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Every Little Thing

von  -Moonshine-

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Kapitel 8: Intimacy

"Evan ist..." Er schluckte und machte mich damit ziemlich nervös. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich nicht fragen sollen? Ich wollte ihm ganz sicher nicht das Gefühl vermitteln, ich sei hinter seinem Freund her - oder überhaupt hinter irgendjemandem.
"Er ist tot."
Eine lange Pause trat zwischen uns ein, in der das Blut aus meinem Gesicht wich - das tat es immer mindestens genauso schnell, wie es kam - und das Einzige, woran ich denke konnte, war die Tatsache, dass ich Evan soeben noch als "so lebendig" bezeichnet hatte...

Schließlich fand ich doch noch meine Sprache wieder. Ich sah zwar, dass Sean alles andere als glücklich damit war, dieses Thema besprechen zu müssen, aber ich war noch viel zu geschockt, um mir Gedanken über ihn und seinen Gemütszustand zu machen.
"Oh... aber du...", stammelte ich, halb verlegen, halb verstört. Warum hatte er nie etwas gesagt? Er hatte immer so getan, als lebte Evan noch. Kein Wunder, dass ich dem Irrtum unterlegen war!
"Ich meine", versuchte ich es noch mal, nachdem ich mich einigermaßen gesammelt hatte, "wenn du von ihm geredet hast..." Ich brach wieder ab, als ich seinen gequälten Gesichtsausdruck bemerkte.
Er holte einmal tief Luft und rang sich ein halbherziges Lächeln ab.
"Ja, ich weiß...", gestand er entschuldigend, doch mehr sagte er nicht dazu, was mich noch neugieriger machte. Nun, wo ich schon in dieses Fettnäpfchen getreten war, wollte ich auch den Rest wissen!
"Was ist passiert?", fragte ich leise, fast schon ehrfürchtig, in die Stille hinein, die sich ganz kurz zwischen uns gelegt hatte. Ich wusste auch nicht, warum ich plötzlich flüsterte, aber es erschien mir irgendwie angemessen - die Atmosphäre war plötzlich so gespannt und kaum noch zu ertragen. Ich konnte nur hoffen, dass Sean mir diese Frage nicht übel nehmen würde.
Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht.
Er zuckte die Schultern. "Autounfall. Er ist zu schnell gefahren, ist von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum geprallt." Das wiederum erklärte er so sachlich und gleichgültig, als habe er nur über drei Ecken etwas davon gehört und kannte den Verunglückten nicht. Trotzdem jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Gerade wollte ich den Mund aufmachen und fragen, wie lange das schon her war, als er mir zuvorkam.
"Das war vor vier Jahren." Er schüttelte den Kopf, so, als ob er alle negativen Gedanken und Gefühle von sich abschütteln wollte, lächelte aber dann bedauernd. "Das Schlimmste daran ist, dass es erst kurz nach Holly’s Geburt passierte und sie so wenig Zeit zusammen hatte. Er hat sie vergöttert, weißt du..."
Oh ja, stimmt ja... da war ja noch etwas mit Tochter und Frau... In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Wie furchtbar muss es für Sean's Schwester - mir fiel ein, dass ich ihren Namen ja noch gar nicht kannte - gewesen sein, plötzlich als Witwe und mit einem Säugling alleine dazustehen! Wie traurig und ungerecht die Welt manchmal sein konnte! Ich umklammerte mein Besteck fester, zu essen hatte ich schon lange aufgehört, und lauschte weiter Sean's Worten. Er schien langsam in Fahrt zu kommen und erzählte ganz von sich aus, ohne, dass ich nachfragen musste.
"Aber Clara ist stark... sie hat das gut überstanden. Und Abby... Mrs. Delaney, meine ich", fügte er erklärend an mich hinzu, "ich kann sie nicht einfach hier allein zurücklassen. Evan's Eltern sind kurz darauf umgezogen, weil sie es nicht ertragen konnten, in der Nähe zu leben, wo ihr Sohn verunglückt ist. Wir drei - vier, Holly mit eingerechnet - blieben hier."
Er machte eine kurze Pause und starrte einen Moment lang auf seinen Teller, dann hob er wieder den Blick und sah mich an, versuchte ein aufmunterndes Lächeln, als er meinen entmutigten Gesichtsausdruck sah.
"Mach dir keine Sorge, ihnen geht's gut", versicherte er mir und nahm wieder unsere unterbrochene Tätigkeit auf: essen.
Ich schüttelte stumm den Kopf. "Und was ist mit dir?", flüsterte ich, aus Angst, wieder in meiner normalen Tonlage zu sprechen würde die Schleusen öffnen für das, was sich da mittlerweile zusammengebraut hatte - ja, ich geb's zu, ich bin eine große Heulsuse, aber das wäre ja noch schöner, wenn ich hier nun vor Sean anfangen würde, zu heulen! Aber es war so einfach, sich selbst in diese Situation hineinzuversetzen... einen geliebten Menschen zu verlieren, ob nun Eltern oder Freunde, und dann auch noch auf so eine tragische Art und Weise... Besonders traurig ist es natürlich immer, wenn jemand so jung stirbt. Evan war doch erst 21. So wie ich jetzt... das ganze Leben noch vor sich. Unmöglich, sich vorzustellen, nun schon diese Welt verlassen zu müssen.
Er hatte sicherlich Pläne, Wünsche, Hoffnungen. Also ich habe sie. Doch er konnte sie sich nicht mehr erfüllen...
Es war kein gequältes Lächeln mehr, das Sean mir nun schenkte, sondern ein vollkommen ehrliches und warmes. Er streckte seine Hand über den Tisch aus, doch auf halber Strecke in die Richtung meiner hielt er inne und machte kehrt.
"Mir geht's wunderbar. Vor allem jetzt gerade", fügte er hinzu.
Ich konnte nicht anders und musste einfach mit einem schüchternen Grinsen antworten.
"Versuchst du gerade, das Thema zu wechseln?", wollte ich gespielt anklagend wissen und runzelte die Stirn, gerade so, als könnte ich es kaum fassen.
Er lachte. "Ich weiß nicht, versuchst du's denn gerade?", konterte er und hatte mich natürlich erwischt. Ah, ich war so einfach zu durchschauen...
Doch noch bevor ich darauf eingehen - oder auch nicht eingehen - konnte, wurde er wieder ernst und beantwortete meine Frage nach seinem Gemütszustand.
"Evan ist deutlich über der Höchstgeschwindigkeit gefahren, Emily. Er wusste, dass es nicht erlaubt war und er wusste auch um die möglichen Folgen. Dass die Straße gefährlich, unübesichtlich und kurvenreich war, war schließlich kein Geheimnis. Man schaue sich nur die Kreuze und Blumen am Straßenrand an..."
Ich unterbrach ihn mit weit aufgerissenen Augen. "Die Arlington Road?", flüsterte ich ehrfürchtig, woraufhin er meine Vermutung mit einem Nicken bestätigte.
"Er hat schon immer eine Affinität zu schnellem Fahren gehabt. Oder nennen wir es der Fairness halber Raserei." Sean lachte, aber seine Heiterkeit hielt nicht lange an. "Und dennoch hat er sich selbst in diese Misere hereinmanövriert. Leider kam er da nie wieder raus. Selber Schuld"
Er schüttelte bedauernd den Kopf und zuckte mit den Achseln, während ich ihn sprachlos anstarrte. Selber Schuld? Betrauerte man so heutzutage den Tod seines besten Freundes?!
"Was... was sagst du denn da?!", krächzte ich fassungslos. Sean blickte mich alarmiert an, doch dann schien der Groschen gefallen zu sein und er hob abwehrend die Hände und lachte leise über mein Entsetzen.
"Glaub mir, wenn er hier wäre, würde er mir das augenblicklich genau so unterschreiben."
Das überzeugte mich nicht recht und er sah es an meinem skeptischen Blick.
"Evan konnte sehr wohl bestens zwischen Recht und Unrecht unterscheiden und er wusste immer genau, wann er Mist baute. Er nahm es hinterher auch auf seine eigene Kappe, nur war ihm das dieses Mal leider nicht mehr vergönnt gewesen." Bei er Erinnerung an Evan schlich sich ein wehmütiges, aber doch irgendwie liebevolles Lächeln auf Sean's Gesicht.
"Es war für ihn in Ordnung, das gesagt zu bekommen. Er sah es ganz genauso", fügte er noch erklärend hinzu. "Und ließ sich trotzdem immer wieder hinreißen."
So war das also. So sah also die Beziehung zwischen den beiden aus: vollkommene Ehrlichkeit in allen Lebenslagen und Kritik wurde nicht übelgenommen, weil sie nur aus Sorge stattfand. Und selbst jetzt, nach dem Tod von Evan, war es noch immer genauso: sie waren sich noch immer einig, zumindest irgendwie. Es änderte aber nichts daran, dass Sean ihn vermisste, überhaupt gar nichts. Spätestens jetzt, mit diesem neuen Wissen, wäre ich wirklich in Tränen ausgebrochen, doch zwei Sachen hielten mich davon ab: die Tatsache, dass Sean mir gegenüber saß und die Verwunderung über diese interessante, starke Freundschaft, die noch über den Tod hinauszugehen schien.
In meine Überlegungen versunken, war ich ruhig geworden und hatte lange nichts mehr gesagt. Zu beschäftigt war ich, diese Informationen zu verarbeiten und das neugewonnene Wissen auf meine Freundschaft zu Jo anzuwenden. Es war ein Graus, daran zu denken, dass eine von uns nicht mehr da sein könnte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich irgendwann so stark sein könnte wie Sean, der ganz rational die Fehler, die sein bester Freund an jenem Abend begangen hatte, einfach so aufzählen und ihm die Schuld an seinem eigenen Unglück geben konnte.
Ich verstand jetzt auch besser, warum er sich so sehr um seine Schwester und seine Nichte und natürlich um Mrs. Delaney kümmerte. Sie hatten alle zusammen eine schwierige Zeit durchgestanden und obwohl es ihm natürlich auch schlecht gegangen war, hat er sich wundervoll um alle kümmert - und tat es immer noch! Und Mrs. Delaney - wenn ich das richtig verstanden hatte, war Sean noch der Einzige in ihrer Nähe, der sie mit Evan verband. Kein Wunder, dass er es nicht über's Herz brachte, auszuziehen.
Ich seufzte, womit meine Gedanken sich wieder in normale und gewöhnliche Bahnen hinbewegten. Sean, wie wundervoll aufopfernd er war und seinen eigenen Schmerz hinten anstellte...
"Entschuldige, ich wollte dich nicht traurig machen", meldete sich seine sanfte Stimme mitten in meine Gedanken hinein. Ich schaute auf und direkt in das etwas bekümmerte Gesicht von dem Mann, der zwar nicht kochen konnte - obwohl selbst DAS noch eine Untertreibung war -, aber dafür ein großes Herz hatte. So glaubte ich zumindest. Dann setzte er einen heiteren Gesichtsausdruck auf.
"Vergiss das am besten wieder, ja? Und mach dir bitte keine allzu großen Gedanken darüber."
Der hatte gut reden... Wie sollte ich mir keine allzu großen Gedanken machen um etwas, das mit ihm zu tun hatte? Ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber ich nickte nur, schließlich wollte ich ihm nicht auch noch Kummer bereiten. Er nahm es dankbar hin, denn anscheinend war auch er froh, dieses Thema endlich fallen zu lassen.
Na gut... ich musste zugeben, über seine toten Freunde zu reden war vielleicht nicht der beste Gesprächsstoff bei einem Date. Aber so hatte ich wieder ein bisschen mehr über Sean erfahren und, anstatt mich abgeschreckt zu fühlen, fühlte ich mich noch viel hingezogener zu ihm...


"Komödie oder Horror?"
Sean hielt zwei DVD-Hüllen in die Höhe und blickte mich fragend an. Er hatte mich gefragt, ob ich Lust hatte, mir noch mit ihm einen Film anzusehen und ich hatte keine Einwände gehabt. Doch schon im nächsten Atemzug hat er mir gebeichtet, dass er höchstens sechs DVDs im Haus hatte: zwei Horrorfilme, eine ältere Komödie, eine Dokumentation und zwei Staffeln von irgendeiner bereits abgesetzten Serie, die früher im Fernsehen lief.
Er würde viel lieber ins Kino gehen oder sich im Fernsehen Sport angucken, aber für großartige Ausflüge in die Welt des Films und der DVD, dafür würde entweder die Zeit nicht reichen oder aber, er hatte keine Lust dazu und könnte sich nicht entscheiden, hatte er sich rechtfertigt. Was ich auch noch herausgefunden hatte: er mochte Horrorfilme. Ugh!
Ich brauchte mir die Hüllen gar nicht anzuschauen, um mich festlegen zu können.
"Komödie", entschied ich, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Er runzelte die Stirn, als sei er mit meiner Wahl nicht so richtig einverstanden.
"Der Horrorfilm ist aber auch sehr gut", versuchte er es, hob die Augenbrauen und warf mir ein süffisantes Grinsen zu. Was das schon wieder zu bedeuten hatte... Die Masche mit dem Horror war doch ziemlich alt, oder? Mädchen und Junge gehen in einen Horrorfilm... Mädchen kriegt Angst... Mädchen flüchtet sich in die Arme des Jungen... Junge hat seinen Spaß.
Nun, ich hätte nichts dagegen, mich in Sean's Arme zu flüchten, aber einen Horrorfilm wollte ich dafür doch nicht in Kauf nehmen, das war nun wirklich etwas, wozu mich keine zehn Pferde kriegen würden!
"Nicht mein Fall", erwiderte ich daher knapp und signalisierte ihm somit, dass ich nicht weiter mit mir diskutieren lassen würde. Schließlich hatte er mich vor die Wahl gestellt, also hatte er anscheinend auch nichts gegen die Komödie einzuwenden.
Er grinste. "Angst?"
"Nein!", protestierte ich, doch ein wenig zu heftig, und wurde einen Hauch rot, weil er mit seiner Behauptung direkt ins Schwarze getroffen hatte.
"Na gut, dann nächstes Mal?", lenkte er schmunzelnd ein, mich immer noch nicht aus den Augen lassend. Sie waren mal wieder so grün wie eh und jäh und funkelten vergnügt vor sich hin, während er mich betrachtete. Wie die Welt wohl durch solche erstaunlich grünen, schönen Augen aussehen mochte? Ich verlor mich wieder in Schwärmereien. Sein "nächstes Mal" versetzte mich noch mehr in Euphorie - er wollte also ein "nächstes Mal" haben, und ich, ich wollte es ja sowieso.
Ohne zu überlegen nickte ich, und bemerkte erst im Nachhinein, wozu ich da überhaupt zugesagt hatte!
Sean allerdings schien überaus zufrieden mit sich selbst zu sein, sein Grinsen vertiefte sich und kleine Lachfältchen legten sich um seine Augen. "Ich komm drauf zurück", versicherte mir zwinkernd. Na klasse... da freute ich mich aber!
Während ich noch mit meinem Schicksal haderte, das, Sean’s Hinneigungen zu Horrorfilmen nach beurteilt, zweifelsohne ziemlich bald auf mich zukommen würde, legte er die DVD in den DVD-Player und drückte gekonnte ein paar Tasten auf der Fernbedienung, spulte die Werbung vor und startete den Film, von dem ich leider keine Ahnung hatte, wie er hieß.
Er setzte sich neben mich auf die Couch und legte in selbstverständlicher Art und Weise seinen Arm hinter mir auf die Rückenlehne, ohne mich dabei zu berühren.
Die wenigen Zentimeter, die mich nun von ihm trennten, brachten mich fast aus der Fassung und ich konnte mich kaum auf den Anfang des Films konzentrieren.
Sean nippte an seinem Glas Wasser und stellte es wieder auf dem Couchtisch ab, genau neben meins, den Blick ganz und gar auf den Fernseher gerichtet.
Alkohol hatte es heute Abend nicht gegeben, was ich eher erstaunlich fand: die meisten Kerle versuchten direkt, ihre Dates abzufüllen, um dann leichtes Spiel zu haben. Entweder war das nicht Sean's Absicht, oder aber, er war ein anständiger Typ. Ich entschied mich für Letzteres, auch, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass er sehr viel Wert auf Alkohol legte. Zum Glück, ich nämlich auch nicht.
Ich beobachtete ihn heimlich aus den Augenwinkeln und rückte schüchtern, vorsichtig, näher an ihn heran.
Obwohl er so vertieft in den Film schien, registrierte er diese zurückhaltende Bewegung sofort und schenkte mir ein warmes Lächeln. Sein Arm rutschte von der Rückenlehne auf meine Schulter und blieb dort liegen. Ich konnte ein erfreutes, triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken.
"Sag mal", richtete er dann das Wort an mich, während ich noch feixte, seinen Blick fest auf den Bildschirm gerichtet, wo die Protagonisten – so nahm ich zumindest an, da ich nicht wirklich konzentriert war – gerade in einem Bett aufwachte und ziemlich verwirrt schien. "Wer wohnt eigentlich in der Wohnung gegenüber deiner?"
Ich erschauderte. "Da spukt es", platzte es aufgeregt aus mir heraus, was ich natürlich sofort bereute.
"Wie bitte?", gluckste er belustigt und seine ganze Aufmerksamkeit galt nun mir alleine. Neugierig sah er mich an, auf eine Antwort wartend.
"Ähm, na ja", druckste ich peinlich berührt herum. Klasse, Emily. Spätestens jetzt hielt er mich auch noch für total bescheuert! "Die Wohnung wird zwar vermietet, aber... es wohnt niemand dort."
Er betrachtete mich aufmerksam, um seine Lippen spielte immer noch die Spur eines Lächelns.
"Und deshalb soll es dort spuken?"
"Die Post verschwindet aus dem Briefkasten", argumentierte ich hastig und als er die Augenbrauen hochzog, fügte ich noch hinzu: "Und er ist nicht beschriftet!" Also wenn ihn das nicht überzeugte...
Sean lachte, wie nicht anders erwartet.
"Oh, ein intelligentes Gespenst, das seine Post liest", spöttelte er liebevoll, in seinen Augen blitzte vergnügt der Schalk auf.
"Sehr witzig", knurrte ich beleidigt und verschränkte die Arme von der Brust. "Ich meinte doch nur, dass das unheimlich ist. Abends brennt nie Licht und ich habe ständig Angst vor dieser Tür", redete ich mich in Rage, in dem schwachen Versuch, seinen Spott, den ich mir zugezogen hatte, abzubremsen und mich zu rechtfertigen
Er lachte leise. Ein angenehmes, dunkles Lachen, das mir eine Gänsehaut verursachte. Doch er sagte nichts mehr dazu, drückte meinen Oberkörper fester an sich und hauchte mir einen sanften Kuss auf's Haar, bevor er sich wieder, leise lächelnd, dem Fernseher zuwandte.
Sämtliche Knochen in meinem Körper schmolzen dahin, ich unterdrückte einen tiefen, sehnsüchtigen Seufzer und freute mich heimlich wie ein Schneekönig über diese süße und zärtliche Geste, die so voller Vertraulichkeit war. Das war natürlich auch eine Möglichkeit, mich zum Schweigen zu bringen...
Auch für ihn schien das Thema erledigt zu sein, doch ich fragte mich, was er jetzt wohl von mir dachte?
Hielt er mich für eine arme, bemitleidenswerte Irre, die an Geister glaubte, oder nur für gewöhnliche Irre mit Halluzinationen und Angst vor einer leerstehenden Wohnung, wie ich es ihm gerade gebeichtet hatte?
Der Fairness halber muss ich sagen, dass es wirklich gruselig war, was da vor sich ging, vor allem, wenn man mit besagter Wohnung Tür an Tür wohnte...
Ich seufzte und gab das Grübeln auf. Die letzte Tage hatte ich vor lauter Sorgen und Nervosität nicht besonders viel Schlaf bekommen, aber hier, bei Sean, in seinen Armen, fühlte ich mich ungeheuer sicher. Langsam überkam mich die Müdigkeit.
Ich gähnte ausgiebig und ließ meinen schweren Kopf erschöpft gegen seine warme Brust sinken. Das dumpfe, regelmäßige Schlagen seines Herzens lullte mich in einen süßen Dämmerzustand.
Ich nahm noch halbwegs bewusst seinen wundervollen Duft wahr und die Geräusche, die aus dem Flimmerkasten nach außen drangen. Nur am Rande bemerkte ich, wie er mit der anderen Hand nach meiner griff, die vorher in meinem Schoß ruhte, und behutsam, beruhigend mit dem Daumen über mein Handfläche strich. Immer wieder und immer wieder und immer wieder, bis er sie umklammerte und festhielt. Zum ersten Mal errötete ich nicht, bescheunigte meine Atmung sich nicht. Stattdessen schlummerte ich selig ein, zufrieden und warm, wie ein schnurrendes Kätzchen. In diesen Armen...


"Hey..." Jemand flüsterte leise an meinem Ohr. "Aufwachen..."
Nur wenige Sekunden brauchten diese Worte, diese Stimme, um in mein Bewusstsein zu dringen. Ich öffnete die Augen, ein wenig verwirrt, weil das hier nicht halb so bequem war wie mein Bett, und noch immer total verschlafen. Klar, ich war ja bei Sean...
Das erste, was ich bemerkte, war, dass ich eingeschlafen war. Das zweite: mein Kopf lag auf seiner Schulter und er hatte den Arm um mich gelegt, mit der anderen Hand hielt er noch immer meine fest. Es war schön warm und er roch so unglaublich gut, aber die ganze Situation war mir plötzlich so unangenehm, dass ich das gar nicht richtig genießen konnte.
Stocksteif setzte ich mich augenblicklich auf und versuchte, den Schlaf und die Röte, die sich langsam in mein Gesicht stahl, gleichzeitig abzuschütteln.
"Oh nein! Tut mir leid, ich wollte nicht... ich meine..." Ich wollte nicht, dass er mich für aufdringlich hielt! Ich war nur aus Versehen eingeschlafen, aber die Tatsache, dass ich während eines Films mit ihm überhaupt einschlafen konnte - unmöglich! Peinlich, peinlich... er musste mich doch für einen totalen Trottel halten, der diese Einladung nicht zu schätzen wusste und stattdessen lieber ein Nickerchen hielt... Oh Gott... bei diesem Gedanken schoss mir noch mehr Blut in die Wangen. Ich hatte es mal wieder vermasselt, oh ja!
Aber Sean, immer für eine Überraschung gut, schaute mich nur neugierig an. "Was denn?", wollte er wissen und ich war mir sicher, dass er mich nur ärgern wollte, mich aus der Reserve locken.
Anstatt darauf einzugehen, fiel mein Blick auf die runde Wanduhr, die über dem Fernseher hing, und mir stockte der Atem.
"Wie... wie lange hab ich denn...?", stammelte ich erschrocken, noch immer die Uhr fixierend, als könnte ich den Zeiger durch bloße Gedankenkraft dazu bringen, sich wieder zurückzudrehen und eine angemessenere Position einzunehmen. Es konnte unmöglich sein, dass es schon so spät war! Halb drei nachts...
Er überlegte einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. "Den restlichen Film über, die Nachrichten, eine Wiederholung von Roseanne, die gar nicht so gut war, und die Kinovorschau für nächste Woche."
Dann grinste er, aber ich senkte beschämt den Kopf. Das war ja eine ganze Menge.
"Normalerweise schlafe ich nicht so einfach ein...", sagte ich kleinlaut und es stimmte auch: in letzter Zeit litt ich sowieso unter Schlafmangel, aber auch so brauchte ich eine Ewigkeit, um endlich ins Traumland abzudriften. Dass ich das so einfach an seiner Schulter geschafft hatte, was manchmal nicht mal mein Bett nach ewig langem Hin- und Hergewälze vermochte, war doch recht erstaunlich. Aber trotzdem: warum musste es ausgerechnet hier und jetzt sein, dass der Schlaf mich übermannte?! Es war zum Haare raufen...
Sean allerdings schien es nichts auszumachen, das ich ihn als Kissen benutzt hatte, er nahm es gelassen und machte auch noch Witze darüber.
"Beim Horrorfilm wäre das sicherlich nicht passiert", scherzte er.
Davon war ich überzeugt, zweifellos, doch nach dem Horror hätte ich drei weitere Nächte kein Auge zutun können. Aber das sagte ich nicht laut, würde es seine Theorie von dem schreckhaften Weibchen, das ich ja zweifelsohne war, bestätigen. Er musste auch nicht alles wissen, schon gar nicht über meine Schwächen...
Ich fuhr mir mit der Hand über meine zerzaustesten Haare und gähnte hinter der vorgehaltenen anderen. Der Schlaf steckte mir noch ganz schön in den Knochen...
Sean, der mich beobachtet hatte, schmunzelte still vor sich hin. "Soll ich dich nach Hause fahren?", bot er freundlich an und dieses Angebot konnte ich einfach nicht ablehnen, zumal er sicherlich auch müde war und, wie ich wusste, morgen, oder eher heute, schon wieder früh aus dem Bett musste.
"Ja, bitte. Tut mir leid, dass ich dich so lange wachgehalten hab...", murmelte ich verlegen, während wir beide uns erhoben und in Richtung Wohnungstür gingen, aber er seufzte nur laut und winkte ab.
"Bitte hör doch auf, dich zu entschuldigen", bat er, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher per Knopfdruck ab. "Es gibt absolut nichts, was dir Leid tun sollte."


"Soll ich dich noch zur Tür begleiten?", fragte er mich, als wir endlich in meiner Straße angekommen waren und er den Wagen ein paar Meter weiter neben dem Haus zum Stehen brachte.
Es klang nicht anzüglich, wie sonst immer, eher besorgt und müde. Ich schüttelte den Kopf und verneinte.
"Ich schaff die fünf Meter bis zu meiner Tür, denke ich, aber danke." Dafür, dass er so süß war, schenkte ich ihm ein abgeschlagenes, aber aufrichtiges Lächeln, das ihn beruhigen sollte.
"Ich dachte da eher an deine Nachbarsgeister", lachte er vergnügt und ich warf ihm einen bösen Blick zu. Ich wusste doch, dass er das gegen mich verwenden würde, um mich zu ärgern!
Er verstummte sofort, doch ich sah genau, wie es um seine Mundwinkel herum immer noch zuckte.
"Sicher?", hakte er nach und versuchte, so versöhnlich wie möglich zu klingen, doch noch bevor ich dem sanften Klang seiner Stimme und diesem zärtlichen Tonfall auf den Leim gehen konnte, schüttelte ich den Kopf und rief mir ins Gedächtnis, dass er mich soeben noch veralbert hatte.
"Nicht nötig", erwiderte ich steif, ein bisschen beleidigt. Natürlich konnte ich ihm nicht böse sein und sicherlich war das auch nur seine Art – das Unterwäsche-Malheur war das beste Beispiel dafür -, aber ich wollte ihn wissen lassen, dass ich kein großer Fan davon war, auf den Arm genommen zu werden. Dessen war ich überdrüssig, schon seit Schulzeiten...
Er gluckste leise und lächelte, was mich wieder ein bisschen friedlicher stimmte.
"Bis bald", sagte er und streckte die Hand aus, berührte mein Haar und strich mir zärtlich eine Strähne hinter das Ohr, strich mir mit dem Daumen über meine Wange, ganz langsam, ganz sachte. Und spätestens da hatte er mich natürlich wieder.
Ich musste mich zwingen, kontrollierte einzuatmen. Und wieder aus...
Er küsste mich nicht, aber diese kurze Berührung war so viel besser als alles andere...
"Bis bald", flüsterte ich heiser und stieg, wenn auch nur widerwillig, aus dem Auto. Fast hätte ich wieder den Mund aufgemacht und mich entschuldigt, dass ich ihn so lange beansprucht habe, unabsichtlich, aber das wollte er ja nicht hören. Rechtzeitig fiel es mir wieder ein.
Sofort schlug mir die kalte, feuchte Nachtluft entgegen und vertrieb die Wärme von Sean's Wagen und die seiner Berührungen. Ich zog mir die Jacke enger um die Schultern und verschränkte frierend die Arme vor der Brust, während Sean den Motor aufheulen ließ und sich langsam in Bewegung setzte. Ich stattdessen hechtete zum Hauseingang und winkte ihm von dort aus noch kurz zu, doch ob er mich gesehen hatte oder mir sogar zurückwinkte, konnte ich nicht mehr erkennen.
Erleichtert, den Abend einigermaßen heil hinter mich gebracht zu haben, schloss ich die Tür auf und tastete als aller erstes nach dem Lichtschalter für den Hausflur. Im Dunkeln stand ich nur ungern herum, vor allem, weil ich eine gruselige, leere Wohnung in der Nähe hatte...
Schnell huschte ich zu meiner Wohnungstür und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als mein Blick auf die Fußmatte fiel und mir fast das Herz stehen blieb.
Ein weißer Umschlag lag dort und mit riesigen, schwarzen Großbuchstaben war fein säuberlich "E. JONES" draufgeschrieben worden...


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