herumgeistert. Wenn du schon keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen willst..."
Ich hatte mich geweigert, zur Polizei zu gehen und dort alles zu erklären.
Irrte ich mich, oder klang er tatsächlich etwas beleidigt?
Ich schüttelte unwillig den Kopf. Auf diese Diskussion hätte ich auch gut verzichten können, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass er mich verstand.
"Nein, sie... sie würden sich nur unnötige Sorgen machen und das sollen sie nicht." Immerhin hatten sie schon genug eigene Probleme, da konnte ich nicht auch noch ankommen mit irgendwelchen Lappalien, wie Telefonanrufen. Vielleicht war das auch nur ein Missverständnis...
Sean runzelte die Stirn, er sah ein wenig verärgert aus.
"Vielleicht solltest du anfangen, dir mal Sorgen um dich selbst zu machen und nicht immer nur um andere", beharrte er entschieden und schaute mir fest in die Augen, doch ich wich seinem Blick nur aus. Ich wusste ja, dass er Recht hatte, aber warum sollte ich andere mit meinen Problemen behängen? Es reichte schon, dass ich ihn da mit hineingezogen hatte und er sich nun auch noch den Kopf über meine Situation zerbrach.
"Vielleicht...", gab ich zu und betrachtete meine Fußspitzen. "Man kann halt nicht aus seiner Haut..."
Es entstand eine kurze Pause, in der wir beide schwiegen. Ich seufzte und bewegte meine Zehen, um mich von meinen trübsinnigen Gedanken abzulenken. Sean stieß sich von meinem Schreibtisch ab und kam auf mich zu.
"Möchtest du das denn?" Seine Stimme klang nun wieder ganz warm und sanft. Er setzte sich neben mich auf das Bett und ich konnte spüren, dass er mich aufmerksam betrachtete.
"Manchmal...", gestand ich leise. Nicht, dass ich mich nicht selbst hätte leiden können, aber ab und zu... vor allen in Momenten wie diesen, oder auch, wenn ich gegen das Geländer in der Eishalle schlitterte, Tom auf der Straße traf und mich nicht zu wehren wusste oder viel zu schüchtern war, um auf Sean's Komplimente etwas zu erwidern oder wenn mir im Supermarkt die Tüte mit den Tomaten riss und sie in alle Richtungen davon kullerten, dann wäre ich nur allzu gern anders. Besser, intelligenter, schlagfertiger, größer, geschickter, furcheinflößender... einfach anders.
"Manchmal wäre es schön...", fuhr ich fort, ohne von ihm gefragt worden zu sein, "nicht mehr so sein zu müssen." So absolut empfindlich und anfällig und voller Bedenken, so unsicher, fügte ich in Gedanken hinzu, denn einen Seelenstriptease wollte ich nun auch nicht vor ihm hinlegen.

Sean schwieg eine Zeitlang, dachte über meine Worte nach und ich tat es ihm gleich. Die ganze Situation mit den Briefen und den Telefonaten überforderte mich ein wenig und nahm mir jegliche Zuversicht, aber jetzt, wo Sean hier war, war ich nicht mehr ausnahmslos panisch.
Vielmehr wurde ich von einer massiven Welle der Resignation erfasst. Ich war zwar ruhig, fühlte mich aber müde und abgeschlagen.
Obwohl ich mich vor ihm immer noch weigerte, das als eine wirklich ernste Sache anzuerkennen, vielleicht auch, damit er sich selbst nicht so aufregte, war mir klar, dass es da jemand auf mich abgesehen hatte. Ich wusste nur nicht, ob dieser jemand gefährlich war oder mich nur ärgern, einschüchtern wollte... Aber es funktionierte. Ich hatte mittlerweile wirklich Angst, was ja auch kein Wunder war, wenn mitten in der Nacht das Telefon plötzlich klingelte und niemand etwas sagte.
Irgendwas hatte ich wohl falsch gemacht, etwas, das den Anrufer verärgert haben musste und nun hatte ich die Konsequenzen zu tragen. Wenn ich nur wüsste, was.
Ich hatte, um es mal milde auszudrücken, überhaupt nicht die geringste Ahnung.

Da ich gar nicht mehr ans Telefon ging, verpasste ich wohl auch echte Anrufe. Meine Mutter hatte mich gestern nach einigen Stunden des Probierens ganz verzweifelt auf dem Handy angerufen - was sie sonst NIE machte - und mich zusammengestaucht, was denn mit meinem Telefon nicht stimmte. Die Wahrheit hatte ich ihr natürlich nicht gesagt, sondern mich nur mit irgendwelchen Störungen und Defekten in der Leitung herausgeredet.
"Ruf bei deinem Anbieter an", hatte sie mir dann befohlen, überaus verärgert über mein inkompetentes Telefon. "Das kann doch nicht wahr sein, dass du Geld zahlst und deine Leistungen dafür nicht bekommst!"
Ja, meine Mutter war in dieser Hinsicht sehr rigoros... Unnötig zu erwähnen, dass sie mit ihrer Telefongesellschaft schon seit Jahren im Clinch lag.
Kleinlaut habe ich ihr zugestimmt und das Gespräch so schnell wie möglich beendet, bevor sie noch merken konnte, dass mit mir etwas nicht stimmte.
Das einzige, was mich davon abhielt, das Telefon auszustöpseln, war die irrationale Angst, der irre, schweigende, atmende Anrufer könnte dadurch auf die Idee kommen, bei mir zu Hause vorbeizuschauen, wenn er keine andere Möglichkeit mehr sah, mich zu erreichen...
Ganz offensichtlich wusste er ja, wo ich wohnte. Ein schrecklicher Gedanke, den ich immer wieder verdrängte, sobald er an die Oberfläche geschwemmt wurde - was leider ziemlich oft geschah.

"Wenn ich auch etwas dazu sagen dürfte", meldete sich Sean in meine Überlegungen hinein zu Wort und knüpfte wieder an unser Gespräch an, legte den Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. Ich spürte seine Lippen mein Ohr streifen. Es kitzelte ein bisschen, als er leise zu sprechen begann. "Ich würde dich gar nicht erst anders haben wollen."
Ich lächelte schwach. Der Mann war ein Traum, wirklich. Ich war hin und weg und ich wusste nicht, wem ich dafür danken sollte, dass ich all diese kostbare, wertvolle Zeit mit ihm verbringen durfte und hoffentlich noch in Zukunft verbringen würde.
Ich schwieg und lehnte meinen Kopf an seine Brust, während er mich fest in seinem Arm hielt.
"Du bist doch sicher müde, oder?", fragte er nach einer Weile und erst da bemerkte ich, dass ich die Augen geschlossen hatte. "Konntest du nachts überhaupt schlafen?"
"Nicht so gut", antwortete ich und verschwieg gleich die Tatsache, dass ich die letzte Nacht weniger als nur "nicht so gut" geschlafen hatte. Nämlich fast gar nicht.
Ich fiel vor Müdigkeit beinahe um, und vielleicht war das auch einer der Gründe für meine Überreaktionen und seltsamen Gedankengänge...

Ich erschrak zunächst ein wenig, als Sean mich plötzlich mit nach hinten zog und wir in die Kissen am Kopfende des Bettes plumpsten. Er lachte leise und drückte mich an sich.
Ich drehte mich auf die Seite, zu ihm hin - er tat dasselbe - und lächelte, als ich in seine schönen, grünen Augen blickte, die mich liebevoll und auch besorgt musterten.
Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und verweilte mit seinen Lippen an genau derselben Stelle für eine sehr lange Zeit.
Ich schloss genießerisch die Augen und fühlte mich zum ersten Mal seit Tagen wieder einigermaßen beruhigt und wieder bei Verstand.
Eine letzte Sache noch, die ich wissen musste, bevor das Unvermeidliche eintreten würde...
"Ist deine Waffe gesichert?", nuschelte ich mit geschlossenen Augen in das Kissen hinein.
"Welche?", fragte er belustigt und ich konnte das Grinsen in seinem Gesicht schier hören. Aber ich war zu müde für seine kleinen Scherze und machte mir gar nicht erst die Mühe, zu antworten.
"Natürlich ist sie das", antwortete er schließlich sanft und strich mir mit seiner freien Hand, mit der er mich nicht festhielt, sachte über die Haare, bis er schließlich auch diese dazu nutzte, mich beschützend zu umklammern. Ich schlief ein.


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