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Black Hole Sun

von

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[ Learning to fly ]

31. Mai 2023, Frankfurter Flughafen
 

Der Koffer fällt schwerfällig auf das Laufband und rollt einen Meter, bevor er neben der hübschen, braunhaarigen Angestellten anhält. Ihr Lächeln ist geschäftsbedingt professionell, ein Hauch ehrliche Freude schwingt aber mit. Ich kenne sie allmählich, mein Mentor Professor Steinbeck und ich fliegen in letzter Zeit ziemlich oft, ich sehe sie nicht zum ersten Mal an den Check-In-Schaltern. Ein Blick auf ihr Namensschild gibt sie als M. Bender aus. Sie registriert meinen Blick und errötet etwas. "Keine Angst, ich habe nicht auf Ihren Busen gestarrt, Frau Bender.." Sie verengt die Augen und widmet sich wieder der Durchleutung meines Koffers. Meine etwas direkte Art stösst eben nicht überall auf Gegenliebe. "Sie reisen nach Moskau Herr.. Richter?" fragt sie kühl. Wo ich doch am richtigen Schalter stehe. Intelligentes Mädchen. Höflich nicke ich und schenke ihr ein charmantes Lächeln, das sie wieder versöhnt. "Ihr Begleiter ist diesmal nicht dabei?" Überrascht ziehe ich eine Augenbraue in Richtung Haaransatz. Ein Blick über die Schulter sagt mir, dass der Professor wirklich nicht da ist, sein Koffer steht wie verloren schräg hinter mir, aber von ihm selbst keine Spur. Stattdessen glubbscht mich eine ziemlich beleibte Dame an, die ungeduldig darauf wartet, ihre Berge an Koffern am Schalter abgeben zu können. Sieht nach einem deftigen Zuschlag für's Gepäck aus. Soll nicht meine Sorge sein, aber irgendwie gönn' ich es ihr, trifft ja keinen Armen, wie's scheint.

Innerlich wie äusserlich seufze ich resignierend. Professor Steinbeck ist ein reisefreudiger Mann, ich bin schon oft mit ihm unterwegs gewesen. Als ein enger Freund meines Vaters hat er sich zu meinem persönlichen Mentor erklärt und dank seiner häufigen Geschäftsreisen habe ich schon recht viel von der Welt gesehen. Manche Sachen hätte ich auch lieber nicht gesehen, aber das ist ein anderes Thema. Wie gesagt, wir reisen oft. So gern der Professor aber reist, desto entnervender sind für ihn die langen Wartezeiten am Flughafen. Ich kann ihn durchaus verstehen. Inmitten von lärmenden, murmelnden, kichernden, kramenden, mit kritischem Blick zehnmal auf ihre Flugdaten glotzenden und mit dem Display vergleichenden, zappeligen, nörgelnden Egons und Hildegards, die sich verhalten, als ob sie das erste Mal ein Flugzeug betreten würden (was zugegeben durchaus der Fall sein könnte) – umgeben von einer Dunstglocke aus Erwartung, Nervosität und kleinbürgerlichem Spießertum. Ich fühle mich hier sauwohl. Wenn man sich in Sarkasmus retten kann, wird plötzlich alles ein bisschen lustiger. Ich grinse M. Bender an und hieve die Koffer auf das Förderband.
 

Ich mache mich mit dem Ticket in der Hand auf die Suche nach einem grossen, silbergrauhaarigen Mann. Er sieht aus wie eine Mischung aus Sean Connery und Sky Dumont. Nur nicht so smart. Und überhaupt – nicht annähernd so gentlemanlike. Genau genommen sind meine Vergleiche auch schon mal besser gewesen. Im Flughafen-Café "Terminal 8½" sitzt der Ausreisser gemütlich bei einer Tasse Kaffee und grinst mir entgegen. Auf dem Tisch neben ihm steht Schwarztee. Wenn der Professor eines ist, dann wenigstens zuvorkommend. "Oh.. vielen Dank!" sage ich und lasse mich auf den polierten Holzstuhl fallen. Schwarztee. Wirklich gut. "Ich habe gerade eine Mail bekommen.. Sladis meinte, wir sollten so schnell wie möglich kommen und in Moskau nicht auf die Bahn warten. Er holt uns direkt vom Flughafen ab." Ich nicke und nippe an dem heissen Engländergebräu. Soll mir recht sein. Sladis Worycek. Ehemaliger Kommilitone von Steinbeck ist Grund für die Reise nach Moskau. Vor einigen Tagen hatte er seinen alten Freund zu seinem sechzigsten Geburtstag eingeladen, unter anderem wollte er uns auch in seine neusten Forschungen einweihen. Deshalb bin ich mitgekommen. Logisch. So gute Freunde sind wir nun auch nicht, dass ich zu jedem seiner Kaffeekränzchen mitkomme – ich hab hier was zu lernen.
 

Die gespritzte Zitrone in meinem Tee schwimmt im Kreis herum und färbt den dunkelbraunen Tee honigfarben. Jedenfalls hoffe ich, dass es kein Kaffeekränzchen werden wird. Oder so ne steife Stehparty; alles Professoren und Doktoren, die den ganzen Abend mit ausschweifender Fachsimpelei verbringen und sich gegenseitig die Fremdwörter um die Ohren schlagen oder ihre ach so wichtigen Forschungsprojekte in den Himmel loben, um sich gegenseitig zu übertrumpfen. Dazwischen werde ich mir vorkommen wie ein Dorftrottel. Möglich. Aber hey, immerhin. Es gibt dort Wodka in Strömen, was will man mehr. Und Zuhause wäre sowieso grade nichts los gewesen. Angie, meine Freundin, ist schon vor ein paar Tagen zu ihrer Internetbekannten nach München gefahren und wird vor einer Woche nicht wieder zurück sein. Und mein bester Freund Martin ist seinen Semesterferien zuvorgekommen und mit seiner (aktuellen) Flamme Claudia nach Ibiza verschwunden. Ach ja, Ibiza. Da wär ich jetzt auch gern. Wer nicht. Clubs, Parties, tanzende Frauen, Cocktails, heiße Sonne, Strand, nackte Körper.. und ich sitze hier mit einer Aussicht auf eine Woche Arscheskälte und vielleicht ab und zu einen guten Wodka. Nasdrowje.

Nein, ich bin kein Alkoholiker, aber ich verachte ihn auch nicht, wie etwa diese selbsternannten Gesundheitsapostel. Zu einer richtigen Party gehört nun mal Alkohol und der Kater am Morgen danach hat bei mir durchaus seine Daseinsberechtigung, wenn ich an den Spass der letzten Nacht denke. Ja, Studenten können noch sehr viel Spass haben, das sagte auch immer mein Vater. Wenn ich ihn heute ansehe, kommt mir der Spruch wie ein Witz vor. Um es kurz zu beschreiben, mein Vater ist, grob gesagt, das fleischgewordene Ebenbild eines Michelinmanns. Kahlköpfig, hoffnungslos übergewichtig und nicht gerade sehr bewegungsfreudig. Dazu dicke Brillen (dass erinnert mich immer an ein hoffnungslos überfüttertes Waschbärchen), den Schnauzer und Gemüt eines phlegmatischen Walrosses. Dafür grinst er fast immer. Könnte ihn fast wieder sympathisch machen.

Ich frage mich oft, wie er als Student gewesen sein mag. Vor meinem inneren Auge formt sich jedes Mal ein kleines, kugelrundes, bebrilltes Etwas, dass den ganzen Tag hinter Büchern sitzt und sich selbst für einen typisch perversen Studenten hält, weil er sich einmal im Monat einen runterholt. Mein Vater hatte schon immer seltsame Vorstellungen von Spaß.

Nicht, dass ich meinen Vater etwa nicht mag. Immerhin habe ich ihm viel zu verdanken. Das Studium (Biochemie und Garutristik), das Sponsoring meiner Loft-Wohnung, einen sichergestellten zukünftigen Arbeitsplatz und ein hübsches Sportcoupé zum Auszug. Aber darüber hinaus habe ich in menschlicher Hinsicht nicht viel zu erwarten, auf Gefühlsebene ist er nicht gerade eine Kanone. Ein grinsende Kanone vielleicht, aber das macht es nicht besser. Für zwischenmenschliche familiäre Beziehungen ist meine Mutter da. Mehr, als ich eigentlich für gut befinde. Aber so ist sie eben: eine liebende, aufgeweckte Person, überaus herzlich und früher muss sie mal wunderschön ausgesehen haben. Ich frage mich immer wieder, wie mein Vater damals zu ihr gekommen ist. Mir meinen Vater als feschen Jungesellen vorzustellen, übersteigt meine geistigen Kompetenzen im Phantasiesektor meines Hirns. Ich habe zwar schon das ein oder andere Bild meines Vaters in jüngeren Jahren gesehen, aber selbst für die Zeit damals auffallend nerdy. Wie gesagt ein Rätsel.

Dagegen ist meine Mum ein echtes Goldstück. Dass sie meint, sie müsste ihrem 23jährigen Sohn noch die Socken bügeln, stört mich nicht allzusehr. Auch ihr habe ich viel zu verdanken. Mein Aussehen zum Beispiel. Ich müsste wirklich lügen, wenn ich sagen würde, ich fände mich selbst nicht attraktiv. Der beste Beweis ist Angie. Als angehendes Top-Model hat sie schon einige Ansprüche, was das äusserliche Erscheinungsbild ihres Vorzeigepartners betrifft.

Richtig richtig. Vorzeigepartner. Kein Problem. Ich gebe offen zu, dass es nichts mit Liebe oder dergleichen zu tun hat, dass wir zusammenleben. Es ist ein kleines Tauschgeschäft, sie lernt durch meine Verbindungen und die meines Vaters einflussreiche Leute kennen, die ihre Karriere pushen und ich erfreue mich ihrer wahnsinnigen Schönheit, die sie oft genug auf diversen Parties zur Schau stellt. Nun gut, zugegeben, auf sexueller Basis sind wir auch nicht gerade abgeneigt voneinander. Quasi Fuckbuddies mit einem zusätzlichen Plus an Sympathie, die auf beiden Seiten mitschwingt. Darüber hinaus sind wir beide wohl ein bisschen beziehungsunfähig. So richtig.. mit Händchenhalten, Heiratspläne schmieden, schmachtenden Blicken, Beziehungsstress mit Eifersucht und dem ganzen Kram – damit kann man mich jagen. Zudem hat sie mir manchmal etwas zu modeabhängig. Macht jeden Trend mit und wenn er noch so bescheuert aussieht. Ich denke da nur an diese grässliche Achtziger-Bewegung, die mit diesen grässlichen Frisuren ein aktuelles Revival erlebt. Wenigstens verzichtet sie auf grobe Schnitzer in meinem ästhetischen Empfinden, wenn wir zusammen unterwegs sind. Meine Einmischung in ihren Modetick besteht ansonsten lediglich darin, sie zu informieren, welches Kleidungsstück sich am Unpraktischsten mit einer Hand öffnen lässt.
 

"Wann ist unser Boarding?" Flüchtig sehe ich auf unsere Tickets und nippe an dem Tee. "40 Minuten ungefähr." Der Professor nickt und greift in die Tasche. Obwohl ich für technisches Gerümpel nicht allzuviel übrig habe, beneide ich meinen Mentor um dieses Teil. Ein Apple iScope, etwa DinA5 gross, bestehend aus einem LCD-Monitor und Empfänger. Leider sündhaft teuer, weil es fast nichts gibt, was dieses Ding nicht kann. Ausserdem relativ neu auf dem Markt. Ich werde mal meinen Vater darauf aufmerksam machen müssen, denn selbst ich kann mir dieses Hosentaschenteil, das ein hochleistungsfähiges Laptop zur Gänze ersetzt, nicht leisten.

"Dot – Einschalten." murmelt Prof. Steinbeck und der Bildschirm fängt lautlos an zu blinken. Fast sofort erscheint das Startlogo und der kleine Computer ist einsatzbereit. "Dot - eMails abrufen." Es blinkt abermals und der virtuelle Postkasten füllt sich mit Viagra-Werbung, Penisverlängerungen und sonstigem Spam und einigen wichtigen Mails. Per Makro sortiert das Programm die Post automatisch und teilt uns eine Sekunden später mit, dass 24 potentiell unerwünschte eMails dorthin verschoben wurden, wo kein Bit mehr wächst. Zurück bleiben zwei einsame Briefumschläge. "Dot – öffnen, Mail eins." nuschelt der Professor zwischen zwei Schlucken Kaffee.

Immer wieder faszinierend. Während die Mails von Steinbeck durchgelesen werden, nuschelt dieser schon die Antwort, die sofort per Spracheingabe eingefügt wird. Und gleich kommt die Reaktion darauf zurück. Ziemlich flotter Briefwechsel, fast schon ein Telefongespräch. Mit dem Unterschied, dass der Text sehr viel schneller und störungsfreier beim Empfänger ankommt. Ein bisschen vielleicht wie'n Chat.
 

Fachgefasel. Das geht mich nichts an, also widme ich meine ebenso ungeteilte wie wertvolle Aufmerksamkeit der Zitrone im Tee, die stetig immer wieder nach oben steigt, so oft sie von meinem Löffel niedergedrückt wird. Faszinierend. Lässt sich nicht unterkriegen. Das Phänomen der Zitrone im Tee. Womöglich eine Metapher für den Arbeitsmarkt in Senegal. Vielleicht schreibe ich einmal meine Doktorarbeit darüber. Hat jetzt sicherlich wenig mit meinen Studienfächern zu tun, aber..

Neben mir flucht der Professor und ärgert sich gleich darauf noch heftiger, weil der Fluch mitaufgezeichnet ("Ja Sack Zement!" Dieser Sladis wird sich eventuell wundern..) im Äther verschwindet. "Dot – Auschalten." grollt er grimmig und packt das iScope energisch wieder in die Tasche, die nichts dafür kann und deshalb etwas beleidigt schmollt.

"Es gibt Ärger bei Sladis. Wir sollen hierbleiben, er hat Probleme mit seinem Projekt." Was?... Hierbleiben. Ach. Ach? Welch Enttäuschung(?).

Ich weiss nicht, ob ich mich jetzt ärgern oder freuen soll über diese Nachricht. Einerseits sind die Koffer schon im Flugzeug, andererseits wäre ich froh, das Grauen der Stehparty nicht ertragen zu müssen. "Und jetzt? Ab nach Hause..?" murmle ich etwas müde, immerhin ist es schon 20.34 Uhr. Zeit für ein paar gemütliche Stunden vor dem Fernseher. Vielleicht sind wir bis elf wieder Zuhause. Vielleicht läuft ja heute abend irgendwo ein Porno?

"Nix nach Hause! Natürlich fliegen wir, das ist gar keine Frage. Wir werden ihm schon nicht zu sehr auf die Nerven fallen! Außerdem.. egal." Seufzend zucke ich mit den Schultern. Auch recht. Erstaunlich, wie willenlos so ein Schwarztee machen kann. Solange er mich austrinken lässt, können wir von mir aus auch einen Abstecher in die Sahara machen. Will er aber nicht. Moskau ist das Ziel. Wodka, ich komme.

[ Operation Mindcrime ]

'Dreizehn dreizehn'

'Siebenundzwanzig'

'Fünf und drei'
 

"Hört auf damit! Alle drei!" Ein heftiger Schlag donnert gegen die Tür und lässt die drei jungen Menschen zusammenzucken. "Hört auf - hört auf!" Ein Paar roter Augen sind voller Zorn zur Tür gerichtet, aber der Mann ist schon wieder weg. Die Wut verraucht und ein leises Seufzen ist zu hören. Ein Kopf mit langen weissen Haaren hebt sich, als eine Hand auf seiner Schulter zu liegen kommt. Ein Lächeln vertreibt die trüben Gedanken und die Kälte verschwindet. Eine angenehme Wärme.
 

"Serge, was hämmern Sie so an die Tür! Sie wissen genau, dass Sie sie nicht aufregen sollen!" Serge verzieht das Gesicht, als hätte er in etwas unangenehm Schmeckendes gebissen. "Ja Sir.." Der Mann im weissen Kittel beugt sich über das schmale Fenster und beobachtet die hellen Gestalten in dem dunklen Raum. "Sie haben wieder gezählt, nicht wahr?" Auf Serge's Nicken hin tippt der Doktor auf ein flaches Brett neben der Tür. "Wir sollten sie endlich trennen. Bevor sie bei Null sind."
 

* * *
 

Ich mag es zu fliegen. Obwohl das Essen nicht gerade von einer 5-Sterne-Menükarte stammt und die Sitze meistens genauso viel Komfort bieten wie ein vollgestopfter Reisebus, finde ich zu Fliegen.. ist eines der Dinge, das selbst nach ein paar Hunderten von Flügen immernoch eine gewisse Faszination hat. Abheben - zu wissen, man ist tatsächlich ein paar Kilometer über dem Boden und völlig einer Crew ausgeliefert, die komische Kostüme trägt und mit einem Grinsen fragt "Kaffee? Tee?" Und natürlich wieder heil herunter kommen. Die meisten Leute haben ja eben keine Angst vorm Fliegen. Lediglich das Abstürzen macht ihnen Sorgen. Über so etwas mache ich mir aber die wenigsten Gedanken. Angst vorm Fliegen - ich bin doch nicht paranoid. Da ist die Chance grösser, auf offener Strasse von einem Bus umgebrezelt zu werden, als einmal abzustürzen. Ist das nicht ein seltsamer Zufall, dass neben mir jemand sitzt, der die Flugangst in Person zu sein scheint? Eine junge Frau, ich schätze sie vielleicht auf 22, höchstens 24 Jahre. Krallt sich bei jedem kleinen Luftloch ins Polster. Ich hab mich schon gewundert, wieso sie noch nicht von den netten kleinen Tüten Gebrauch gemacht hat, die ein kostümiertes Crewmitglied vorhin extra vorbeigebracht hat. Immer wieder ein Kuststück, wie man eine Kotztüte mit einem Lächeln überreichen kann. Ich hab nur noch auf das "Kaffee?" gewartet. Elena heisst sie. Also die neben mir, nicht die Stewardess. Elena Sacharov. Das steht zumindest auf einem der vielen Aufklebern auf ihrer Tasche. Aha - ein Globe-Trotter.
 

Mein Mentor auf meiner anderen Seite schnarcht leise vor sich hin. Fliegen ist für ihn immer eine willkommene Gelegenheit für ein kleines Nickerchen. Der Spiegel ist nicht wirklich interessant, einmal durchgeblättert. Ich sehe an der jungen Frau, einfacherheithalber Elena genannt, vorbei zum Fenster hinaus. Abenddämmern - Wolken Wolken. Dazwischen ein paar Fetzen weit entfernte Landschaft. Ich frage mich, was das für ein Projekt sein kann, das diesem Sladis solche Probleme macht, dass er uns sogar am Flughafen noch zurückpfeifft. Aber der Prof hat nicht damit herausgerückt, was da los ist. Naja, in ein paar Stunden werde ich es ja selbst sehen. Obwohl ich mir nicht wirklich vorstellen kann, dass irgend etwas interessanter sein könnte als diese wahnsinnig spannenden Wolkenformationen draussen vor dem Fenster.
 

"Entschuldigung, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das hier lese?" Eine kreidebleiche Elena Sacharov deutet auf den "Spiegel" und ich nicke ihr freundlich zu. Na, die Stimme ist wenigstens noch angenehm. So beim näheren Hinschauen sieht sie noch nicht einmal so schlecht aus. Allerdings sinkt sie schon wieder in meiner Bewertung, da sie sich offensichtlich mehr für die Zeitschrift interessiert, als für mein äusserst charmantes Lächeln. Das trage ich weiss Gott nicht für jeden zur Schau. Nun, vielleicht ist sie ja nur schüchtern. "Ist Ihnen auch wohl? Sie sehen etwas blass aus.." Na bitte. Ein Lächeln. Wenn auch etwas gequält. "Das geht schon in Ordnung, ich sollte mich wohl langsam daran gewöhnen.. ich bin übrigens Elena Sacharov!" Ihre Hand ist etwas kalt, aber dafür hat sie einen anständigen Händedruck. Ich kann es nicht leiden, wenn sich eine Hand anfühlt wie ein lebloser Gummilappen. "Hübscher Name! Ich bin Klement Richter und manchmal auch scharf.."
 

Ich habe das Gefühl, ich sollte mir meine Scherze besser aussuchen. Mein Gegenüber lacht nicht, entweder sie hat den Witz nicht verstanden oder sie hat ihn sehr wohl missverstanden. Ich weiss nicht, welche der Möglichkeiten mehr gegen mich spricht. Glücklicherweise werde ich wohl für immer im Dunkeln munkeln, denn sie übergeht meinen Einwurf gänzlich.
 

"Sie fliegen das erste Mal nach Moskau?" fragt sie geradeheraus. "Sieht man mir das an?" Nun grinst sie. Na bitte und schon gewonnen. "In der Tat, das sieht man." Jetzt bin ich doch überrascht. Während ich noch überlege, ob das womöglich eine Beleidigung gewesen sein könnte, schmunzelt Elena und dreht den Kopf zum Fenster. Ist das denn so offensichtlich? Ich ertappe mich schon dabei, mich zu kontrollieren, ob ich noch irgendetwas vom Essen an mir kleben habe, das mich verraten haben könnte. Oder was sonst an mir auffällig sein soll, das mich untrüglicherweise als Moskau-Tourist abstempelt. Sowas ist doch unmöglich. Woher sollte sie das wissen? In der Scheibenspiegelung seh ich sie jetzt breit grinsen und das macht mich allmählich wütend. "Hey, Moment. Erklären Sie mir, woher Sie wussten, dass ich zum ersten Mal nach Moskau unterwegs bin!" Denn wenn ich eines hasse, dann sind es ungelöste Fragen. Besonders die, die mich neugierig machen. Und Elena weiss das anscheinend und sie scheint es ganz unverhohlen zu geniessen, denn sie schweigt. Sowas bringt mich auf die Palme.
 

"Sagen Sie, woher wussten Sie es?" fordere ich zuckersüss, denn dass Frauen nicht auf Befehle hören, weiss ich schon länger. Das macht sie nur bockiger. Man erreicht wesentlich mehr, wenn man ihnen die Antworten mit viel Honig aus dem Gehirn herauskomplimentiert. "Was macht Sie so sicher? Oder können Sie Gedanken lesen?" Elena kichert leise und belustigt und - weiss Gott, Frauen! - es gelingt mir nicht mehr so recht, sauer zu sein. Frauen kämpfen den Geschlechterkampf eindeutig mit unlauteren Mitteln. Sie schüttelt den Kopf und ihre schwarzen, glatten, etwa schulterlangen Haare wedeln um ihr Gesicht. "Das ist Berufsgeheimniss.." lächelt sie und schenkt mir einen ziemlich mysteriösen Blick. Wow. Frau will also geheimnisvoll bleiben. Ich muss zugeben, dass diese Elena mich jetzt doch interessiert. Zeit, mein As aus dem Ärmel zu spielen. "Hmm.. dann lassen Sie mich ebenfalls raten.. Sie sind Journalistin?" Bingo. Ich kann zusehen, wie sich Elenas Gesicht zu Unglauben verzieht. Ihr verblüffter Blick bohrt sich förmlich durch meinen Kopf und nun scheint sie endgültig verwirrt zu sein. "Woher.."
 

Diesmal ist es an mir, ein breites Lächeln zu zeigen. Ich muss dazusagen, dass es mich ein ganzes Stück Kombinationsgabe gekostet hat, die Abzeichnung einer Kamera in ihrer Tasche zu erraten, dazu ihre Freizeitschuhe, die gut zum Laufen sind und keine standartmässigen Pumps, die heute ja so angesagt sind (ich weiss Bescheid, denn durch meine Freundin lerne ich fast wöchentlich die neusten Trends kennen, aus nächster Entfernung, wenn die Bemerkung erlaubt ist). Und schliesslich ihre "Gabe", mindestens genau so schlüssige Anzeichen zu kombinieren und sich damit ein genaues Bild vom Gegenüber machen zu können. Ein scharfer Geist und eine schlagfertige Zunge - und schon hab ich das ungefähre Berufsbild. Bin ich nicht brilliant? "Nun, das ist auch mein Geschäftsgeheimnis.." grinse ich grossspurig in den grössten Schwindel seit gestern Mittag. Und Elena ist sichtlich beeindruckt. Es ist einfach phantastisch, wenn man gutes Aussehen und ein bisschen Grips verbinden kann. Manche Frauen springen eben erst auf die interlektuelle Schiene an, was nicht unbedingt schlecht sein muss. Nur etwas anstrengender, aber meist sind gerade diese Frauen so kompliziert, dass man gut ein halbes Leben an ihnen herumrätseln kann, ohne Langeweile zu bekommen. Womit ich nicht sagen will, dass diese Elena für mich die Frau des Lebens wäre. Dazu fehlt ihr, denke ich, doch etwas mehr Klasse.
 

"Interessant, Geschäftsgeheimniss... darf ich fragen, wohin Ihre Reise genau geht? Sie beide.." sie deutet mit einem Kopfnicken an mir vorbei auf den immernoch seelig schlummernden Professor, "sehen nicht so aus, als ob Sie auf Urlaubsreise wären." Wieder ertappe ich mich dabei, sie ungläubig anzustarren. Ich frage mich ernstlich, ob mein Lebenslauf auf meine Stirn tätowiert ist, wie macht sie das? Ausser sie kennt den Professor und erlaubt sich einen Scherz mit mir. Wenn ich es mir recht überlege, könnte das wirklich eine Erklärung sein. Der Professor kennt eine Unmenge wahnwitzigster Menschen, in welche Richtung auch immer. Ob das nun hohe Beamten, Doktoren oder ganz normale Leute wie der Milchmann oder eben eine Journalistin sind. Wie sagte er immer: Beziehungen sind heutzutage alles. Ganz schön raffiniert, die Kleine. Ohne es zu merken grinse ich, sie durchschaut zu haben ist eine wahre Genugtuung. Aber soll sie ihr Spielchen weiterspielen.
 

"Wir sind eingeladen auf einen Geburtstag. So gesehen sind wir doch auf Urlaubsreise.." Sie schaut etwas merkwürdig und irgendwie hab ich plötzlich ein komisches Gefühl im Magen. Sie sieht aus wie jemand, der weiss, dass man ihm etwas verheimlicht. Aber sie sagt keinen Ton dazu sondern lächelt wieder. "Ach so, in Moskau selbst?" Ich zucke mit den Schultern. Das komische Gefühl verschwindet langsam wieder, aber es ist trotzdem sehr seltsam. "Ich weiss es nicht, ich habe die genaue Adresse nicht. Was machen Sie in Moskau?" Sie tippt auf ihre Tasche. "Geschäftlich. Aber vielleicht habe ich noch genug Zeit über, meine Familie zu besuchen. Sie wohnt etwas ausserhalb."
 

Dass sie eine gebürtige Russin ist, lässt sich kaum leugnen, nach dem Namen zu urteilen. Auch ihre Gesichtszüge haben einen nahöstlichen Touch, aber ihre Sprache ist tadellos. Sicher ist sie in Deutschland aufgewachsen, denke ich und nicke interessiert. Vielleicht war es doch garnicht so schlecht, mit nach Russland zu fliegen. Elena scheint ein interessantes, nettes Mädchen zu sein. Wenn ich es geschickt anstelle, könnte ich sogar einen Teil des Urlaubs mit ihr verbringen, anstatt auf der öden Feier rumzuhängen, die mich sowieso nicht interessiert. Zaghaft versuche ich mir schon vorzustellen, wie Elena wohl im kurzen Rock und knappen Top aussehen mag. Und ab in die Disko. Oder woanders hin...
 

Elena dreht sich so plötzlich zu mir, dass ich fast etwas zurückschrecke. Was ist denn jetzt kaputt? Sie sieht mich durchdringend an, als hätte sie genau gewusst, was ich gerade gedacht habe. Gruselig. Die fast schwarzen Augen glitzern drohend, aber sie sagt nichts. Das ist auch nicht nötig. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass mit dieser Elena etwas nicht stimmt. Sie ist interessant und nicht minder mysteriös, auch wenn sie jetzt wieder lächelt, als wäre nichts gewesen, sich das Haar zurückstreicht und mit den Fingern über das Display huscht. Moment mal.
 

"Wow.. Sie haben ein MiniSkope?" Um nicht zu sagen ich bin neidisch. So ein Ding will ich schon seit es auf dem Markt ist. Ausserdem werd ich in zunehmendem Maße misstrauisch. Was will eine Journalistin mit so einem teuren Ding.. und vor allem, wie will sie sowas bezahlen?? Mit ihren vielleicht 22 Jahren wird sie wohl noch nicht zu den Spitzenverdienern zählen. Und auch noch ein neues Modell. Langsam hab ich wirklich das Gefühl, diese Frau führt mich an der Nase herum.
 

"Ein Geschenk" erklärt sie und macht ein paar Anstalten, mit das Ding herüberzuschieben. Heftig dankend lehne ich aber ab. So ein Mist, mir die Blösse zu geben und deutlich zu machen, dass ich sowas nicht besitze. Wenn ich clever gewesen wäre... Soso, ein Geschenk. Was man für solcherlei Geschenke tun muss, will ich lieber garnicht wissen.
 

Das MiniSkope piept gerade, als ich einen näheren Blick darauf werfen will. Elena zieht es zurück zu sich und dottiert die neue Mail. Soviel dazu. Alle um mich haben ein verdammtes MiniSkope und ich komm mir total bescheuert vor. Es heisst ja doch, ein Tag, der mit Aufstehen beginnt, kann kein guter Tag werden.
 

Der Rest des Fluges verlief ruhig, gesprochen haben wir nicht mehr viel, Elena war nach der Mail relativ schweigsam gewesen und sah mehrere Male ungeduldig auf die Uhr. Anscheinend hatte sie es eilig. Endlich in Moskau.
 

~*~
 

Bah, Moskau.... Das Wetter ist nicht gerade vielversprechend. Es regnet wie aus Kübeln und ich versuche verzweifelt ein Taxi herzuwinken. Es ist garnicht so einfach, auf einen Haufen Gepäck aufzupassen und gleichzeitig einem Taxi klarzumachen, dass es anhalten soll. Ich meine, ich habe keine direkten Vorurteile, was die östlichen Länder angeht, aber es wäre wirklich fatal, wenn das Gepäck abhanden kommen würde. Immerhin hat der Prof einige seiner Forschungsergebnisse dabei - nicht auszudenken, wenn die in die falschen Hände gerieten. Ich weiss, wovon ich rede, ich kenne seinen Forschungsstand. Ohne zu untertreiben würde ich sagen, dass in diesem kleinen schwarzen Koffer gute 200 Jahre Knast versteckt sind. Wenn das überhaupt reicht. Spätestens jetzt sollte klar sein, dass der Prof zwar ein gutmütiger, netter Mensch ist - aber leider eine seltsame Auffassung von Gesetzeswidrigkeit hat. Und damit meine ich nicht, dass der Koffer voller Strafzettel ist. Eine genaue Untersuchung würde vermutlich Stoff für einen gesalzenen Politthriller abgeben. Aber dazu später. Jetzt ist erst einmal Elena wichtig, die urplötzlich und wie vom Erdboden ausgespuckt neben mir erschienen ist. Vorhin war sie im allgemeinen Trubel der Gepäckausgabe wie ein Blitz verschwunden und ich hatte schon meine vagen Hoffnungen, noch eine IP auszutauschen, begraben. Und jetzt steht sie neben mir im Regen und winkt nach einem Taxi. Gleichzeitig vielleicht ein Wink des Schicksals.
 

Endlich hält so ein Taxi am Gehsteig, nicht ohne unsere Schuhe noch einmal kräftig einzutränken und schon will ich nach der Tür greifen, als mir Elena zuvorkommt. "Ich muss schnell weg! Sorry!" sagts und will sich doch tatsächlich in mein schwer erarbeitetes Taxi quetschen, aber daraus wird nichts, denn endlich erwacht der Doc aus seiner Zigaretten-Trance und hält die unhöfliche junge Dame am Arm fest.
 

"Entschuldigen Sie, Fräulein. Wir haben es mindestens genau so eilig und zudem waren wir nun wirklich zuerst hier. Ich bin aber gerne Gentleman und biete Ihnen an, das Taxi mit uns zu teilen, falls wir in die gleiche Richtung unterwegs sind." Ach geben Sie es zu, Prof. Sie kennen diese Person doch sehr wohl. Das merkt man doch sofort. Ich meine, wer lädt schon jemanden in ein Taxi ein, von dem man nicht einmal dessen Ziel kennt? Was wird hier gespielt? Anscheinend wissen wohl alle Bescheid ausser ich. Ich hätte nicht gedacht, dass mich der Prof so unterschätzt. Zufall. Sicher. Elena lächelt und nickt. Woher sollte SIE wissen, wohin wir fahren? Schlechte Vorstellung wirklich. Aber langsam werde ich gespannt, wohin das alles führt. Ich kann wohl kaum hoffen, dass die beiden mich so an der Nase herumführen, weil sie für mich eine Überraschungsparty schmeissen wollen.
 

"Ihnen macht es doch nichts aus, Klement, sich mit dieser jungen Dame den Rücksitz zu teilen?" Nein, wie könnte ich auch? Ich komm mir langsam vor wie bei einem schlechten Amateurtheater. Dabei geben sich die beiden Hauptdarsteller nichtmal die geringste Mühe, über ihr mangelndes Talent hinwegzutäuschen. Fehlt nur noch der obligatorische Gesprächswechsel: "Wohin fahren Sie?" - "Zu Prof. Worycek's Anwesen, wir sind auf seinen Geburtstag eingeladen!" - "Nein! Sie auch? So ein Zufall?!" Glücklicherweise können sie sich diese Peinlichkeit gerade noch verkneifen, aber ich hätte ehrlich damit gerechnet. Tropfnass klettere ich also hinter Elena ins Taxi, dessen Fahrer sich gerade mit den Koffern abmüht. Im Inneren ist es zum Glück etwas wärmer und nachdem ich mich etwas schwerfällig aus meinem Mantel geschält habe (was in dieser Blechdose garnicht so einfach ist) wage ich sachte zu entspannen. Der Russe am Kofferraum flucht, versucht die ganzen Koffer unterzubringen, der Prof nuschelt mit seinem MiniScope. Und Elena schielt zu mir herüber.
 

Ja wirklich, aus den Augenwinkeln beobachtet sie mich. Ich tu ihr den Gefallen und beginne das Gespräch, auf dass sie offensichtlich wartet. Auch, wenn ich mir jetzt schon denken kann, was sie sagt. Eigentlich fast den genauen Wortlaut. Und sie weiss ebenso, was ich sagen werde. Schon seltsam, beide wissen, was der andere fragen und antworten wird, aber man fragt trotzdem und bekommt die erwartete Antwort. Vielleicht liegt das Geheimnis im Aussprechen der Sätze? Die blosse Artikulation? Das ist wie, wenn jemand das Drehbuch gelesen hat und sich danach den Film ansieht. Man weiss genau, was die Leute sagen werden, aber man wartet solange, bis sie es wirklich gesagt haben, dann lehnt man sich zurück und ist zufrieden. Eine seltsame Welt, voller Rituale...
 

"Na, dann sind wir wohl in die gleiche Richtung unterwegs." sage ich deshalb, weil ich weiss, sie wartet darauf. Und sie wird antworten: "Scheint so. Netter Zufall, nicht? Ich soll ein paar Schnappschüsse von der Veranstaltung schiessen. Einige berühmte Deutsche Professoren sollen eingeladen sein." Nun ja, ich hätte es anders formuliert, aber Elena trifft genau die Kernaussage. Das Lügennetz wird immer dichter. Woher sollte sie auch wissen, dass diese "Veranstaltung" auch die unsere ist? Ich hatte schliesslich nur einen Geburtstag erwähnt, den wir besuchen. Aber sie scheint ihren Fehler bemerkt zu haben. Denke ich. "Wissen Sie, Herr Richter, ich hatte mich gefragt, woher ich Ihren Begleiter kannte. Er ist Professor an der Uni Heidelberg, richtig? Ich hatte schon von ihm gelesen. Daher dachte ich, dass er sicher auch zu der Veranstaltung fährt. Wäre sonst ja wirklich ein seltsamer Zufall, nicht?" Elena lächelt so unschuldig, dass ich es ihr fast geglaubt hätte. Aber da ist wieder was mit ihren Augen, das mir nicht gefällt. Als könnte sie mein Misstrauen förmlich vom Gesicht ablesen und mich trotzdem mit aller Macht zu überzeugen versucht. Nun.... zugegeben, vielleicht hat man mir dieses gläubige Nicken auch nicht abgenommen. "Na das wär ja wirklich ein Zufall.." sage ich nur aus einem Grund, und zwar, die Peinlichkeit dieses Wortwechsels noch mehr zu unterstreichen. Jetzt spätestens sollte selbst sie bemerkt haben, dass ich ihr die Geschichte nicht abkaufe. Zu meiner Überraschung sagt sie nichts.
 

Der Fahrer sitzt und los geht die Reise durch Moskau. Da es immer noch in Strömen regnet, kann ich von der gewaltigen Stadt nicht viel erkennen. Durch den Regenschleier kann ich die typischen Gebäude und Bauwerke bestenfalls erahnen. Der Prof ist jetzt wieder putzmunter, er redet angeregt mit dem Fahrer, natürlich auf russisch. Etwas genervt höre ich mir das Gelächter an, in das sogar Elena leise einstimmt. Auf eine charmante Art und Weise komme ich mir mal wieder wie der blöde Tourist schlechthin vor.
 

"Wielange bleiben Sie hier?" fragt Elena plötzlich und streicht über ihr rabenschwarzes Haar. Oh Wunder, ein paar Worte, die ich indentifizieren und sogar verstehen kann. Um dieses Bonbon richtig auszukosten, lasse ich mir lange Zeit mit der Antwort. "Ich denke wir sind eine Woche hier. Zumindest wohnen wir solange bei dem Kollegen meines Mentors. Und wo werden Sie wohnen?" Vermutlich hätte mich die Ungezwungenheit ihrer Frage angesichts dieser bodenlosen Frechheit ärgern sollen, aber ich muss feststellen, dass Elena eine dieser merkwürdigen Frauen ist, denen man einfach nicht böse sein kann. Eigentlich kann es mir schlichtweg gleich sein, wohin wir fahren und dass alle so tun als kennen sie sich gegenseitig nicht. Solange ich mit Elena reden kann und mehr über sie erfahren, lohnt sich das Ärgernis auf jeden Fall. Vielleicht bin ich ja in "Vorsicht Kamera" oder sowas. Oder "Blind Date"? Was auch immer, ich mache das Beste daraus und beschliesse, meine Aufmerksamkeit mehr aufs Flirten zu verlegen. Lächelnd lausche ich ihrer wirklich angenehmen Stimme, die verlauten lässt, dass sie in der Stadt im Holiday Inn ein Zimmer beziehen wird. Irgendwo am Stadtrand. Wo wir demnächst sicher auch halten werden.
 

Elena zeigt aus dem Fenster, der Regen fällt noch immer vom Himmel als gelte es, Moskau zu überschwemmen. Die Lichter der Stadt glänzen durch den Wasserschleier, die Strassen sind laut und voller Reklamebeleuchtung, in der Nähe kann ich das "Holiday Inn" - Logo ausmachen. Sie wechselt ein paar Worte mit dem Fahrer und er wird langsamer. "Bevor Sie uns verlassen, dürfte ich vielleicht nach Ihrer IP fragen?" Die Gelegenheit muss ich am Schopf packen. Nicht, dass ich sie nicht mehr wiedersehen sollte - aus welchen Gründen auch immer. "Hm.. ich geb sie Ihnen morgen.." entschuldigt sie sich und lächelt wieder. "Ich hab sie.. im Koffer, wir sehen uns ja morgen früh, denke ich!" Und weg ist sie nach draussen verschwunden. Und ich sitze hier drinnen im Taxi. Und sehe dem Fahrer zu, wie er ihre Koffer auslädt. Und sehe sie auf dem Gehsteig in Richtung Hotel verschwinden. Und mit ihr verschwindet meine Laune.

[ The weatherman ]

3. Kapitel

- The weatherman -
 

Keine Viertelstunde später hält das Taxi wieder. Aus dem Taxifenster kann ich nicht viel erkennen, ausser etwas Grosses, Weisses, Altes, Verschnörkeltes. Nach dem Aussteigen bestätigt sich meine böse Vorahnung. Wir stehen vor einem ebenso monströsen wie uralten Palast von Haus. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich würde auf das erhabene etwas geschrumpfte White House tippen, das schätzungsweise aber immernoch in Washington D.C. stehen müsste. Zumindest um diese Uhrzeit. Um nicht zu sagen - es ist gross, protzig und sieht in etwa so aus, als hätte der Bauherr beabsichtigt, für jeden Tag im Jahr ein anderes Zimmer benutzen zu wollen. Mit dazugehörigem Bad. Ich will nicht schon wieder in Vorurteile verfallen, aber ich ertappe mich schon wieder, nach eventuellen Mafia-Mitgliedern Ausschau zu halten.
 

Immerhin hat der gewaltige Eingang den Vorteil, dass wir trotz des vielen Gepäcks keinen Tropfen Regen mehr abbekommen. Aber der Wind ist eisig und wenigstens ein Klischee erfüllt sich: In Russland ist es kalt, ich friere mir die Zehen ab - das wusste ich schon vorher! Lange müssen wir zum Glück nicht warten, die Tür geht schnell auf und das schwummrige Licht im Inneren überrascht mich jetzt doch. Als die wuchtige Tür ins Schloss fällt, zucke ich sogar erschreckt zusammen. Hier scheint wohl jemand viel Wert auf Authentizität zu legen.
 

"Edgarr!! Seid ihrr gut angekommen.." Alle Köpfe nach rechts, wo die etwas schrille Stimme erschollen ist. Ein hagerer Mann mit schmaler Brille und fast kahlem Kopf kommt förmlich hereingewieselt, er lächelt, aber seine Worte sprechen entgegen seiner dargestellten Freundlichkeit. "Edgar Steinbeck. Ich dachte, ich hätte mich klarr ausgedrückt vor einigen Stunden. Verstehe mich nicht falsch, alterr Freund... ich freue mich, euch hierr zu sehen, aberr... die Situation ist etwas ungünstig." Steinbeck lächelt und schüttelt sachte den Kopf. Aus der Unterhaltung ziehe ich mich gepflegt zurück und betrachte mir inzwischen die Eingangshalle. Das Haus ist zwar alt, aber sehr gut in Schuss. Alles sauber, nicht übermässig voller Kitsch, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ein grosses Wandgemälde zeigt den Stammbaum der Familie, den ich mir etwas genauer ansehe.. aber die Namen ziehen wie Rauch durch mein Gehirn. Ich war so schlau, eins meiner Ohren noch der Unterhaltung der beiden Männer zu widmen.
 

"Ich weiss, du bist in Schwierigkeiten.." sagt Steinbeck leise. "Genau deshalb bin ich doch gekommen. Oder ist es etwa schon zu spät?" Sein Gegenüber schüttelt den Kopf. "Nein, sie sind noch unter Kontrolle. Aberr sie haben angefangen zu zählen. Schon seit ein paarr Tagen! Heute Mittag haben wir versucht, sie zu trennen, aber sie weigern sich. Die Männerr haben Angst! Wirr müssen sie erst beruhigen!" Der Mann wirkt wie eine Maus, die das dringende Gefühl hat, von einer Katze beobachtet zu werden. Seine Augen sind immer in Bewegung und schielen plötzlich zu mir herüber. "Und was macht derr hierr? Wenn schon, dann hättest du alleine kommen sollen!"
 

Ich höre wohl nicht recht! Der Prof hat mich doch geradezu genötigt mitzukommen und jetzt tut dieses Sladis-Wiesel so, als wäre ich ein unliebsames Anhängsel. Ausserdem - dieser Mann ist seltsam. Aber auch mein lieber Mentor. Er wirkt so ernst und obwohl ich nichts von dem Zeug verstehe, das die beiden reden, beginne ich zu ahnen, dass da etwas im Busch ist. Ganz gewaltig. Ich bin mir garnicht sicher, ob ich wissen will, was das ist. Mir reichen schon die illegalen Machenschaften von Steinbeck völlig.
 

"Der Junge ist in Ordnung, er hat mir viel geholfen. Ausserdem weiss er über alles Bescheid!" Sladis scheint Steinbeck nicht so richtig glauben zu wollen. Ehrlich gesagt bezweifle ich selbst, dass ich Bescheid weiss. Über was eigentlich? Ich grinse etwas schief, was Sladis anscheinend nur noch misstrauischer macht. Wie ein Wiesel, richtig. Ein kriminelles Wiesel. Daran besteht wohl kein Zweifel. Und irre dazu. Wenn ich mich recht erinnere, sagte er irgendwas von irgendwelchen Leuten, die irgendwas zählen. Zugegeben, das hört sich schon ein bisschen meschugge an, oder? Vielleicht hat er Ärger mit der Kripo, die seine schwarzen Akten durchzählen. Oder ein russisches Flensburg droht mit Führerscheinentzug.
 

"Nicht wahr, Klement?" Wie bitte? Ich nicke eigentlich nur aus Reflex, aber Sladis scheint es etwas zu beruhigen. "Nun gut... wegen mirr, du musst es wissen.." knurrt Sladis leise und deutet auf das Gepäck. "Ich würde euch beiden ja gerne eine Nacht Ruhe gönnen, aberr wenn ihrr schon da seid - wirr müssen so schnell wie möglich los. Du hast alles dabei?" Steinbeck nickt und trabt zu seinem schwarzen Koffer. Ganz langsam schleicht sich mir der Verdacht durch's Gehirn, dass es irgendwie nie eine Geburtstagsfeier geben wird und auch nie geplant war. Das Haus scheint ansonsten wie ausgestorben, Sladis verhält sich nicht gerade wie ein guter Gastgeber und gratuliert hat ihm der Prof erst recht nicht. Oberfaul. In was bin ich da nur wieder reingeschlittert. Dabei könnte ich jetzt mit Elena irgendwo an der Hotelbar sitzen und..
 

"Verdammt, was ist das??" Überrascht sehe ich zurück zu Steinbeck, der fassungslos in den Koffer starrt und darin herumwühlt. Was ist denn jetzt los? Dann sieht er mich an. Und ich schwöre, dass ich ihn noch nie so wütend gesehen habe. "Klement!! Der Koffer! Verdammt! Deine kleine Reporterin hat unsere Koffer ausgetauscht!!" Vielsagend hält er ein paar Hefter und ein Diktiergerät hoch, das allem Anschein nach im Koffer gelegen hatte. Um nicht zu sagen ich bin verblüfft. Es scheint wirklich Elenas Koffer zu sein.
 

Sladis und Steinbeck fluchen was das Zeug hält und ich habe das dumpfe Gefühl, dass sich ihr Zorn mit der Zeit in meine Richtung konzentriert. "Hey, Moment, ich kann nichts dafür! Professor, Sie haben Elena ins Taxi mit eingeladen!" Ist doch eine Frechheit! "Das ist eine Katastrophe!!" keift Sladis und ich muss zugeben, damit hat er garnicht so unrecht. Elena ist im Besitz von einem Koffer voller Drogen inklusive Zusammensetzungsbeschreibungen, Testversuchsergebnisse und anderem Kram. Wenn Elena erkennt, was da in ihrem Koffer ist, geht es Steinbeck todsicher an den Kragen. Und in ihrem Beruf würde das eine ebenso sichere wie steile Zukunft bedeuten.
 

"Sicher war es ein Zufall" versuche ich die beiden zu beschwichtigen. "Sie hat es sicher nicht absichtlich getan! Vielleicht war es auch dieser dusselige Taxifahrer! Sicher hat sie den Koffer noch nicht geöffnet heute abend.." Sladis funkelt mich auf eine abstossende Art an, dass ich mich zwingen muss, nicht angewidert wegzugucken. "Warum sind Sie sich da so sicherr?" schnarrt Sladis und ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. "Sie.. ist geschäftlich hier und wird wohl kaum noch heute abend mit der Arbeit begonnen haben." Die Erklärung scheint so einleuchtend wie logisch. Trotzdem sehe ich in ihm das Misstrauen aufblitzen.
 

"Klement, Sie haben diese junge Frau doch kennengelernt. Was halten Sie davon, wenn Sie sich ein Taxi nehmen und zurück in die Stadt fahren, um die Koffer wieder zu tauschen?" Innerlich stöhnend muss mein Gesichtsausdruck wohl ähnlich ausgesehen haben, denn der Prof stiert mich nur eindringlicher an. "Ich hoffe, Sie wissen, was hier auf dem Spiel steht, Klement..." Natürlich weiss ich das. Lebenslang für meinen Mentor und meinen sicheren Arbeitsplatz verschwinden. Hab ich denn eigentlich eine Wahl? "In Ordnung, ich werde zurückfahren.."
 

Super. Klasse! Also beklagen kann ich mich nicht. Allein der erste Tag dieser Reise verlief alles andere als langweilig. Obwohl ich mich langsam frage, ob mir eine langweilige Teeparty nicht doch lieber gewesen wäre. Stress. Hektik. Kälte! Nicht mal aufwärmen durfte ich mich vollends. Ab in einen Wagen und zurück in die Stadt. Es schüttet noch immer wie aus Kübeln. Zum Glück ist es kein Taxi, sondern einer von Sladis' Wagen, sogar mit Chauffeur, der aber zu allem Unglück kein Wort Deutsch versteht. Nachdem ich ihm irgendwie begreiflich gemacht habe, dass ich ich die Stadt muss, rollt der grosse schwarze Mercedes auch schon los.
 

Elena Elena. Dieses Mädchen bringt alles durcheinander. Erst mich und dann den Professor und das Killerwiesel. Ich kann nur hoffen, dass Elena wirklich noch nicht in den Koffer geschaut hat, wie ich grosspurig behauptet habe. Das wäre allerdings ein Desaster. Wie mir Steinbeck noch zugezischt hat, ist der reine Inhalt des Koffers selbst nicht einmal seine grösster Sorge. Was könnte dringender sein, als sein restliches Leben im Knast zu verbringen? Aber der Prof hatte sehr ernst gewirkt. Ich denke, es hat mit Sladis und seinem "Experiment" zu tun.
 

Während der Wagen weiter Richtung Stadt rollt, kann ich ja ein bisschen revidieren, was hier eigentlich los ist. Am Besten fange ich bei Prof. Steinbeck an. Seit über 2 Jahren arbeite ich bei ihm.. was heisst arbeiten, ich assistiere eher. Wobei ich meine Notizen und Aufzeichnungen niemals veröffentlichen sollte. Prof. Steinbeck, angesehener Chemieprofessor und Dozent an der Heidelberger Universität hat ein düsteres Geheimnis. Seit mehreren Jahren entwickelt der Professor chemische Drogen. Dabei haben diese Stoffe wenig mit den gemeinhin bekannten Designerdrogen zu tun, die in den Clubs die Runde machen. Dagegen ist eine Handvoll Extasy direkt harmlos, wenn man Prof. Steinbeck Glauben schenken darf. Bevor jemand ein bestürztes Gesicht macht, muss ich einwerfen, dass diese Drogen ausschliesslich im medizinischen Sinne einzusetzen sind.
 

Diese synthetische neue Droge hat den Namen "Dominate" verpasst bekommen. Ursprünglich hatte Steinbeck das Mittel als reines Narkotikum entwickelt, durch Zufall reagierte das Gemisch mit anderen Stoffen und bewirkte in den Tests, dass die Droge bewusstseinserweiternde Wirkung auf betreffende Person hat, wie Hallizunogene und Morphine. Nun, das war nicht weiter neu, eine Reihe von Designerdrogen verzeichnet dieselbe Wirkung. Der Unterschied in "Dominate" erkennt man klar am Namen - der Konsument wird berauscht oder beruhigt, je nach Dosierung. Der Nebeneffekt: Die Person wird ab einer bestimmten Dosis absolut willenlos, kann nicht mehr Falsch von Richtig unterscheiden. Zudem unterliegt er keiner Schmerzbarriere und das Medikament steigert die körperliche Leistungsfähigkeit auf ein Vielfaches. Eine grausige Vorstellung. Zum Glück ist dies nicht von langer Dauer. Aber allein zu wissen, dass man mit diesem Teufelszeug Menschen zu Marionetten machen kann, Kampfmaschinen, die keinen Schmerz verspüren... Wenn man sich jetzt vorstellt, dieses Zeug fällt dem Falschen in die Hände. Unvorstellbar!
 

Deshalb ist es meine Pflicht, diesen Koffer wieder aufzutreiben und niemanden zu hinterlassen, der Wind von der Sache mitbekommen hat. Natürlich fragt man sich jetzt - was macht ein Student in so einem Thriller? Steinbeck kennt meinen Vater. Er vertraut mir. Und wenn Steinbeck illegale Drogen entwickelt, dann muss ich selbst entscheiden, ob ich ihm glaube, dass er es auf reinem medizinischen Interesse tut, oder ich glaube es ihm nicht. Ich denke einfach... wenn er wirklich ein schlechtes Gewissen hätte, wäre er viel vorsichtiger gewesen. Ich hätte ihm ein Dutzend Mal die Kripo auf den Hals hetzen können. Und die hätten sich verständlicherweise wenig dafür interessiert, ob Steinbeck dies alles im Dienst der Medizin getan hatte, oder nicht. In diesem Fall bin ich mir also sicher, dass Steinbeck eine Vertrauensperson ist. Wenn ich diese Reise hier allerdings betrachte, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.
 

Dieser Sladis ist mir ganz und garnicht geheuer. Es sieht aus wie jemandem, dem man ohne weiteres eine Rolle als irrer Doktor in einem Gruselstreifen hätte angeboten. Und dieses Experiment... Ich glaube, dass er den Professor sehr wohl braucht. Beziehungsweise seine Forschungsergebnisse. Diese .. "zählenden" Etwase scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Nach einiger Schlussfolgerung sehe ich die Lösung darin, dass irgendwelche Menschen am Ausrasten sind und die Drogen gebraucht werden, um sie ruhig zu stellen. Etwas anderes könnte ich mir nicht erklären. Aber jetzt - hab ich erst mal andere Sorgen. Das Holiday Inn erscheint im Blickfeld und ich mache dem Fahrer verständlich, dass er hier anhalten soll.
 

Es giest noch immer, allmählich frage ich mich, woher das ganze Wasser kommt. Auf den Strassen fliessen zentimeterhohe Bäche und wenn meine Strümpfe nicht ohnehin schon überflutet gewesen wären, so wäre das spätestens jetzt passiert. Mir dem Mantel über den Kopf gezogen renne ich also durch diese einzige Pfütze auf den Eingang des Holiday Inn zu. Ein warmer Wind empfängt mich vom Eingangsgebläse und da stehe ich nun triefend in der hellen Halle und wende mich gleich an die Rezeption. Ein Schild daneben teilt mit erfreulicherweise mit, dass hier neben Russisch auch Englisch und Deutsch gesprochen wird, so kann ich mich doch gleich viel besser verständlich machen. "Guten abend, ehm.. ich hoffe Sie können mir helfen" sage ich in langsamem Deutsch und versuche ein charmantes Lächeln herauszudrücken, das wohl im krassen Gegensatz zu meiner Erscheinung steht. Aber die zierliche, blonde junge Dame scheint geschäftliches Lächeln gewohnt zu sein, denn sie antwortet freundlich und in höchst akzentiertem Deutsch nach meinem Problem. Wirklich süss, wie sie sich Mühe gibt, mich zu verstehen. Und ihre Antworten sind von der grammatikalischen wie artikulativen Seite her höchst amüsant - wenn ich nicht mit der Kernaussage ihrer Antwort abgelenkt wäre, würde ich schmunzeln. "Was heisst, hier hat keine Elena Sacharov eingecheckt?"
 

Das Mädchen, sie ist höchstens 19, schüttelt bedauernd den Kopf und sieht noch einmal auf den Monitor. "Tut mirr laid, aberr ich kann sieh wirklich niecht in där Datenbank findän.." Das kann doch einfach nicht sein. Sie hat gesagt, sie ginge ins Holiday Inn. Und ich habe sie doch in die Richtung laufen sehen. "Sie muss.. vor ca. einer Stunde hier angekommen sein. Bitte sehen sie noch einmal nach, ob sie vielleicht.." Ich verstumme und das Mädchen sieht mich wartend an. Wie um Himmels Willen komme ich darauf, dass Elena vielleicht einen anderen Namen benutzt haben könnte? Jetzt reichts, das hier ist kein James-Bond-Film.
 

"Entschuldigen Sie, aber könnten Sie mit vielleicht einen Blick auf den Monitor schenken? Ich muss wissen, wer hier alles innerhalb der letzten Stunde eingecheckt hat.." Nachdem das nette Blondchen gerafft hat, was ich von ihr will, schüttelt sie überrascht den Kopf. "Nain, tut mirr laid, das darf ich nicht!" Na schön. Dann wird es wohl Zeit, dass ich härtere Methoden anwende. "Miss, ich verstehe Sie sehr gut.." Meine Hand streift ihre Schulter und zusammen mit einem umwerfenden Lächeln ist sie tatsächlich dabei zu erröten. "Wissen Sie, meine Halbschwester ist ausgerissen und ich soll mit ihr reden. Unser Vater macht sich schreckliche Sorgen und ich mir natürlich auch. Ausserdem habe ich danach bestimmt genug Zeit, einer hübschen jungen Frau in der Bar einen Cocktail zu spendieren.." Das Bisschen Honig sollte reichen, um mir die Information zu beschaffen. Und tatsächlich.. das naive Ding wird knallrot und sieht sich um. Mit einem schüchternen Lächeln winkt sie mich zum Monitor und zusammen gehen wir die IDs der Leute durch, die bis vor Kurzem eingecheckt haben.
 

"Ah! Da - das ist sie!" Elena alias Nathalie Zinsky lächelt mir stumm entgegen zusammen mit all ihren anderen Daten, die mich jetzt allerdings wenig interessieren. "Zimmernummer 108. Herzlichen Dank, Miss... Wann haben Sie Feierabend, meine Hübsche?" Sie errötet noch mehr, was ich nicht geglaubt hätte, dass es möglich ist und nennt mir eine Zeit jenseits von Gut und Böse. Da ich aber sowieso nicht vorhabe, meine Verabredung einzuhalten, verspreche ich ihr, sie um genannte Zeit hier abzuholen. Und ab nach oben.

[ Fade to black ]

"Zimmerservice!"
 

Das wollte ich schon immer sagen. Leider bringt mir das in diesem Fall wenig, ich könnte genauso mit einem Megafon durch die Gegend brüllen: "Hallo Elena, ich bin's, Klement, mach mal die Tür auf!" Aber das tue ich nicht, Elena wird mich schon früh genug bemerken. "Hallo?" dringt es dumpf durch die Tür und ich sehe mich genötigt, mich doch auszuweisen. "Klement.. Richter! Wir haben uns.." Die Tür geht auf und eine ebenso überraschte wie leichtbekleidete Elena Sacharov steht vor meinem männlichen Ortungssinn. Und das, was er ortet, gefällt ihm ausserordentlich. Elena scheint vor Kurzem noch unter der Dusche gestanden zu haben, ihre Haare glänzen feucht und ihr Körper steckt (vermutlich nackt) unter einem Morgenmantel. "Klement? Was.. was machen Sie denn hier? Kommen Sie rein, Sie sind ja ganz nass!" Fast hätte ich etwas geantwortet, kann es aber noch geradeso herunterschlucken. Darauf grinst Elena breit, ich glaube irgendwie scheint sie doch Gedanken lesen zu können. Vielleicht war dieser Blick von mir auch nur allzu offensichtlich. Aber nix heute mit Flirten. Der Koffer ist wichtig!
 

"Wie haben Sie mich gefunden?" fragt Elena doch etwas misstrauisch. Ich grinse nur und erzähle ihr, wie ich das arme Mädchen am Empfang eingelullt habe. "Soso.. na dann , was verschafft mir die Ehre des Besuches?" Unauffällig lasse ich den Blick durch das Zimmer schweifen und entdecke auch prompt den Koffer neben den anderen Taschen und Hartschalenkoffern. Ungeöffnet. Sie scheint zum Glück wirklich noch nicht hineingeschaut zu haben. Und ihre Geschäftsutensilien scheint sie auch nicht zu vermissen. Glück gehabt!
 

"Die Sache ist so... dem Fahrer des Taxis ist anscheinend vorhin ein Missgeschick passiert. Er hat aus Versehen unsere Koffer vertauscht.." mein Kopfnicken deutet auf den schwarzen Koffer am Boden, Elena folgt dem Blick. "So, das heisst, das ist Ihr Koffer? Das hatte ich garnicht bemerkt. Natürlich tauschen wir wieder, es tut mir leid, dass Sie deshalb den Weg hierher nocheinmal zurücklegen mussten!" Irgendwas an Elena ist anders. Ich weiss nicht wieso, aber sie kommt mir.. seltsam vor. Sie schaut in die Luft. Ihre Stirn runzelt sich, als würde sie angestrengt überlegen. "Was ist denn?" Dann geht das Licht aus.
 

"Na sowas, Stromausfall?" Elena neben mir geht in Richtung Fenster und erst jetzt fällt mir auf, dass es zusammen mit dem Licht auch laut geworden ist. Draussen ist jetzt alles stockdunkel. Keine Neonreklame leuchtet, keine Strassenlichter brennen, keine Ampeln. Der Krach kommt von den Dutzenden von Autos, die hupend auf der Strasse stehen, in der Mitte der Kreuzung sind zwei Autos aneinander geschrammt. "Passiert sowas hier öfter?" frage ich in die Dunkelheit, denn sehen kann ich hier drinnen garnichts mehr. Haben die hier denn keine Notbeleuchtung? "Elena?" Etwas hinter mir rumort und ich hätte mein letztes Hemd gegeben, wenn jetzt das Licht angegangen wäre. Denn allein die Geräusche und ein schwaches Schemen kurbeln meine Phantasie an und zeigen Elena, die sich gerade anzieht.
 

"Keine Angst, das Licht müsste bald wieder angehen. Das Hotel muss ein Notstromaggregat haben.." Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Elena mir überhaupt nicht zuhört. Sie zieht sich in Windeseile an und fängt an hecktisch irgendwelche Sachen in eine Sporttasche zu stopfen.

"Was... was machen Sie da, Elena? Es müsste doch gleich wieder.."

"Halt die Klappe Klement und komm mit! Wir haben keine Zeit mehr!"
 

Mit offenem Mund starre ich Elena an, die energisch nach meinem Arm greift und mich aus dem Zimmer zu zerren versucht. Was ist denn jetzt los, bin ich im falschen Film gelandet? Ich dachte, das hier ist kein James Bond! Oder hat Elena etwa solche Angst, dass sie so übertrieben reagiert? .. Nun, meine Aufgabe als Mann wäre es jetzt natürlich, das Mädchen zu beruhigen und ihr klarzumachen, dass sie keine Angst zu haben braucht. Aber Elena ist nichts entgegenzusetzen, sie zieht und zerrt an mir, dass ich gerade noch den Koffer packen kann und schon rennt sie nach draussen. Auf dem Flur stehen jetzt mehrere Leute, die sich über den Stromausfall wundern, der anscheinend das ganze Stadtviertel betreffen muss, schon hört man Feuerwehr und Krankenwagensirenen lauter werden. Durch die Halle, zum Eingang. "Elena, was soll das, Sie sind ja total hysterisch! Das ist doch nur ein Stromausfall! Ich geh da jetzt nicht raus, erklären Sie mir bitte, was zum Teufel sie geritten hat?"
 

Aber Elena ist taub. Zumindest scheint das so. Sie sucht stattdessen den Raum ab, ihre dunklen Augen huschen von einer Seite zur anderen. Langsam habe ich genug. Ich habe den Koffer und sollte wieder zurück zum Professor und seinem Killerwiesel. Sonst bekomme ich Ärger, immerhin eilt es. "Also dann, machen Sie es gut, ich bin sicher wir sehen uns noch einmal.." Schon hab ich die Hand an der Tür, als Elena mich zurückreisst.
 

"Geh da nicht raus! Komm mit, los! Wir müssen irgendwo hin, wo keine Geräte sind!" erstaunt starre ich dieses junge, energische Ding an, das förmlich an meinem Arm klettet. Ah so. Sie hat ganz klar Angst und will nicht alleine gelassen werden. Normalerweise würde ich jetzt den Beschützer spielen, aber ich habe KEINE ZEIT! "Lassen Sie los, Elena, ich hab es eilig! Wirklich! Haben Sie keine Angst, der Strom.." Der Angriff kommt so überraschend, dass ich einfach überrollt werde, Elena liegt auf mir und ich auf dem Boden der Halle, um uns herum rumort es, gerade will ich schimpfen und aufstehen, als etwas Ohrenbetäubendes kracht. Für einen schrecklichen Moment ist alles grell um uns, die Lichter gleisen auf, draussen dringt ein metallenes Kreischen herein, das so gewaltig ist, dass mir davon der Schädel dröhnt. Und dann spüre ich sie.. die Luft, ich kann die Luft fühlen, jedes einzelne Atom ist geladen, voller knisternder Energie, berstend vor Elektrizität. Die Lichter zerplatzen funkensprühend, ebenso wie Monitore, die in einem Lärm zersplittern, der alles noch viel surrealer macht, als es sowieso schon ist. Und dann ist alles dunkel. Die Luft dampft, sie ist noch voller geladener Teilchen. Um uns herum liegen Splitter, irgendwo bitzelt etwas, Menschen stöhnen. Und dann bemerke ich den Geruch. Ein beissender Geruch verbrannten Fleisches. Er ist überall und so heftig, dass mir schlecht wird.
 

"Elena? Elena, alles okay??" Der Körper über mir bewegt sich und rollt von mir herunter. "Alles okay. Und du, bist du verletzt?" Ich verneine, aber der Schock sitzt mir immernoch in den Knochen. "Was.. war das?" Elena steht langsam auf und ich folge ihr in die Senkrechte. Langsam höre ich sie wegbewegen und schnappe rechtzeitig nach ihrer Hand. "Elena, was ist da passiert?" Sie dirigiert uns zur Tür und durch die Scheibe kann ich schemenhaft ein Bild erkennen, dass mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Es regnet noch immer aber sonst ist es mucksmäusschenstill. Die Scheinwerfer der Autos dringen vereinzelt durch das pechschwarze Dunkel und beleuchten eine Horrorvision. Überall liegen Menschen auf der Strasse, im Regen und rühren sich kein Stück. Ihre Körper dampfen. Und plötzlich weiss ich, wie dieser bestialische Gestank zustande gekommen ist. "Das.. das ist doch.."
 

Der Strom war zurückgekommen. Aber nicht allmählich, sondern mit einem Schlag, eine gewaltige Masse an Energie war durch die Leitungen gepresst worden. Lichter waren gesprungen, Stromleitungen geplatzt. Die schwarzen Schnüre liegen wie Seile auf der Strasse, der Stromstoss der Hochspannungsleitung hat sie voll erwischt. Durch den Regen war der Strom durch jeden Körper gekrochen, den er finden konnte und hatte das Fleisch von innen verbrannt. "Mein.. Gott.." Ich kann meinen Blick nicht von dieser Grausamkeit wenden, sehe nur immer mehr leblose Körper, die langsam aufhören zu dampfen unter diesem Regenschauer. Einzig in den Autos bewegen sich noch Menschen, wagen nicht auszusteigen, ihren sicheren Käfig auf Gummireifen zu verlassen. Ich wäre jetzt genauso tot...
 

"Elena! Woher.. du hast.. ich doch..!" stammle ich fassungslos. Elenas seltsames Verhalten bekommt einen Sinn. Sie WUSSTE, was dort draussen passieren würde. Und sie hatte mir das Leben gerettet, indem sie mich daran gehindert hatte, hinaus zu gehen. Aber.. WOHER um Himmels Willen hatte sie das gewusst?? Allerdings erwartet mich keine Antwort, Elena scheint das einfach zu überhören. Sie ist so.. unglaublich gefasst!
 

"Du wusstest das!" platze ich heraus und spüre, wie sich eine Hand an meine Wange legt. "Ich wusste es nicht.." sagt Elena leise. "Ich hatte es geahnt. Und jetzt komm, wir müssen so schnell wie möglich weg hier. Wir haben keine Zeit mehr!" Wieder zieht sie mich zur Tür, aber diesmal sträube ich mich hermetisch! "Bist du wahnsinnig, da gehe ich nicht raus, willst du, dass ich gegrillt werde?!" Sie ist wahnsinnig! Sie ist eine Psychopathin! Sie wusste das von Anfang an, ich habe es schon geahnt, als sie mir die Tür geöffnet hatte! NEIN, ich hatte es schon im Flugzeug bemerkt! Mit dieser Elena/Nathalie/Dingsda stimmt etwas nicht! Und jetzt habe ich es schwarz auf weiss! Das ist doch verrückt!
 

"Hey, pass auf, Hosenscheisser! Ich habe dir nicht das Leben gerettet, dass ich es jetzt einfach wegwerfen würde! Da draussen ist nichts mehr, der Strom ist weg! Vertrau mir, ich weiss es!" Das ist verrückt! Total verrückt! Warum tut sie das, was macht sie da, ich will verdammt nochmal keinen James Bond hier drehen! Das kann sie schön alleine machen! Ohne mich! Ich bleibe hier sitzen, bis der Regen weg ist und es hell ist und überhaupt keine Gefahr mehr besteht. Zur Hölle, da draussen liegen zig Tote und sie will einfach rausgehen! Weggehen! Die Menschen brauchen Hilfe, und sie..
 

"Deine Nächstenliebe rührt mich, aber wenn du wirklich etwas bewirken willst, komm mit und stell keine dummen Fragen mehr! Hey.. vergiss deinen Koffer nicht, wegen dem bist du hergekommen, hm?" sagt sie einfach so. Ohne jede Spur von Angst oder Entsetzen. Sie wusste es.. sie wusste ganz genau, was passiert. Wieso sollte sie sonst so ruhig sein? "Hören.. hör zu, Elena! Ich weiss nicht, was hier los ist und was du da gemacht hast, aber lass dir eins sagen: Hau - ab - und - lass - mich - in - Ruhe!! UND! Entschuldige vielmals, dass ich überrascht bin, wenn vor meiner Nase ein Dutzend Leute geröstet werden und ich auch noch fast dazugehört hätte! Du.. du bist sonderbar, wahrscheinlich irgendeine Geheimspionin, die auf Mission ist und ihren Weg mir Leichen pflastert.."
 

Das Klatschen überrascht mich mehr, als das es wehtut. Aber Elena hat keine schlechte Rechte. "Du siehst zuviel Fernsehen.." knurrt sie und wendet sich ab. Meine Backe brennt, aber jetzt sehe ich die Sache wenigstens etwas nüchterner. "E-Elena? Wo willst du hin? Was machst du jetzt?" Sie will tatsächlich nach draussen! Sie ist lebensmüde! Schon hat sie die Tür in der Hand.. "Ich sorge dafür, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Wenn du mitkommen willst, ich kann dich sicher gut gebrauchen - wenn nicht... leb wohl!" und tritt nach draussen in den Regen. Läuft an den Toten vorbei. Über die Strasse. "Elena!!"

[ Offline ]

"Serge!" Der grosse, drahtige Mann zuckt nervös mit dem Kopf. Seine Hände zittern, das rote Licht lässt seine Augen glimmen. "Sir... ich.." Der hagere Zweite steht an der geöffneten Tür. "Schon gut, gehen Sie beiseite.." murmelt er und betritt das in Rot getauchte Zimmer. Schon nach einigen Metern geht er in die Knie, um den leblosen Körper zu berühren, der zu seinen Füssen liegt. Die langen, weissen Haare verkleben in einer roten Pfütze, die sich unter dem zierlichen Kopf bildet. Der Mund scheint stumm zu schreien, die toten Augen weit aufgerissen. Ein Seufzen entflieht dem Mann, der fast liebevoll die Haare der Toten streichelt. "Wir hätten es nie soweit kommen lassen dürfen. Wir hätten sie trennen sollen, solange sie noch nicht so gefährlich waren.." Sein Blick gleitet über den Boden zur Wand, wo ihn rote Augen getrübt anstarren.
 

"Serge.. ich möchte, dass er hier wegkommt. Bringt ihn irgendwo hin, wo er sicher ist. Six ist noch irgendwo hier... er wird versuchen, seinen Bruder von hier wegzubringen. Er wird ihn nicht hier zurücklassen." Serge nickt daraufhin und betritt mit zitternden Knien den Raum. "Komm her.." raunt er dem Jungen an der Wand zu, der ihm müde entgegenblickt. Serge zittert, aber er wiederholt den Befehl. Der Junge erhebt sich langsam, die weissen Haare verschmelzen mit der schneeweissen Haut. Ein Gefühl, als würde sich die Luft bewegen, durchflutet Serge, als die Gestalt auf ihn zugeht, er stlpert rückwärts aus der Tür.
 

Bedrückt sehen die roten Augen auf den toten Körper hinunter, der sein perfektes Ebenbild zu sein scheint. "Lass es Seven. Sie ist tot. Es bringt nichts mehr, also geh mit Serge." Der Mann richtet sich auf und streicht dem Jungen über den Kopf. Seven senkt den Blick und geht weiter, der weisse Körper am Boden ergraut wie ein welkes Blatt.
 

~*~
 

Auf dem Weg, wohin er mich auch immer führen mag, versuche ich Elena etwas auszuhorchen, aber sie schweigt pedantisch. "Warte, bis wir dort sind. Du würdest es nicht verstehen!" sagt sie immer wieder, aber ich drängle weiter. Wenn ich denn wenigstens wüsste, wo dieses "dort" ist? Und woher will sie wissen, dass ich nichts verstehe? .. Gut, so Unrecht hat sie nicht, ich verstehe kein bisschen.. von garnichts. Sicher ist nur, dass Elena hellsehen kann. Oder aber, die hat das mit diesem Stromausfall verbockt. Bei dem Gedanken sträuben sich mir immer noch die Nackenhaare. Ich glaube, diese Erinnerung werd ich nie wieder vergessen können. Dieses Bild.. zusammen mit dem durchdringenen Geruch verbrannten Fleisches.. ich muss den Kopf schütteln, um den Gedanken loszuwerden. Mit Elena hat alles angefangen. Diese Frau überrascht mich immer wieder. Kann hellsehen, bleibt im Angesicht eines Massentodes cool wie einst Terminator und hat zudem nicht die geringsten Skrupel, die Nöte anderer Leute auszunutzen. In einem gestohlenen Crysler Bennetton versuchen wir uns gerade über Nebenstrassen durch ein im Chaos versunkenen Moskau zurecht zu finden.
 

"Wohin fahren wir, Elena! Ich muss es wissen, wenn ich den Wagen lenken soll!" maule ich, da ich schonwieder das Lenkrad herumreissen muss. Frauen können wohl alle nicht rechtzeitig erwähnen, wenn man abbiegen soll. Elena flucht auf russisch und schenkt dem Wagen vor uns einen tödlichen Blick. "Nach Süden. Ausserhalb Moskaus, Sladis' Laboratorien." Also doch. Elena weiss ganz genau, was hier läuft. Das heisst ..
 

"Moment mal, du wolltest doch .. da wollte ich doch sowieso hin, wieso hast du denn.." Auf einmal grinst sie und sieht mich mit dem berühmten Ach-du-kleiner-naiver-Junge-weißt-du-denn-garnichts-Blick an. "Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Um was es hier geht? Was hier eigentlich los ist?" Ziege.

"Natürlich.. falls du Steinbeck meinst, darüber weiss ich bestens Bescheid" knurre ich. Ich hasse es, wenn man mich behandelt wie ein naives Kind.

"Hey, sorry! So war's nicht gemeint, ich.. wundere mich nur, dass Steinbeck dich mitgenommen hat, ohne dir alles zu erklären. Das ist eigentlich sehr fahrlässig. Du weißt nicht einmal, in welcher Gefahr du bist. Dein Köfferchen.." ihr Kopf nickt nach hinten auf den Rücksitz. "Ist noch dein kleinstes Problem, glaub mir.." Also gut. Sie hat gewonnen. "Dann erklär mir bitte endlich alles, damit ich wenigstens weiss, warum ich angeblich in Lebensgefahr bin."
 

"Alles zu seiner Zeit.. zuerst musst du wissen, dass ich nicht die bin, für die du mich hältst. Aber das dürfte dir wohl schon aufgefallen sein, nicht? Wenn du meinst, ich kann hellsehen oder gedankenlesen oder sowas, bist du garnicht so falsch. Nennen wir es eine empathische Begabung. Ich kann Gedanken nicht lesen, aber ich kann sie spüren. Wenn sie klar und kräftig sind, kann ich deshalb meine Schlüsse ziehen." Na wer sagt's denn. Ich wusste, sie ist eine Hexe. Oder sonstwas. "Du bist selbstzufrieden, nicht wahr? Weil du garnicht so unrecht hattest. Aber das Wort Hexe gefällt mir nicht so ganz.." Holla. Für diesen Augenaufschlag hätte sie einen Waffenschein benötigt. Zum Glück bin ich mit Auto fahren beschäftigt, sonst könnte ich für nichts garantieren - mein Flirt-Radar schlägt aus bis zum Anschlag. "Sieh nach vorne.." sagt sie knapp und geb mir redlichste Mühe.
 

Endlich liegt Moskau's Innenstadt hinter uns. Zwar herrscht hier ebenso Chaos wie in der City, doch es hält sich in Grenzen und das Vorankommen wird etwas leichter. "Und weiter?" Elena nickt und greift in ihre Tasche. Heraus holt sie eine Scheckkarte, zumindest sieht sie so aus, aber bei näherer Betrachtung.. "Sieh nach vorne!" meckert Elena und nimmt das Kärtchen wieder weg. Das war faszinierend.. es hat ausgesehen, als würde die Karte durchsichtig werden.
 

"Das ist meine ID. Die Daten ändern sich alle paar Stunden automatisch." erklärt sie und steckt die Karte zurück.

"Bist du sowas wie ne Agentin? Oder Spionin?" Allmählich wird das hier doch noch zu einem JamesBond-Film.

"Wenn du es so nennen willst.. eigentlich bin ich nur eine Angestellte der Emphatic World Organisation. Du hast sicher nichts von ihr gehört. Die EWO kommt zu ihrem Mitarbeitern, nicht andersrum." Ich nicke. Nach dem, was ich gesehen habe, könnte sie mir alles erzählen und ich würde es glauben. Ausser vielleicht, dass die Welt eine Matrix ist. Das fand ich doch zu lächerlich.

"Und dort sind noch mehr von deiner Sorte?.. Ja.. und warum bist du hier?" Elena's Lächeln verschwindet und sie sieht ungewohnt ernst herüber.

"Warum ich hier bin? .. Vielleicht, um eine Katastrophe zu vermeiden." Sie lehnt sich zurück und nickt zum Fenster auf ihrer Seite.

"Das, was du vorhin erlebt hast, war nur der Anfang. Ich fürchte, es war ein Unfall und es wird bei einem nicht bleiben."
 

Das ist zugegebenermaßen heavy. Also war es doch ein Anschlag. Irgendwelche Terroristen mischen Moskau auf und ich bin mitten in einem .. ja, worin eigentlich? Und das Wichtigste, warum ICH eigentlich?

"Tut mir leid, dass ich dich mit reingezogen habe.. aber ich brauche dich. Wir haben es hier nicht mit normalen Kriminellen zu tun, dafür gibt es die Polizei und Interpol und was weiss ich noch alles." Aus den Augenwinkeln beobachte ich ihr schönes Gesicht, das so ernsthaft wirkt, dass mir sofort die Lust zum Flirten vergeht. Eigentlich ist das wohl auch nicht der richtige Zeitpunkt.

"Das ist es in der Tat nicht.." murmelt Elena und allmählich werde ich wirklich sauer.

"Könntest du bitte unterlassen, dauernd meine Gedanken zu lesen?!"

"Ich sagte doch, ich "lese" keine Gedanken!"

"Dann hör auf in meinen Kopf reinzugucken!"

"Na wenn es mich auch so anschreit!"
 

Murrend lasse ich kurz den Motor aufheulen und überhole nur knapp ein anderes Auto, das mir jetzt entschieden zu langsam fährt. "Warum bist du hier? Was hast du mit diesen Terroristen zu tun?"

"Es sind keine Terroristen. Es sind Kinder. Sie haben uns gerufen.." sagt Elena leise und allmählich blicke ich nun garnicht mehr durch.

"Wie Kinder? Wie rufen? Herrgott Elena, wirf mir nicht immer nur ein paar Brocken hin!" Sie lächelt entschuldigend und reibt sich die Stirn.

"Ich werd es dir genau erklären." Wir sind auf der geraden Strecke zu Sladis' Labor und immer weniger Autos kommen uns entgegen.
 

"Vor zwanzig Jahren war Sladis im Moskauer Forschungsinstitut für Gentechnologie beschäftigt. Er war ein sehr intelligenter, eifriger Mann. Aber bald schon bemerkte man, dass Sladis unzufrieden war mit den Auflagen, die die Regierung dem Labor stellte. Die Regierung verbot jegliche Experimente mit Embrionen, auch das bis dahin noch relativ unerforschte Klonen wurde verboten, da es mehrere brisante Zwischenfälle gegeben hatte, bei denen Sladis die Verantwortung trug. Er wurde daraufhin aus dem Staatsdienst entlassen, aber schon kurze Zeit später hat er seine eigene Forschungsabteilung errichtet. Was sich aber als harmlos herausstellte, seine Labors untersuchten Pilze und Sporen, zumindest ist es das, was die Inspektoren dort festgestellt haben. Aber Sladis hat den Hauptteil seiner Arbeit seiner Leidenschaft gewidmet - den Experimenten mit Erbgut an ungeborenen Kindern, Klonen von Lebenwesen, was aber nie jemand beweisen konnte. Seine Labors wurden nie gefunden, in denen er seine Experimente durchgeführt hat. Aber seit einiger Zeit wissen wir Bescheid." Elena tippt auf ihren Kopf und ich blinzle vor Unglauben. Ja - es klingt wirklich nur noch unglaublich. Fehlt nur noch Agent Smith.
 

"Sie haben uns gerufen. Wir haben sie gespürt. Es sind Kinder, Klement! Sladis hat sein Werk vollbracht und Erbgut verändert, Menschen geklont und sie gezüchtet! Viele von ihnen sind gestorben und die, die noch übrig sind.." sie macht eine Pause und beisst sich auf die Lippe. "Weißt du, es ist schwer zu erklären. Ich weiss, es klingt unglaublich für dich, aber diese Kinder.. sie sind nicht normal. Sladis hat etwas mit ihnen angestellt, sie haben eine ungeheure emphatische Kraft, die sie nur schwer kontrollieren können." Düster blicke ich weiter vor mir auf die Strasse. Wenn Elena nicht so grässlich ernst wäre, würde ich anfangen zu lachen. Aber ich bin mir überhaupt nichts mehr sicher.

"Du meinst, dieses Massaker vorhin.. das war deren Schuld?" Elena nickt und seufzt leise. "Irgendwo in diesem Labor sind sie eingesperrt und ihre Macht wächst mit jedem Tag mehr. Und die Menschen können sie bald nicht mehr kontrollieren! Die Kinder können damit nicht umgehen, sie würden alles dem Erdboden gleichmachen, wenn man sie nicht zügeln würde!" Energisch schildert Elena die riessigen Verwüstungen, die sie anrichten könnten, wenn sie nicht unter Verschluss wären. Sie waren gefährlich, sehr sehr gefährlich. "Und an dieser Stelle kommt Professor Steinbeck ins Spiel. Und du."
 

Langsam setzt sich das Puzzle zusammen. Mein Blick fällt kurz auf den Koffer und ich ahne, was Elena meint. Steinbeck und seine bahnbrechende Droge. Die Menschen nahezu willenlos und unfähig macht, selbständig zu denken. Damit also will Sladis seine erschaffenen Monster unter Kontrolle bringen. Deshalb hat er Steinbeck eingeladen. Deshalb sitze ich hier mit Elena in einem gestohlenen Wagen und fahre in Richtung Geheimes-Forschungslabor mit gemeingefährlichen Laborratten, die gezähmt werden sollen. Was für ein Wahnsinn.
 

"Was ich nicht verstehe.. warum bist du hier? Wenn Steinbeck seine Droge einsetzt um die Kinder zu beruhigen, droht doch keine Gefahr mehr und alles ist in Butter. Wieso bist du dann hier? Sicher, das, was Sladis da treibt ist ein Riesen-Skandal und er würde für das, was er da tut, wohl mehrmals Lebenslang bekommen. Aber was geht das eure komische Organisation an?" Elena sieht mich mit einem stechenden Blick an, als ob ich gefragt hätte, warum die Sonne tagsüber scheint und nicht nachts.

"Überleg mal scharf" nesselt sie und deutet auf den schwarzen Koffer. "Was passiert, wenn diese unschuldigen Kindern mit euren Drogen vollgepumpt werden? Ich weiss genau, wie die Droge wirkt. "Dominate" so heisst sie doch? Macht sie ihre Opfer nicht willenlos, zu gehirnlosen Puppen? Weißt du, was Sladis anrichten könnte mit diesen Kindern, die so stark sind, dass sie eine Stadt wie Moskau an einem Tag in ein riessiges Chaos stürzen können? Mächtige Marionetten, die ihm auf's Wort gehorchen? Die alles tun, was dieser Verrückte ihnen befielt und nichts und niemand sie davon abhalten kann? Es geht uns etwas an, Klement! Nicht nur uns, es sollte auch dich etwas angehen! Die Kinder haben Angst davor, sie ahnen, dass sie sich bald nicht mehr widersetzen können und riefen um Hilfe. Und wir haben sie gehört und werden helfen, Klement. Du hast recht, wenn du uns vorwirfst, dass wir nicht einschreiten, nur um diesen Kindern aus einer Gefangenschaft zu retten. Sie sind gefährlich und wir sorgen dafür, dass Sladis nicht über ihre Macht verfügen kann!"
 

Sie meint das wirklich alles ernst. Aber das.. klingt einfach zu phantastisch. Das ist doch wie ein schlechter Science-Fiction. Mutanten, die die Erde ins Chaos stürzen. Und natürlich der verrückte Professor, der die Weltherrschaft an sich reissen will. Das ist doch alles so hirnrissig! Die Pinkys und der Brain... nein nein. Klar - Klonen und Genmanipulation gibt es zwar schon lange - aber warum sollte dabei etwas entstehen.. etwas so Mächtiges.. wie sie da erzählt. Dass es Emphatie geben soll, hab ich schon öfter gehört, aber ich hab damals immer darüber gelächelt. Esoterischer Firlefanz. Aber Elena sieht weder esoterisch aus, noch scheint sie verrückt zu sein. Und immerhin hab ich ihre Fähigkeit jetzt oft genug zu spüren bekommen, das kann sie nicht alles erraten haben! Trotzdem klingt das alles noch viel zu unrealistisch.
 

Und dann - ausgerechnet ich. Sowas ist doch normalerweise die Aufgabe von smarten Kerlen, die in JamesBond-Manier mit einem coolen Grinsen mal kurz die Welt retten vor dem Schlafengehen. Im Unterhemd. Und stattdessen sitze ICH jetzt hier, hungrig, müde in einem gestohlenen Wagen, eine Hexe neben mir und mitten in einem Weltuntergangsepos. Wäre ich doch nur in Deutschland geblieben, ich würde jetzt den dritten Porno ansehen mit der zehnten Dose Bier in der Hand und würde irgendwann einschlafen, morgens aufwachen und ein bisschen durch die Stadt brettern, Mädels aufreissen und nicht im Traum daran denken in einem verregneten Moskau irgendwelche Monsterkinder aus den Klauen eines durchgeknallten, grössenwahnsinnigen Doktors zu retten. Und warum bin ich dann noch hier? Elena schenkt mit einen vieldeutbaren Blick und ich denke ich weiss, wieso ich nicht einfach den Motor ausmache und zurück in die Stadt laufe.
 

"Mal angenommen, wir finden dieses Labor und die Kinder. Was machen wir mit ihnen, wenn sie so gefährlich sind? Sollen wir sie in den Kofferraum sperren und in den Himalaya fahren, wo sie nix anrichten können?" Elena kichert leise und schüttelt den Kopf.

"Blödmann. Dafür hab ich dich dabei. Wir beruhigen sie und bringen sie zur EWO, dort wird man sich dann weiter um sie kümmern." Nachdenklich sehe ich in den Rückspiegel, der Wagen fährt schon eine ganze Weile hinter uns her.. er ist mir erst jetzt aufgefallen, weil sonst niemand mehr auf der Strasse fährt, ausser uns.

"Das heisst, du willst, dass ich die Kinder mit dem Zeug da ausser Gefecht setze und dann in Seelenruhe mit ihnen durch ganz Russland fahre?" Kopfschüttelnd lächelt Elena beschwichtigend. "Nein, das verlange ich nicht. Sobald du mir geholfen hast sie da rauszuholen, werde ich dich absetzen wo du willst, am Flughafen oder wo du eben hinwillst. Den Rest schaffe ich dann auch alleine. Aber erstmal müssen wir zusehen, dass wir da reinkommen, das ist nämlich alles andere als ein Spaziergang..."
 

Endlich hat Elena unseren Verfolger auch ausgemacht und wirft einen Blick in den Rückspiegel. "Er verfolgt uns schon die ganze Zeit, was?" Ich nicke stumm. "Vielleicht ist es jemand von Sladis' Leuten. Ich sollte ja den Koffer abholen und so schnell wie möglich wieder zurückkommen, als eben.. dieser Unfall passierte." Elena nickt und greift in ihre Tasche.

"Er wird uns nichts tun, solange wir zum Forschungszentrum fahren, ohne Zweifel ist das sowieso sein Ziel. Es wird ihm gerade Recht sein, dass du auch dahin unterwegs bist. Doch irgendwann sollten wir uns dann von ihm trennen.."
 

Mein Mund klappt ungläubig auf, als ich einen Blick zu Elena werfe, die mit einem Mal eine schwarze Pistole in der Hand hat und sie fachmännisch beginnt zu laden. Ich hab so ein Teil noch nie von Nahem gesehen und allein die Vorstellung, dass da wirklich scharfe Munition drin ist, lässt meine Ohren glühen. "Elena.. du.. du willst ihn doch nicht erschiessen?!" stottere ich ungläubig. Ich habe zwar gesehen, dass sie ganz schön kaltblütig ist, aber sie wird doch niemanden wirklich töten wollen? Langsam wird mir der Ernst der Lage wirklich bewusst, das ist definitiv kein Spiel mehr, wenn neben mir eine Killerin sitzt und hinter mir ...
 

"Ich hoffe, ich brauche sie nicht.." flüstert Elena und zumindest hat es den Anschein, als behage ihr die Vorstellung auch nicht, die Waffe benutzen zu müssen. "Aber.. wenn es sein muss, werde ich mich auch verteidigen. Klement.. versteh doch, das ist zu wichtig! Viele tausend Menschen könnten sterben, wenn wir es nicht schaffen, die Kinder zu finden und ausz.. aus der Gewalt von Sladis zu befreien!" Mir war, als hörte ich sie stocken, aber der Anblick der Pistole verdrängt jegliche Gedanken, die nicht damit in Verbindung stehen. Elena würde ohne zu zögern schiessen, um ihren Auftrag auszuführen. Sie ist der James Bond, nicht ich. Sie ist der coole Held, der die Welt rettet und nicht davor zurückschreckt, deshalb über ein paar Leichen zu gehen. Ich sehe, wie Elena den Mund verzieht, auch sie scheint gequält von der Vorstellung.

"Du tust mir unrecht.. bedenke doch, was auf dem Spiel steht! Du hast gesehen, was heute abend in der Stadt passiert ist, wieviele unschuldige Menschen starben wegen dieser Kinder! Glaub mir, ich mache das nicht gern, ich wollte zuerst auch nicht nach Moskau fliegen, aber ich dachte.. ich dachte an meine Freunde und Verwandte, die überhaupt nichts damit zu tun haben und in Gefahr sind. Ich verlange auch nicht von dir, dass du schiessen musst." Sie hat recht, das weiss ich. Was ist so ein Halunke, so ein Verbrecher gegen eine ganze Stadt unschuldiger Menschen? Aber.. sie tötet. Sie wird töten, ich weiss es genau.
 

"Da.. da vorne, schau!" flüstert Elena und ich starre angestrengt in die Dunkelheit, kann aber nichts entdecken, was ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Sie deutet an mir vorbei und ich folge ihrem Arm, als ich es auch sehe. In einiger Entfernung steht neben der Strasse auf einem Hügel eine kleine Kapelle, ein grosses Kreuz überspannt das Dach und ich sehe es nur kurz, da der Lichtkegel der Scheinwerfer nur in der Kurve das Gebilde beleuchtet haben. "Fahr langsamer.. bieg rechts in den kleinen Waldweg und folg dem Pfad.. und ignorier den anderen Wagen hinter uns!" Das Gefährt holpert über den steinig-schlammigen Weg, ich fahre langsamer, damit der Unterboden womöglich nicht aufsitzt, draussen kommt ein schmatzendes, glitschendes Geräusch zustande. Die Nackenhaare stellen sich mir trotzdem, als Elena geräuschvoll das Magazin in die Pistole einschnappen lässt und ich versuche es bis auf weiteres einfach zu ignorieren. Vielleicht hat Elena Glück und sie muss sie wirklich nicht gebrauchen.
 

Der Waldweg dauert an und gabelt sich an einer Stelle, Elena deutet nach links und ich folge dem Weg, der nur noch die Ausmaße eines Trampelpfads angenommen hat. Im Stillen frage ich mich, woher Elena den Weg kennt, denn ohne zu zögern lotst sie uns durch den Wald ohne einmal nachzudenken. Und es wird immer unheimlicher. Denn mitten im Wald beginnt ein geteerter Weg, der gerade breit genug für unser Auto ist und schon folgen wir der schwarzen Bahn. "Wieso kennst du dich hier so gut aus?" frage ich schliesslich, als Elena keine Anstalten macht, mir es von sich aus zu erklären.

"Ich spüre sie.." sagt sie leise und schliesst die Augen. "Sie leiten mich zu sich, sie warten schon sehnsüchtig..." Seufzend wechsel ich den Gang und denke noch einmal darüber nach, ob Elena nicht doch etwas zu esoterisch wird. Der Wagen hinter uns folgt uns wie gehabt durch den Wald und macht keine Schwierigkeiten. Bis jetzt.
 

Ich frage mich, wo das alles enden soll. Spätestens jetzt vergeht jedem das Abenteuer, das er sich womöglich gewünscht hat. Die Situation ist so abstrus und zerrt an meinen Nerven.. dieses ganze Chaos.. ich frage mich schon, ob ich nicht irgendwann aufwache und mich über einen sehr realistischen Traum wundere, aber ich warte vergeblich auf das Aufwachen. Bin ich wirklich in Moskau zu einem geheimen Labor unterwegs? Ist das, was Elena erzählt hat, nicht alles nur Hirngespinst, das sich krass anhört? Je näher wir unserem Ziel kommen, desto nervöser werden wir beide.
 

~*~
 

Keuchend und mit klopfendem Herzen fällt ein bleiches Geschöpf mit schneeweissem Haar zu Boden und rappelt sich sofort wieder auf. Weiter. Immer weiter. Es ist dunkel und die roten Augen schauen ins Leere, versuchen etwas zu erkennen, setzen den Weg ins Ungewisse fort. Strähnig und wirr klebt das hüftlange Haar am nackten Körper, die weisse Haut wie Porzellan ist schmutzig und blutet aus unzähligen Schrammen. Die Lunge ringt keuchend nach Atem, der zierliche Körper zittert vor Kälte und Angst. 'Wo bist du, Bruder? Wohin bringen sie dich, was tun sie dir an? Ich lass dich nicht alleine, ich werde dich holen! Wo bist du, Bruder?' Die kleinen Füsse hinterlassen blutige Spuren auf dem Boden, als er weitergeht, hastig durch Staub und Kälte, durch Drähte und scharfe Kanten, die ihn leise aufstöhnen lassen vor Schmerz. Aber er geht weiter, bis er ihn gefunden hat.

[ Down so long ]

Der Weg führt scheinbar durch den ganzen Wald, aber noch immer keine Zeichen von sonstiger Zivilisation, nur eine schwarze, geteerte Strasse die eher wie ein Überbleibsel aus vergangenen Hochkulturen wirkt. Wie haben sie die Maschinen und Walzen, den ganzen Teer nur hierher gebracht? Ohne bemerkt zu werden - wenn das Labor wirklich so gemein sein soll, wie Elena gesagt hat. Meine Skepsis der Sache gegenüber bleibt, irgendwas an der Geschichte stimmt nicht und ich hoffe noch immer, dass irgendwann ein Kamerateam auf die Strasse hopst und schreit "Verstehen Sie Spass?" Natürlich warte ich vergeblich, dafür kommt etwas anderes in Sicht. Die Strasse ist zuende. Hört einfach auf, mitten in der Pampa. Kein Gebäude, nichts, der Weg dahinter geht noch ein paar Meter weiter und verläuft sich, der Wald beginnt. "Elena..?" Sie sieht dasselbe wie ich, scheint aber nicht annähernd so confused wie ich. "Elena, du siehst, dass der Weg zuende ist?" Der Wagen wird langsamer, rollt aus und kommt schliesslich kuz vor dem Fahrbahnende zum Stehen. Ein Blick in den Spiegel, der Wagen hinter uns macht plötzlich eine Kurve, verlässt den Weg und "parkt" anscheinend zwischen zwei Bäumen. Und tatsächlich. Im Scheinwerferlicht kann ich noch weiteres Metall im Dickicht aufblitzen sehen. Zugegeben, ich hätte sie nicht bemerkt, aber bei Tag mussten sie selbst dort gesehen werden. Was zum Kuckuck ist hier los, ich bin nicht so blöd, wie ich vielleicht aussehe! Aber jetzt hab ich plötzlich ganz andere Sorgen, als ein grosser Kerl von dem geparkten Auto zu uns herüberkommt. Das musste ja so kommen! Elena wirkt angespannt und beobachtet den Typ bei jedem Schritt, ihre Hand hält schon die Waffe umklammert. "Was sollen wir ihm sagen? zische ich leise und sehe ihm ebenso nervös beim Näherkommen zu. "Überlass das mir.. wenn wir Glück haben, bringt er und sogar freiwillig ins Labor!" flüstert sie und macht sich bereit, die Scheibe herunterzukurbeln.
 

Der Typ ist ein grober Klotz von einem Mann, ich glaube, dieses Kinn lässt sogar Michael Schuhmacher alt aussehen. Und den Body könnte er von Schwarzenegger persönlich geklaut haben... Ich weiss nicht wieso, aber ich habe das Gefühl in seiner Nähe wäre das Gewicht einer Pistole in der Hand wohl doch nicht so furchtbar.. Er sagt etwas auf Russisch und Elena kurbelt die Scheibe herunter. Und dann beginnen sie zu reden. Ich habe keine Ahnung worüber aber es hört sich nicht wie ein Streitgespräch an, was mich sehr beruhigt. Elena hat die Pistole noch immer in ihrer Hand, aber die Finger scheinen entspannter als vorher. Was zum Teufel erzählt sie ihm da? Er grinst jetzt sogar freundlich und zeigt eine Reihe in der Dunkelheit ungewöhnlich heller Zähne und geht einen Schritt zurück. "Alles klar!" flüstert Elena und ich kann sie Ausatmen hören. "Ich hab ihm erzählt, ich sei deine neue Freundin. Dein Gesicht kennt er, er sollte dich hierher abholen." Nickend grabbe ich nach dem Koffer. "Und das hat er geschluckt? Nicht, dass wir nachher in Schwierigkeiten geraten!" Elena grinst. "Schwierigkeiten werden wir glaube ich frühstens haben, wenn Sladis bemerkt, was wir wirklich vorhaben! Noch weiss er nicht, dass wir nicht wegen diesem Zeug hier hergekommen sind!" Sie tippt auf den Koffer und steckt in derselben Bewegung die Pistole in den Hosenbund und lässt ihre Weste darüberhängen. Wieder mal muss ich ihre berechnende Art bewundern - und natürlich ihre Erklärung bezweifeln, dass dies ihr erster "Auftrag" sei. Sie ist schon viel zu professionell. Und abgestumpft.
 

Immer noch argwöhnisch steige ich aus, es nieselt hier nur leicht, um uns herum ist vor Dunkelheit fast nichts zu erkennen ausser raschelnde Bäume und dem schwarzen Weg, der wie eine kerzengerade Schnur durch den Wald zieht. Vor uns jedoch Wald. Der Typ beobachtet uns aus Distanz, scheint auf uns zu warten. "Folgt mirr!" Seine tiefe, dunkle Stimme passt zu seinem Aussehen und mir schaudert es. Ich mit dem Koffer, Elena mit ihrer Tasche stapfen wir also diesem Riesen hinterher, der geradewegs in den Wald hineingeht. Der Boden ist aufgeweicht und matschig, meine schönen Schuhe kann ich nach der Aktion ohne weitere Umwege sofort in den Restmüll verfrachten. Zum Glück dauert der Marsch nicht lang, hätte mich auch gewundert. Der Russe bleibt stehen und wartet, bis wir aufgeholt haben, dann geht er auf eine Nadelbaumgrupe zu und biegt einen Ast zur Seite. Neugierig versuche ich hineinzuspähen, aber im Inneren ist es viel zu dunkel. Elena geht zögernd vor und passt tatsächlich auch auf, bei ihrem Vordringen in den Baum, mit keine Zweige ins Gesicht schnalzen zu lassen. Zwischen den Bäumen ist ein kleiner, lichter Platz, vielleicht 2x2 Meter gross, wo wir stehenbleiben. Der Russe geht ohne zu Zögern in die Knie, fuschelt am Boden herum und gleich darauf kommt ein schwarzes Loch zum Vorschein. Der Anblick jagt mit kalte Schauer über den Rücken. "Da runter??" frage ich entgeistert, das Loch ist gerade mal so gross wie ein Kanalschacht und mindestens genauso dreckig! "Na mach schon.." knurrt Elena und tritt mir gegen die Sohlen. Doofe Ziege. Das ist so ekelhaft! Widerstrebend lass ich mich auf den Boden und tauch mit einem Fuss in die Dunkelheit, schon felsenfest sicher, dass gleich etwas dran ziehen wird, aber nichts. Mein Fuss tastet eine Stufe und vorsichtig kletter ich weiter nach unten, was mit einem Aktenkoffer in der Hand garnicht so einfach ist. Und wenn die Nacht draussen schon schwarz war, so ist es jetzt Dunkelschwarz hier unten. Ich kann rein garnichts mehr sehen ausser dem hellen Loch weiter oben, das jetzt noch von Elena verdeckt wird, die hinter mir die Stufen hinunterklettert. Keine Ahnung, wie tief dieses Loch ist. Allerdings hab ich auch nicht Lust, einfach loszulassen und es herauszufinden.
 

Ich schätze mal, es waren etwa zehn, zwölf Meter, die wir in die Tiefe hinuntergestiegen sind. Alles immer noch pechschwarz, ich will garnicht wissen, in wieviele Spinnen, Ratten, Kakerlaken und sonstigem Viechzeugs ich reingelangt hab, vielleicht ist es doch Glück, dass ich hier nichts sehen kann. Irgendwann berühren meine Füsse dann doch den Boden und das Geräusch, das zurückgeworfen wird sagt mir, dass das Loch in einer grösseren Höhle gemündet hat. Angewidert wische ich meine Handflächen an der Jacke ab und nehme mir vor, nachher einfach nicht draufzugucken. Währenddessen sind Elena und der Russe auch hier unten angekommen und das plötzliche Licht blendet mich, obwohl es nur schwach gelblich ist und über uns etwas flackernd an der Decke baumelt. Erstaunt sehe ich mich um - eine fast leere Halle, die Wände schätzungsweise aus Beton wie auch die Decke und der Boden. Die Decke ist niedrig, der Russe kann gerade mal so stehen ohne den Kopf einziehen zu müssen. Ohne es zu bemerken, bin ich vorhin von den Stufen herein durch eine Tür gelaufen, die ebenfalls aus Beton und über zehn Zentimeter dick sein muss. Das erste was mir hierzu einfällt - wir sind in einem Luftschutzbunker. Ein paar alte Holzkisten stapeln sich im hinteren Teil des Raums und auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Tür, auf die unser Begleiter gerade zusteuert.
 

Und ab hier ist alles wie in einem Science-Fiction-Roman. Die Tür geht auf und grelles Licht empfängt uns mit mehreren Leuchtstoffröhren, weisse Wände, frisch gestrichen, weisse Decke, Linoleumboden. Eine weitere Tür und ich fühle mich wie in einem Krankenhaus. Ewig lange Gänge mit unzähligen Türen, Schwingtüren mit Glasfenstern hinter denen neuen Gänge abzweigen. Es ist kühl aber im Gegensatz zu draussen auf jeden Fall beheizt, Wandtafeln mit Russischen Buchstaben und einem Gewirr aus Zahlen und Pfeilen sollen wohl Auskunft über Abteilungen geben, aber unseren Führer lassen sie kalt, er geht gewissenhaft voraus. Scheinbar weiss er, wo wir hinmüssen. Das ist also das Labor. Zehn Meter unter einem Wald in einer verlassenen Gegend - eigentlich perfekt. Aber genauso blöd, denn an einem solchen Ort würde man doch wohl am ehesten ein Geheimlabor vermuten. Zumindest, wenn man schon einmal im Leben einen James Bond gesehen hat. Ich werfe Elena einen vielsagenden Blick zu, aber sie scheint ziemlich aufgeregt zu sein, sie ist nämlich auffallend still. Vielleicht sollte ich demnächst auch ein mulmiges Gefühl bekommen. Aber irgendwie fühle ich mich nicht sonderlich bedroht... es ist eher, als hätte hier die Aufregung ein Ende gefunden.. Vielleicht fühlt man sich in der Tat in einem vertrauten Gemäuer wohler als irgendwo nachts in der Wildnis. Oder aber..
 

~*~
 

"Was soll das heissen, er ist weg?! Er kann nicht weg sein, verflucht!! Sucht ihn gefälligst, er kann hier nicht raus!" bellt der Mann im weissen Kittel eine Schar Männer an, die schuldbewusst zusammenzucken. "Er lässt sich nicht aufspüren, Sir.. Er.. ist wahrscheinlich hinter den Wänden.." kommt es unsicher aus dem Knäuel und der Doc dreht den Kopf zum Sprecher. "Hinter den Wänden? Wie zum Teufel soll er da hin gekommen sein?! Aber gut - dann sucht ihn dort weiter, mir egal, wie ihr das anstellt! Und denkt daran - Six darf nichts passieren!" Er deutet auf einen Bildschirm neben sich. "Besonders hier! Er wird irgendwie versuchen, seinen Bruder zu befreien, also wird er früher oder später dort auftauchen. Aber je früher desto besser, einen weiteren Unfall können wir uns nicht leisten!" Die Männer rumoren und verschwinden aus dem Zimmer. Der Doc glättet sich nervös die Haare und tippt auf den Bildschirm. Ein Bild springt auf die Mattscheibe und zeigt ein Zimmer mit mattem, violetten Licht. Ein einzelnes Bett steht darin, eine jugendliche Gestalt mit weissem Haar sitzt darauf und starrt in die Leere. "Wenigstens bist du geblieben. Nicht auszudenken... Aber keine Angst, wir finden deinen Bruder schnell wieder."
 

***
 

'Kannst du mich hören?' Der Kopf nickt leicht. 'Sieh nicht hin. Ich bin hinter dir. In der Wand. Lass uns weglaufen!' Keine Antwort. 'Seven! Bitte!!' Der Junge schüttelt den Kopf. 'Ich werde ihnen sagen, dass du hier bist. Sie suchen dich. Wieso läufst du weg?' Verzweifelt lehnt er sich gegen die Wand. 'Verrate mich nicht! Bitte Seven, du musst mitkommen, ich kann dich hier nicht alleine zurücklassen! Du hast gesehen, was sie mit ihr gemacht haben! Ich will das nicht!' Die Stimme schwillt zornig in seinem Kopf. 'Ja.. das wäre nicht passiert, wenn du sie nicht überredet hättest, dir zu helfen! Ausbrechen wolltest du und hast sie ausgenutzt um zu fliehen und deshalb musste sie sterben!' Der Junge hinter der Wand stockt und starrt gegen den kalten Beton. 'Nein.. das ist nicht wahr! Ich wollte, dass wir alle von hier fliehen! Warum bist du nicht mitgekommen, wir könnten frei sein!' Der Junge auf dem Bett verzieht die Lippen zu einem dünnen Lächeln. 'Wir sind niemals frei, Six. Wir sind zu gefährlich.. Komm wieder, hier sind wir sicher. Ich vermisse dich, Bruder..' Six beisst sich auf die Lippen. 'Ich vermisse dich auch.. deshalb bin ich hier - um dich mitzunehmen! Du darfst nicht hierbleiben, sie nutzen dich aus! Ich habe gehört, was sie vorhaben, sie machen Puppen aus uns und..' Seven fällt ihm ins Wort. 'Wir sind von je her Puppen, Six.' sagt er sanft. 'Sie haben uns gemacht und können machen mit uns, was ihnen beliebt.' Six bebt vor Zorn. 'Mit mir nicht! Ich werde das nicht mitmachen!' Seven blickte an die Decke. 'Dann geh' flüstert er leise in Gedanken. 'Ich wünsche dir viel Glück.' Unbewegt verharrt der Junge hinter der Wand und sieht auf seine aufgerissenen Hände. 'Nicht ohne dich.. du bist der Einzige, den ich noch habe..' Seven lächelt. 'Dann komm zurück.' Six nickt. 'Irgendwann. Irgendwann komme ich zurück und hole dich hier raus.. ob du willst oder nicht!' Six dreht sich in dem engen Zwischenraum und tastet sich zurück, der Gang wird breiter und er beginnt wieder zu laufen.
 

***
 

Steinbeck. Da vorn steht er in voller Grösse und redet eifrig mit einem Typen im weissen Kittel. Ich bin erleichtert ihn zu sehen, Steinbeck ist in diesem Moment wohl die angenehmste Überraschung für mich, ein ruhender Pol, der wieder etwas Normalität in dieses ganze Chaos zu bringen vermag. "Professor!" Steinbeck dreht sich um und blickt mich sonderbar an - oder ist es eher Elena, die er anstarrt wie einen Geist? Ein Blick auf Elena und die Situation wird schon wieder grotesk, denn sie grinst. "So sehen wir uns wieder, Professor.." Steinbeck dreht sich vollends zu uns um und sein Gesicht wird rot. "Sie!! Ich wusste doch, dass ich Sie kannte! Ihr Vater hat mir alles über Sie erzählt!" Ich habe Steinbeck noch nie so zornig gesehen, er sieht aus, als wollte er jeden Moment auf Elena losgehen. Ich verstehe wie immer überhaupt nichts, woher kennen sie sich und was hat Steinbeck über Elena erfahren? "Das ist bedauerlich!" erklärt sie kühl und entsichert ihre Pistole, die sie aus dem Hosenbund gezaubert hat. Augenblicklich wird mir furchtbar heiss und ich starre sie entgeistert an. "W-Was soll das?! Du willst ihn doch nicht etwa..!?" Elena fuchtelt mit dem Lauf in die Richtung des Professors, der kalkweiss zur Seite weicht. "Wenn er tut, was man ihm sagt, dann sehe ich keinen Grund, ihm wehzutun!" zischt sie und hält nun auch den Russen in Schach, der uns hergeführt hat. Der ist mindestens genauso überrumpelt und sieht abwechselnd verdattert Elena und die Pistole an. "Vorwärts!" befiehlt sie und der Ton ihrer Stimme lässt mit die Arterien vereisen. "Zu den Kindern - und wer auch nur einen Mucks macht, hat eine Kugel in den Schulterblättern!"
 

So war das gewiss nicht geplant. Ich bin total von der Rolle, mal davon abgesehen, dass ich schon garnichts mehr verstehe. Elena bedroht den Professor, der sie anscheinend schon einmal kennengelernt hat und furchtbar wütend auf sie ist und Elena tut so, als wäre ich Luft. Was mir relativ recht ist, nicht, dass ich Angst hätte, dass sie aus Lust und Laune auch mal die Pistole auf mich richten könnte. Aber Elena ist wie ausgewechselt, nicht mehr die toughe Süsse, die man anflirten kann, sondern so ne TombRaider-Braut und auf sowas steh ich nun wirklich nicht. So folge ich Elena still und stumm mit dem Koffer und hoffe, dass das alles bald vorbei ist... denn jetzt kommt sogar noch Geiselnahme dazu.
 

"Das ist Wahnsinn, was Sie vorhaben!" zetert Steinbeck, erntet aber kein bisschen Beachtung von Elena. "Sie sind grössenwahnsinnig, Sie können sie niemals kontrollieren!" Elena zischt drohend und Steinbeck wird still, führt sie weiter durch die Gänge. "Sladis wird das niemals zulassen.. ihr habt keine Chance hier rauszukommen!" fängt er schonwieder an und wirft einen Blick nach hinten. "Und Sie, Herr Richter! Ich hätte niemals vermutet, dass ausgerechnet Sie mich verraten!" Blinzelnd starre ich auf seinen Hinterkopf und im ersten Augenblick fehlen mir die Worte. Verraten? Ich? Ich mache gar-nichts! Nun gut, ich habe Elena geholfen herzukommen, aber das hätte sie zweifelsohne auch ohne meine Hilfe geschafft. Und ausserdem, was heisst denn hier verraten, Steinbeck konnte ja nicht wirklich vorhaben, Sladis bei seinen verrückten Plänen zu unterstützen - das wäre mal eine interessante Variante von Verrat an der Menschheit selbst. So gesehen sollte Steinbeck froh sein, dass Elena ihm einen Strich durch die Rechnung macht.
 

Steinbeck öffnet eine Tür und eine Art Kontrollraum liegt dahinter, verschiedene Monitore sind in die Wand eingelassen, an den Schalttafeln blinken oder leuchten irgendwelche Lampen und winzige Dioden. Einige Platten der Wand sind herausgenommen und dahinter spriesen Unmengen von Kabeln und technisches Krimskrams hervor. Wie in diesem einen Film, ich kann mich noch gut erinnern, war das nicht ein Raumschiff, aus dessen Wänden tausend Schläuche und Kabel gequollen sind? Während ich mir noch Gedanken mache (kurios, wenn man bedenkt, in welcher Situation wir uns gerade befinden, ich weiss!), tritt Elena weiter in den Raum und sucht mit den Augen die Monitore ab. "Da ist es!" ruft sie plötzlich aufgeregt und starrt auf einen Bildschirm, der in einem rötlichen Licht ein Zimmer zeigt, lediglich mit einem Bett und einem Nachttisch ausgestattet. Und einem jungen Mädchen mit langen, hellen Haaren, das auf der Matratze sitzt. Neugierig werfe ich einen genaueren Blick auf den Monitor, aber das Kind bleibt unbewegt. Und DAS soll ein Mutant sein? So ein kleines, zerbrechliches Ding?
 

"Wo sind die anderen?" keift Elena so dicht neben mir, dass ich erschrocken zusammenzucke. Solche Umgangsformen bin ich nun wirklich nicht gewohnt und Steinbeck ebenso, deshalb ist er im ersten Moment mehr entrüstet als eingeschüchtert.
 

"Die anderen sind weg, Elena.." nässelt es von der Seite und ich erkenne diese quietschige, nervige Stimme. Es ist Sladis. Na bravo, das wird wohl jetzt ein Theater geben. Furie gegen Killerwiesel. Und sofort zuckt ihre Waffe in Sladis' Richtung. Wenn ich ganz ehrlich bin, macht mir diese Geste nicht sehr viel aus, ganz im Gegenteil. "Was heisst weg, wo sind die anderen beiden!" verlangt Elena und hält die Pistole noch immer im Anschlag. Aber seltsamerweise ist Sladis überhaupt nicht der Prototyp des bedrohten Opfers. Anstatt erschrocken die Hände zu heben - lächelt dieses Wiesel auf seine glitschige Art und Weise und schüttelt bedauernd den Kopf. "Elena, Elena.. du hast dich nicht verändert. Zugegeben, ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich deine Waffen gegen mich richten würdest. Verhält sich so eine brave Tochter?"
 

Tochter? TOCHTER?

Man stelle sich lebhaft vor, wie mir in diesem Augenblick die Kinnlade runterfällt. Elena ist Sladis' Tochter? Wieso das denn? Was macht sie da nur? Entgeistert starre ich dieses unheimliche Weibstück an, das mich so hinters Licht geführt hat. Elena lächelt schief und wirft mir nur kurz ein entschuldigendes Grinsen zu. Dann ist sie wieder bei ihrem Vater und das Lächeln gefriert. "Pah. Brave Tochter! Versuch du lieber, ein gutes Vorbild als Vater abzugeben und sag endlich, wo die restlichen zwei Kinder abgeblieben sind! Du kennst mich und weißt, dass ich keine leeren Drohungen von mir gebe!" Sladis seufzt und deutet auf Steinbeck. "Dann lass ihn los. Anschliessend sage ich dir, was mit den anderen beiden los ist!" Aber Elena schüttelt nur den Kopf. "So läuft das nicht! Raus mit der Sprache oder..!"
 

Ein Knistern erschallt plötzlich so laut über uns aus einem Lautsprecher, dass alle gleichermaßen zusammenzucken. Eine Stimme wie aus Blech ertönt und faselt etwas von irgendwelchen Sektoren die Spuren von Antimarith enhalten, die jetzt geprüft werden sollen. Das wird ja immer konfuser! Antimarith ist eine Form der Null-Materie, die so selten auftritt, dass sie die Wissenschaft um so mehr interessiert. In den Vorträgen während meinem Garutristik-Studium habe ich einiges darüber erfahren, obwohl dieser Zustand weitgehend unerforscht ist, da er erst vor wenigen Jahren entdeckt worden ist. Hier soll es Antimarith geben?! Eine Neutronenverkettung, die so dicht geballt ist, dass sie fast nur aus purer Energie zu bestehen scheint. Nun, entweder mein Professor hat sich gründlichst verplappert, als er sagte, dass Antimarith auf der Erde nur im Erdkern und in seltenen Fällen tief unter Ozeanen ausgemacht werden kann - oder hier steht mir eine Sensation vor Augen!
 

Aber weder Steinbeck noch Sladis schockiert diese Meldung grossartig, sie scheinen lediglich noch nervöser geworden zu sein. Wieder einmal kann ich nicht leugnen, dass ich mir vorkomme wie der letzte Trottel. Alle scheinen Bescheid zu wissen, ausser ich. Elena ist unbeeindruckt und hält die Waffe weiter auf ihren Vater gerichtet. "Was soll das?" ruft sie aufgebracht, aber jetzt kann ich doch einen Hauch Unsicherheit in ihrer Stimme heraushören. Sladis zuckt mit den Schultern und seufzt genervt. "Hörst du doch! Six ist auf der Flucht, er ist irgendwo hier und versteckt sich!" Elena's Gesichtsausdruck wird immer härter. "Und wo ist das dritte Kind?! Es waren drei! Wo ist das letzte!" Diesmal schaltet sich Steinbeck ein. "Es ist tot." ..
 

Bitte? "Steinbeck hat recht! Einer meiner Männer musste sie ausschalten, sonst hätte sie uns alle, die ganze Stadt vernichtet!"
 

Also war dieses Desaster in Moskau wirklich von diesem einen Kind ausgegangen? Ungläubig sehe ich noch einmal auf den Monitor, in dem noch immer das Mädchen sitzt, völlig regungslos. Wie soll das gehen?! Wie soll so ein kleines Mädchen soviel Schaden anrichten können? Es schaudert mich, wenn ich mir vorstelle, dass so ein unschuldig aussehendes Geschöpf solch eine Zerstörung fabriziert hat und dafür getötet wurde. Was wäre geschehen, wenn man sie nicht vorher ausgeschaltet hätte? Wären die Folgen noch viel schlimmer gewesen? Aber nein, das kann ich einfach nicht glauben, dass dieses Mädel so gefährlich sein soll! Meine Güte, es ist doch nur ein Kind! Allerdings scheinen alle hier grossen Respekt vor dessen Kräften zu haben..
 

Elena bleibt still, ich kann es förmlich in ihrem Kopf arbeiten sehen. "Elena.. Beruhige dich erst mal und lass es dir erklären!" versucht nun Sladis, in versöhnlicher Stimme sie zu beschwichtigen. "Steinbeck ist extra aus Deutschland hergeflogen, um uns ein neues Mittel zu besorgen, wie wir die Kinder unter Kontrolle halten können! Dann sind sie keine Gefahr mehr und sowas wie heute abend passiert nicht wieder!" Elena lächelt humorlos und schüttelt leise den Kopf. "Darauf gibt es keinerlei Garantie! Ich habe mir euere kleine Wunderdroge angesehen" erklärt sie zu Steinbeck gewandt etwas schnippisch. "Dominate, wie ihr sie genannt habt, ja? Nun, wenn ich daran denke, dass dieses unscheinbare Pulver aus gefährlichen Kindern willenlose Superwaffen macht, dann erscheint mir das, was ich vorhabe durchaus gnädiger für die Welt, um sie zu schützen!" Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mal wieder etwas falsch verstehe. Elena will diese Kinder mit über die Grenze schmuggeln, an einen Ort bringen, an dem sie ungestört leben können. Das hat sie zumindest erzählt. Aber allmählich glaube ich, dass ich Elena jetzt gut genug kenne, um zu wissen, dass wohl das meiste nicht wahr ist, was aus ihrem Mund kommt. Für wen arbeitet Elena wirklich? Was bringt sie so weit, selbst gegen ihren eigenen Vater die Waffe zu erheben?
 

"Los! Ich will es sehen!" ruft sie plötzlich scharf und wackelt ungeduldig mit der Pistole. "Das,.. kann ich nicht zulassen, das weißt du, Elena!" bemerkt Sladis und das spöttische Lächeln ist nun vollkommen aus seinem Killerwieselgesicht verschwunden. Und plötzlich kracht ein donnernder Schuss aus der Pistole - nur wenige Zentimeter neben Sladis in die Metallwand, die Funken schlägt. Sie.. hat tatsächlich geschossen! Sie hätte ihn treffen können! Mit angehaltenem Atem starre ich diese Frau an, die so ausgewechselt ist, dass ich sie nicht mehr wiedererkenne. Sladis ist kreidebleich geworden und an seinen Schweisstropfen, die auf seiner Stirn glänzen, kann ich seine Angst sehen. Elena meint es ernst. Sie wagt es tatsächlich, auf den eigenen Vater zu feuern! "Ich sagte doch, ich mache keine leeren Drohungen!"

[ Still standing ]

Ein paar Minuten später stehen wir vor einer Tür ganz aus Metall. Ein schweres Eisenrad wird von Sladis gedreht und als die Tür aufschwingt, bemerke ich, dass sie doppelt so dick sein muss wie eine Tresorwand in Fort Knox. Nicht, dass ich diesen Tresor schonmal gesehen hätte, aber man stellt sich sowas doch schon mal ziemlich massiv vor. Jedenfalls, dahinter ist ein kurzer Gang, der in rötliches Licht getaucht ist. Zögernd steigen Sladis, Steinbeck und Elena vor mir durch die Tür und ich folge mit einem ziemlich mulmigen Gefühl. Das Licht ist schwummrig und macht mich irgendwie.. schläfrig. Ich sehe den anderen an, dass es ihnen ebenso geht, immer heftiger ist dieses dösige Gefühl, je näher wir den drei Türen kommen, die vor uns liegen. In die Müdigkeit mischt sich aber ganz allmählich eine andere Empfindung. Als.. als würde etwas durch meine Ohren durch den Kopf spuken, wie ein Gewissen, das leise flüsternd Dinge fragt, die völlig belanglos sind. Wieso schmeckt die Luft so leise? Warum kann ich nicht auf Haarspitzen schwimmen? Kann ich dich etwas Blaues fragen? Langsam aber sicher machen mich diese Fragen ganz durcheinander, ich weiss nicht, woher sie kommen und was sie erwarten, sie fragen einfach weiter ganz leise wie ein schlafendes Kind, das im Traum wandelt. Sladis ganz an der Spitze schüttelt den Kopf, als wolle er die Stimme aus seinem Kopf verbannen und bleibt vor der rechten Tür stehen. Wie hypnotisiert kommt Elena näher und bleibt neben ihrem Vater stehen, die Pistole nicht mehr auf ihn gerichtet, aber er tut nichts dagegen, ihr sie abzunehmen oder sonstiges. Auch Steinbeck sieht durch das grosse Türfenster und auf seinem Gesicht ist ein entspannter, fast glücklicher Ausdruck. Elena senkt träumerisch die Lider und lächelt sinnlich durch die Scheibe. Endlich bin ich auch bei ihnen angelangt und recke neugierig den Kopf, um auch einen Blick zu erhaschen.
 

Das junge Mädchen mit dem langen, weissen Haar, das rosa im roten Licht schimmert, sitzt noch immer auf dem Bett, ohne sich bisher bewegt zu haben. Und sie.. ist schön. Sie ist wunderschön.. nie im Leben habe ich etwas Schöneres gesehen, wie dieses sitzende Mädchen, das gedankenverloren an die Wand schaut, nicht in unsere Richtung. Diese bleiche Haut, die feinen Finger und Hände, die weichen, endlosen Haare, die wie Silberfäden über den schmalen Rücken gleiten wie Erdbeermilch. Ich kann meine Augen nicht mehr von der Gestalt wenden, es ist wie ein Bann. Ich kann nur noch sehen, wie.. oh wie schön sie ist. Wie wunderbar dieses Wesen sein muss. Diese Wärme, diese Liebe.. Alles in mir fühlt sich leicht und voller Glück. Steinbeck seufzt leise neben mir und ich muss weiter lächeln. Ja.. wie könnte man dieses Geschöpf nicht lieben? Ich spüre es, den Menschen neben mir geht es ganz genauso. Aber sie sind bedeutungslos geworden. Alles ist bedeutungslos. Ausser dieser Gestalt. Welch ein Glück, in meinem Leben so etwas Wundervolles sehen zu dürfen. Und wir stehen nur da und bewundern dieses himmlische Wesen mit den roten Augen, so träumerisch, so lieblich und sanft, wie sie blicken. Wie ein Engel persönlich, der seine Schwingen um uns legt, weich und warm, schützend und so voller Güte. Und mich niemals wieder alleine lässt. Und jegliches Bedürfnis verlässt mich, jeder Wunsch verpufft zu einem Nichts. Nur hierbleiben und dieses göttliche Wesen anzuschauen. Bis in alle Ewigkeit..
 

~*~
 

Wie lange wir so dagestanden hatten, weiss ich nicht, aber es muss sicher eine ganze Weile gewesen sein. Ich musste husten und es entwickelte sich zu einem Hustkrampf, bis meine Augen feucht wurden und als ich dann die Augen wieder öffnen konnte, waren alle aus der Trance erwacht.
 

Inzwischen stehen wir in diesem seltsamen kleinen Zimmer und ich kann das Kind jetzt von Nahem sehen, ohne diesen übermächtigen Drang, es von Herzen lieben zu wollen. Der Zauber ist verschwunden. Elena ist wie ich ebenso irritiert, auch Steinbeck scheint etwas fassungslos zu sein, ausser Sladis, der wohl diese seltsame Begebenheit schon einmal erlebt hat. Das Kind - ich sehe jetzt, dass es erstens kein Mädchen, wie ich angenommen hatte, sondern ein Junge ist und zweitens, das "Kind" schon gute 14-15 Jahre alt sein müsste - sitzt noch immer unbewegt auf dem Bett und scheint uns garnicht zu registrieren. Weder folgt es dem Gespräch, noch blinzelt es ein einziges Mal. Der Junge ist unbekleidet und stört sich anscheinend nicht daran, dass ihn alle anstarren. Erst, als Elena ihre Waffe entsichert (was jeden hier im Raum erschreckt, nicht nur mich!), dreht der Junge seinen Kopf und sieht Elena mit seinen roten Augen an, die noch immer so sanft und verträumt aussehen.. aber auf eine beunruhigende Art auch durchdringend, als könnten sie direkt in die Seele blicken. Unheimlich! Erst jetzt komme ich dazu, mich überhaupt zu wundern! Diese helle, fast durchscheinende Haut, die schneeweissen Haare und dann die roten Augen. Ein Albino.. ich hätte nicht gedacht, dass ich wirklich einmal so einen Menschen mit eigenen Augen sehe! Ich hatte mir immer versucht vorzustellen, wie so ein Mensch aussehen würde.. so ganz weiss mit roten Augen. Ist mir damals vorgekommen wie ein Monster. Natürlich sieht der Junge nicht normal aus, aber es ist auch nicht hässlich. Die roten Augen irritieren und irgendwie ist es schon gruselig. Aber hässlich ist er nicht, im Gegenteil. Aber.. wie hat er das angestellt? Was war das vorhin? Was hat er mit uns gemacht, dass wir alle so fasziniert waren von seiner Gestalt? Ich bin sicher, dass es wirklich etwas mit diesen merkwürdigen Kräften zu tun hat, die Elena erwähnt hatte.
 

Und jetzt sind wir hier. Und dieser Junge sieht uns an, völlig ohne Angst, als wäre es selbstverständlich, dass so viele Menschen um ihn herumstehen und zudem noch eine geladene Waffe auf ihn gerichtet wird. Moment... wieso auf den Jungen? Ich sehe zu Elena und vor Unglauben steht mir der Mund offen. Elena zielt genau auf die Stirn des Jungen und ich sehe, wie ihr Arm zittert dabei. Was ist denn jetzt los?!
 

"Elena! Das wirst du nicht tun! Du wirst ihn hier lassen, unter unserer Aufsicht! Verdammt Elena!" schreit Sladis, als er sich bewusst wird, was Elena vorhat. Wieso tut sie das? "Elena! Tun sie das nicht, sie sind ja wahnsinnig!!" ruft jetzt auch Steinbeck und ich verstehe jetzt nur noch eines: Elena wird diesen Jungen töten. Sie wird ihn nicht kidnappen und über die Grenze bringen, wo er irgendwo in Frieden leben kann. Sie wird ihn hier und jetzt und auf der Stelle töten.
 

"Es tut mir leid!" flüstert sie mit zitternder Stimme. Der Junge blickt sie an, mit seinen blutroten, sanften Augen in denen kein Funken Angst steht. Ob er sie überhaupt versteht? "Du bist zu gefährlich für diese Welt! Wenn ich es jetzt nicht tue, wird dich irgendwann keiner mehr aufhalten können!" Nein, das ist nicht ihr Ernst! "Elena! Was zum Teufel machst du da, du kannst dieses unschuldige Kind doch nicht umbringen! Du wolltest ihnen helfen! Verdammt, nimm die Waffe runter!" schreie ich zu meinem eigenen Erstaunen, aber die Vorstellung, dass Elena dieses hilflose, sanfte Wesen einfach aus der Welt tilgt, bereitet mir fast schon körperliche Schmerzen - das kann sie nicht tun!
 

Und Elena zittert, ich kann sehen, wie sie mit sich kämpft. Sie hat einen Auftrag, aber ihr Gewissen bestreitet eine Schlacht, und gewinnt an Stärke. "Ich.. ich muss.." stammelt sie, aber in ihren Augen sammeln sich Tränen. Sie kann es nicht! Sie kann es nicht tun! schreit es in mir und langsam lässt sie die Arme sinken. Die Anspannung fällt von mir wie ein Zentner Blei und ich sehe Elenas leidendes Gesicht, und dann wandert mein Blick und trifft auf die naiven, roten Augen, die sie immernoch ansehen. Und ein plötzliches Lächeln auf dem ausdruckslosen Gesicht des schneeweissen Jungen. 'Viel Glück, mein Bruder..'
 

Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich, wie der Junge langsam die Augen schliesst und im selben Moment Elenas Arme wieder in die Höhe schnellen, bis sie wieder auf die Stirn des Jungen zielen, ich sehe Elenas entsetzen Gesichtsausdruck, als ihre Finger nicht mehr ihrem Willen gehorchen, ich sehe Steinbeck und Sladis, die in verzweifeltem Horror nach vorne stürzen um sie aufzuhalten - wie in Zeitlupe. Und dann geht alles viel zu schnell. Ein Knall. Und dann ist es still. Schrecklich still. Meine Brust schmerzt, als hätte ich mir selbst ein Messer hineingebohrt.
 

~*~
 

Mit einem heiseren Keuchen knickt der Junge in die Knie und fasst sich mit zitternden Händen an den Kopf. Die Augen vor Panik aufgerissen steht der Atem still, das Herz stockt einen Moment. Als es wieder zu schlagen beginnt, reisst jeder Pulsschlag eine tiefe, grauenhafte Wunde in den schmalen Brustkorb. "Nein.. nein.." haucht er ungläubig gegen den dunklen Boden und fühlt, wie warmes Blut aus seiner Haut quillt, über die Stirn rollt und von der Augenbraue tropft. Sein bleicher Körper zittert und bricht vollends zusammen. Lautlos benetzt sich der Boden mit heissen Tränen. Die Arme um den Kopf geschlungen versucht er es aufzuhalten, doch wie Dampf gleitet es einfach durch seine Finger, raubt einen Teil seiner Seele und verschwindet im Nichts. Der Junge bleibt liegen und gibt diesen Teil auf.
 

~*~
 

Das erste, was ich wahrnehme, ist ein Schreien. Dann ein tiefes, langgezogenes Brummen und gleich darauf bebt die Erde. Der tote Junge auf dem Bett bewegt sich nicht mehr, sein leerer Blick hängt an der Decke, das Gesicht vom Blut zu einer grauenhaften Maske entstellt. Sladis schreit etwas, aber es geht unter in einem unbeschreiblichen Lärm, der von einer Sekunde zur nächsten anbricht. Die Luft vibriert und meine Ohren klappen zu, als würde der Luftdruck stetig zunehmen. Das Zimmer wird nun so heftig erschüttert, dass der Tisch polternd umfällt, ein Grollen und unendlich tiefes Brüllen rollt sich durch die Gänge, wie ein uraltes, gigantisches Ungeheuer, das seinen Zorn in die Welt hinausschreit. Die Leiche des Jungen rutscht zu Boden, Steinbeck fällt ebenfalls, nur Sladis, Elena und mir gelingt es noch stehen zu bleiben, was aber alles andere als einfach ist. Wie ein Erdbeben, dessen Epizentrum genau unter uns liegt, wackeln die Wände, bekommen Risse, der Druck nimmt weiter zu und mein Kopf fühlt sich an als wolle er bersten! Ein ohrenbetäubendes Donnern prallt in das kleine Zimmer, die rote Lampe an der Decke zerplatzt und es ist stockdunkel. Überall mischen sich Schreie von Menschen zwischen die wütenden Brüller dieses Erdbebens, die wie Paukenschläge in die Gänge einfallen. Überall herrscht jetzt Nacht, nichts mehr ist zu sehen, aber ich kann hören, wie sich Stahlplatten verbiegen, geschweißte Titanium-Bahnen quietschend an den Nähten zerren, Betonwände mit einem grauenhaften Krachen Risse bekommen. Von der Decke regnet es Staub und kleine Trümmer, die mit jeder Sekunde grösser werden.
 

Ich bemühe mich, so laut es nur geht nach Elena zu schreien, aber das übermächtige Rumpeln ist so unbeschreiblich betäubend, dass schon der Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Als würde überhaupt kein Laut meine Kehle verlassen. Raus hier! Das ist verrückt! Wahnsinn! Eingeschlossen in einem schwarzen Labyrinth, das jeden Moment zusammenfällt wie ein Kartenhaus! War das wirklich ein Erdbeben?
 

Ich taste mich zum Türrahmen, der schon längst zersplittert ist und versuche nicht zu fallen, denn jedes neue Grollen lässt den Boden und die Wände derart erzittern, dass ich fast mit jedem Schritt das Gleichgewicht verliere. Mittlerweile stürzen schon schmerzhafte Betonbrocken von der Decke und ein letztes Mal schreie ich in das Zimmer nach Elena und Steinbeck, aber keine Antwort. Ein plötzlicher Windstoß reisst mich dann doch vom Boden und schmerzhaft knalle ich gegen die Wand.

"Aah,.. au..!" So schnell es geht, rapple ich mich wieder auf und setze den Weg fort, obwohl ich keinen blassen Dunst habe, wo ich hinflüchte in dieser Dunkelheit. Der Wind denkt garnicht daran, abzuflauen und wird immer stärker und während ich vor Wahnwitz noch überlege, woher dieser gigantische Orkan überhaupt herkommen kann in diesem unterirdischen Gewölbe, werde ich diesmal von einem flüchtenden Menschen umgerannt, der genau in die entgegengesetzte Richtung an mir vorbeiläuft und mich wieder gegen die Wand drückt. "Trottel, pass doch auf, verdammt!!" schreie ich, aber es kommt sowieso nicht an genannter Adresse an. Aber jetzt bin ich verunsichert. Soll ich ihm nachlaufen? Wo ist der Ausgang? Wieder brüllt es und der nächste Schlag ist so gewaltig, dass mir der Druck die Luft aus den Lungen presst. Verdammt! Das schaffe ich nie hier raus! Ich habe keine Ahnung, wo ich hin laufen muss! Und dafür wäre es so oder so zu spät, die Decke poltert in immer grösseren Brocken herunter und einer trifft mich in diesem Moment schmerzhaft an der linken Schulter. Der Wind ist jetzt so zahm wie eine cholerische Schwiegermutter - vor Staub und Trümmern wage ich kaum mehr zu atmen, alles ist dunkel und laut und..
 

KNARZ - fomp. "Aua"
 

Überrascht greife ich nach unten, um mich abzustützen. Anscheinend war eine Metallplatte so locker, dass ich durch die Wand gefallen bin. Es ist nach wie vor dunkel und furchtbar laut, aber wenigstens tobt hier kein Orkan und ich stelle ich wieder auf. Vorsichtig taste ich mich entlang und fühle auf beiden Seiten dicht neben mir Metallwände, die vor Vibration leise summen, dem heftigen Druck des Windes aber standhalten. Auch, dass hier nicht pausenlos lexikon-große Trümmer von der Decke fallen, ist ein weiterer Pluspunkt. So schnell es eben geht, schiebe ich mich durch den engen Gang und hoffe dabei inständig, dass Elena noch lebt. Ich hätte ihr helfen sollen! Vielleicht ist sie schon von einem Bruchstück der Decke erschlagen worden.. vielleicht ist sie aber noch immer in dem Zimmer und sucht nach mir, schreit sich die Seele aus dem Leib und hofft auf meine Hilfe? Aber ich bin feige. Jetzt nochmal zurückzugehen wäre mein sicherer Tod, denn hierher würde ich mit Sicherheit nicht mehr rechtzeitig schaffen! In diesem.. Sturm oder was auch immer dieses wahnwitzige Windchen sein möge..
 

Was hier wohl gerade passiert? Dieses ganze Gefasel von gigantischen Kräften, die sie nicht kontrollieren konnten.. irgendwie habe ich ein ganz ganz böses Gefühl. Ich bin mir mittlerweile absolut sicher, dass dieses Inferno hier etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun hat. Natürlich könnte es auch einfach sein, dass irgendjemand über diesem Bunker uns gerade mit Atombomben bewirft. Wobei ich das dann doch eher für unwahrscheinlich halte. Obwohl - ist die Geschichte mit den übermenschlichen Kräften nicht noch viel unwahrscheinlicher? Ist ja wie im Comic...
 

Fast wäre ich gegen eine Wand gerannt, die sich urplötzlich vor mich hinplaziert hat und nach ein paar Tastversuchen habe ich begriffen: der Gang macht eine Biegung nach rechts. In den nächsten paar Minuten muss ich sehr vorsichtig gehen, denn immer öfter biegt und zweigt der Gang nun ab. Hinter der Wand also? Es scheint, als hätte der Architekt, der verantwortlich für diesen Bunker war, eine ausgesprochene Vorliebe für versteckte Geheimgänge gehabt zu haben. Es war, als habe er um jedes Zimmer, um jeden Gang einen schmalen Geheimgang miteingeplant, in dem ich jetzt gerade herumlatsche. Ich bemerke, dass das Toben und Heulen des Orkans leiser wird, dafür ist das Zittern und Vibrieren hier hinten unheimlich viel stärker geworden, dass ich kaum noch einen Schritt machen kann ohne nach rechts und links gegen die Wand geworfen zu werden. Aber lieber riesige blaue Flecke auf den Schultern als ganz tot. Und der Sturm scheint hier auch viel schwächer zu sein - das halte ich zumindest für ein gutes Omen.
 

Und das, was ich hinter der nächsten Biegung gesehen habe, werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen können. Schon von Fernem hatte ich das schwache Licht gesehen und womöglich für den Ausgang gehalten und hatte mich um so mehr beeilt. Aber ein Ausgang war das nicht. Ich sah etwas Helles, etwas schwach Leuchtendes und je näher ich diesem Leuchten kam, desto stiller wurde es und das Vibrieren und Rütteln hörte fast ganz auf.
 

"Das... das gibt's doch nicht!" Fassungslos starre ich auf den jungen Körper, der zusammengekauert mitten im Weg liegt, lange, schneeweisse Haare, die sich wie in der Schwerelosigkeit des Wasser vom Boden heben und in der Luft schweben. Und schliesslich das Faszinierendste von allem: Um die gesamte Haut leuchtet ein milchiger Schein aus Helligkeit, wie eine Hülle, und aus dieser Hülle lösen sich feurige Fäden aus weissem, bleichen Licht, wie Feuerausbrüche auf der Oberfläche einer Sonne. Und diese milchigen Flammen tanzen dampfartig in der Luft, glühen mal heller und mal schwächer - und, das bemerke ich gerade - jedesmal, wenn eines der Flammen grell genug aufleuchtet, brüllt draussen der Sturm auf wie ein wütendes Monster. Der Junge von vorhin!
 

Geschockt starre ich lange nur auf diese wahnsinnige Erscheinung und weiss nicht, ob es nun wunderschön oder grauenhaft ist, wahrscheinlich aber beides. Aber... der Junge ist doch tot! Ich habe ihn selbst sterben sehen! Dieser Schuss in den Kopf - nie konnte er ihn überlebt haben! Oder.. womöglich ich das garkein Mensch?
 

Wieder leuchtet eins der Flämmchen grell auf und der Sturm kreischt gedämpfte wieder von neuem los und bringt die Metallplatten um mich zum Knirschen und Quietschen. Zum Glück kann ich wenigstens dies mir nun erklären: Der Junge ist schuld an dem Desaster da draussen! Zweifel ausgeschlossen. Ich bin ein Mensch, der glaubt grundsätzlich nur, was er sieht und anfassen kann. Atheist und Realist. Und DAS habe ich jetzt gesehen und bin endgültig überzeugt, dass sich da etwas über meinem Verstand abspielt. Fakt ist: Ich muss den Jungen irgendwie stoppen, sonst fällt mir hier doch noch die Decke auf den Kopf!
 

Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Er scheint nämlich zu schlafen, oder ist ohnmächtig, jedenfalls hat er die Augen geschlossen und rührt sich nur ein bisschen, ich kann ihn nämlich atmen sehen. Aber sonst ist er unbewegt. Ausser diese tänzelnden, weissen Flammen auf ihm. Das ist der Wahnsinn.. er sieht aus, als würde er brennen! Dabei ist er ja schon tot.. oder so. Auf seiner Stirn ist tatsächlich ein Blutfleck. Allein die Vorstellung, dass dieser kleine Knirps ein Monsterzombie ist, schlägt sich bei mir in Form von Gänsehaut nieder. Dabei wirkt er doch so harmlos. Aber solche sind ja bekanntlich die Schlimmsten.
 

"Hey.. hey, Kleiner! Kuckuck!" Ihn anzufassen traue ich mich nicht, wer weiss, ob dieses Flammenzeug heiss ist? Oder ansteckend? Oder.. radioaktiv oder sowas. Der Kleine reagiert nicht. Vorsichtig werfe ich einen kleinen Stein auf den Jungen, aber das sollte ich wohl lassen, denn sofort gleisen alle Flammen auf einmal so grell auf, dass ich geblendet die Augen schliessen muss und zudem durch ein markerschütterndes Jaulen fast einen Hörsturz bekomme! Doppelt so wütend wie noch gerade fegt ein regelrechter Hurrikan durch die Gänge und ich kann das Splittern und Krachen der Trümmer hören, die der Wind gegen die Wände schleudert, die jetzt teilweise durch den heftigeren Ansturm einreissen.

"Ich hab's verstanden! Ist ja gut, ich mach's nicht wieder!!" brülle ich in den Lärm und tatsächlich - der wütende Sturm beruhigt sich wieder etwas.
 

Das.. ist einfach Wahnsinn! Der Sturm scheint wirklich auf den Kleinen zu reagieren. Und auf mich in gewisser Weise. Oder war das jetzt nur Zufall? ... Ich könnte es nochmal testen. Aber die Gefahr, dass dann wirklich alles einstürzt, ist mir doch zu hoch. Vielleicht sollte ich es einfach einmal andersrum probieren. Obwohl ich mir dabei saudoof vorkomme. Aber was tut man nicht alles um seine Haut zu retten..

"Shhht, gaaanz ruuhig, bleib ganz cool.. kein Grund dich aufzuregen.." Tatsächlich aber scheint diese gutgemeinte Besänftigung dem Sturm am metaphorischen Hinterteil vorbei zu gehen. Nocheinmal versuche ich meinen Charme spielen zu lassen, aber Fehlanzeige. Zumindest aber, bemerke ich plötzlich, werden die Ausbrüche immer schwächer. Die Flammen sind nicht mehr so hoch, nicht mehr so grell, als würde ihnen die Energie ausgehen. Hm.. also.. so absurd die Situation auch ist, neugierig war ich schon immer. Es wird mich schon nicht umbringen. Hoffe ich.
 

Vorsichtig strecke ich meine Hand nach der leuchtenden Haut aus und kaum habe ich mich einer freien Stelle genähert, zuckt sofort eine Flamme in meine Richtung und berührt mich gerade noch an der Fingerspitze, die ich verschreckt wieder zurückgezogen habe. Das ist.. der helle Wahnsinn! Das ist fast wie bei diesen Glaskugeln mit diesen lila Blitzen, die sofort dahin zucken, wo man die Kugel berührt! Noch einmal probiere ich, dieses Leuchten zu berühren und diesmal gleitet die Flamme langsamer an meine Hand, fast, wie um mich nicht zu erschrecken. Völlig gebannt starre ich auf diese dünne Flamme, die in schwachem Weiss leuchtend um meine Hand streichelt, wie eine schmusende Katze sich an jedem Finger entlangschmiegt. Die Flämmchen sind keineswegs heiss. Sie sind.. irgendwie warm, leicht und umfliessen meine Hand wie Zigarettenrauch. Nachdem die kleine Flamme meine Finger inspiziert hat, verschwindet sie langsam in der glühenden Hülle des Jungen, wie viele der anderen Flammen auch. Mir wird gewahr, dass es draussen plötzlich ganz still geworden ist, die Flammen leuchten nicht mehr zornig auf, sondern wiegen sich mit einem Mal alle um meine Hand, als würden sie sie neugierig betasten, sich anzuschauen, um kurz darauf dann zu verschwinden. Ich schwöre, ich habe noch nie in meinem Leben etwas ähnlich Faszinierendes gesehen. Ich bewege meine Finger und das Flämmchen gleitet ihnen nach, spielt fast mit ihnen und das ist so absurd und gleichzeitig so schön, dass ich anfange zu grinsen.
 

Schliesslich ist auch die letzte kleine Flamme verschwunden und allein die Haut des .. Wesens leuchtet noch schwach wie durch eine Milchglasscheibe. Ich kann nicht anders, aber momentan bin ich einfach noch viel zu beeindruckt durch dieses Schauspiel, als dass ich mich wirklich darüber freuen könnte, dass das Sturmgetobe, das Erdbeben aufgehört hat. Und das hat es tatsächlich. Draussen herrscht gespenstische Stille. Ich hatte fast schon damit gerechnet, langsam vereinzelte Stimmen und Trümmergerücke zu hören, aber Fehlanzeige. Hier ist anscheinend niemand mehr. Oder niemand mehr am Leben. Grausig...
 

Vorsichtig stehe ich auf und lausche. Nichts. Mein Blick fällt nach unten auf den reglosen Jungen, der noch immer zu schlafen scheint, so friedlich. Ich sollte weitergehen. Raus hier. Selbst, wenn jemand hier überlebt hat, wird er mich früher oder später finden und immerhin bin ich mit Elena hierhergekommen. Das heisst, ich würde ganz schöne Probleme bekommen, falls ich geschnappt werden würde. Aber was tun mit dem Kleinen da?
 

Fasziniert bin ich jedes Mal wieder, wenn ich den Jungen anschaue. Die langen, doch etwas schmutzig anmutenden Haare (habe ich nach näherer Betrachtung herausgefunden) wehen immer noch in Strähnen um den schlanken Körper, nur ganz leicht, trotzdem könnte das glatt eine Werbung für ein neues Haarwaschmittel abgeben. Ästhetisch, wirklich. Bis auf... Langsam lasse ich mich in die Knie hinunter und wedle die schwebenden Strähnen zur Seite. Der arme Kleine ist in einem schlechten Zustand. Überall blaue Flecken, dreckig, die Haut ist an vielen Stellen aufgerissen und blutig. Und wenn ich mir das Gesicht ansehe.. irgendwie wirkt es anders als vorher. Seltsam, wirklich.. ich könnte schwören...
 

Ich weiss, dass Mitleid in diesem Fall ziemlich unangebracht ist. Immerhin hat dieser kleine Kerl seit der letzten Stunde mehr Menschen auf dem Gewissen als ein durchschnittlicher Massenmörder. Eigentlich ein purer Wahnsinn. Dieses Kerlchen ist verdammt gefährlich. Ich bekomm ja nachträglich ne Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass ich grade mit Flämmchen gespielt habe, die dem Kleinen aus der Haut gewachsen sind. Wenn ich das jemandem erzähle, hält der mich für bekloppt. Wenn ich ehrlich bin, halte ich das alles momentan auch für bekloppt. Inklusive mich selber.
 

"Aber ich träume nicht, denn meine Träume sehen anders aus.." murmle ich und überlege nun endlich, was ich mit dem Kleinen anstellen soll. Und irgendwas in meinem Hirn gerät grade in einen Zwiespalt. 'Lass ihn liegen und verdufte, bevor er sich's anders überlegt!' spricht die eine Seite. Dem kann ich nur zustimmen. 'Du kannst den armen kleinen Kerl doch nicht einfach da liegenlassen?! Nimm ihn mit nach draussen und setz ihn am Waisenhaus ab!' Wie bitte? Bin ich das? 'Bist du bescheuert? Waisenhaus! Der "arme kleine" Kerl ist eine Bedrohung für die Menschheit!' Richtig! Das ist Fakt. Verdammt gefährlich der Kleine. Nichts für mich, ich hatte genug Abenteuer! 'Wenn du ihn hier zurücklässt, bist du ebenso ein Mörder wie Elena!' ICH?? .. ausserdem stirbt der sowieso nicht. Der hat ne Kugel durch den Kopf überlebt, der stirbt so schnell nicht!
 

Entschlossen drehe ich mich um und gehe weiter durch den Gang bis zur nächsten Biegung. 'Erst lass ich Elena im Stich und jetzt dieses Kind' Mmmmmmh..! "Au scheisse!!" Verdammt, jetzt hab ich mir auch noch das Knie angehauen, na toll! Und warum? Ganz einfach, ich sehe absolut überhaupt gar-nichts. Das ist schwärzer als Schwarz.
 

Zwei Minuten später gehe ich denselben Weg noch einmal, diesmal sehe ich aber, wohin ich laufe. Der Grund dafür hängt über meiner Schulter. Was hab ich doch für ein weiches Herz. Ich konnte den Jungen doch nicht einfach mutterseelenallein hier krepieren lassen. Dass die leuchtende Haut des Kleinen mir genug Licht zum Weiterlaufen beschert, ist demnach nur eine positive Begleiterscheinung. Naja. Zum Glück ist das Kerlchen leicht wie eine Feder, ich spür ihn kaum auf meiner Schulter liegen und eigentlich ist er auch eine nette Wärmflasche, denn das Licht ist nicht nur relativ hell sondern auch noch angenehm warm. Scherz beiseite, sobald ich hier raus bin, bleibt der Kleine, wo er ist. Diese ganze Geschichte geht mich nichts mehr an. Das ist Elena's und Sladis' und Steinbeck's Angelegenheit. Wobei..
 

Ich denke zurück an die drei, bzw. die beiden (was aus Sladis geworden sein mag, ist mir definitiv egal) und hoffe inständig, dass auch sie diesen Höllentrip überlebt haben. Elena.. ach.. wie sehr kann man sich in Frauen täuschen.. Ich wusste zwar, dass manche Frau eine bessere Schauspielerin ist, aber das hatte ich wirklich nicht erwartet. Und ich glaubte noch an ein Rendez-vous nach dieser Sache. Aber das scheint wohl kein Happy End zu geben. James Bond ist eben doch nicht das Wahre...

[ Somewhere else ]

Langsam geht mir jetzt doch der Mut ab. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, bzw. wir sind und das schon seit ein paar Stunden. Ich sehe zwar jetzt erheblich mehr wie am Anfang, aber meine Beine machen bald schlapp. Wenn mich meine Uhr nicht täuscht ist draussen schon längst die Sonne aufgegangen und ein herrlicher neuer, russischer Tag ist angebrochen. Oder es regnet mal wieder. Aber selbst das wäre mir jetzt lieber gewesen, als noch lange hier unten herumzuirren noch dazu ganz ins Blaue (haha.) hinein. Ausserdem wird meine Lampe schwächer. Ein Blick nach rechts und ich weiss auch wieso. Der kleine Kerl auf meiner Schulter hat einen Laut gegeben und wird wahrscheinlich in den nächsten Minuten aufwachen. Seltsame Angewohnheit, er scheint nur im Schlaf zu leuchten. Wenn er wach ist, tappen wir also wieder im Dunkeln. Und dann?
 

Wie sieht die Dankbarkeit eines radioaktiv verseuchten Albinos aus, der gerade ein Labor mit dem Ausmaß einer mittleren Kleinstadt ausgelöscht hat? Ich will es gar nicht wissen! Andererseits muss ich zugeben, dass ich mich nicht mehr ganz so verzweifelt fühle wie vor letzten zwei Stunden. Das Licht und die Wärme des Jungen sind vielleicht ein zweifelhafter Trost, aber mir hat es gereicht, um mich nicht völlig einsam zu fühlen.
 

Aber jetzt habe ich irgendwie Bammel davor, dass mir der Kleine den Aufenthalt hier unten mit seinem Bewusstsein versüssen könnte. Solange er schläft ist er still und harmlos und praktisch dazu. Aber im Wachzustand? Also was tun? Ich sollte mich schnell entscheiden, denn der Kleine regt sich langsam aber sicher und ich höre seinen Atem schneller werden. Vorsichtig bleibe ich stehen und sehe unschlüssig zu, wie der Junge erschöpft blinzelt und dann versucht den Kopf zu mir zu drehen, während es völlig dunkel wird.
 

Es passiert eigentlich nur aus Reflex. Bevor mich das rote Auge noch ins Visier nehmen kann, fährt meine Hand aus und mit einem dumpfen >> DUMK << landet meine Faust zielgenau auf dem zierlichen Kinn des Jungen. Und ebenso reflexartig fällt der Junge wieder ins Nicht-Bewusstsein zurück und das Licht geht an. Eine Zeitlang starre ich den Kleinen noch an, der wieder schlaff über meiner Schulter baumelt und beglückwünsche mich zu dieser Kurzschlussreaktion. Zwar habe ich nicht sehr doll zugeschlagen, aber doch hat es gereicht, ihn in den siebten Kartoffelhimmel zu befördern. Ernsthaften Schaden dürfte er dadurch nicht genommen haben. Jedenfalls hoffe ich das. Und weiterhin hoffe ich, dass ich schnell genug hier herauskomme - zumindest bevor der Junge nochmal aufwacht und sich für den Kinnhaken bedankt. Wie auch immer der Dank aussehen mag.
 

Das Licht ist wieder hübsch hell geworden, seit der Junge wieder k.o. ist. Zudem muss ich kaum noch befürchten, dass mir hier etwas auf den Kopf fällt, denn in dieser Reichweite hat der Sturm anscheinend nicht sehr gewütet, alles ist zwar staubig und verdreckt, aber sonst sehe ich keine sichtbaren Schäden. Ein weiterer Blick auf die Uhr sagt mir, dass es Zeit für ein Mittagessen wäre. Wie auf Stichwort knurrt mein Magen verdammt laut und ich halte an, um eine kleine Pause zu machen. Boah, meine Beine bringen mich um! So viel bin ich bestimmt in einem ganzen Jahr nicht gelaufen, wie heute hier drin! Ich hab ja damals immer verächtlich die Augenbraue hochgezogen, als meine Studiengenossen von einem gemeinsamen Wanderurlaub durch Schottland erzählt haben. Pfff! Herumlaufen den ganzen Tag mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, geplagt entweder von Regen oder Triaden von Moskitos - na danke! Meine Ferienplanung sah immer gleich aus: Strand, Disko, Mädels. Und jetzt, da ich weiss, was für schöne Erfahrungen so ein Wanderurlaub mit sich bringt, sehne ich mich um so mehr nach Ibiza zurück. Hach.. vor zwei Jahren noch war ich auf einer Yacht eines Bekannten eingeladen.. den ganzen Tag nur Cocktails schlürfen, flirten und die Sonne genießen...
 

Und jetzt "genieße" ich die Dunkelheit und Kälte einer unterirdischen, russischen Forschungsstation mit der Aussicht auf mein baldiges Ableben aus nahrungsmitteltechnischen Gründen. Und natürlich die Gesellschaft einer radioaktiven Albino-Versuchsratte aus dem Sammelsurium eines Killerwiesels. Mahlzeit!
 

* * * *
 

Russland. Nachmittag. Es ist kalt. Die Frisur sitzt. Ich und mein Bond-Girl laufen seit mehreren Stunden durch ein Labyrinth der Dunkelheit. Hunger, Kälte und Müdigkeit sind unsere Feinde, doch noch gelingt es uns, sie erfolgreich zu bekämpfen. Unsere Mission, das geheime Labor des verrückten Wissenschaftlers, der die Weltherrschaft an sich reissen wollte, zu zerstören ist geglückt. Jetzt sind wir auf der Flucht vor dem Tod selbst, doch wir schenken ihm nur ein ironisches Lächeln und kämpfen weiter bis zum letzten Atemzug! God shave the queen!
 

So oder soähnlich sind gerade meine Gedanken. Ich bin schon zu lange hier unten, dass ich sogar anfange, mir so einen Scheiss auszudenken. Aber was kann jetzt noch daran falsch sein, die Situation mit Humor zu nehmen? Mein "Bond-Girl" alias Albino-Ratte ist immernoch weg vom Fenster, ich hoffe mal, dass ich nicht doch zu fest zugeschlagen habe. Einzig ein Lichtblick habe ich dazugewonnen! Wir sind nämlich vor Kurzem am Ende des Ganges angelangt und mit Freudentränen habe ich eine Leiter erkannt, die senkrecht nach oben führte. Der Aufstieg mit dem Jungen über der Schulter war Gott sei Dank halb so beschwerlich, wie ich angenommen hatte, zudem war die Leiter nicht sehr hoch. Aber immerhin! So sind wir dem kilometerhohen Ziel ein paar Stufen näher gekommen. Wenn das mal kein Grund zu feiern ist?
 

Nun ist der Gang breiter. Genau genommen ist er so breit, dass ich die Wände rechts und links garnicht erkennen kann, vielleicht bin ich auch in einer gigantischen Höhle gelandet. Aus der es kein Entkommen gibt! Muahaha. Ich glaube, ich werde grade verrückt. Wer ist so blöd und versucht sich selber noch Angst zu machen in so einer Situation? Aber mal angenommen - das hier wäre eine Sackgasse, mein Name sei nicht James Bond und dieses.. weisse Ding über meiner Schulter würde aufwachen. Halleluja! Ne Bomben-Stimmung!
 

Vielleicht sollte ich dieses Kind ganz aus dem Verkehr ziehen. Immerhin hat Elena mir die Sache ja schonmal vorgemacht. Und der Standpunkt, dieser Knirps sei zu gefährlich für diese Welt, wird von mir bedingungslos geteilt. Also warum mach ich mir Sorgen, was der Kleine mir antun könnte? Ich sollte mir Gedanken darüber machen, was ICH diesem Kerl antun könnte, so dass er überhaupt keine Gelegenheit HAT mir auch nur was antun zu WOLLEN. Oder auch nur daran zu DENKEN mir etwas antun zu wollen in ERWÄGUNG zu ziehen. Oder.. naja. Wie auch immer. Zum Beispiel. Ich könnte ihm den Schädel zertrümmern, während er schläft. Oder den Hals umdrehen. Das Genick brechen? Oder schlage ich ihn jedesmal, wenn er aufwachen will wieder aufs Kinn und halte ihn so am Leben, damit ich nicht in Dunkelheit verhungern muss hier unten.. brrr!! Wie in diesem Film, wo sie den gefrorenen Leichen die Hinterteile zerfleddern um nicht zu verhungern.. waah! Dann würde ich ihn doch lieber den Absatz runterwerfen und hoffen, dass er sich alles bricht, damit nicht...
 

Schluss. Aus. Ich kann das sowieso nicht. Ich werd hier echt noch zum Psychopathen! Ich und töten, das muss an der Luft liegen. Sowas überhaupt zu denken! Dabei eigne ich mich überhaupt nicht für einen Survival-IndianaJones-Verschnitt. Und... naja.. Ausserdem - also man davon abgesehen, dass ich sowas eh nicht übers Herz bringen würde - ist der Junge.. untötbar! Wer ne Salve aus Elenas Revolver in den Schädel überlebt, dem kann ICH schon garnichts anhaben! Mein Gott, dieser Junge ist.. ein Zombie! ... Ich seh schon, wie ich davonlaufe in dieses Dunkel hinein und der Junge kommt langsam schleppend und mit irrem Grinsen hinter mir her und röchelt andauernd: "Du hast mich getötet, Klement, du böser Junge.. komm probier's doch noch mal! Nyahaha!" ... Nun. Vielleicht seh ich mir zuhause auch nur zuviel Horrorfilme an. Aber da könnt doch was dransein, oder?
 

Meine Füsse gehen einfach automatisch weiter und interessieren sich nicht dafür, was sich mein erkranktes Hirn dort oben so alles zusammenspinnt und so vergeht eine weitere halbe Stunde, bis ich an die nächste Mauer gelange. Dieser Raum muss wahnsinnig gross sein, keine Ahnung, was hier so alles rumstehen mag, denn das Licht des Jungen ist doch ziemlich schwach und erhellt somit nur einen kleinen Radius um uns. Die Wand vor uns ist aus Metall und das wundert mich jetzt doch, denn der Boden ist aus dem gleichen Material. Nur ist der so verstaubt, dass ich es erst jetzt bemerke, als ich mit dem Fuss herumscharre und den Schmutz beiseitewische. Das Metall ist kalt und sieht sehr alt aus und ich neige ungläubig den Kopf. Ich gehe rechts an der Wand entlang und Tatsache - der ganze Raum scheint mit Metallplatten ausgekleidet zu sein, jedenfalls zeigen das die Schweissnähte an den Wänden.
 

Was immer das hier ist und wofür es benutzt wurde, die Reinemachefrau gehört gefeuert. So dicken Staub hab ich ja noch nie gesehen! Der staubt auch nicht mehr, sondern ist bröckelig und irgendwie miefig. Aber dafür, dass er so weit unter die Erde gefunden hat, darf er sich das auch erlauben. Ich hätte gerne mal gerufen, um herauszuhören, wie gross dieser Raum wirklich ist, aber ich lasse das, da ich erstens den Jungen nicht aufwecken will und zweitens.. oh mann, das ist wie in einem billigen Ballerspiel! Da kommt man in eine neue Ebene, sieht erstmal garnix und ballert halt mal so rum und wird plötzlich von einem Rudel Monster angefallen, die man damit geweckt hat. Ich hasse Konsolenspiele, ich bin ne absolute Niete und verliere jedes Mal die Nerven sowie meine 3 Leben in Rekordzeit. Naja. Pech im Spiel.. Aber diesmal wünschte ich, ich hätte mehr geübt, das hätte sicher mein Nervenkostüm gestählert.
 

Mit der vagen Hoffnung auf einen neuen Ausgang (ins nächste Level. Ha.Ha...) laufe ich also weiter an der Wand entlang und zu meiner grossen Überraschung - eine Tür! Aus Stahl und sie scheint ziemlich dick und ziemlich abgeschlossen zu sein. Da ich nicht weiss, ob ich drücken oder ziehen soll, probiere ich beides, aber die springt natürlich nicht wie durch ein Wunder auf. Also müssen Muckis ran. Vorsichtig lege ich den kleinen Kerl auf den Boden und sehe mir erst einmal das Schloss an. Eigenartigerweise erinnert mich das Schloss an ein Zahlenkombinationsschloss eines Safes, über der Klinke ist ein Knopf angebracht und durch Drehen klicken verschiedene Symbole in das kleine Schaufenster. Mit einem Stöhnen drehe ich die Runde einmal durch und sehe mir diese komischen, hieroglyph-artigen Symbole an, mit denen ich nichts bis garnichts anfangen kann. Und jetzt? Soll ich hier herumdrehen bis ich a) das Schloss geknackt habe, oder wahrscheinlicher b) schwarz geworden bin? Die Zeichen sind ziemlich fremdartig und scheinen in keiner erkenntlichen Reihenfolge zu stehen. Sicherlich hätte ein Kunsthistoriker seine helle Freude an diesem Rätsel gehabt. Selbst Vorbild Indiana Jones hätte wohl selbst ein heisses Bunny sitzengelassen, um diesen Code zu knacken und Rambo... hätte wohl die Tür kurzerhand mit ner Bazooka weggesprengt. Da ich aber weder der eine noch der andere bin, muss ich mich eben auf mein Glück verlassen. Das mir ja heute ganz besonders hold zu sein scheint. Achtung Ironie.
 

Also gut, sehen wir uns diese Zeichen nochmal genauer an, vielleiht habe ich ja etwas übersehen. Das erste oval mit einem durchgehenden Kreuz durch die Mitte. Das zweite sind ein paar Striche, die wie japanische Hieroglyphen aussehen. Das dritte ist ein einzelner Punkt. Das nächste sieht aus wie eine Steckdose als Sechseck und das darauf folgende unterscheidet sich von dem vorherigen nur, dass dieses drei Ecken hat. Die nächsten zwei sind wieder Striche, die scheinbar wahllos gesetzt sind und mit denen ich mal wieder nichts anfangen kann. Das nächste ist ein Ö mit nem kleinen ö innen drin. Und das letzte sieht aus wie ein explodierender Stern. Na toll. Rein aus Neugierde drehe ich dann mal so los und bringe erstmal alle Strichmuster hintereinander. Nichts tut sich. Naja, wenigstens hab ich's probiert. Nochmal drehe ich wahllos und das Ergebnis ist gleich null. Wieviele Kombinationsmöglichkeiten hab ich eigentlich? 10 Symbole. Und ich weiss nichtmal, wie lang der Code ist. 4 oder 5 Symbole? Jedenfalls zuviel davon. Um meine sinnlose Tätigkeit noch zu vollenden klappere ich jetzt jedes Zeichen nacheinander durch und oh Wunder - passiert nichts. Mit einem erstickten Fluch haue ich gegen die Tür und habe jetzt auch noch eine schmerzende Faust. Das Licht dunkelt wieder und ich sehe zu dem Jungen, aber der liegt immernoch ruhig auf dem Boden. Ob er wieder aufwacht? Anstalten scheint er keine zu machen. Also probiere ich seufzend weiter.
 

Plötzlich passiert etwas seltsames. Ich drehe wie gewohnt seit gut 5 Minuten schon an diesem Rad und mit einem Mal stockt es mitten beim Drehen. Weiterdrehen ist nicht, bis ich ein leises "Klack" höre. Kann das sein? Hab ich etwa schon eins gefunden durch diesen glücklichen Zufall? Ich drehe wieder und eine Weile geht es gut, dann streikt das Rädchen wieder und lässt sich nicht mehr bewegen, bis es wieder klackert. Nervös drehe ich wieder, jetzt geht es wieder kinderleicht. Es klemmt wieder und da ist auch schon das "Klack". Das gibt's doch nicht? Was soll das für ein bescheuerter Mechanismus sein, der anscheinend ganz von selbst das Schloss öffnet? Oder ist das gar eine Falle? Aber wozu? Geht schon wieder mein Sinn für Abenteuerfilme mit mir durch? Aber komisch ist das schon. Nun, vielleicht ist das Schloss schon so alt, dass es eben nicht mehr richtig funktioniert. Klein-Laborratte kriegt davon natürlich nichts mit. Ich drehe nochmal und wie gehabt geht alles wie geschmiert, bis das Rad blockiert und es "klack" macht. Versuchsweise probier ich schon, ob die Tür jetzt auf ist, aber anscheinend fehlt noch eine Kombi. Ich drehe also nochmal und aus dem Augenwinkel bemerke ich plötzlich eine klitzekleine Bewegung und halte inne. Aber da ist nichts. Der Kleine Kerl ist noch immer im Tiefschlaf und hat sich nicht bewegt. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Also konzentriere ich mich wieder auf die Tür, drehe weiter, bleibe stecken und das letzte "Klack!" klackt triumphierend.
 

Erwartungsvoll drücke ich den Hebel und schiebe und.. die Tür geht wahrhaftig auf! Das ist ja der Hammer! Vor Freude muss ich leise juchzen, als ich schwach erkenne, was da vor mir liegt. Ein weiterer Raum, ein kleiner diesmal, in dem sich allerhand Gerümpel stapelt. Grosse Kisten mit Stroh gefüllt, Eisenrohre und -stäbe, verschiedene Bretter und Kanthölzer liegen herum, Werkzeuge, Besen, Schaufeln an der Wand, Blechdosen von anno dazumal, Flaschen und ein paar Konserven. Damit ist wenigstens mal das Überleben gesichert, was wir aber nicht mehr nötig haben, denn weiter hinten habe ich die Rettung schlechthin ausgemacht! Es ist ein alter Lasten-Aufzug. Und mal davon abgesehen, dass er seit Äonen nicht mehr benutzt worden zu sein scheint, könnte er sogar noch funktionieren. Neben der Tür ist ein Schalter und auf gut Glück trifft mein Daumen ins Schwarze - eine altersschwache Glühbirne leuchtet auf! Gott weiss, woher die ihren Strom bezieht, denn das Labor scheidet als Energiequelle wohl eher aus. Schnurgerade zum Aufzug, denn der Rest interessiert jetzt nicht. Sieht nicht gerade stabil aus, so morsch wie das Holz ist, aber für zwei Personen sollte es gerade noch reichen. Aber wo der wohl hin führt? Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe den Aufgang hoch, eine schier endlose Röhre in völliger Dunkelheit... Au weia. Wenn der Aufzug mittendrin steckenbleibt? Oder die Seile reissen und er abstürzt? Oder der Boden durchbricht?
 

Aber was nützt es, hierbleiben ist ebenso keine Lösung. Also mache ich mich daran, den Aufzug zu inspizieren und habe den Jungen draussen bald völlig vergessen.
 

* * * *
 

Die Seile sind alt, aber stabil. Zum Glück ist die Bedienung so einfach, dass man kein Russisch lesen können muss, um die Anleitung zu verstehen. Ein Knopf nach oben, einer nach unten einer für Stop. Nach mehrmaligem Ausprobieren bin ich guten Mutes - der Strom funktioniert auch bei diesem Gerät und es scheint noch erstaunlich gut zu laufen, trotz seines offensichtlichen Alters. Und jetzt stehe ich vor der grossen Frage. Wage ich den Aufstieg alleine und lasse diesen Unglücksjungen hier unten versauern? Oder nehme ich ihn mit nach oben und sehe dann weiter? Wenn es nur nicht so riskant wäre, ich habe noch immer keine Ahnung, was der Kerl mit mir anstellt, wenn er aufwacht. Vielleicht kann ich ihn ja irgendwie fesseln oder sowas. Brrr.. komm mir schon vor wie ein Entführer. Aber nein, das ist das nur das Beste für dich, Klement!
 

Also gut. Ich schnappe mir ein Seil, das auf dem Boden rumfährt und gehe nach draussen. Es ist stockdunkel. "Eh.." Kein Licht, kein Junge. Er ist weg. Verdammt! Weil ich nicht aufgepasst habe! Nervös sehe ich mich um, aber der kleine Kerl ist verschwunden. Allerdings habe ich jetzt das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, Und allein der Gedanke lässt mir die Nackenhaare erschauern. Ich stelle mir vor, wie diese roten Augen mich anstarren und schon überlegen, was sie mir antun könnten! Mit einer Hand taste ich nach der Innenwand und bekomme einen Besen zu fassen. Wenn schon, dann werde ich nicht kampflos untergehn! "Na los, dann komm schon raus, Feigling!" rufe ich und der Laut hallt so kraftvoll durch diese riesige Halle, dass mir davon die Ohren dröhnen. DAnn verhallt es. Stille. Unheimlich. Nichts rührt sich vor mir, alles bleibt still und schwarz. Ich fühle schon meinen Puls schneller jagen und in meinem Hemdkragen wird es heiss. Vor Spannung halte ich sogar den Atem an, versuche etwas zu hören.. spielen mir meine Ohren einen Streich? Ich sehe mich um.. war da war?
 

Plötzlich hinter mir - ein Knirschen! Schlagartig fahre ich herum und kann gerade noch einem herabsausenden Stück Holz ausweichen!
 

Ein seltsamer Anblick ist das, wie der Kleine versucht einen Balken herumzuhieven, denn er ist natürlich viel zu schwach, um das Brett nocheinmal hochzuhalten. Seine langen, weissen Haare sind ganz zerzaust und er zittert am ganzen Leib, vielleicht vor Kälte oder auch Angst. Und dieser Junge soll so unvorstellbare Macht besitzen? Im Moment kommt es mir nicht so vor, als könnte er mich mit einem Wimpernschlag ins Jenseits befördern, er scheint vielmehr grosse Angst vor mir zu haben, denn ein Ruck mit dem Besen genügt und schon zuckt er schreckhaft zusammen.
 

"Was ist? Wolltest du mich etwa damit k.o. schlagen? Davon bekomm ich ja nichtmal eine Beule!" In seinen Augen funkelt etwas und er schafft es tatsächlich, den Balken hochzustemmen und mich feindseelig damit zu bedrohen. Keine Ahnung, was er damit bezwecken will, der Anblick löst bei mir nur noch höchstens Mitleid aus. Aber wieder stürzt er ungeschickt vor und verfehlt mich natürlich, diesmal bekommt er jedoch meinen Besen zu spüren und mit einem leisen Keuchen wird der Junge durch den Schlag aus dem Gleichgewicht gebracht und donnert polternd zwischen die Kisten und Dosen. Vielleicht hätte ich nicht so fest zuschlagen dürfen.. dabei hatte ich ihn doch kaum berührt! Es scheppert wieder und ich sehe zu, wie sich der Junge aus dem Stroh befreit, das auf ihn gefallen ist. Anscheinend ist er wild entschlossen, sich von mir eine ordentliche Abreibung verpassen zu lassen.
 

"Hey, lass das! Ich weiss, ich hab dich geschlagen aber.. immerhin hab ich dich mitgenommen, ja!" Mir scheint, der Kleine versteht mich nicht, logisch, er kann wahrscheinlich nur russisch und demnach lassen ihn meine Worte auch kalt. Angriffslustig und gleichzeitig verängstigt langt er nun wieder nach seinem Stock und lässt mich nicht aus den Augen. Vielleicht denkt er ja, dass ich einer von diesen Labor-Typen bin und ihn für seine Tat bestrafen will. Nicht, dass er das nicht verdient hätte, schliesslich hat er Steinbeck und Elena auf dem Gewissen. Aber so richtig böse sein kann ich ihm nicht, wenn ich ihn so vor mir sehe. Warum ist der eingentlich so hilflos auf einmal?
 

Während ich die Albino-Ratte im Auge behalte, fasse ich einen Entschluss. Ich werde den Jungen mit nach oben nehmen an die Oberfläche. Dann werde ich ihn einfach laufen lassen, immerhin ist es nicht mein Problem, was dann mit ihm passiert. Ob er nun zum Massenmörder wird oder ob ihn jemand einfängt oder abknallt - soll mir doch egal sein, ist nicht mein Bier! Ich jedenfalls will damit nichts zu tun haben. Ich nehme ihn mit nach oben, damit ich mich nicht für seinen Hungertod verantworten muss und was danach passiert liegt in Gottes Hand. Amen.
 

Mein Vorhaben ist schneller als gedacht in die Tat umgesetzt. Erst hatte ich noch Bedenken, aber das Bübchen ist wohl wirklich so schwächlich, wie es den Anschein hat. Mit einem Wisch ist er wieder am Boden und bevor er sich wieder aufrappeln kann, hab ich ihn mir gepackt und auf den Bauch gedreht. Durch diese ganzen Haare ist es nicht so leicht gewesen, seine Handgelenke zusammenzubinden, aber letztendlich ist es doch gelungen, obwohl der Unglückliche die ganze Zeit jämmerlich versucht hat, sich herauszuwinden. Tsss. Die Jugend von heute. Muskeln scheint er nicht wirklich zu besitzen, als ob er den Grossteil seines Lebens in einem Bett verbracht hätte. Nun.. vielleicht ist das ja auch der Fall gewesen, man weiss ja nie, was in solchen Einrichtungen alles abgeht. "So! Und jetzt gib Ruhe, sonst lass ich dich wirklich hier unten versauern!" Der Kleine guckt nur trotzig und sagt kein Wort. Immer wieder sehe ich zu dem Kleinen hinüber, aber der macht keine Anstalten mehr, sich zu befreien und sitzt nur wie ein Häufchen Elend an der Wand und starrt auf den Boden. Ein paar Kisten stehen noch auf dem Aufzug, die ich schnell beiseite geräumt habe, damit es mehr Platz und weniger Gewicht für uns gibt.
 

Etwas grob schleife ich den Jungen auf die Pritsche und gucke, dass er nirgends herunterkullert, bevor ich selber draufsteige und den Aufzug anfahren lasse. Laut knirschend setzt sich das Gerät langsam in Bewegung und Stück für Stück gleitet es an dem doppelten Flaschenzug aufwärts. Es ruckelt und wackelt, aber es bleibt stabil und ich hoffe, dass das auch so bleibt. Der Albino ist ganz verängstigt und seine Augen sind vor Entsetzen immens weit aufgerissen. Sowas hat er sicherlich noch nie erlebt, nervös drängt er sich ans Geländer und obwohl er sich nicht festhalten kann, ist er dort wohl auch am Sichersten. Trotzdem wird sein Gesicht immer panischer, je höher der Aufzug gleitet. Und als es dann noch heftig ruckelt, dass selbst ich die Balance fast verliere, fängt er plötzlich an zu schreien vor Schreck. In dem Moment kribbelt mein ganzer Körper und der Strom ist augenblicklich weg.
 

Aus. Ende! Das war's wohl. Wir hängen in ca. 20 Metern Höhe in einem Kanal fest ohne Licht, ohne Strom, weder an Hinauf noch an ein Hinunter ist zu denken. Na super! Tolle Idee! "Verflucht nochmal!!" schreie ich und hämmere auf der Bedienung herum, aber das macht es auch nicht besser. Aber wenigstens fühle ich mich nicht mehr so angespannt. "Scheissteil! Geh wieder an, verdammt!" Hinter mir poltert es und mir schwahnt Übles! Schnell taste ich nach hinten und kriege einen Fuss zu fassen. Ängstliches Japsen ertönt und ich ziehe so fest ich kann, ein schmerzlicher Aufschrei und schliesslich verzweifeltes Schluchzen. Der Junge macht mich noch wahnsinnig! "Willst du da runterfallen?! Du bist wohl lebensmüde, das sind mindestens zwanzig Meter! Verdammt nochmal, setz dich ans Geländer und bleib da sitzen! Wenn es wieder weitergeht, fällst du von der Pritsche, kapiert?" Das hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt will der kleine Scheisser auch noch Selbstmord begehen. Meine Güte, vielleicht hat er ja Angst hier oben, aber das ist noch lange kein Grund runterzuspringen. Ich spring ja auch nicht aus dem Flugzeug, wenn ich Flugangst habe.
 

Warum ist nur der Strom weg? Der war doch gerade noch da! Verflucht nochmal, immer muss mir das passieren. Aber das wäre ja alles viel zu glatt verlaufen, war ja klar. Also überlegen. Was kann ich tun? Ich könnte am Seil hochklettern. Aber erstens habe ich keinen Schimmer, wie weit es noch ist und zweitens kann da der Kleine nicht mithalten. Dann können wir nur warten, bis der Strom wieder an geht. Aber vielleicht ist ja jetzt endgültig ne Leitung durch? Dann sollte ich eher nach unten und nach der Elektrik sehen. Dabei kenne ich mich ja auch so gut aus... ich habe ja schon am PC meine Probleme! Das ist doch der reinste Horror hier!!
 

"Und du hör endlich auf zu flennen, das macht mich noch wahnsinnig!" fahre ich den Kleinen an, wobei mir sein leises Heulen wirklich langsam auf die Nerven geht. "..ich könnte sowieso wetten, dass da wieder du dran schuld bist! Hast du nicht geschrien und dann ging das Licht aus? Du - wenn du dich rächen willst, ist das hier ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt!" Ich könnte schwören, dass er es war! Und wenn ich wegen ihm jetzt hier bis in alle Ewigkeit festsitzen muss, dann kann er aber was erleben! Dann wird er sich noch wünschen, doch runtergefallen zu sein! Plötzlich geht das Licht an. Aber der Aufzug steht noch immer. Der Grund: der Albino hat sich wieder in ein Glühwürmchen verwandelt. Und da ich ihn jetzt sehen kann, tut es mir leid, dass ich ihn so angefahren habe. Ganz klein hat er sich zusammengekauert und zittert wie ein neugeborenes Häschen. Allerdings scheint ihn das mit dem Leuchten anzustrengen, denn sein Gesicht ist ganz verkrampft und konzentriert.
 

Seufzend lasse ich mich zu ihm in die Hocke und bringe sogar ein Lächeln zustande. "Ich hab's nicht so gemeint. Ich weiss, du hast Angst, du kennst mich schliesslich nicht und verstehst wahrscheinlich auch nichts, was ich dir sage oder wieso ich dich anschreie. Ich bring uns nach draussen, versprochen!" Er hat wohl immernoch Angst vor mir, obwohl ihn meine Stimme etwas beruhigt. "Du musst das nicht machen mit dem Licht, wenn's dich so anstrengt!" Und zu meiner Überraschung nickt er kurz und es wird wieder dunkel. Hat er mich denn verstanden? Aber wieso sollte der deutsch können? Sicher hat es ihn nur zu sehr angestrengt. Hm.. schon komisch, der Kleine. Er verhält sich wie ein Baby, das alles zum ersten Mal sieht und empfindet und nicht weiss, was es mit dem Wissen anfangen soll.
 

Es rumpelt und mit einem harten Ruck setzt sich der Aufzug wieder in Bewegung. Durch diese unerwartete Erschütterung wäre ich fast von der Pritsche gefallen, hätte ich mich nicht festgehalten. Zu meinem Staunen ist das, woran ich mich festhalte, weich und warm und fühlt sich nach weiterem Betasten nach Haut an. Genauer - ein Oberschenkel. "Ah! Entschuldige!" Sofort lasse ich los, aber der Kleine macht keinen Laut. Das Licht ist zum Glück auch so weit unter uns, dass er mein beschämtes Gesicht nicht sehen kann, denn ich spüre immer, wenn ich rot werde. Zum Glück passiert das nicht sehr oft, es ist aber trotzdem unangenehm. Da fällt mir ein, dass der Junge ja noch immer völlig nackt herumsitzt und sich daran nicht ein einziges Mal gestört hat. Nun, dann wird ihm das eben wohl auch egal gewesen sein. Offenherzige Erziehung, würde ich mal sagen.
 

* * * *
 

Der Aufzug fährt weiter rumpelnd nach oben, langsam aber beharrlich. Ein Blick auf die Uhr. Abend. Vor 24 Stunden sass ich noch mit meinem Professor am Flughafen und habe mich mehr oder minder auf die "Geburtstagsparty" dieses Killerwiesels gefreut. Und jetzt? Ein knapper Tag später und ich bin mittendrin in einem unglaublichen Thriller, der schon fast buchreif ist. Ich kann's immer noch nicht glauben. Beweisstück A lehnt am Geländer und hat die Augen geschlossen. Das gleichmässige Rütteln hat ihn wohl müde gemacht, aber ich glaube nicht, dass er schläft. Aber eine verdammt gute Idee. Ich bin hundemüde, ich könnte auf der Stelle einfachlafen. Einzig die Aussicht auf ein baldiges Ende dieser Oddysee lsst mich noch am Wachsein teilhaben. Aber es fällt mir immer schwerer, die Augen auf zu lassen, bei dem Gegähne. Das Gefühl für Entfernung habe ich auch schon längst verloren. Ich bin heute so viel gelaufen, dass ich gut schon in Griechenland sein könnte. Aber nach meinen Verstand dürfte die Reise nach oben nicht mehr allzu lange dauern. Und wirklich, nach ein paar Minuten hält der Aufzug an. "Hey Kleiner, wir sind da!"
 

Ein altes Eisengitter erbaut sich vor dem Ausgang, aber es ist zum Glück nur angelehnt und das rostige Tor schwingt quietschend auf. Der Gang dahinter ist düster aber nicht stockdunkel, wie ich erwartet hatte. Auch riecht es hier zwar muffig und alt, aber lange nicht so stickig wie dort unten. Wo sind wir bloss gelandet? Mühsam hat sich der kleine Kerl aufgerappelt und blickt an mir vorbei in den neuen Raum. Seinem Gesichtsausdruck zu urteilen kennt er ihn nicht. In dem Raum steht nur eine grosse Maschine, die ich nicht erkenne und sonst nichts ausser ein paar Eimer. Aber im Gegensatz zu da unten sieht es hier eindeutig nach Leben aus. Die Staubschicht hält sich in Grenzen und die Wände sind.. tapeziert? An der Decke hängt eine altmodische Lampe und die Tür ist aus Holz. Der Boden knirscht wie die Planken eines alten Schiffs unter meinen Füssen, als ich zur Tür gehe und sie vorsichtig aufmache. Und der Anblick dahinter überwältigt mich. Es ist ein Haus. Ein Haus mit einem Flur und einem Wohnzimmer, rechts neben mir die Küche. Alles scheint, als hätte dieses Haus zum letzten Mal vor 20 Jahren ein Mensch betreten, aber es ist und bleibt ein Haus! Das bedeutet - wir sind wieder an der Erdoberfläche!

[ Mad world ]

Da das Haus allem Anschein nach verlassen ist, gebe ich mir auch keine Mühe mehr leise zu sein, sondern laufe hastig zum Fenster und sehe nach draussen. Es regnet. Ich hätte nie gedacht, dass mich der Anblick eines verregneten Tages in solch eine überschwängliche Stimmung bringen könnte. "Wir sind oben! Ich fass es nicht!" murmle ich immer wieder ungläubig und sehe hinaus auf die Strasse, die ebenso leer ist wie das Haus. Ausser diesem unsrigen kann ich noch drei weitere Bruchbuden erkennen, von denen eins schon fast zusammengepurzelt ist vor Alter und Verfall. Sicher war das hier mal eine kleine Bauernsiedlung mit nicht mehr als einem Dutzend Häusern. Und scheinbar stehen sie jetzt alle leer. Kein Wunder, in welcher Einöde wir hier auch gelandet sind... Auf der anderen Seite des Flurs blicke ich aus dem Fenster, das halb blind und so staubig ist, dass ich erst mit der Hand den Dreck wegwischen muss. Auf der Rückseite des Hauses sehe ich in einiger Entfernung einen Wald. Ob das der Wald ist, unter dem die Forschungsstation liegt? Sicher, die Richtung könnte in etwa stimmen. Wenn ich auf meinen Orientierungssinn vertraue, der mich allerdings schon viel zu oft im Stich gelassen hat. Da dies aber der einzige Wald hier zu sein scheint, muss er es wohl sein. Aber das ist wirklich ein ganz schönes Stück entfernt. Soviel zu Griechenland.
 

UFF! Mit einem bequemen Seufzen lasse ich mich in den dickgepolsterten, altmodischen Sessel fallen, der nebenan im Wohnzimmer steht. Dabei staubt es erstmal gewaltig - Scheiss drauf. Meine Füsse! Welche eine Wohltat! Ich glaube, ich könnte sofort einschlafen. Aber halt. Erstmal sehen, ob ich etwas zu essen finde, sonst falle ich noch um vor Hunger! Gute Idee. Essen. Schlafen. Und dann... vielleicht kann uns ja später ein Auto mit in die Stadt nehmen, wenn hier mal eins vorbeikommen sollte. Apropros "uns"...
 

"Kleiner?" Im Aufzug ist er nicht mehr. Auch im Raum dahinter nicht, wo diese komische Maschine steht. Is er schon wieder ausgebüxt? In der Küche nicht. "Hey, Junge! Ich tu dir schon nix!" Im Wohnzimmer nicht. "Haaallooo!" Endlich finde ich ihn im Schlafzimmer hinter einem Schrank, wo er sich offensichtlich zu verstecken versucht hat. Ach herrje, dieses Häufchen Elend.. ist ja nicht mitanzusehen. Bin ich wirklich so furchterregend? Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal wieder innen Spiegel schauen.
 

Ich glaube, jetzt sollte ich ihm auch mal seine Hände wieder frei machen, eine Bedrohung ist er sowieso nicht für mich und ausserdem habe ich hiermit meine Schuldigkeit getan. Wir sind wieder auf der Erde und nun kann er tun und lassen was er mag. Soll er doch weglaufen oder sich hier verkriechen für den Rest seiner albinösen Tage. Er misstraut mir auch jetzt noch und zuckt zusammen, wenn ich den Arm nach ihm ausstrecke, um seine Hände zu entknoten. Aber wenigstens das scheint er zu verstehen - nämlich, dass er jetzt frei ist.
 

"Ja los! Ich halte dich nicht, lauf weg, wenn du magst! Lauf Forest, lauf! Hehe." Mit einer feierlichen Geste weise ich ihm den Weg aus dem Schlafzimmer und nachdem er mich einige Momente lang gross angesehen hat, läuft er auch langsam und seeehr wachsam an mir vorbei, als könnte ich es mir nochmal anders überlegen und ihn doch noch anfallen. Ah geh. Soll er doch weglaufen. Ist mir gleich. Obwohl er sich vorher noch was anziehen sollte, sonst fällt er gleich dem erstbesten Kinderhändler in die Hände. Komisch, wenn jemand die ganze Zeit nackt vor deiner Nase rumläuft, merkt man es nach einer Weile gar nicht mehr, dass das eigentlich nicht die Regel ist. Also - Klamotten. Er ist schon fast draussen, als ich pfeiffe und er sich umdreht.
 

"Na komm, zieh dir wenigstens was an!" Stattdessen bleibt er an der Tür stehen und sieht mir naiv zu, wie ich die Kleiderschränke durchwühle in der Hoffnung, etwas Passendes zu finden. Das finde ich auch.. mehr oder weniger. Tja. Was sagt man dazu? Der nächste Schrank und ich muss plötzlich schief grinsen. Ich hole etwas aus dem Schrank und halte es vor mich in die Luft. "Na, was meinst du? Steht dir sicher gut. Ist leider nichts anderes da." Der Junge versteht mal wieder nichts, verständnislos sieht er das blaue Kleid an, das ich ihm gezeigt habe und das auf dem Bett landet. "Hier, ein rotes.. oder eins mit Blumen.. und eins mit Rüschen, wobei ich das ja zu arg finde.. aber das kleine schwarze könnte passen.. ähäm!"
 

Schande über mich, ich mache aus einem unschuldigen Jungen einen Transvestiten, der diese Verwandlung ohne mit der Wimper zu zucken hinnimmt. Aber man muss nehmen, was man kriegt. Einem geschenkten Gaul und so weiter. Ausserdem verzieht er wirklich keine Miene, scheint ihm also gleich zu sein, was ich da mit ihm vorhabe. Womöglich hat er ja noch nie Kleidung angehabt. Pah, was sind das für Perverse gewesen, tz!
 

"Mach dich vorher sauber, sonst ist das auch gleich verdreckt!" Keine Reaktion, er sieht mich immernoch an, ohne irgendwas zu verstehen. Ach blödes Russisch! Seufzend drehe ich ihn an den Schultern um und schiebe ihn vor mich her ins Bad. "So! Waschen! Wa-schen! Hier! Saubermachen!" versuche ich ihm mit Hilfe von ein paar olympiaverdächtigen pantomimischen Verrenkungen zu erklären und schliesslich scheint er doch zu kapieren, was ich ihm sagen will. Um sicherzugehen, bleibe ich kurz an der Tür stehen, nur um zu sehen, ob er jetzt den Wasserhahn auffrisst oder nicht.
 

Als ob ich es geahnt hätte, fängt der Kleine natürlich NICHT an, sich sauberzumachen, sondern stösst plötzlich einen Schrei aus und geht auf den Spiegel los. Dabei ruft er immer wieder ein Wort, das ich nicht richtig verstehe, es hört sich an wie ein russischer Laut, aber ziemlich holprig - das erste Mal überhaupt, dass ich den Jungen sprechen höre, fällt mir grade auf. Himmel, der Junge is total verstört. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der beim Anblick seines Spiegelbilds solche Panik bekommt. Gut, wenn man's so betrachtet, hab ich im Leben noch keinen so seltsamen Menschen getroffen wie den hier. Immer wieder für Überraschungen gut. Aber irgendwie auch immer wieder bemitleidenswert...
 

"Ja, das bist du! Sieht komisch aus, nicht wahr?" Er beachtet mich garnicht. Er starrt nur weiter in den Spiegel und scheint fast darin zu versinken. Er ist auch nicht mehr überrascht, eher verbittert, wie er mit diesen traurigen Augen sein Gesicht betrachtet und jetzt auch noch zu heulen anfängt. Oh Mann. Was muss ich denn heute alles mitmachen. Soll ich ihn jetzt auch noch trösten oder was? Ich bin doch nicht Mutter Theresa! "So schlimm siehst du jetzt auch wieder nicht aus." Aber er versteht mich sowieso nicht. Er hört mir ja nichtmal zu. "Hey?"
 

Die weissen, fast durchscheinenden Finger gleiten so langsam und vorsichtig über die Spiegelscheibe, als wäre sie ein kostbares Gemälde, das bei Berührung zerfallen könnte. Gruselig.. wirklich unheimlich! Der Junge streicht über den Spiegel und ich kann förmlich sehen, wie er sich anstrengt, seine Lider zittern. Erst lächelt er leise, dann wird sein Audruck fragend, bittend, bis hin zur Verzweiflung. Was macht er da nur? Ich gehe einen Schritt näher, aber er registriert mich garnicht, seine Lippen bewegen sich ganz sachte und lautlos, als würde er etwas flüstern nur ohne Ton. Und irgendwann scheint er zu verstehen, dass er selbst das ist, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickt.
 

Und als ich ihm so zusehe - ganz plötzlich fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren! Die Kinder! Was hatte Sladis gesagt, als Elena ihn getroffen hat? Einer wäre noch da, der andere wäre geflohen. Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Das hier ist garnicht der Junge, den Elena erschossen hat, es ist sein Bruder. Sein Zwillingsbruder, der damals geflohen war und sich hinter der Wand versteckt hatte! Und ich dachte noch, dass er mir verändert vorkam. Dann.. dann würde das bedeuten, dass dies hier garkein untoter Zombie ist. Statt dessen glaubt er wohl, seinen Bruder zu sehen, der hinter Glas steht. Ach herrje. Aber nun haben es alle kapiert. Der Kleine, der jetzt nur noch vor sich hinplärrt und ich, der zugegebenermaßen schon viel früher darauf hätte kommen sollen. Aber ich hatte doch ganz andere Sachen um die Ohren, also wirklich.
 

Ausserdem ändert das jetzt auch nicht mehr viel. Er hat seinen Bruder verloren, und? Ich habe Steinbeck und Elena verloren, das ist ein Mensch mehr. Und wie gehe ich damit um? Ich heule nicht rum und verfalle in Melancholie, sondern unternehme was dagegen. Zudem kannte ich Elena ja nicht mal einen Tag lang. Obwohl ich sie schon sehr mochte. Oh, dieser Blick.. und dieses Lächeln.. und diese hinreissend gute Figur. Ein Jammer, wirklich. Ich bin sicher, sie war im Grunde doch ein guter Mensch. Aber was rede ich, ich weiss ja nicht einmal, ob sie überhaupt tot ist! Vielleicht hat sie ja doch überlebt? Genau wie Steinbeck. Sicher haben sie es irgendwie geschafft und sind einfach durch einen anderen Ausgang gekrabbelt. Steinbeck zumindest gibt nicht so schnell auf, der schlägt sich schon durch. Das hat er schliesslich all die Jahre gemacht und leicht war es nicht immer. Dauernd diese Vertuscherei, wenn die Gesundheitspolizei unsere kleine Alchimistenküche inspizierte. Wie oft bin ich bei ihm im Labor gewesen und welche Scherze haben wir uns erlaubt.. Ein lustiger Mensch war er, immer einen Witz auf Lager und dabei konnte er auch richtig respekteinflössend sein, oh ja. So ein netter Mensch, niemals hätte ich gedacht, dass er in soetwas hier verwickelt sein könnte. Aus der Scheisse geritten hat er mich auch schon oft genug.. als ich damals den Unfall hatte mit dem Cabrio, ach du Schande, mein Alter hätt mir den Kopf abgerissen. Boah, verflixt! Jetzt tropft mir auch noch die Nase, verdammt nochmal! Jetzt reicht es echt!
 

"Hör endlich mit dieser Flennerei auf, das steckt ja nur an verflucht! Wenn du weiter einen auf Mitleidstour machst, werf ich dich so wie du bist auf die Strasse! Das zieht bei mir überhaupt nicht! Das kotzt mich nämlich an, ich sollte froh sein, dass ich aus dieser Hölle da unten raus bin und was machst du? Verbreitest hier Depristimmung - auf dass ich doch noch Mitleid hab und dich wie ne Glucke umsorge, was? Pah! Das kannst du vergessen, weißt du das? Du bist ja selber schuld an dem ganzen Chaos hier! Ja genau, hör auf zu flennen, das geht mir auf die Eier! Meine Freunde sind auch tot und ich mach hier kein Gezeter! Mach, dass du fertig wirst und dann verschwinde."
 

Oh Wunder, er scheint plötzlich doch was verstanden zu haben. Zumindest hat er aufgehört zu heulen, was für mich ein echter Fortschritt ist. Aber dieser Blick jetzt gefällt mir nicht. "Lass das!" Es wird warm. Oder nur mir? Auf jeden Fall ist es stickig. Liegt das an dem alten Haus? An dieser abgestandenen Luft? Mir wird mulmig. Es fühlt sich an, als würde die Luft sich immer mehr verdicken wie ein abkühlender Pudding. Staub rieselt von der Decke, ganz feiner. Und segelt ganz langsam durch den Raum.
 

"Bist du das..? He.. ich sagte, du sollst aufhören!" Urplötzlich wird mir wieder bewusst, was dieser Junge ist und was er für eine Gefahr ist. Und die Wärme breitet sich in meinem Körper aus, und ich kann nichts dagegen tun. Wie gelähmt. Aber es ist.. es ist wie dieses Gefühl, das ich empfand, als ich seinen Bruder durch die Scheibe hab im Zimmer sitzen sehen. Eine seltsame Kraft, die sich langsam und schleichend durch meine Gedanken windet, sie anfängt zu manipulieren. Ich starre den jungen Kerl an, dieses schöne Geschöpf mit diesen wunderschönen roten Augen, die voller Wut, Hass und Schmerz sind. Und wieder fühle ich mich angezogen und gleichzeitig aber abgestossen durch diese gigantische Feindseeligkeit, die mir entgegenprallt. Es ist so warm und fühlt sich gut an, und doch weiss ich, dass das vollkommen falsch und nur Illusion ist. Aber mit einem Mal ist mir das völlig egal..
 

Es knistert in dem kleinen Badezimmer, ganz leise. Der Junge steht am Waschbecken völlig regungslos, nur seine Augen zittern, vor blankem Hass, starren direkt hinter meine Stirn und die Hitze tut jetzt weh, verdammt weh! Als wollte er mir das Hirn herausbrennen. Aber nicht einmal mehr schreien kann ich, nicht einen einzigen Muskel bewegen, ich bin gelähmt, aber der Schmerz wird trotzdem heftiger. Und dann wird er erträglich. Oh ja.. welch ein süsser Schmerz! Er quält nicht einmal mehr. Ich kann jetzt alles viel klarer sehen, diese Welt, diese schöne Welt! Alles ist schön, der Boden auf dem wir gehen, die Luft, die wir atmen.. jedes Geräusch, jeder Geruch ist ein Schatz, ein unschätzbarer Schatz, jeder einzelne Augenblick. Einfach wunderschön! Aber nichts ist so schön wie dieser junge Mensch mit den langen, schneeweissen Haaren. Jede Faser dieses Körpers eine Symphonie aller Sinne, jeder Blick wie ein... ja, wie eine heilige Reliquie.. oh was willst du mir sagen mit deinen wundervollen Augen? Soll ich ihren Schmerz teilen, oh wie gerne nur, jeder Wunsch soll dir erfüllt sein. Was zeigst du mir? Oh wie schön, nein eine wundervolle Klinge, so scharf und stumpf wie sie nach so langer Zeit nur sein kann, und doch so wundervoll anzuschauen, wie sie sich auch anfühlt, willst du wissen, mein kleiner Schatten? Sie.. ist doch scharf mein junger Freund, das sehe ich und fühle ich und.. du willst mir mehr süssen Schmerz verschaffen? Du gottesgleiches Wesen, so strahlend wie ein.. kleines Lamm.. mit braunem Fell? Nein nicht braun, weiss,.. nein braun.. ich..
 

* * * *
 

Mit einem erstickten Keuchen lasse ich das Rasiermesser fallen und stolpere einen Schritt zurück. Das.. das darf doch nicht wahr sein!! Das kann nicht sein! Um Gottes Willen! Dieses Monster! Ein feiner Schnitt ist schon zu sehen, aber Blut kann ich nicht entdecken. Dieser Dreckskerl! Entgeistert starre ich abwechselnd auf diese Missgeburt, meinen Arm und der Klinge am Boden, mit der ich mir gerade fast die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Fassungslos!
 

"Du.. mieser kleiner, dreckiger Bastard!! Das warst du! Du wolltest, dass ich mich umbringe, was?!" Ich glaube, ich war noch nie so ausser mir in meinem Leben. Das ist auch wirklich ein Schock! Erst ist alles wie ein schöner Traum und dann aufwachen und feststellen, dass man grade dabei ist, sich umzubringen?! Dieser Teufel! So sehr er jetzt auch zittern und schwitzen mag, ob er einen auf kraftlos macht und winselt - von mir wird er keine Gnade mehr erfahren! Und das kapiert er auch, als ich ihm zeige, dass er das jetzt erst recht vergessen kann, nach dieser Gehirnwäsche.
 

Ja, jetzt zeigt dieser kleine Satan sein wahres Gesicht, er tritt und beisst, kratzt und schreit, boxt und zappelt und wird mit jedem Tritt, den er von mit kassiert schwächer, reisst sich aber jedes Mal wieder hoch und starrt mich aus diesen hasserfüllten roten Augen an, die wie das Höllenfeuer lodern! Und ich wette, hätte er Kraft genug gehabt, er hätte noch einmal versucht meinen Geist durcheinander zu werfen und mich diesmal endgültig in den Selbstmord zu treiben. Aber er ist zu schwach und muss sich auf das Körperliche beschränken, wobei er hier klar den Kürzeren zieht. Du kleiner Scheisser denkst, ich hätte das nicht gemerkt? Kostet wohl immense Kraft, so einen starken Willen beeinflussen zu wollen, was?
 

"Das ist dein Dank, dass ich dich aus diesem Labor rausgeschleift habe? Dreckiger Wichser! Hätte ich dich nur da unten gelassen! AH!" Dieses Mistding hat sich in meinen Arm gebissen, aber sofort habe ich ihn abgeschüttelt und gebe ihm einen deftigen Schlag gegen den Schädel mit auf den Weg. Sein Kopf knallt auf den Boden und er hustet, ist einen Moment benommen, fixiert mich aber gleich darauf wieder mit demselben, grauenhaften Ausdruck in den Augen, der mich nur noch zorniger werden lässt! Er hat kein Recht dazu! Er hat verdammt nochmal kein Recht mir so zu begegnen, nach allem, was ich für ihn getan habe! Er ist ein verflixter Schauspieler und hat kein Recht, so einen Hass auf mich zu haben! "Undankbares Balg! Kaum reicht man dir den kleinen Finger, willst du mir an die Kehle!" Ein paar weitere Schläge und ich glaube er hat genug. Hustend und röchelnd bleibt er in der Ecke liegen und versucht nicht mehr, sich auf mich zu stürzen. Zumindest nicht sofort.
 

Ich bemerke, wie ich zittere und trete nochmal ordentlich zu. Verdammt ich habe Angst! Dieser Bastard wird bei nächster Gelegenheit wieder versuchen, mich umzupolen und vielleicht schafft er es ja das nächste Mal, bevor ihm die Kraft ausgeht. Ich! Mich umbringen! Das ist... das ist doch Wahnsinn! Und ich war so gutmütig! "Ich hätte dich da unten jämmerlich verrecken lassen sollen!!"
 

Ein paar Minuten später ist es still. Ich sitze auf dem Beckenrand der Badewanne und sehe mich verloren um. Der Junge hat Ruhe gegeben. Mein Puls jagt und ich schliesse die Augen um mich zu beruhigen. Nach einer Weile bin ich tatsächlich etwas ruhiger, nachdem ich mir klar gemacht habe, dass überhaupt keine Gefahr mehr droht. Mein Entschluss steht ebenfalls fest. Der Junge kommt sofort zurück in den Schacht und ich verlasse das Haus unverzüglich. Egal, wie sehr mich mein Gewissen plagen wird, es ist besser, als ständig in Todesangst zu leben! Pah! Und ich hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, ihn mitzunehmen. In die Stadt zumindest, ihn in einem Waisenhaus abgeben oder sowas. Pff! Ihm Kleider gesucht! Ihm was zu Essen gegeben. Nix! Nada! Wenn ich dran denke, ich hätte ihn in der Stadt abgeliefert... Vielleicht wäre ich dann für zahllose Morde verantwortlich geworden! Elena hatte einfach recht. Zu gefährlich. Ausschalten, solange es noch geht. Einen hat sie ja dann schon umgebracht. Und dieser hier..?
 

Von den Schlägen muss er ohnmächtig geworden sein, er bewegt sich schon eine ganze Weile nicht mehr. Etwas verdreht liegt er in der Ecke und produziert sicher grade eine ganze Palette von hübschen blauen Flecken, die ich ihm verpasst habe. Er ist auch wirklich nicht mehr so bleich wie vorher. Aber sind das blaue Flecken? Vorsichtig rutsche ich näher ran und starre auf die Haut des Jungen, die nicht weiss, sondern grau ist. Helles Grau, auch die Haare. Meine Augen gleiten weiter und halten entsetzt inne. Ich kann über die schmale Schulter sehen und der Anblick dahinter schnürt mir die Kehle zu. Rot. Überall Rot. Der ganze Boden ist voller Blut, das Gesicht des Jungen fahl wie Asche, die Augen nur einen Spalt geöffnet. Und jetzt fällt mir auf, dass er nicht mehr atmet. "Sch... Scheisse!"
 

Er ist tot. Ich habe ihn zu Tode geprügelt.
 

"Nein, das.. das ist doch nur gespielt, du Luder!" fahre ich auf und weiss überhaupt nicht, was ich machen soll. Das ist ein Witz, oder? Ich meine.. ich hab zwar die ganze Zeit gedacht, dass es besser wäre, wenn er tot wär.. aber.. das.. das wollte ich doch nicht!! Oh mein Gott! Ich habe ihn umgebracht! Ich!! Mein Gott, das kann doch nur ein Alptraum sein!
 

Mir wird heiss! Furchtbar heiss, mein Herz klopft wie ein Vorschlaghammer! Das kann nicht sein, sicher wieder einer seiner Tricks! Ja, bestimmt! Dann sehe ich einmal nicht hin und er stürzt sich auf mich, um mich zu töten! Dieser Bastard! Darauf falle ich nicht rein, niemals! Mit dem Fuss stubse ich ihn an, in die Seite, an der Hüfte. Nein nein.. nein, das gibt's nicht! Selbst das Fleisch bewegt sich kaum, gibt kaum noch nach. Oh mein Gott! Er ist wirklich tot? Ein Blick auf sein Gesicht, es ist grauenhaft! Er sieht aus wie ein alter Greis, die Haut wird immer aschfarbener.. und.. so trocken, wie Pergament! Das gibt's doch garnicht!
 

Und seine Augen.. oh mein Gott, diese Augen! Obwohl sie nur halb offen sind, stechen sie noch heraus, dieses rote Blut, das dunkel geworden ist, die feinen Adern, die unnatürlich deutlich vorstechen, aus der Nase ein Rinnsal festgetrocknetes Blut. Die hellen Lippen liegen in einem See aus Rot, das sich auf den Kacheln verbreitet hat und durch die Rillen sickert.
 

"Nein.. das.." Ich bin völlig fertig. Jeder, der jetzt meint, genau das wäre wohl das Beste, was mir passieren konnte, dem schlag ich die Fresse ein. Oh mein GOTT! Ich habe jemanden getötet!! Einen kleinen Jungen, hier! Da liegt er tot in seinem eigenen Blut, da hab ich jetzt meinen Mord! Es ist grässlich! Es ist grausam! Niemals.. niemals hätte ich das getan aus freien Stücken.. ich bin ein Mörder! Der kalte Schweiss klebt mir die Kleider an den Leib und meine Herzpumpe donnert mit jedem Schlag schmerzhafter in meiner Brust. Was hab ich getan? ... ich muss hier raus!
 

Meine Knie sind weich wie Pudding und ich habe das Gefühl ich falle bei jedem Schritt mehr, denn ich laufe. Aber ich muss weg hier, raus hier! Aus dem Zimmer, aus dem Haus .. aus diesem ganzen, gottverdammten Land!
 

Stolpernd komme ich im Flur an und renne Richtung Wohnzimmer. Nur raus hier! Auf die Strasse, zurück nach Moskau.. und wenn ich die ganz Strecke in Rekordzeit rennen muss! Ha.. niemand hat mich gesehen, niemand weiss davon! Keiner kennt den Jungen, keiner vermisst ihn. Die denken sicherlich, dass alle im Labor unten umgekommen sind! Also wird mich keiner deshalb ansprechen. Keine Panik, Klement! Niemand wird dahinterkommen! Nur so schnell wie möglich raus hier, und..
 

Mitten in der Bewegung zucke ich zusammen, verliere die Balance und pralle gegen die Wand. Vor Grauen wage ich nicht einmal zu atmen. Vor mir das Wohnzimmer. Der gemütliche, alte Ohrensessel steht noch immer mitten ihm Raum. Mir zugewandt. Darin sitzt ein nackter, grauer Junge. Keine Spur von Blut, keine blauen Flecken. "Kleiner..?" Leblos. Die Information sickert schwerfällig wie Honig in mein Gehirn. Sein Kopf hängt schlaff auf die Seite.
 

"Nein.. das... das ist doch nicht wahr! Das war ich nicht!!" Panisch reisse ich mich wieder auf und renne zur Seite, die Fenster! Aus dem Fenster klettern! Dieses Haus ist verflucht, ich muss hier raus!! Schlafzimmer! Aber kaum ist die Tür auf, kann ich einen Aufschrei nicht mehr zurückhalten. Als hätte ich es geahnt, liegt auf dem Bett der Junge. Beziehungsweise das, was von ihm übrig ist. Kahl, dürr, Knochen, die hervortreten, mit grauer Haut bespannt, verdorrte Haare, blaues Gesicht, aufgedunsen, in qualvoller Langsamkeit im Hunger verendet.
 

"UAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHH!!!!!!"

[ My own worst enemy ]

Kalter Schweiss tropft von meinem Kinn und mein Atem stockt. Mein Herz hämmert zum Zerreissen und mein Kopf ist so wirr und vollgestopft, dass sich die Gedanken gegenseitig behindern. Ich sitze im Bad. Auf dem Rand der Badewanne und starre das Waschbecken an. Meine Brust schmerzt schon vom harten Schlagen meines total durchgedrehten Herzmuskels. Ein Traum? Einbildung? Illusion?
 

Ich wage nicht, neben mich zu sehen. Der Junge liegt auf dem Boden in der Ecke. Rührt sich nicht. Beginnt dieser Alptraum von vorn? Ich will es doch garnicht sehen! Dieses Gesicht, dieses tote Gesicht hat sich eingebrannt in meinen Kopf, alle drei Male!
 

Ich sehe Blut. Auf dem ganzen Boden. Nein.. nein, nicht noch einmal!! Lass diesen Alptraum nicht wahr werden! Meine Hand zittert so stark, dass ich aufpassen muss, dass der Arm nicht einknickt, auf dem ich mich abstütze. Vorsichtig beuge ich mich weiter hinüber, die Augen aufgerissen, Panik, dass sich dieses grauenhafte Szenario noch einmal wiederholt. Mühsam unterdrücke ich die aufkeimende Übelkeit, als ich Blut sehe. Aber nicht so viel wie in meinem Traum. Die Haare bewegen sich! Wie hypnotisiert starre ich auf die Haare, die leicht erzittern, angestossen durch den Atemhauch, der durch die blassen Lippen nach aussen dringt. Er atmet. Er lebt!
 

Falls es einen Gott gibt, ist er sich jetzt meines tiefsten Dankes sicher. Noch immer zittern meine Glieder, das jedoch bei den hektischen Bewegungen kaum noch auffällt. Gar nicht schnell genug kann ich mich zu dem Jungen knien, ihn auf den Rücken rollen und die Platzwunde am Haaransatz begutachten. Scheint nicht ernst zu sein, sicher ist der Junge durch die Schläge bewusstlos geworden, nicht durch die Wunde. Ich bin so erleichtert wie selten in meinem Leben. Ich habe nicht getötet. Der Junge lebt. Trotzdem macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Der Junge atmet flach und kaum merklich, der zierliche, schneeweisse Körper weist schon ziemlich üble Prellungen auf und die Haaren sind vom Blut ganz verklebt. Die Rechtfertigung, dass er mich umbringen wollte, verliert mehr und mehr an Überzeugungskraft, je länger ich mir dieses bemitleidenswerte Geschöpf ansehe. Die Frage nach dem Warum lässt sich jetzt auch schneller beantworten. Der Hass und die Wut auf mich lässt sich nur dadurch erklären, dass er mich für den Tod seines Bruders verantwortlich macht.
 

Vielleicht hat er uns beobachtet, als wir zu seinem Zwilling gegangen waren, Elena, der Professor, Sladis und ich. Kein Wunder sieht er in mir den Mörder seines Bruders. Das Problem ist nur, dass ich ihm in keinster Weise erklären kann, dass es nicht meine Schuld war. Überhaupt.. die Sache mit Elena und dem erschossenen Jungen hat jetzt einen ganz neuen Aspekt bekommen. Ich habe schliesslich den Jungen gesehen, der lächelnd in den Lauf von Elenas Pistole gesehen hat und auch Elena, die nicht Herr ihrer Bewegungen zu sein schien. Kann das sein, dass der Junge sich absichtlich erschiessen lassen wollte? Selbstmord? Hat er Elena so manipuliert, dass sie ihn gegen ihren Willen erschoss? Vielleicht sah der Junge es als eine Chance, sein klägliches Leben in Gefangenschaft zu beenden. Vielleicht die einzige Chance, die er gehabt hatte. Anders als sein Bruder. Er war weggelaufen. Er wollte leben. Und diesem Leben hätte ich beinahe ein Ende gesetzt.
 

Mir fällt auf, dass mein Zorn und die Wut von vorhin verschwunden ist bis auf den kleinsten Rest. Zurück bleibt - Sorge. Und ein ultraschlechtes Gewissen. Schnell ist der kleine Albino vom Boden ins Bett im Schlafzimmer transportiert. Krankenschwester spielen war noch nie meine Stärke. Ich erinnere mich, als Angie mal mit einer Grippe im Bett lag. Sie musste mir alles vorkauen, was ich ihr machen sollte.. sooo.. Tee kochen, Grippetabletten besorgen, Taschentücher bereitlegen.. und so'n Kram. Aber Angie ist nicht da und so sagt mir jetzt keiner, was ich machen muss, um einen bewusstlosen, am Kopf blutenden Albino wieder gesund zu kriegen. Na schön. Denken wir nur an die vielen Ärzte-Serien im Fernsehen. Die werden spielend mit Jungs fertig, die den halben Körper weggeschossen bekommen haben und bluten wie ein Schwein. Da werde ich doch mit dieser.. kleinen.. klebrigen.. ach Gott, ist das ekelhaft.. Die ganzen Haare kleben schon an der Wunde fest und alles ist rot und.. brrr! Ich weiss schon, wieso ich Chemie studiere und nicht Medizin! Mein Innerstes weigert sich ja schon, dieses offensichtliche Mini-Wündchen anzuschauen und anfassen soll ich das auch noch.. Aber was tut man nicht alles, um ein schlechtes Gewissen zu besänftigen?
 

Erstmal muss dieses ganze Blut weg. Also ab ins Bad, Handtuch nassmachen, ins Schlafzimmer. Mit Fingerspitzen das Handtuch auf die Wunde tupfen und ganz langsam löst sich das Rot vom Kopf und mit ihm die Ekelhaftigkeit. Ist eigentlich nur ein ganz kleiner Schnitt, der diese ganze Sauerei produziert hat - zum Glück! Jetzt noch die Haare ein bisschen abwischen und so schlimm sieht es nun gar nicht mehr aus. Jetzt bräuchte ich nur ein grosses Pflaster, das ich natürlich nirgends finde. Die Wunde blutet zwar nicht mehr, aber zumindest hab ich Ahnung von Keimen und Bakterien, die sich in frischen Wunden nur zu gerne einnisten und ne hübsche Entzündung austüfteln können. Also behelfen wir uns mit einem hoffentlich sauberen Taschentuch Marke TaTü aus meiner Hosentasche und einem Stoffstreifen, den wir kurzerhand aus einer der grauenhaft altmodischen Vorhänge reissen. Dieses Konstrukt nur noch um den Kopf gewickelt und fertig ist der 1A-Kopfverband. Wäre die Lage nicht so prekär, hätte ich sicherlich lachen müssen. Der Junge sieht aus wie eine erbleichte Vorzeit-Squaw mit hoffnungslos modeunbewußtem Kopfband. Aber es erfüllt seinen Zweck und aus diesem Grund bin ich auch ungeheuer stolz auf meine Improvisationsgabe.
 

Etwas mulmig wird mir allerdings wieder, als sich der Junge regt. Was heisst regen, er versucht sich zu bewegen und bricht jeglichen Versuch mit einem Stöhnen ab. Sofort schnellt mir ein Gedanke in den Kopf - hat er sich womöglich bei dem Sturz was gebrochen? Eine Rippe vielleicht, oder er könnte sich was verrenkt haben. Hm. Schon scheisse, wann man sich nicht mal verständigen kann, um zu fragen, ob und wo's wehtut. Der Kleine blinzelt vorsichtig und ich schwöre, ich war noch nie so froh, diese roten Augen zu sehen. Ist immer wieder befremdlich. Als ob man ein Foto betrachtet, auf dem der "Anti-Rote-Augen-Blitz" jämmerlich versagt hat. Aber irgendwas sagt mir, dass ich mich womöglich selbst daran gewöhne. Im Moment ist es fast eine Erleichterung. Aber auch nur fast. Sofort wallt mir eine Welle purer Angst entgegen.
 

"Äh.. hej.." Mein kumpelhafter Gruss scheint den Kleinen nicht viel zu jucken. Wo vorhin blanker Hass gewesen ist, sitzt jetzt nur noch Furcht ohne Ende. Natürlich will er sofort von mir wegrutschen weil er weiss, was ich gemacht habe, aber wenn ich schonmal Anwandlungen von Freundlichkeit habe, dann sollen die gefälligst nicht ignoriert werden. Also halte ich den Kleinen bei den Armen fest und drücke ihn vorsichtig, aber bestimmt wieder auf die Matratze. "Jetzt hör mal zu! Ich weiss ich hab dich vorhin schon das zweite Mal k.o. geschlagen, aber dazu hatte ich auch meinen Grund! Zweitens,... jaja, es tut mir leid, auch wenn du mich nicht verstehst, aber den Verband solltest du wohl schon bemerkt haben. Ja, das war nämlich ich, weil ich mir Sorgen mache, kapiert? Also. Wenn ich dir Böses wollte, hätte ich dich kaum behandelt!" Naja, von behandeln kann wohl kaum die Rede sein, aber wenigstens ist der Junge nicht mehr so wild drauf irgendwo hinzurutschen. Mit hochgezogener Augenbraue lasse ich laaangsam die Arme los und er bleibt tatsächlich liegen. Obwohl er noch zu überlegen scheint, ob er nicht doch Reissaus nehmen soll. Aber diesmal ist wohl die Vernunft stärker und er beobachtet mich nur.
 

"Du verstehst kein Wort, oder?" Der verständnislose Blick sagt alles. Seufzend fahre ich mir durch die Haare und überlege, wie ich den Kleinen etwas besänftigen könnte. Schliesslich fällt mir wohl die klischeehafteste Idee überhaupt ein. Stammt aus der ersten Tarzan-Verfilmung. Mit einer überdeutlichen Geste zeige ich auf mich und formuliere langsam und deutlich: "Klement Richter! Kleeeement Richter!" Hat er das jetzt verstanden? So weltfremd kann ja schliesslich keiner sein. "Alles klar? Ich - Klement!" So, und nun ist er an der Reihe. Unschlüssig sieht er mich an und spricht ganz leise. "Kle..ment" Na Bravo! Wenigstens das ist jetzt klar. "Ja, der Klement. Und wie heisst du?" Was dann kommt, verstehe ich nicht. Er hört sich an wie eine Mischung aus Gurren und Seufzen. Das ist doch kein Russisch, oder? Meine Verständnislosigkeit muss man mir wahrlich ansehen, denn der Junge fuschelt plötzlich mir seinen Armen herum. Argwöhnisch betrachte ich die Finger, wer weiss, ob er damit irgendwas beschwören kann oder so. In Sachen Aberglauben hab ich meinen gesamten Atheismus über Bord geworfen angesichts dieser Ereignisse.
 

Aber nichts passiert, er zeigt mir eine gespreizte Hand und einen Daumen. Sechs Finger. Hä? Es dämmert mir. Dieses Killerwiesel hat auch irgendwas von Zahlen gesagt, die auf der Flucht sind. "Six" sage ich und der Junge nickt. "Du heisst Six? Haben die euch keine normalen Namen gegeben?" Okay, es gibt auch verrückte Eltern, die ihre armen Kinder Sky, London oder Gotthilf benennen. Aber ne Zahl? Six. Man übersetze das nur ins Deutsche. Man kann einem Kind doch nicht zumuten, als personifizierte körperliche Liebe durch die Gegend zu laufen.
 

"Okay, Six. Du brauchst nen neuen Namen. Erstens suchen die russischen Jungs dich unter dem einfallslosen Namen Süüüx und zweitens, nimm's mir nicht übel, aber er ist scheisse. Deine Erzeuger waren wohl nicht sehr kreativ." Natürlich versteht Six kein Wort aber er schaut aufmerksam, weil er den Klang seines Namens kennt. "Lass mal sehen. Wie könnten wir dich nennen.." Das ist wie als ob man seinem neuen Haustier einen Namen gibt. Ohne Frage, es macht Spass.
 

"Ich hab's! Pass auf! Six - also Sechs auf Deutsch. Der sechste Monat im Jahr ist der Juni. Und weil man im Deutschen Juni und Juli gern verwechselt, sagt man zu Juni "Juno" und zu Juli "Julei"! Na jetzt? Wie findest du Juno? Weil!" Ich bin ja so stolz! "Juno hört auch sich ziemlich asiatisch an, findest du nicht? Ha! Das passt doch perfekt! Weil die doch auch so helle Haut haben, da fällt das garnicht auf. Dann färben wir deine Haare noch schwarz. Und abschneiden müssen wir die auch auf jeden Fall, das ist viel zu auffällig mit der langen Mähne. Und da du sowieso ein hübsches Gesicht hast und eh nur Mädchenkleidung hier ist, ist die Tarnung doch perfekt? Ha! Die Russen jagen einen männlichen Albino und kein asiatisches Mädchen. Na, ist das nicht genial?" Okay, er hat wieder nichts verstanden. Aber das macht nichts, mein Plan steht fest.
 

"Nun schau her. Klement!" Geste auf mich. Er wiederholt brav. "So und du bist: Juno!" Er guckt etwas unverständich. "Du! Juno!" Zögernd nickt er und sagt es nach. Als ob man einem Kind sprechen beibringt. "Nochmal. Wer ist das hier?" Ohne Zögern folgt ein "Klement". So ist es recht. "Und das?" Diesmal guckt er eine Weile und sagt dann vorsichtig: "Ju..no.." Na bitte, geht doch. Mein Haustier hat einen neuen Namen.
 

Mein Haustier schläft. Ich habe zwar versucht, ihm noch ein paar Worte beizubringen, aber es hat ihn sehr angestrengt und irgendwann ist er einfach eingeschlafen. Schon komisch. Wir beide waren bis vor ein paar Stunden noch Todfeinde und jetzt liegen wir friedlich nebeneinander auf einem fremden Bett und keiner hegt mehr Mordpläne gegen den anderen. Zumindest hoffe ich das. Aber der Junge hat nicht so ausgesehen, als ob er mir wieder an die Kehle wollte. Vielleicht wird er jetzt ein bisschen weniger scheu, wenn er meinen Namen kennt. Und einen neuen Namen hat er jetzt. Eine tolle Idee von mir. Sicher mag er seinen alten Namen auch nicht besonders, ich könnte mir vorstellen, dass er bei dem Namen immer nur an das Killerwiesel denken muss. Brrr. Ich will garnicht wissen, was diese Typen noch alles verbrochen haben. Wer Kindern Namen nach Zahlen gibt, der schreckt auch vor Schlimmerem nicht zurück. Dabei sieht er wirklich so friedlich aus wenn er schläft. Irgendwie niedlich. Ausser der Verband, der ist geradezu lächerlich und ich muss jedes Mal grinsen, wenn ich mir den Kopf angucke. Aber wenn's hilft..
 

Nicht lange und meine Knochen und vor allem mein Geist schreit ebenfalls nach Ruhe und mit einem letzten Blick nach rechts wage ich auch die Augen zu schliessen. Hach herrlich.. Schlaf.. wie sehr habe ich das gebraucht. Morgen ist sicher alles wieder in Ordnung. Vielleicht wache ich ja im Flugzeug auf und stelle fest, dass das alles nur ein böser Traum war und wir grade auf dem Weg zu einer langweiligen Geburtstagsparty sind. Die kalte Decke wärmt sich langsam und alles entspannt sich, erschöpft verabschiedet sich mein Denken für die nächsten 12 Stunden. Oder so.
 

* * * * * * * *
 

Es ist Morgen. Nein, Mittag. Ach egal. Es ist schön, warm und kuschelig, äusserst angenehm und ich habe absolut keine Lust, jetzt aufzuwachen. Das Bett ist viel zu gemütlich, nur die Haare kitzeln ununterbrochen und... moment. Welche Haare? Schwerfällig hebt sich eins meiner Augenlider und bei dem Anblick, der sich da bietet, bleibt fast mein armes Studentenherz stehen. Das ist nicht mein Bett. Das ist nicht mein Haus. Das ist nicht Angie, was da unverschämt eingekuschelt vor meiner Nase schläft. Mit einem Ruck bin ich in der Senkrechten und auch genausoschnell hellwach. Ach du scheisse. Doch kein Traum. Langsam sickert die ganze Geschichte wieder ins Gedächtnis zurück und der Kleine, der immer noch selig schlummert ist mir keine Hilfe bei dem Versuch, alles als Traum abzutun.
 

Revidieren wir mal kurz die letzten Stunden: Nach Russland geflogen. Hinter Moskau mit getarnter Spionin in ein Geheimlabor eingebrochen. Dessen Zerstörung überlebt und Albino gefunden. Albino mitgenommen, von ihm fast zum Selbstmord überredet worden, Albino fast umgebracht und ihm dann einen Namen gegeben. Eingeschlafen. Stopp. Soweit die Tatsachen.

Das!

Ist!

Doch!

Wahnsinn!!!

Was mache ich hier, zum Teufel?! Hatte ich nicht schon zigmal erwähnt, dass ich nicht James Bond bin und keinen Wert auf so unglaubliche Abenteuer lege?! Jetzt brauche ich erstmal ne kalte Dusche...
 

Im Bad glotzen mir immernoch die Spuren des gestrigen Kampfes entgegen. Brrr.. ich hasse Blut! Aber bevor wir verschwinden, sollte ich es dennoch wegwischen. Muss ja keiner wissen, dass wir hier waren. Nachdem rotbraunes Wasser im Ausguss verschwunden ist und nach einer halben Ewigkeit das eiskalte Wasser etwas klarer geworden ist, stelle ich mich furchtlos darunter.. wenigstens für ein paar Sekunden. Der Plan von hier zu fliehen hat wieder Formen angenommen. Sobald wir etwas zu essen gefunden haben, verschwinden wir von hier und versuchen zur Stadt zu kommen. Von dort aus weiter mit dem Bus oder so. Oder mit der Bahn. Meine finanzielle Situation ist leider auch nicht so grossartig, aber für zwei Tickets und Verpflegung reicht es allemal. Und dann... wohin? Das ist eine gute Frage. Vorerst ist das "wovon-weg" vielleicht wichtiger, aber wenn wir jetzt anfangen wegzulaufen, sollten wir auch ein Ziel haben. Was soll ich mit dem Jungen machen? Inzwischen ist selbst mir klar, dass der Kleine erstens total überlebensunfähig ist und zweitens innerhalb kürzester Zeit wieder von den Kerlen aufgegriffen wird. Ich habe genug Kriminalfilme gesehen, ich kann mir vorstellen, dass dieser Sladis nicht alleiniger Drahtzieher war. Und wenn der Junge wirklich so wertvoll für sie ist...
 

Wer weiss, vielleicht bringe ich mich in Teufels Küche, wenn ich mit dem Jungen zusammenbleibe. Was heisst vielleicht, das ist sogar höchst wahrscheinlich. Und wieso sollte ich mein Leben aufs Spiel setzen für einen unbekannten Jungen, der eigentlich nichts als Ärger bringt? Wieso? Ganz einfach. Ich bin zu weich. Jetzt, da ich ihm sogar einen Namen gegeben habe, kann ich ihn unmöglich irgendwo sitzenlassen und sagen: "Schau, wie du zurechtkommst!" Das geht ja nicht. Für ein Haustier ist man schliesslich auch verantwortlich und muss sich darum kümmern. Ich weiss nicht, was ich dauernd mit Haustieren habe, aber mein Entschluss, den Jungen hier rauszubringen ist somit sicher.
 

Schlotternd versuche ich meine eisigen Glieder wieder warmzurubbeln, als ich eine Bewegung in der Tür merke und aufblicke. Albino steht am Bad und glotzt mich an, als wäre ich ein Alien. "Klement" sagt er und guckt jetzt an sich selber herunter. "Ju-no.." Komischer Kerl. "Noch nie nen nackten Mann gesehen?" lache ich, aber er guckt immer noch wie ein Auto. "Ja, da guckste, was? Drunter sehen alle gleich aus. Naja fast!" Aber der Kleine scheint wirklich wie vor den Kopf gestossen und plötzlich wie aus dem Nichts fängt er an zu grinsen, als wäre etwas unheimlich schönes passiert. "Klement!" sagt er wieder und lacht mich an. "Juno!" Nein, wie niedlich. Wie ein Baby, wirklich! "Ja genau! Klement sieht ohne Kleider aus wie Juno! Ist das nicht toll?" Und toll findet er das wohl wirklich. Ohne Vorwarnung läuft er los und klammert sich an mir fest, interessiert sich nicht dafür, dass ich noch klatschnass bin. Äh. Hallo?
 

"Äh.. Äääh, Juno.. also.. kannst du das bitte lassen? Ich versteh ja, wenn du dich freust.. naja, eigentlich verstehe ich das nicht, aber..hey!" Das ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Immernoch hängt der Klammeraffe an meiner Taille und brabbelt unverständliches Zeug, scheint fast ausser sich vor Glück zu sein. Herrje. Der wird doch nicht vom anderen Ufer sein?! "Also.. Juno.. JUNO!" sage ich streng und tatsächlich er hört auf seinen neuen Namen und guckt an mir hoch, lächelt noch immer und ist das das Wasser, oder heult der jetzt? Jedenfalls sieht er sehr glücklich aus, das bringt mich etwas aus dem Konzept. Aber ich muss mich in den Jungen versetzen. Sicher hat er noch nie einen nackten Menschen gesehen ausser sich selbst und seinen Bruder. Aha. Vielleicht denkt er jetzt, ich bin einer von ihnen. Jesus, so ein unschuldiges Kind gibt es wohl in ganz Europa nicht mehr.
 

Vorsichtig mache ich seine Arme von mir los und gehe in die Hocke. Er will mich gar nicht mehr loslassen und klammert sich jetzt stattdessen an meine Arme. "Also Juno!" beginne ich und er schaut mir wirklich ins Gesicht. Jeeesus, wie goldig! Als würde er in mir einen Berg Eiscreme sehen. "Ich weiss du verstehst mich nicht, aber ich sehe, dass du dich freust. Jaja, Klement ist wie Juno.." Juno kiekst. "..äh.. aber ja.. also du bist ein Mann und ich bin ein Mann!" Wie erklärt man denn sowas? Wie soll man einem völlig weltfremden Russen den Unterschied der Geschlechter erklären bitte? "Ist ja schön, wenn du dich freust, aber weißt du, du kannst nicht gleich jeden Mann umarmen, der nackt ist.. äh.. die würden das sicherlich falsch verstehen. Ich kapier's ja, dass du dich freust, dass wir alle gleich sind, aber.. du hörst mir nicht zu, oder?" Seufzend lasse ich eben das Gegrabbsche über mich ergehen. Juno ist wie ein kleines Kind, da kann man beim besten Willen nichts Anstössiges finden. Und irgendwann hat er auch genug, zum Glück ohne vorher meine besten Stücke auch noch betatscht zu haben, weil das ginge mir dann doch zu weit. Aber er ist brav und lässt die Finger von mir, lächelt aber immernoch überglücklich. Wobei ein Vergleich von seiner Statur zu meiner schon ein himmelweiter Unterschied ist, grade mal am Rande bemerkt. Aber egal, wenn er schonmal da ist, kann ich ihn auch gleich unter die Dusche stellen.
 

Zum Glück ist niemand im näheren Umkreis, der hätte das Kreischen sicherlich gehört. Zugegeben, das Wasser ist nun mal eiskalt, aber noch lange kein Grund, so ein Theater zu machen. Juno jammert wie ein getretener Hund und versucht aus der Dusche zu springen, aber da bin ich unerbittlich. Bitte, wenn er so sein will wie ich, dann soll er auch mal kalt duschen. Wenig später steht ein tropfendes, zitterndes und wimmerndes Opferlämmchen im Bad und lässt sich trockenrubbeln. Das Haar nervt. Das kommt jetzt runter. Ins Handtuch eingepackt setze ich ihn auf der Toilette ab und klappe aus Ermangelung einer Schere das Rasiermesser auf. "Wie kurz soll ich sie machen?" Keine Ahnung, ich bin ja kein Frisör. Aber nicht zu kurz, schliesslich soll er ja zumindest für eine Weile ein Mädchen spielen. Ich entscheide mich also für knapp brustlang und beginne mit dem Schneiden. Juno murrt ab und zu, wenn das Messer in den Haaren ziept, lässt die Prozedur aber sonst anstandslos über sich ergehen. Aber ich glaube mit meiner Nacktheit habe ich mir in kürzester Zeit jede Menge Vertrauen ergaunert und er hätte sicherlich auch nichts dagegen gehabt, hätte ich ihn langsam seziert.
 

Das Ergebnis meiner coiffeuristischen Meisterleistung ist ... man könnte es sicher irgendwie irgendwo in der Welt als "modisch" beschreiben. Die Strähnen sind ausnahmslos unterschiedlich lang und auf der einen Seite habe ich mich ganz verschätzt, weil ich einen Pony machen wollte, der mir dann aber doch zu schwierig war. Aber im Grossen und Ganzen könnte man auch behaupten, dass sich ein Pariser Starfriseur gerade hier verwirklicht hat. In welche Richtung auch immer. Aber zumindest ist mal das primäre Ziel erreicht. Und das nächste folgt sogleich.
 

Die nächsten Minuten werden der grösste Spass. Ich hab ja meine alten Kleider noch, obwohl ich mir auch demnächst etwas neues kaufen sollte. Aber für Juno steht eine wahre Boutique bereit. Zwar alles etwas einfältig und rustikal - Angie hätte die Hände über den Kopf geschlagen und sofort Amnesty International gerufen - aber es sind Mädchenkleider und sie passen Juno wie angegossen. Vieles ist aber viel zu bäuerlich, zu sommerlich oder schlicht und einfach zu hässlich. Mir macht es einen Heidenspass, Juno in jedes Kleid, das halbwegs akzeptabel ist, reinzustecken und ihn zu begutachten. Er scheint jetzt auch zu verstehen, dass er etwas zum Anziehen bekommt und freut sich noch mehr, weil ich ja auch etwas anhabe und er mir wieder ein bisschen ähnlicher wird. Naja... im weitesten Sinn. "Was hältst du davon?" Passt perfekt. Dunkler, schwerer Stoff, der schön warm geben könnte. Relativ neutral, sieht bei näherem Hinschauen fast wie ein Trauerkleid für Beerdigungen aus. Aber wen kümmert's. Sogar passende Stiefel sind da. Auch die passen wie durch ein Wunder. Aber jetzt gehen die Probleme los. Kaum lasse ich Juno allein stehen, kippt er zur Seite, ich halte ihn, aber mit dem schmalen Absatz kommt er einfach nicht zurecht. Klar, sind ja auch Weiberstiefel. "Tut mir leid, sonst sind nur die hier.." Ein verdrecktes Paar Ackerstiefel. No chance. "Dann lern halt Laufen in den Dingern"
 

Während Juno durch die Zimmer geht, beziehungsweise stochert, mache ich mich mal auf die Suche nach etwas zu Beissen. Mein Magen hängt nämlich inzwischen wirklich in den Kniekehlen und der Kleine kann sicher auch was vertragen. Die Küche ist nicht wirklich ergiebig, ausser vermodertem Gemüse, das augenscheinlich schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, gibt es hier nur irgendwelche Kochutensilien, vergammelte Nudelschachteln und sonstiges, ungeniessbares Zeug. Aber daneben in der Abstellkammer! Jauchzet und frohlocket - Dosenfutter! Und zwar in dicken, nichtssagenden Blechdosen, die noch nach zweitem Weltkrieg aussehen, aber vielleicht ist trotzdem noch was geniessbar. Dann selbstgemachte Marmelade! Mir geht fast das Auge über. Ein herrliches Pflaumenmus in Omas Einmachglas und ganz ohne Alterserscheinungen. Was will man mehr? Kurzerhand schleppe ich das ganze Zeug auf den Esstisch und finde sogar noch einen Dosenöffner. Allerdings scheint er für diese Art von Dosen nicht gemacht zu sein, es dauert bestimmt fünf Minuten und eine Tonne bösartigster Flüche, bis die Dose vollständig auf ist. Der Inhalt sieht vielversprechend aus. Irgendein Fisch in Tomatensosse. Davon reichlich. Dazu serviert man eingelegte Gurken. Pökelfleisch. Blutwurst. Bierwurst. Eine Flasche Wein. Mahlzeit.
 

Verständlicherweise ist Juno skeptisch, was unsere Essenszusammenstellung betrifft, aber mehr bietet sich leider nicht an. Ha! Die Jungs von der Bundeswehr wären sicher froh um so eine Tagesration. Ausserdem ist das meiste wirklich in gutem Zustand und ich denke, dass ich sogar eine kleine Magenverstimmung in Kauf nehmen würde, um endlich satt zu werden. Und so schlecht ist es garnicht. Juno hat grossen Gefallen an den Gurken und dem Fisch gefunden, es scheint ihm sogar sehr gut zu schmecken. Nur das mit dem Wein hab ich mal aussen vor gelassen, immerhin haben wir heute noch viel vor. Schon ein seltsamer Anblick da vor mir. Ein schneeweisses Wesen in einem dunkelblauen Kleid, das mit roten Fingern unbeholfen in einer Fischdose stochert. Wie Schneewittchen. Höhö.
 

Das Wetter ist klar und klirrend kalt. Vom vielen Regen ist der Boden matschig und aufgeweicht aber immerhin ist die Luft trocken. Ich hab mir doch keine Mühe gemacht, alles wieder aufzuräumen und Spuren zu beseitigen. Es hätte zu viel Zeit gekostet und wahrscheinlich hätte es sowieso nichts gebracht. Irgend jemand wusste bestimmt von dem geheimen Gang und früher oder später würden sie hier alles durchkämmen und auf den Kopf stellen, wenn auch nur rein aus Prinzip. Alle Möglichkeiten mussten ausgeschöpft werden. Aber bis dahin sind wir hoffentlich schon über alle Berge.
 

"Juno?" Der arme Kerl hat immernoch Probleme mit dem Gehen, aber langsam scheint er sich an die Tussitreter zu gewöhnen. Er sieht aus wie eine beschwipste kleine Prinzessin, wie er so rumwackelt. "Komm her!" So kann er sich wenigstens an meinem Anorak festhalten und wir kommen schneller voran. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass wir ein ganzes Stück laufen müssen, bevor wir auf die nächste befahrene Strasse treffen, denn hier scheint seit Ewigkeiten kein Auto mehr unterwegs gewesen zu sein, so verlassen und öde.. "Was ist denn jetzt?" Juno ist stehengeblieben und fummelt an dem improvisierten Verband herum, der ihm fast über die Augen gerutscht ist. "Warte, lass mich.." Das gibt's doch nicht. Der Schnitt ist weg. Nur ein kleiner Strich erinnert noch an den Unfall. Jetzt fällt mir auch ein, dass Juno heute morgen im Bad ausgesehen hat wie sonst. Aber das ist ja das Problem. Er hätte über und über mit blauen Flecken übersät sein müssen. Aber die Haut ist weiss und blütenrein, ausser ein paar leichten Narben, die jedoch auch jedesmal blasser geworden waren, wenn er ihn angesehen hatte. Wow. Juno war anscheinend so ein Zeitraffer-Regenerations-Viech. Der hat es ja gut. Der braucht sich keine Gedanken machen, wenn er sich mal das Bein bricht. Was in den Stiefeln allerdings auch garnicht so abwegig ist.
 

Mit dem gräusslichen Vorhangsstoff binde ihm ihm schnell die Haare zusammen und stülpe ihm die Kapuze über, denn der Wind ist heftig und ekelhaft kalt noch dazu. Juno scheint aber nicht zu frieren, obwohl der kurze Mantel ziemlich dünn ist. Eine Hand ist noch immer in meinen Arm geklammert, damit er nicht stürzt und langsam färbt sich das weisse Gesicht ein bisschen rötlich, zumindest die Nasenspitze und die Backen. Kann mir grade noch verkneifen, ihn zu tätscheln, aber der Drang dazu ist schon da, wie er so aussieht wie ne Porzellanpuppe mit den rosa Bäckchen. Hätte uns jetzt jemand zusammen laufen sehen, hätte er uns sicher für Vater und Töchterchen gehalten. Obwohl Juno schon ein bisschen zu gross und ich noch zu jung wirke. Vielleicht hätte man uns auch für ein Pärchen gehalten? "Klement Richter, was denkst du dir da für einen Mist zusammen?"
 

"Das ist ein Baum. Baum!" Juno wiederholt und deutet auf eine riesige Eiche zu der ich genickt habe. "Genau, ein Baum. Und das hier, das ist eine Straße. Stra-ße!" Der Junge lernt schnell und vergisst nur selten ein neu gelerntes Wort. Jetzt kennt er schon so ziemlich alles, was um uns herum ist, leider ist das nicht viel. Wir sind seit knapp einer Stunde unterwegs und noch immer ist keine belebtere Strasse in Sicht. Juno kann jetzt schon viel besser laufen, hat sich aber geweigert, meinen Arm loszulassen. Naja, für ihn ist das "Draussen" schon unheimlich aufregend. Er kann sich garnicht sattsehen und deutet immer wieder ungläubig in die Ferne oder an den Himmel. Als er Vogelgezwitscher hört und das dazugehörige Tier entdeckt, ist er vollends aus dem Häuschen. "Nein, Juno! Ich werde jetzt sicher nicht anfangen, Vögeln nachzujagen. Warte.." Ich pfeiffe ihm ein paar Töne und schon ist seine Aufmerksamkeit wieder bei mir. Bis er einen Hasen entdeckt, der eilig übers Feld hoppelt. Ja, über Felder und nichts als Felder. Äcker und Wiesen mit zig Feldwegen, sonst kein Anzeichen von menschlicher Natur. Keine Autos, keine Häuser. Nicht einmal Telefonmasten. Wie öde...
 

"Klement! Klement!" Immer wieder will Juno etwas wissen, deutet auf Schnecken und Blumen, Spitzmäuse und Pfützen. Eigentlich traurig, was ich hier zu sehen kriege. Der Junge war noch nie, noch nie, das muss man sich mal vorstellen, in freier Natur! Keine Pflanzen, keinen Himmel, keine Tiere. Nichtmal ne Pfütze. Vor Begeisterung sind seine Wangen jetzt so rot wie kleine Äpfel und er kriegt garnicht genug von seinem "Baum, Baum! Wolke! Schnäckä!" Und die Ferne. Selbst mir wird bewusst, wie gross die Welt hier draussen ist, wenn man kilometerweit über ebene Fläche sehen kann bis Himmel und Erde sich berühren. Und plötzlich hinter einem Hügel - eine Kreuzung. Rechts oder links? Ich erkläre Juno kurz, was Rechts und was Links ist und er stiert zielstrebig nach links, wo der Weg durch eine kleine Allee führt. "Llinkth!" Was dahinter ist, kann man nicht erkennen. Auf der rechten Seite führt die Strasse weiter ins Nirgendwo der Ackerländer und ich stimme zu, nach links zu gehen. Von Kartoffeln und Schnecken habe ich langsam auch genug. Kaum haben wir das Dunkel der Allee betreten, gleist vor uns ein Licht auf, das mich blendet. Scheinwerfer!

[ Invisible Plan ]

Anstatt von der Straße zu weichen, stelle ich mich vor Juno und fuchtle heftig mit den Armen. Das ist unsere Chance! Endlich runter von der Straße in ein warmes Auto, in die Stadt und dann auf dem schnellsten Weg...
 

Das Auto hält. Eine noble Benz-Karosse - ein schwarzer Mercedes. Was um alles in der Welt macht so ein Bonzenschlitten in dieser Einöde, will ich mich gerade fragen, da ist es schon zu spät. Die Tür geht auf und ein Russe im Anzug steigt aus, in der Hand ein Revolver. Scheisse! SCHEISSE! Das hatte ich ganz vergessen, verdammt!!
 

"Lauf Juno!!! Versteck dich!!" brülle ich nach hinten, bevor der Riese sich ganz aus dem Auto befreit hat und wirble herum. Juno versteht nicht, wie wild schreie ich jetzt nach dem "Baum" und jetzt fängt der Junge an zu rennen. Ein Schuss knallt durch die klare Luft und ich hechte mich hinter die Baumreihe. Verdammt! Verdammt nochmal, so ein Leichtsinn!! Wo ist Juno?! Weiter hinten höre ich es leise rascheln und ich bete, dass es Juno ist, der sich aus dem Staub macht und nicht einer dieser Man in Black, der es auf mich abgesehen hat. Mit denen ist scheinbar auch nicht gut reden, also hat sich ergeben keinen Sinn. Erst schiessen, dann Fragen stellen. Das Klischee ist so verdammt gut getroffen, dass ich fast gelacht hätte, wenn ich nichts besseres vorhätte. Entkommen zum Beispiel. Fieberhaft überlege ich, wie ich uns aus dieser Lage befreien könnte, aber ich bin eben doch kein gottverdammter James Bond, zum fünfzehntausendsten Mal - und erst recht kein McGyver!
 

Vielleicht kann ich diesen Hünen trotzdem irgendwie überrumpeln. Zum Glück stehen die Bäume dicht und dunkeln alles ab, so bin ich wenigstens schlecht zu erkennen. Leider auch die Kerle aus dem Wagen, denn ich habe gerade noch gesehen, wie ein zweiter ausgestiegen und in dem kleinen Waldstück verschwunden ist. Oh bitte lass sie Juno nicht finden! Wieder ein Rascheln! War es neben mir oder hinter mir? Vorsichtig sehe ich mich um, ein Ast wackelt. War da jemand?! Ein schreckliches Gefühl macht sich in mir breit und ich folge einfach meinem Instinkt, der mich zu Boden zieht, als auch schon eine Revolverkugel mit einem ohrenbetäubenden Donnern in den Baum über mir einschlägt. Nicht nach rechts und nach links sehend hetze ich weiter in das kleine Wäldchen, zucke hinter eine kleine Baumgruppe. Hinter mir kracht ein Schuss, jedoch nicht in meine Richtung. Das Herz schlägt mir im Hals und mir wird übel. Nicht.. nicht Juno! Gerade will ich auffahren, da gewahre ich eine Bewegung und drücke mich weiter zwischen die Bäume. Nicht atmen. Nicht bewegen. Der Riese steht genau vor mir.
 

Mit den Augen verfolge ich jede kleinste Bewegung. Er schwenkt den Revolver durch die Bäume, blickt nach allen Seiten. Mir bleibt das Herz stehen, er sieht genau hierher. Die perfekte Zielscheibe. Ich kann schon das Abdrücken der Waffe hören. Doch er schaut vorbei, dreht sich, geht ein Stück weiter, hat mich zwischen den Ästen nicht gesehen. Ich weiss nicht, ob ich jemals in meinem Leben solche Angst hatte. Ich darf keinen Mucks machen, aber meine Lunge sticht, verlangt nach Sauerstoff, viel Sauerstoff. Ich überlege, wie ich ihn überwältigen könnte. Er hat eine Waffe, ich habe keine. Er ist gross und mindestens doppelt so stark wie ich. Keine guten Voraussetzungen. Trotzdem muss ich ihn überlisten, sonst sind wie beide verloren. Hoffentlich ist Juno entkommen und kann sich verstecken!
 

Wie in Zeitlupe senke ich mich zum Boden und greife nach einem Stein. Gerade, als ich ihn werfen will, höre ich etwas flattern und krächzen. Der Riese zuckt zusammen und ballert wie ein Wilder in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Lärm von fliehenden Tieren verwirrt ihn. Dann geht er langsam weiter, wieder an mir vorbei, er ist viel zu nervös, um mich zu bemerken. Da! Wieder ein Geräusch! Es raschelt und quietscht aus zwei Richtungen gleichzeitig, der Hüne schreit und das Krachen der Schüsse grollt durch den ganzen Wald, so dass auch die letzten Tiere verschreckt und geräuschvoll die Bäume verlassen, der Russe weiss nicht mehr, wo er hinzielen soll und das ist meine Chance. Ich packe den Stein fester und warte, bis der verstörte Mann wieder in meine Nähe kommt. Der Stein ist nicht schwer, er würde ihn nicht verletzen, selbst wenn ich ihn mit aller Kraft werfen würde. Ich müsste eine empfindliche Stelle treffen, sein Genick oder den Kopf. Entschlossen packe ich den Stein, bis es fast wehtut, aber meine Hände sind so glitschig, wenn ich ihn nicht sofort hart treffe, ist es aus!
 

Jetzt, er lauscht in die Finsternis, dreht sich leicht, die Pistole im Anschlag, das nächste Mal wird er mich sehen, garantiert. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und mache mich bereit zum Lauf, da knackt etwas hinter mir, der Mann zuckt in meine Richtung, ich kann mich nur noch zur Seite werfen, schon knallt der Schuss, ich pralle gegen den Baumstamm und die Wucht schleudert mich wieder zurück, dadurch entgehe ich einer weiteren Salve, ich stolpere zurück, der Stein ist immernoch in meiner Hand und ich werfe ihn blind drauflos und tatsächlich knallt es wieder, ich höre etwas schlittern. Der Revolver! Sofort jage ich der Waffe nach, doch mein Verfolger tut es mir gleich. Endlich erwachen meine Sinne vollständig. Ich renne an der Waffe vorbei, ein paar Meter und lasse mich dann fallen, der Hüne ist einen Moment vor mir dort und wirft mich von seiner Schulter, sucht in dem dunklen Laub nach seiner Waffe. Auf dem Rücken taste ich mich zurück und dort, wo ich die Pistole wirklich geschätzt habe, ertaste ich kaltes Metall. Sofort bin ich auf den Beinen, zücke die Waffe und schreie dem Kerl zu, dass er lang langsam aufstehen soll. Natürlich versteht er mich nicht, aber er bemerkt, dass ich ihn reingelegt habe und seine Knarre in den Händen halte. Oh Gott, hoffentlich merkt er nicht, wie sie zittern!
 

Erschreckt schreie ich auf, als mein Finger zu nervös einen unbeabsichtigten Schuss abgefeuert hat, garnicht weit vor den Füssen des Kerls schlägt die Kugel ein und er bleibt auch wirklich lauernd auf Abstand. "Zurück!" Ich wedle mit der Hand. Er geht ein paar Schritte zurück und ich folge ihm, immernoch zitternd. Ich halte eine Waffe in der Hand und bedrohe jemanden damit! Mein Gott... was ist nur aus mir geworden?
 

"Juno?! .. Juno, hörst du mich?!" schreie ich in das Dunkel, aber alles bleibt totenstill. "Juno!!!" Das darf nicht wahr sein! Haben sie ihn erwischt? Dafür werden sie bezahlen!! Nein.. nein, ich höre mich an wie der Rächer der Witwen und Waisen! Ich werde hier einfach verschwinden! "Ah.." Der Revolver hat geklickt. Ich bin wieder an den Abzug gekommen. Die.. Munition ist alle. Nervös starre ich zu dem schwarzgekleideten Kerl hinüber. Hat er es gehört? Er grinst. Er greift in seine Tasche und wedelt mit einem schwarzen Gegenstand herum. Wahrscheinlich ein Ersatz-Magazin. Uh-scheisse!
 

Und wieder laufe ich um mein Leben. Die Pistole habe ich weit weggeworfen, so dass sie uns beiden nichts mehr nützt. Aber der Riese hat immernoch seine bloße körperliche Kraft, mit der er mit haushoch überlegen ist. Falls er mich in die Hände bekommt. Leider ist der Kerl nicht nur gross, sondern auch schnell und wird mich irgendwann eingeholt haben. Und irgendwann ist auch das Wäldchen zuende. Wie zur Hölle kann ich ihn trotzdem ausschalten? Wieder ein Trick? Mir muss etwas einfallen! Schnell! Was würde Indiana Jones jetzt machen? Ach der, der hat doch seine Peitsche für sowas.. und ich, ich kann... was...
 

Ein Baum flackert. Bin ich jetzt schon verrückt? Oder... ist das wieder so eine komische Vision? Ach scheiss drauf. Ich setze alles auf eine Karte. Zielstrebig renne ich auf den Baum zu, der in der nächsten Sekunde komplett verschwindet. Er ist einfach weg. Als hätte dort nie ein Baum gestanden. Wie ein billiges Special-Effekt Marke Light&Magic! Einfach weg, oder.. Oder doch! Am Boden! Dort, wo der Baum gestanden hat, sind keine Blätter! Dann ist der Baum vielleicht doch noch da! Ich stolpere absichtlich ein bisschen, werde langsamer, mein Verfolger holt auf, gibt nochmal mehr Gas, weil er mich gleich hat, ich höre ihn hinter mir keuchen, in vollem Lauf schnaufend, noch ein paar Schritte! Jetzt! Auf die Seite ausweichen, wieder weiter, hinter mir ertönt plötzlich ein lautes, dumpfes Geräusch, ein Stöhnen. Ein Blick hinter mich und meine Beine kommen wie von selbst zum Stehen. Der Baum flackert wieder. Ich kann durch ihn durchsehen wie durch Glas, der Russe liegt bewegungslos auf dem Rücken, das Gesicht blutverschmiert, die Nase und die Zähne eingedrückt. Dann wird der Baum wieder sichtbar und steht trotzig auf dem Waldboden und stand schon immer dort, als ob nichts gewesen wäre.
 

Fassungslos starre ich auf den Kerl, der ausgeschaltet von einem Baum am Waldboden liegt. Vorsichtig, als könnte er beissen, berühre ich die Baumrinde dieses Monsterbäumchens. Der ist echt. Ein echter, ganz normaler Baum. Oh, Baum.. apropros! "Juno?!" Ganz leise, aber in der Nähe höre ich jemanden schluchzen. Ein zartes, unbeholfenes Stimmchen, es kann nur Juno sein. Er sitzt auf dem Boden hinter einem Strauch, daneben liegt der andere Kerl aus dem Auto. "Juno! Alles okay?" Wieder schluchzt er, die Hände wie krampfhaft an die Schläfen gepresst, ich sehe, dass er heult. Als ich ihn vorsichtig aufsetze, rutscht das Kleid hoch, sein Bein ist voller Blut. Immernoch wimmert und weint er, selbst als er mich gesehen und erkannt hat. Er sieht mich an und mir springt ungeheure Angst entgegen, aber auch eine riesige Verzweiflung. "Komm, ist schon gut, ist ja schon vorbei.." flüstere ich leise und versuche seine Hände von den Ohren zu ziehen, aber er sträubt sich dagegen. "Ich weiss ja, du hast dich erschreckt, aber wir müssen weg hier! Komm schon!" Er schüttelt den Kopf und deutet mit dem Ellbogen auf den leblosen Kerl auf dem Boden. Ach.. "Juno.. das erklär ich dir später, aber.. warst.. warst du das mit dem Baum gerade?" Schliesslich senkt er doch die Hände, sie vibrieren. Seine Haut ist fahl und mir ist, als würde er nicht nur vor Kälte zittern. So sollte ich mich auch fühlen jetzt. Aber aus irgendeinem Grund bin ich viel zu ruhig und rational für diese Verhältnisse.
 

"Bamm.." sagt er leise und seine roten Augen schwimmen wieder in einem Tränenmeer. Der Typ neben ihm auf dem Boden bewegt sich kein Stück. Der Boden darunter ist rot. Eine Schnur aus dornigen Brombeerranken klebt um den blutigen Hals des Mannes, verschwindet im Boden, fesselt ihn geradezu an den Walduntergrund. Der Anblick stellt mir die Nackenhaare. Hingerichtet von Waldpflanzen... brr! War Juno das auch gewesen? Ich muss sofort weg hier, solange mein Verstand noch diesen ganzen Wahnsinn ignoriert und berechnend arbeiten kann. Sonst werde ich verrückt!
 

*****
 

"Halt dich fest.. na los!" Ungeduldig hebe ich den Jungen hoch und stolpere aus dem Gebüsch in das Waldstück. Den Weg zurück zur Straße legen wir fast rennend zurück. Mein Puls jagt, aber das ist Nebensache. Weg von hier, nur weg! Der schwarze Wagen wartet weit vor uns, die Zündung ist noch an, die Rücklichter leuchten uns rot entgegen. Ich habe das Gefühl, meine Lunge platzt gleich. Das Auto ist leer, ich packe den Jungen auf den Beifahrersitz und hechte ums Auto, werfe mich förmlich hinters Lenkrad und die Tür ist kaum zu, rast der Mercedes schon mit quietschenden Reifen durch die Allee. Erst, als wir fünf Minuten mit fast zweihundert Sachen die leere Straße hinuntergefegt sind, wage ich langsamer zu machen und einen Blick auf Juno zu werfen. Ich bin immernoch voller Adrenalin und kaum zu beruhigen, aber Juno hat die Augen ängstlich geschlossen und versteckt sich unter dem Sitz.
 

Die nächste Straße kommt in Sicht, sie ist breiter und schon kurz nachdem wir abgebogen sind, kommen uns mehrere Autos entgegen, hinter uns erscheinen ebenfalls welche. Gott sei Dank. Zivilisation! Und diese Autos wollen nichts von uns. Kleine Fiats, ein Fox, ein paar Reisschüsseln. Langsam genehmige ich meinem Körper wieder etwas Entspannung und greife nicht mehr ins Lenkrad bis meine Knöchel wehtun. Jetzt wird alles gut. Wir haben ein Auto. Keiner verfolgt uns. Keine Knarren und keine Schüsse. Mein Gott. Was muss ich nicht alles mitmachen hier.
 

"Hej.. alles okay bei dir?" Ein flüchtiger Blick auf Juno sagt mir, dass er zwar nicht schwer verletzt ist, aber sich vor Angst fast in die Hosen macht. "Keine Angst, im Auto bist du sicher. Auto, verstehst du?" Juno glubbscht ein paar Male verheulten Blickes aus der Scheibe und verzieht sich wieder in den Fussraum. Klar, wenn er das erste Mal fährt, dass es ihn ängstigt. Noch dazu mit mir als Fahrer. Vielleicht hat ihn das vorhin auch viel zu sehr mitgenommen. Kein Wunder.. aber darüber will ich jetzt garnicht nachdenken. Noch nicht.
 

Seufzend streiche ich über den weissen Kopf, während ich den Autos folge, die sich gemächlich und stetig vor mir die Straße hinunter schieben. Wir sind unter Menschen, hier sind wir sicher. "Wir fahren in die nächste Stadt und dann besorgen wir uns neue Kleidung. Vielleicht ein neues Auto, ein unauffälligeres.." denke ich laut nach und kraule geistesabwesend den Kopf, der sich auf den Beifahrersitz gelegt hat und gerade erschöpft am Einschlafen ist. "Dann brauchen wir noch etwas zu Essen für unterwegs. Und schwarze Haarfarbe für dich. Obwohl, wenn ich recht überlege ist schwarz doch etwas heftig. Braun vielleicht. Das ist noch unauffälliger. Dunkelbraun. Und andere Schuhe auf jeden Fall. Und eine Decke, damit du im Auto schlafen kannst. Wie wir über die Grenze kommen, weiss ich noch nicht. Europa ist zwar ziemlich locker geworden an den Grenzkontrollen, aber die Gefahr ist gross, dass wir trotzdem erwischt werden. Ich habe ja noch meinen Pass, aber.." Oooooh SHIT! "Verdammt!" Albino wird kurzzeitig wach und sieht mich verängstigt an, aber ich streiche beruhigend wieder über den Kopf. "Keine Angst.. ich habe nur gerade realisiert, dass mein Pass sowie meine ganzen Unterlagen im Labor begraben liegen. Na wenigstens hab ich meinen Geldbeutel noch.."
 

Die ewig lange Autoschlange wird immer langsamer vor der Stadt namens Serpukhov. Keine Ahnung, wo das ist und wie weit wir von Moskau weg sind. Vielleicht sollte ich mir in der Stadt auch gleich eine Strassenkarte von Europa besorgen. Es ist schon fast stockdunkel und die Beleuchtung der Strasse leuchtet nur gedämpft durch die getönten Scheiben des Mercedes. Ich bin sicher, würde Juno nicht schlafen, könnte ihn nichts von der Fensterscheibe wegbekommen. Überall bunt und laut, Leuchtreklame über Neonbanner, alles voller Werbung, die Straßen voller Menschen, die noch auf den letzten Drücker einkaufen wollen. Stimmt, ich sollte mich beeilen, wenn ich noch alles erledigen will, was auf meiner imaginären Liste steht. Aber kann ich den Wagen einfach irgendwo abstellen mit Juno drinnen? Ich biege ein paar Mal von der Hauptverkehrsstraße ab und suche mir eine unbelebte Nebengasse. Ein paar freie Parkplätze und schon steht das Gefährt still.
 

"Juno? Hej, Juno!" Leise versuche ich den Jungen zu wecken, damit er nicht in Panik verfällt, wenn er aufwacht und mich hier nicht vorfindet. Irgendwie versuche ich ihm verständlich zu machen, dass er auf jeden Fall hier im Auto bleiben muss. "Egal was passiert! Du bleibst im Auto! Juno Auto! Okay?" Müde nickt der Kleine und wirft einen Blick nach draussen. Hier ist es dunkel und still, ideal. "So. Am Besten, du legst dich auf den Rücksitz. Na los, kletter nach hinten. So.." Jetzt noch den Mantel drüberlegen und niemand kann Juno erkennen, selbst wenn er einen Blick durch die Scheibe wirft. "Ich komme gleich wieder, versprochen!" versichere ich, aber ich merke, wie der Junge sich ängstlich zusammenrollt und mir einen entsetzten Blick zuwirft. Ach... ich würde ihn am Liebsten mitnehmen.. ihn hierlassen gefällt mir garnicht! Aber da draussen fällt er noch zu sehr auf. "Bis gleich! Ich beeile mich!" Sorgfältig schliesse ich den Wagen ab und bedeute Juno durch die Scheibe nochmal, still liegen zu bleiben, egal, was passiert. Dann mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt.
 

*****
 

Ich bin spät dran, die Drogerie ist am Nächsten, dort hole ich Pflaster und die Haarfarbe. Mittelbraun. Das Mädel auf der Verpackung hatte sogar vage Ähnlichkeit mit Juno, wage ich mal zu behaupten. Dann etwas zu Essen in einem Aldi-like Supermarkt besorgen. Ich hoffe, Juno liebt Chips und Cola genauso wie ich. Zum richtig-essen können wir ja in den McDrive. Obwohl, so richtiges Essen ist das ja auch nicht, aber wird uns nicht umbringen. Wenigstens nicht sofort.
 

Schliesslich erstehe ich für mich in einer (für mein Niveau eigentlich viel zu minderwertigen) Herrenboutique noch ein Paar neue Hosen, zwei Hemden und Pullover. Vollbepackt renne ich gerade noch zum letzten Laden auf meiner Liste. Den ich extra so weit wie möglich zurückgeschoben habe. Ein Teenie-Laden, vorzugsweise weiblich. Schon die knall-grell-fluoreszierend-pinke Reklame schreckt doch männliche Wesen auf einen Umkreis von 50 Metern ab.. und da soll ich rein? Aber ich habe keine Wahl, die Klamotten sind billig und modisch ist dieses Zeug wohl auch noch mit Ach und Krach.
 

Da stehe ich nun bei den Mädchentops und komme mir vor wie ein Perverser zwischen all den gackernden, in Stringtanga-Kisten wühlenden Hühnern. Eine Verkäuferin, die selber noch in ihre eigene Zielgruppe zu rutschen scheint, fragt russisch-kaugimmikauend etwas, merkt dann aber, dass ich sie nicht verstehe, tippt bei meinem treudoofen Gesicht auf "dämlichen Touristen" und packt ihre besten Grundschul-Englischkenntnisse raus. "Hello, can I help you?" Na, vielleicht kann sie das ja wirklich. In diesem Gewirr aus pinken und hellblauen Schildern und diesem immensen quietschbunten Ständergewusel kommt sich auch der hartgesottenste Mann vor wie im Sektentreffpunkt der Barbie-Fanatiker. "Oh yes, sure! My niece lost her clothes at the station and she needs something to wear during her visit.." Zum Glück bin ich im Schwindeln nicht so auf den Kopf gefallen, wie bei praktischen Dingen. "Oh, eeeeeeeh.. how many years is her?" Argh, da sträubt sich doch jedem das Hirn, der jemals einen Fetzen Englisch gelernt hat.. aber nem geschenkten Gaul und so weiter.
 

Ähm. Wie alt ist Juno wohl? Also Statur... äh.. also jetzt in weiblich.. keine Ahnung? "Ehm, she's ... oh, I think she is as tall as the girl over there!" Bingo! So eine kleine Tussi in engen Jeans und noch engerem Top beugt sich grade über eine Auslage voller farbenfroher String-Tangas. Haben Frauen eigentlich keine Hemmungen in aller Öffentlichkeit in Herren-Unterwäsche zu wühlen? Sowas würden Männer zum Beispiel nie machen. Da kauft man Unterwäsche im 5er-Pack und hofft darauf, dass sie Miss Geburtstag passen. Würden Männer das gleiche Kaufverhalten wie Frauen an den Tag legen, meinte die ganze Welt: "Guck mal da, ein Perverser, wühlt in Weiberunterhosen!" Emanzipation ist etwas Furchtbares..
 

Ich besehe mir noch einmal das Mädchen in den sehr unbequem aussehenden knallengen Jeans... und muss feststellen, dass sie fast diesselbe Oberweite aufweist wie Juno. Nämlich garkeine. Soviel zum Sexappeal gesteigert durch enganliegende Hosen. Ich bin mir allerdings sicher, dass Juno von solch engen Jeans nicht gerade begeistert wäre, deshalb sage ich schnell dazu: "But that's not her style.. she likes it more.... comfortable..? Leger.." Die Verkäuferin nickt kaugummikauend und denkt schon an ihren baldigen Feierabend, zeigt mir aber dennoch eine Ecke in dem Laden, wo es einigermaßen "normale" Kleidung zu geben scheint. Ich packe eine bequem aussehende Cordhose und für den femininen Notfall noch einen Wollrock, zwei ganz hübsch aussehende Oberteile und eine taillierte Steppjacke zusammen und schweife zur Kasse, wo ich noch eine Hand blind in die Socken- und Unterwäsche-Behälter tauche. Die Verkäuferin sieht mir die ganze Zeit mit hochgezogener Augenbraue zu, sagt aber nichts, als ich alles anstandslos bezahle. Dank Angie habe ich wenigstens in Frauenmode doch ein bisschen Ahnung bekommen. Ich dachte nie, dass ich dieses Wissen einmal brauchen könnte.
 

Zum Glück haben sich meine Bedenken als überflüssig herausgestellt. Mit den ganzen prallgefüllten Plastiktüten falle ich nicht im Geringsten in der gutgelaunten Menge auf, die sich die Shopping-Meile hinunterschiebt. Hier ist die Welt eben noch in Ordnung. Hier gibt es keine Massensterben verursacht durch gerissene Hochspannungsleitungen, keine geheimen Laboratorien unter der Stadt (obwohl, wer weiss das schon so genau?). Niemand schert sich um illegale Drogenforschung, Albinos mit übernatürlichen Kräften oder sonstigen Abnormitäten. Zwischen all diesen ganzen normalen Leuten mit ihren alltäglichen, kleinen Problemchen wie "ich bin zu dick" oder "ich bin arbeitslos" komme ich mir so unwirklich vor. Im Gepäck habe ich Kleidung. WEIBLICHE Kleidung für einen wildfremden, sehr suspekten Jungen, der Bäume verschwinden lassen kann und wer-weiss-was-noch alles. Denn ich bin mit ihm auf der Flucht vor russischen Agenten im schwarzen Anzug. Das ist zum Lachen. Hätte ich das jemandem hier und jetzt erzählt, hätte er mich todsicher ausgelacht, wenn nicht noch gleich das Irrenhaus verständigt. Ja, zwischen all diesen Normalos kommt mir mein jetziges Leben eher vor wie eine zweifelhafte Hauptrolle in einem drittklassigen Spionage-Film. Und wenn wir grade dabei sind...
 

Aus zwölf Fernsehern im Schaufenster lächelt mich eine hübsche, russische Nachrichtensprecherin an und erzählt mir und zwei anderen kurzfristigen Zuschauern auf der Strasse die aktuellen News. Natürlich ohne Ton - aber das hätte mir auch nicht viel geholfen. RTR zeigt demnach ein paar Bilder von russischen Politikern, die handshakend mit anderen hohen Tieren scheinheilig in die Kameras grinsen. Ein paar grosse Autobahnkollisionen und schliesslich das elektrische Desaster von Moskau. Brrr.. die Bilder sind erschreckend.. dabei habe ich alles selbst mitansehen müssen. In vielen Stadtteilen war es offensichtlich zu immensen Stromausfällen gekommen, der Verkehr ist völlig zusammengebrochen, doch zum Glück waren nicht halb soviel Menschen zu Schaden gekommen wie befürchtet. Der Sachschaden und vor allem die Störungen der Kommunikation waren allerdings enorm. Totalabstürze in Rechenzentren, Umspannwerke völlig überlastet, Ausfall von Funkstationen. Oh Wunder, die Fernsehübertragung haben sie wohl schon repariert. Fernsehen ist ja bekanntlich auch das Wichtigste. Allerdings, im ganzen Beitrag ist von Sladis und seinen Machenschaften keine Spur zu sehen. Nun, habe ich das etwa erwartet? Es war schliesslich auch ein Geheimlabor. Geheim, Top Secret, Sie verstehen. Trotzdem. Wer weiss, wie lange sowas unentdeckt bleibt nach so einer Katastrophe. Aber ich sollte wohl froh sein, denn sonst wäre uns womöglich auch noch der russische Geheimdienst auf den Fersen.
 

Es tröpfelt. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zum Auto. Am Fast-Food-Giganten BurgerKing auf zwei doppelte XXL-Whopper zum Mitnehmen vorbeischauen. King-Pommes sind immer noch die Besten. Juno wird sich freuen - das erste, was er in der Zivilisation zu essen bekommt ist Fast Food. Manchmal frage ich mich, wie es das Wort "Zivilisation" fertigbringt, mit Essen für sich zu werben, dessen Geschmack sich nur mit Mühe von gegrillen Bierdeckeln unterscheidet.
 

Es regnet Bindfäden. Die Leute auf der Strasse drängeln sich nahe an den Häusern an anderen Leuten vorbei, die ebenfalls unter den Ladendächern Schutz suchen. Mehr oder weniger rücksichtsvoll schiebe ich mich vollbepackt durch die stockenden Menschenmassen, Schirme werden aufgespannt, Augen werden aufgespiesst. Schliesslich gelange ich aus der Einkaufsstrasse in die Seitengasse, nur noch vereinzelt flüchtende Kaufwütige, mein Schritt wird erst schneller, dann langsamer, dann bleibe ich stehen.
 

Es giesst wie aus Eimern. Eiskaltes Wasser läuft mir den Kragen hinunter, die Taschen platschen wie Sandsäcke auf die nasse Strasse. Wie erstarrt sehe ich die Strasse hinunter. Das Auto ist weg. Und mit ihm Juno.
 

Aber dann kommt mir der einleuchtende Gedanke. "Na klar!" Der Trick mit dem Unsichtbarmachen! Hervorragend! Das war eine gute Idee von Juno, gleich auch noch den ganzen Wagen verschwinden zu lassen. Denn kein Wagen, kein Juno - keiner kann Verdacht schöpfen, so einfach wie genial! Wie immer er das auch anstellt, darüber will ich auch garnicht nachdenken.
 

Schnell klaube ich die Taschen wieder auf und beeile mich zu der leeren Parklücke zu kommen. Hoffentlich beobachtet mich niemand, denn das sieht bestimmt sehr seltsam aus, wenn jemand mit ausgestreckten Händen in der Luft herumwühlt und versucht etwas zu ertasten das nicht sichtbar ist. Im ersten Moment finde ich das Auto auch gar nicht, ist schon sehr verwirrend ohne Anhaltspunkte. Also noch ein Stück weiterfühlen. Komisch, hätte schwören können, dass ich es hier abgestellt habe. So angestrengt ich gucke und taste, nichts. Nichts zu sehen, nichts zu fühlen. Mein Blick fällt auf den Boden. Die Strasse ist nass, kein winziges Fleckchen trockener Asphalt. Moment. Kurz zurückspulen.
 

Der Baum von vorhin. Ich konnte den Baumstamm, beziehungsweise seinen Abdruck am Boden zwischen den Blättern genau sehen. Er war also da, nur eben nicht sichtbar gewesen. Müsste es mit dem Auto nicht genauso sein? Dann müsste doch wie bei den anderen Autos unter dem Wagen eine trockene Stelle sein? Schlimmer noch, den Regen sollte man doch jetzt ganz deutlich von der Oberfläche abperlen sehen müssen! Aber da ist nichts. Ein leerer Parkplatz. Habe ich mich vielleicht in der Strasse geirrt? Aber an der Ecke gibt es nur diese eine Apotheke. Ich laufe in der Parklücke herum, spätestens jetzt hätte ich etwas bemerken müssen. Ein Passant schaut mir irritiert zu, wie ich in strömendem Regen, vollbepackt mit Einkaufstüten, TakeAway-Bags vom BurgerKing, orientierungslos zwischen den Autos herumirre. Ja ich irre. Denn langsam macht sich eine schleichende Erkenntnis in mir breit, zäh und heiss wie giftige Lava. Ich laufe noch einmal zur Kreuzung vor. Apotheke, Irrtum ausgeschlossen. Vielleicht falsche Parkreihe? Es gibt nur die eine. Selbst der weisse Seat steht noch da, wo er vor einer knappen Stunde stand. Das kann doch nicht sein! Ich muss irgendwie falsch sein! Vielleicht ein ganz falscher Strassenabschnitt? Aber die Apotheke! Und der Seat! Verdammt, das ist doch.. das kann doch nicht wahr sein! Ich kann das nicht glauben!
 

Und doch scheint es zu stimmen. Nichts ist unsichtbar. Der Wagen ist einfach weg. Samt Inhalt.

[ Sound of silence ]

Was soll ich machen? Da steh ich nun, ich armer Tor! Was ist nur mit Juno passiert? Haben sie ihn erwischt? Aber wie das, er war doch so gut versteckt! Oder sind sie uns gefolgt? Heimlich. Oh ja, sicher. Ich könnte mich schwarz ärgern! Eigentlich ist die Sache schon glasklar. Das Auto gehörte schliesslich diesen blöden Kleiderschränken, ergo wird an dem Wagen sicher ein Peilsender gewesen sein. Am Unterboden, oder schlicht und einfach nur ein Handy im Handschuhfach, das ich vielleicht übersehen habe. So ein verdammter Mist! Sie haben gewartet, bis ich Juno allein lasse und haben ihn dann gecasht. Hätte ich mir doch auch denken können! Wenn schon Spionagefilm, dann auch mit allen Extras - Sendern und Wanzen und dem ganzen JamesBond-Equipment. Das ich eigenlich haben sollte, immerhin bin ich hier der Gute. Und was habe ich? Plastiktüten voll Frauenkleidung um die Welt zu retten. Nicht mal ein Bruce Willis-Unterhemd hab ich! Was also tun?.. Wie es ihm wohl geht?
 

Das Prasseln gegen das Trottoir wirkt einschläfernd und ich werde immer müder, ohne es zu wollen. Stumpf starre ich durch die großen Fenster des Cafés nach draussen, wo sprichwörtlich die Welt untergeht. Es ist stockdunkel geworden, der Regen immer heftiger, der Wind pfeift durch die Gassen. Auf den Strassen nur noch ein paar flüchtende Menschen, die sich vor den Güssen in Sicherheit bringen. Das Café ist durch den Regen ziemlich voll geworden, um mich schütteln Hunde ihr Fell aus, Frauen jammern über ihre zunichte gemachte Frisur, Männer bestellen heisse Getränke mit alkoholischen Zusätzen - wobei ich fast glaube, dass das Mischverhältnis wohl umgekehrt ist. Trotz des Unwetters sind sie fröhlich und lachen, reden angeregt, warten bis der Regen abnimmt und gehen dann wieder heim. Und ich? Ich bin müde und vollgestopft mit Sorge. Wenn der Regen aufhört, werde ich nach draussen gehen und Juno suchen. Aber ich weiß nicht wo. Wahrscheinlich ist er schon gar nicht mehr in dieser Stadt. In meinem Schwarztee schwimmt eine halbe Scheibe Zitrone und trudelt im Kreis. Ja, genauso fühle ich mich auch. Ich drehe mich im Kreis, ich weiss auch nicht, was ich machen soll. Und weg kann ich auch nicht, der Tassenrand passt schon auf, dass ich nicht in die Freiheit trudle.
 

Aber! Was, strenggenommen hält mich jetzt eigentlich noch davon ab? Mein Verstand schüttelt den Kopf und meint, dass ich schon längst in einer Maschine nach Deutschland sitzen könnte. Ein Anruf bei Angie und sie würde alles für mich klären, Flug bezahlen, Ausreisebescheinigung, wenn ich ganz lieb BitteBitte sage, holt eine ihrer Freundinnen mich vielleicht sogar vom Flughafen ab. Morgen um diese Zeit könnte ich mir einen schönen, gemütlichen Abend auf der Couch machen oder mich in die Clubs stürzen und diese zwei unschönen Tage in Russland in mein Unterbewusstsein verdrängen, das irgendwann aufbrechen würde und mich in meinen Alpträumen heimsuchen wird, Nacht für Nacht, bis ich verrückt werde und zum Psychater muss, der alles aus mir herauskitzeln wird, was hier passiert ist, mich somit für völlig plemplem erklärt und ins nächste Irrenhaus verfrachtet, wo ich sabbernd für den Rest meines Lebens auf einem Kinderstuhl vor mich hinvegetieren werde.

....

Gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber im Grunde könnte ich jetzt wirklich nach Hause. Ich habe doch getan, was ich konnte, oder? Hab ich Juno nicht schon zweimal das Leben gerettet? Oder sogar dreimal? Ich kann schliesslich nicht immer aufpassen, irgendwann hätten sie ihn so oder so erwischt. Nur mit dem Unterschied, dass ich spätestens dann wohl ne hübsche kleine Metallkugel zwischen den Augen stecken hätte. Also besser so, als letzteres. Nein, niemand kann sagen ich wäre ein Feigling, immerhin habe ich mich in den letzten Tagen mehr als einmal in Lebensgefahr gestürzt für den kleinen Kerl! Und ich kann jetzt überhaupt garnichts mehr machen! Juno ist weg und ich mittellos. Ich wüsste nicht einmal, wo ich ihn suchen soll, von den Entführern hab ich keinerlei Infos. Zu wem gehören sie und wo verstecken sie sich jetzt, nachdem das Labor zerbröselt ist? Und selbst wenn ich das wüsste, ich könnte als einzelner ja doch nichts unternehmen. Pah, seien wir mal ehrlich, selbst James Bond ist ohne die Unterstützung seiner Majestry, seinem Auto und seinen vielen kleinen Spielzeuge ein Nichts! Ach, ich sollte nach Hause.
 

Der Regen lässt langsam aber sicher nach, die Leute im Café machen sich zum Gehen fertig. Mein halber Tee ist kalt geworden. Die Zitrone schwimmt immernoch drinnen und macht überhaupt nichts. Seufzend stütze ich mich auf mein Kinn, das auch schonmal ne bessere Rasur gesehen hat. Worauf warte ich noch? Alles schreit doch nach dem Heimweg. Ich fühle mich nicht wohl hier, ich sollte alles lieber vergessen. Aber irgendwie..
 

"Mister? Your taxi is waiting for you!" Die Bedienung lächelt und nickt in Richtung Fenster. Irritert werfe ich einen Blick durch die getrübte Scheibe und tatsächlich steht ein Taxi direkt vor dem Café. "Miss, I think this is not my taxi, I didn't.." Sie nickt und lächelt noch breiter. "Oh, the man next to you said you need a taxi to get to the airport! He ordered the taxi for you!" Welcher Mann? Ach ja.. ich erinnere mich. Er saß mit an meinem Tisch, weil alle freien Tische schon belegt waren. Warum sollte er ein Taxi für mich bestellt haben? Zum Flughafen. Irgendwie schrillt grade eine Alarmglocke in meinem Kopf. Das war keine gütige Hilfestellung eines Hellsehers. Irgendjemand will mich so schnell wie möglich heimbringen und somit meine Entscheidung erleichtern. Ich frage die Bedienung, wo der Mann hinging, während ich bezahle. Sie schüttelt den Kopf und bedankt sich für das Trinkgeld. Der Taxifahrer wirkt gelangweilt und blättert in einer Zeitschrift.
 

Ich versuche krampfhaft, mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern. Es war ein älterer Herr mit strähnigem Haar, unauffällig, ganz normal. Ein russischer Opa, der einen Grog trinkt und wieder geht, nachdem der Regen aufgehört hat. Er hat mich ebensowenig angesehen wie ich ihn. Oder habe ich das bloß nicht bemerkt? Werde ich beobachtet? Wer will mich da so unerhört offensichtlich nach Deutschland zurückbringen?
 

* * * *
 

"Was macht er?" Es ist warm und stickig in dem engen Raum, der fast so finster ist, wie die Nacht draussen. Ein Bildschirm zeigt in grünen Tönen den Fensterausschnitt des Cafés und den Raum dahinter.

"Er macht garnichts. Glotzt blöde die Tussi an."

"Trottel!" flucht die Stimme aus dem Kopfhörer. "Der Kleine ist nicht wieder gekommen?"

"Nichts. Scheinbar hat er ihn versteckt, ah! Jetzt steht er auf! Er geht raus!"

"Zum Taxi?"

"Ja, er redet mit Ralv. Er nickt. Jetzt steigt er ein!"

"Gut, dann bleib an ihm dran, bis er am großen Kreuz vorbei ist. Dann übernehmen wir. Derek soll in der Nähe bleiben, falls der Kleine doch noch auftaucht!"

"Alles klar!" Der junge Mann zieht den Kopfhörer von den Ohren und klopft gegen die Wand aus Blech. "Los!"

Das Taxi vor ihnen setzt sich langsam in Bewegung, gleichzeitig blinkt ein verbeulter Minibus und fädelt sich hinter dem Taxi in den Verkehr ein.
 

****
 

Der Taxifahrer labert gutgelaunt in einem grotesken Mischmasch aus Englisch und Deutsch auf mich ein und ich wünsche, er möge doch seine gottgegebene Klappe halten. Das Bäumchen am Rückspiegel verströmt baumelnd einen penetranten Kokosgeruch, aufdass mir vollends schlecht werde. Wenn er nur quasseln würde, könnte ich ja noch vor mich hindösen, aber nein, er muss mich ja dauernd nach irgendwelchen Dingen fragen, für die ich jetzt überhaupt keinen Nerv habe. Ob ich denn schon oft hier war, wie denn die Taxen so in Deutschland wären, wie mir der Urlaub gefallen hätte.. blabla, eigentlich typisches Frisörgelaber. Seine kleinen Augen blinzeln mich verschmitzt durch den Rückspiegel an und er schielt ein wenig. Und fluchen kann er. Und hält an Ampeln, die gerade auf Gelb schalten. Idiot.

"Sie haben nicht eilig, oder? Wissen, bin nämlich eine von careful driver in ganze Stadt, habe noch kein einzig Unfall gemacht, immer careful driver, hehe!" Er lacht und glotzt durch den Rückspiegel. Genervt höre ich weg und versuche mich zu entspannen. Die Heimreise ist jetzt also sicher. Jemand will, dass ich nach Hause fliege, also werde ich das tun, ich habe keine Lust, mich mit einer organisierten Bande auseinanderzusetzen. Tja. Vorbei mit Agent-spielen. Hat irgendwie auch ne kleine Weile Spass gemacht. Solange keine Waffen im Spiel sind. Mal sehen. Was würde ein Geheimagent ihrer Majestät in dieser Situation machen? Natürlich würde er jetzt erst recht versuchen..
 

"Sie haben gerade die Abfahrt verpasst!" rufe ich dem Geschichten erzählenden Russen dazwischen, er stutzt kurz, dann schüttelt er lachend den Kopf.

"Nein nein, das für Touristen! Taxi hat erh.. wie nennt man, wenn schnell geht..?"

"Eine Abkürzung."

"So, Abkurzung, ja! Is schnell."

"Ah so." Komischer Kauz. Überhaupt...

Ich werfe einen Blick auf das Amaturenbrett und runzle die Stirn. Die Taxiuhr läuft nicht. Der Fahrer redet nur noch mehr sinnloses Zeug. Ist er nervös? Er schielt immer öfter in den Rückspiegel.

"Was ist das für ein Gebäude da vorne?" frage ich plötzlich interessiert, der Fahrer folgt meinem Blick und sucht den Horizont ab. In dem Moment drehe ich den Kopf und sehe einen verbeulten Minibus hinter uns. Sieht aus wie ein ehemaliger Hippie-FlowerPower-Bus, doch der Fahrer passt absolut nicht zum Gefährt.

Während der Taxifahrer irgendetwas über das fragliche Gebäude erzählt, nimmt in meinem Kopf ein spezieller Gedanke Gestalt an. Das Taxi biegt ab, der Minibus folgt. Die Richtung ist definitiv nicht mehr als flughafentauglich zu beschreiben. Selbst mein Bauch meldet jetzt höchstes Unwohlsein.
 

"Entschuldigung, könnten Sie dort kurz halten? Ich möchte mir noch etwas für den Flug kaufen!" Ich deute auf eine Tankstelle und der Fahrer nickt nach kurzem Zögern. "Oh, ich werde noch kurz auf die Toilette gehen! Warten Sie bitte solange!"

"Okey, keine Problem! Warten auf Sie!" grinst der Fahrer und lässt mich aussteigen. Ohne Hast latsche ich in den Tankstellenshop und gehe zielstrebig in den hinteren Bereich. Sofort verschwinde ich hinter einem Ständer mit Tüchern und luge durch einen kleinen Spalt nach draussen.
 

Mein Taxifahrer redet. Währenddessen schaut er immer wieder zum Laden rüber. Den Minibus sehe ich jetzt auch, er hat auf der gegenüberliegenden Strassenseite geparkt. So ein mieser kleiner Bastard! Meint ihr, ich bin zu blöd um zu sehen, was hier abläuft? Wir fahren nicht zum Flughafen und das ist auch kein Taxi. Und niemand hat Interesse daran, mich nach Hause zu begleiten und zuzusehen, wie ich aller Welt von Sladis' Geheimlabor und dessen Erzeugnissen erzähle. Bei der Erkenntnis wird mir heiss und kalt. Ich bin gerade Gegenstand eines x-beliebigen Thrillers geworden - ich bin zu gefährlich für die Bösen und sie wollen mich auf unauffällige Weise loswerden. Und ich Hammel glaube an das Gute in den Menschen und an hilfsbereite Russen, die mir ein Taxi bestellen. Wie konnte ich nur so blauäugig sein! Ich muss weg hier, so schnell und so weit wie nur möglich!
 

"Gibt es hier eine Toilette? WC? Toilet?" frage ich die Kassiererin, aber sie legt den Kopf schief. "Only personal" versucht sie mir klarzumachen, aber meinem Hundeblick kann sie nicht widerstehen und deutet auf die Tür hinter der Theke. Mit einem Luftkuss verschwinde ich dahinter und sehe mich in einem kurzen Gang wieder. Rechts eine Mini-Toilette. Links das kleine Lager mit einer Tür - der perfekte Hinterausgang! Schnell bin ich nach draussen verschwunden und pirsche mich um das Tankstellengebäude herum. An einem Durchgang spähe ich zur Fahrbahn hin, wo der Taxifahrer jetzt sichtlich nervös ans Lenkrad trommelt und unablässig auf die Eingangstüre starrt. Er redet wieder, scheint sich über etwas aufzuregen. Der Minibus steht ebenfalls noch an seiner Stelle. Lange wird es nicht dauern, bis einer von beiden seinen Wagen verlässt und nach mir Suchen geht. Ich sollte schleunigst verschwinden. Und das tue ich jetzt auch. Die Rückseite der Tankstelle mündet in einem Hof, wo ein niedriger Zaun meine Flucht kaum verhindert. Weiter geht es über den Nachbarhof, durch die Einfahrt in die Seitenstrasse. Und wohin jetzt? Also gut - wir spielen Räuber und Gendarm - überleg dir deshalb gut, wo du dich verstecken gehst, Klement. Wenn sie ihren Agenten haben wollen, sollen sie ihn jetzt auch bekommen!
 

****
 

Ob die Idee gut war oder nicht, wird sich noch herausstellen. Aber im Augenblick scheint sie mir geradezu fantastisch. Ich bin innerhalb von zwei Minuten komplett von der Erde verschwunden. Zwar ohne übernatürliche Hilfsmittel wie Juno das gemacht hätte, dafür durch Muskelkraft. Dunkelste Schwärze und grässlicher Gestank hüllt mich ein und ich fühle kalte Feuchtigkeit in der Luft. Trotzdem eine Eingebung des Himmels. Wieder bin ich im Untergrund, in der Kanalisation der Stadt diesmal. Das Versteck ist perfekt. Erstens würde das sicher keiner vermuten und zweitens kann ich mich in alle Richtungen bewegen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Langsam bekomme ich wirklich Übung darin, wegzulaufen und mich zu verstecken. Ich könnte fast kichern vor Schadenfreude, wenn ich an den Taxifahrer denke, der jetzt sicher schon das arme Mädchen in der Tanke zur Rede stellt, wo ich abgeblieben bin. Weg ist er, der Klement und niemand weiß, wo er ist. Der Taximensch wird wohl ganz schönen Ärger bekommen. Aber das soll mich nicht kümmern, ich habe wesentlich mehr Probleme. Das größte Problem ist kalt, nass, kniehoch, stinkt und heisst Abwasser. Durch den vielen Regen ist das Wasser gestiegen und so komme ich nur langsam voran. Das Gute daran ist, dass der ganze Dreck hier unten dadurch so verdünnt ist, dass ich nicht des Gestankes wegen nach einer Minute in Ohnmacht falle. Aber mühsam ist es. Und verdammt kalt noch dazu. Aber ich habe schon Schlimmeres durchgestanden. Mir fällt jetzt zwar grade nichts ein, aber in Anbetracht meiner derzeitigen Lage kann ich mir gut vorstellen, dass mir in nächster Zeit auch durchaus etwas ungleich Schlimmeres zustossen könnte. Also sollte ich meine missliche Lage geniessen, solange sie noch gerade so misslich ist wie jetzt.
 

****
 

"Wo zur Hölle ist Richter!?" Dem Techniker kreischt das Ohr und er hebt den Kopfhöhrer einige Zentimeter vom Kopf. Die Stimme ist noch immer mehr als deutlich zu vernehmen.

"Verschwunden, Sir. Wie vom Erdboden verschluckt! Er hat wahrscheinlich was gerochen und die Flucht ergriffen. Ralv sagt, er hatte auf die Toilette gewollt und wäre durch den Hinterausgang verschwunden!"

"Dann sucht gefälligst die Strassen ab! Weit kann er zu Fuß doch nicht kommen!"

"Wir tun unser Bestes! Aber er scheint sich zu verstecken. Würde er weiterflüchten, müssten wir ihn sehen. Ich glaube, er hat sich irgendwo verkrochen und wartet, bis wir wieder abziehen."

"Da kann er warten, bis er schwarz wird! Sie suchen weiter! Und zwar solange, bis Sie ihn haben, ist das klar? Wagen Sie es nicht, ohne Richter bei uns aufzukreuzen!"

Der Techniker schaltet die Verbindung ab und stöhnt hingebungsvoll. Ausgerechnet ihm muss sowas passieren! Und auch noch beim ersten Einsatz! Dabei war er doch so schon aufgeregt genug. Blöder Kerl! Was lässt er diesen Richter auch aussteigen?! Sie waren schon fast am Kreuz gewesen, aber nein! Sein erster Auftrag wäre glänzend gewesen, durch die ganze Stadt ohne Probleme und die letzten paar Meter... So ein Ärger! Jetzt blieb es an ihm und Ralv hängen, ob sie Richter fanden oder nicht. Erst das Kind und jetzt auch noch Richter. Weiß der Teufel, wie er den Sender bemerkt hat - das Auto ist quasi verschwunden. Und mit ihm der Junge. Aber wenigstens diesen Richter hatten sie aufstöbern können - und nun passiert sowas! Argh! Naja, ärgern hilft auch nichts.
 

Sein Kollege Timo sucht schon seit einer Viertelstunde mit dem Wagen die Strassen ab, genau wie Ralv und zwei andere Autos, die er nicht kennt, aber von Richter ist keine Spur. In ein paar Minuten kommen noch vier weitere Fahrzeuge, dann werden sie ihn ganz sicher aufscheuchen.

"Fahr nochmal den Block.." brummt der junge Mann, der kaum Mitte zwanzig ist, als der Fahrer des Kleinbusses fragend durch die Scheibe nach hinten streckt.

"Die Anwohner gucken schon alle aus dem Fenster. Wird das langsam nicht zu auffällig, Simon? Die anderen fahren die Strasse auch schon das zehnte Mal rauf und runter!" Verflucht, er hat Recht. Das unauffällige Verschwinden von Klement Richter ist somit schonmal zunichte gemacht. Aber darauf können sie jetzt auch keine Rücksicht mehr nehmen. Dieser Richter ist unheimlich gefährlich - und vielleicht garnicht so dumm, wie sie alle gedacht haben.
 

* * * *
 

"Hatschiehu!" Na toll. Der heroische Agent schlägt sich durch Labyrinthe, überlebt Mordanschläge, entflieht dem Kugelhagel und krepiert schliesslich an einer ordinären Erkältung. Ich hatte noch nie etwas übrig für die Ironie des Lebens. Langsam beginne ich an der guten Idee zu zweifeln, hier heruntergestiegen zu sein. Das Wasser ist so verdammt eisig, schon nach ein paar Minuten sind meine Füße komplett eingefroren. Und ich komme alles andere als schnell voran. Aber wenigstens sehe ich, wo ich hinlaufe. Als ob mir das was bringen würde, denn Orientierung ist gleich Null. Irgendwann in nächster Zeit sollte ich wohl noch mal einen Blick an die Oberfläche werfen. Nicht, dass ich dann damit was anfangen könnte, denn ich habe auch oberirdisch keinen blassen Schimmer, wo ich bin. Im Grunde bin ich aufgeschmissen, denn ich habe keinen Plan, wie es weitergehen soll. Das Schlimmste ist wohl, dass ich meine Feinde nicht kenne. Wie weit reicht ihre Kontrolle? Moskau? Russland? Ganz Europa? Was mache ich, wenn ich es bis nach Deutschland schaffen sollte? Bin ich dann endlich in Sicherheit oder werden sie mich dort mit offenen Armen in meiner eigenen Wohnung empfangen? Ein Risiko darf ich nicht eingehen, sonst ist alles für die Katz. Also gehen wir davon aus, dass ich ihnen schon sehr wichtig bin. Zu wichtig, um an der russischen Grenze einfach aufzugeben. Dann habe ich schon im Vornherein verloren. Meine Wohnung in Deutschland ist gestorben. In was bin ich hier nur reingeraten?! Angie ist zum Glück bei ihrer Freundin und wird dort noch über eine Woche bleiben, ihr passiert also vorläufig nichts. Und meine Eltern? Meine anderen Freunde? Sind sie jetzt etwa alle in Gefahr? Und ich? Ich kann nicht mehr nach Hause, also wohin soll ich eigentlich laufen? Ich sag ja, das sind fast schon mafiaähnliche Zustände hier!
 

Spontan bleibe ich stehen und frage mich, wohin ich mich wenden soll. Ich habe kein Ziel! In meine Wohnung kann ich nicht, meine Freunde - zu gefährlich, die haben sie sicherlich auch schon herausbekommen. Vielleicht werden sie sogar schon überwacht? Zu meinen Eltern kann ich auch nicht, das ist gleich die nächste verdächtige Adresse. Also was tun? Mal sehen... warum.. kann ich mich nicht einfach der Polizei anvertrauen? Das ist doch wohl das Naheliegendste in meiner Situation! Ich habe Juno nicht mehr bei mir, also gibt es deswegen auch keine Schwierigkeiten mehr. Und wenn die Polizei von dem Labor erfährt, kann sie vielleicht herausfinden, wer mir diese Killer auf den Hals hetzt. Andererseits wollen sie dann alles wissen. Warum der Professor und ich von Sladis eingeladen wurden. Warum ich nicht sofort zur Polizei gegangen bin, als ich hierhergeflohen bin. Würde ich von Juno erzählen? Was aus ihm geworden ist? Ich weiss es nicht. Ach.. wo steckst du, Juno? Bist du noch am Leben?
 

* * * *
 

"So ein Zuckerbienchen! Na komm her, gib dem lieben Onkel mal das Händchen!"

"Trem, lass sie in Ruhe, mach ihr keine Angst!"

"Ach, lass ihm doch den Spass. Er wird sie schon nicht kaputtmachen."

"Wenn du sie angrapschst, zeig ich dich an!"

"Mensch Mil, ich bin doch nicht pädophil! Ich find sie einfach nur niedlich!"

"Ja, komm mal wieder runter mit deinem Moralquatsch. Ausserdem gefällt's ihr doch! Da guck wie sie lacht!"

"Na und!? Ich hab zuhause auch ein 10-jähriges Mädchen und will nicht, dass irgend ein Trottel sie angrabbelt! Ich hab dich im Auge, Alter!"

"Was soll die Scheisse, ich spiel doch nur mit ihr!"

"Idioten! Könnt ihr mal bitte mithelfen, anstatt mit kleinen Mädchen zu spielen?!"

"Mach du mal. Irgendjemand muss sich schliesslich um den Besuch kümmern, den du mit angeschleppt hast."

"Konnte ich doch nicht wissen, dass auf der Rückbank ein Mädchen pennt! Ausserdem musste ich mich beeilen!"

"Dann beeil dich mal. Wir setzen sie später irgendwo in der Stadt aus."

"Bist du verrückt, nachher verläuft sie sich.. oder fällt irgendeinem Perversen in die Hände. So einem wie dir zum Beispiel!"

"Arschloch!"

Ein Schraubenschlüssel fällt klirrend zu Boden und nötigt die drei Männer nach unten zu sehen. Unter dem schwarzen Wagen rollt ein junger Bursche grinsend ins Freie.

"Fertig! Hübsche Beute. Den kriegen wir schnell wieder los. Allerdings.. ich glaube nicht, dass das eine Alarmanlage war, was ihr da zerdeppert habt.."

"Was denn sonst? Vielleicht ein ganz neues Modell."

"Sieht mir eher nach was anderem aus.. aber sonst hab ich nichts gefunden."

Der Bursche zuckt mit den Schultern und feuert die protestierenden Überreste eines hochtechnischen Gerätes flegelhaft in die Ecke.

"Sehr schön, sehr schön, Lole. Hauptsache das Auto ist sauber. Den kriegen wir schon los.. äh..also! Was machen wir jetzt mit dem Mädchen?"

"Hey, Kleines. Wie heisst du?"

"Ist sie stumm?"

"Nein, sie ist blöd."

"Halt die Klappe. Sie ist vermutlich intelligenter als du. Was auch nicht schwer ist.."

"Nein echt jetzt, ich glaub sie hat einen Schuß oder so.. sagt nur solche Sachen wie 'Baum' oder 'Auto'. Und irgendwas mit Klemmbrett oder sowas.."

"Vielleicht ist sie geistig behindert?"

"Noch ein Grund, sie nicht einfach irgendwo aus dem Auto zu schmeissen. Die verläuft sich doch und fällt irgend so einem Perv.."

"Halt die Klappe, ich bin nicht pervers!!"

"Und was sollen wir stattdessen mit ihr machen? Hierbehalten, bis die Eltern bei uns an der Tür klingeln und sagen: Oh, ihr unschuldigen Jungs habt ganz sicher unser Kind irgendwo aufgelesen.. und natürlich saß sie nicht in unserem Wagen, der abgeschlossen war!" säuselt Mil mit zwitschernder Stimme.

"Blödmann! Man kann sie bei der Polizei abgeben!"

"Sicher. Die kommt uns dann auch ne Stunde später besuchen, um unseren kleinen Fuhrpark zu begutachten. Wird uns sicher zu den ganzen Cabrios und Mercedes beglückwünschen und sagen, dass wir feine, tüchtige Kerle sind."

"Dein Sarkasmus geht mir langsam auf den Sack, Mil!"

"Klement!"

"Da, siehst du? Klement sagt sie. Vielleicht heißt ihr Papa so!"

"Oder ihr Pfleger"

"Halt endlich deine Fresse Boy, sonst haste bald keine mehr!"
 

Die vier Kerle zwischen 16 und 34 gucken etwas ratlos auf das sitzende Mädchen mit dem schneeweissen Haar, das mit ein paar Schrauben und Muttern spielt. In der Tat, es sieht schon etwas seltsam aus und verhält sich wie ein Kleinkind, wie es da sitzt und sich alles mögliche beibringen lässt. Trem, ein etwas stämmiger Kerl von 22 Jahren, weiht das Kind in alle möglichen Schraubenarten und Werkzeuge ein, die es neugierig beäugt und die Vokabeln begierig auswendig lernt. Das kleine Mädel in dem hübschen Kleidchen lacht vor Begeisterung und schlägt für einen Moment die ganze Truppe in seinen Bann.
 

"Ich finde, wir sollten gründlich überlegen, was wir mit ihr machen. Über die Nacht kann sie ja hier bleiben." Keiner widerspricht, jeder sieht das hübsche Kind mit anderen Augen. Lole, der jüngste der Gauner, kann sich allerdings nicht so recht für die Idee erwärmen. "Und wenn sie nach ihr suchen? Dann haben wir nicht nur Autodiebstahl sondern auch Entführung auf der Liste. Ich finde, sie sollte hier verschwinden!"

"Lole hat recht, ausserdem suchen ihre Eltern sicherlich schon ganz verzweifelt nach ihr! Ich würde vor Sorge um Mira sterben!" wirft Mil ein. Der Familienvater kann gut nachfühlen, wie es Klement zumindest ansatzweise geht. Allerdings ist es wirklich ein grosses Risiko, das Mädchen der Polizei zu übergeben.

"Zumindest kann sie uns nicht verpfeiffen. So gescheit wird sie nicht sein.."

"Also fährt irgendjemand sie morgen früh zur Polizei! Einfach vor die Tür stellen.."

"Ich mach das. Wenn mich jemand fragt, sag ich, meine Tochter hat sie vom Spielen mitgebracht und dann hat sie nicht mehr nach Hause gefunden." Mil hält dem Mädchen die Hand hin und die weissen Finger greifen sofort nach der Hand des Mannes. Etwas beleidigt sieht Trem dem Engelchen nach, wie es hinter seinem Kumpel hertapst.
 

"Hey, sieh mal! Ich glaube sie hat was am Fuß!"

"Was? Wo?" Mil beugt sich nach unten und hebt den Rock etwas an.

"Das ist Blut, sie hat sich verletzt!" ruft er und Trem ist sofort auf den Beinen.

"Lass mich mal, ich kenn mich aus, meine Ma ist Krankenpflegerin, die..."
 

Die vier Diebe sind starr vor Entsetzen. Trem spürt Haut unter seinen Fingern, doch seine Augen sehen nichts. Garnichts. Das Mädchen ist verschwunden. Keuchend wird Mil gewahr, dass er noch immer die Hand des Mädchens hält. Luft. Und doch spürt er die warme Haut, die Finger, die sich aus seinem Griff winden wollen. Verschreckt lässt er los, er hört davoneilende Schritte kleiner Stiefel.
 

"Wo.. wo ist sie hin?"

"Nach.. da hinten, glaub ich!"

"Nein, WO ist sie hin??"

"Ich werd verrückt! Ich hau ab!"

"Nein, bleibt alle, wo ihr seid! Keiner macht das Tor auf!"

Ein Knirschen und Quietschen ertönt, das automatische Rolltor schiebt sich nach oben, alle starren auf das Tor, keiner rührt sich. Das Tor schliesst sich wieder und zurück bleibt gespenstische Stille.
 

* * * *
 

Hunger und Müdigkeit sind der Feind einer jeden Unternehmung. Schon fast eine Stunde bin ich jetzt unterwegs im kalten Wasser, in irgendeine Richtung. Die Füße schwer wie Blei und kalt wie Eisbärschnauze. Raus hier! Die nächste Biegung in die Senkrechte gehört mir. Mir egal, ob sie mich mit geladenen MGs empfangen oder mit Blumenkränzen. Hier unten werd ich sonst erfrieren. Ein paar Meter weiter ist ein Ausstieg, leider sind meine Füße fast taub und müssen sich erst an das ungewohnte Steigen gewöhnen. Über mir liegt eine beruhigte Strasse still im Dunkeln. Weit entfernt rennt eine Tussi mit Stöckelschuhen über Kopfsteinpflaster, aber kein Auto unterwegs und soweit ich sehen kann auch keine Menschen, kein Laut sonst. Knapp 22 Uhr. Muss das Seniorenviertel sein. Im Schein einer altersschwachen Strassenlaterne krabbelt mein fast erfrorenes Ich aus dem Kanal und schliesst den Dol-Deckel so leise wie möglich. Der Wind ist scharf und tut meinen nassen Beinen nicht sehr gut. Stacksend schleppe ich mich von der Strasse und halte mich auf dem Weg nach irgendwo ausserhalb des Lichts.
 

Und wohin jetzt? Ich muss vor allen Dingen schlafen und meine Beine warm bekommen. Also laufe ich ein bisschen schneller, damit sie wenigstens ein bisschen wärmer werden, während ich mich nach einer geeigneten Übernachtungsmöglichkeit umsehe.
 

* * * *
 

2:1

"Der Teufel soll euch holen!" nuschelt der dickliche Herr Kruschek auf der Couch und bewirft den Fernseher mit giftigen Blicken. Diese blöden Spacken, das war doch reiner Glückstreffer! Die können doch eigentlich garnicht kicken. Ach, ach. Wo soll das nur hinführen. Ausgerechnet diese Drittligisten-Amateure! "Soweit kommt's noch!" Hinter ihm strickt Frau Kruschek wieder an einem Paar Socken. Leider kommt sie nie weit damit und muss immer wieder neu anfangen, weil sie immer vergisst, wo sie das angefangene Stück Socken hingelegt hat. Aber es macht ihr nichts aus, ihr Mann mag selbstgestrickte Socken sowieso nicht. Am Liebsten ist er nämlich barfuß, der Herr Kruschek. Wie jetzt auch vorm Fernseher. Er mag es, wenn er mit den Zehen wackeln kann, ohne drumherum Stoff zu spüren. Barfuß vor dem Fernseher mit einem Malzbier. Das macht er seit er in Rente ist und seine Frau strickt, seit sie in Rente ist. Jeden Tag dasselbe. Und einmal in der Woche, genau im unpassendsten Zeitpunkt, kommt die Frau Kruschek auf die Idee, ihren Mann rauszuschicken, um den Müll in die Tonne zu werfen. Und heute ist eben so ein Tag.

"Schatzerli, könntest ned den Müll raustragen bittschen?"

"Nachher" brummt Herr Kruschek und weiß schon genau, dass seine Frau darauf bestehen wird, dass es jetzt, sofort und auf der Stelle passiert.

"Nein jetzt! Jetzt, sofort und auf der Stelle! Ich weiß garnimmer, wo ich sonst den Müll hintun soll und des ganze Haus riecht schon danach! Wenn morgen Besuch kommt und hier riecht des nach Abfall, was soll ich denen sagen!"

Und Herr Kruschek zetert und wettert und zieht sich dann doch die Schuhe an, packt den Müll und beeilt sich nach draussen zu kommen - nicht, dass er den Ausgleich verpasst. Aber heute braucht der Herr Kruschek länger um den Müll rauszubringen, als sonst.
 

* * * *
 

Gerade, als die Tür hinter Herrn Kruschek wieder zufällt, betritt ein durchgefrorener junger Mann die Strasse, der sich ausserhalb der Lichtkreise der Strassenlaternen bewegt.
 

Und während im Haus der Familie Kruschek die Hausdame einen mitleidigen Schrei ausstösst, läuft der junge Mann am Haus vorbei und wirft einen kurzen Blick auf das Gebäude.
 

Sein Blick gleitet weiter zum Haus daneben und seine Augen bleiben an einem Schild hängen, auf dem etwas steht von: "For Sale" Und während der junge Mann den Entschluss fasst, in dem leerstehenden Haus zu übernachten, greift Frau Kruschek nach dem Händchen eines einsamen, durchgefrorenen Mädchens, das ihr Mann gerade von der Strasse aufgesammelt hat und bringt es ins ehemalige Kinderzimmer ihrer schon längst erwachsenen Tochter.
 

Zwei einsame Menschen kuscheln sich zur gleichen Zeit in eine Decke, die bei einem muffig, beim anderen nach Lavendel duftet. Zwischen ihnen eine einzige Wand, gegen die sich der durchgefrorene junge Mann lehnt und sorgenvoll an seinen verlorenen kleinen Freund denkt. Dreissig Zentimeter weiter schmiegt sich ein schneeweißer Kopf gegen die Tapete und murmelt so lange den Namen seines großen Freundes, bis er eingeschlafen ist.

[ Eden ]

Von einer geruhsamen Nacht kann ich wohl kaum sprechen. Der Morgen beschert mir einen Muskelkater der ausgewachsenen Sorte sowie ziemlich steife Glieder. Leider nicht alle. Selbst für erotische Träume hat es heute Nacht nicht gereicht. Und geweckt hat mich auch etwas ganz anderes. Draußen wird es gerade endgültig hell und vor dem Haus meiner Nachbarn ist jede Menge los. Vor allem viel Polizei ist los, ich sehe das Auto vom Fenster aus und rein prophylaktisch schiele ich so durch die Fensterscheibe, dass ich möglichst von aussen nicht gesehen werde. Man weiß ja nie. Und jetzt, da ich Geheimagent auf der Flucht bin, weiß ich schon zweimal nicht.
 

Zwei Beamte quetschen gerade meine Nachbarn aus, die mit großen Gesten einen Vorfall schildern, der mir Dank meiner nicht vorhandenen Russischkenntnisse schleierhaft bleibt. Vor allem die Frau scheint sehr besorgt und aufgeregt. Die Beamten nicken und übertragen alles mögliche ins Protokoll. Jetzt sehe ich auch, dass der Garten der Nachbarn ziemlich verwüstet ist. Überall liegt Abfall, der Gartenzaun ist abgerissen, Die Hecke total zerfetzt. Komisch, soweit ich mich erinnern kann, war das aber gestern noch nicht der Fall. Es scheint wohl nachts bei ihnen eingebrochen worden zu sein. Und ne kräftige Randale im Vorgarten. Naja, Rowdies gibt's schließlich überall. Wenigstens kann ich mir so sicher sein, dass sie nicht wegen mir gekommen sind. Trotzdem komisch, dass ich nichts gehört habe heut nacht. Vielleicht hab ich einfach zu fest geschlafen.
 

Eigentlich hatte ich vorgehabt, gleich zur Polizei zu gehen, da wären mir die zwei Beamten ja grade rechtgekommen. Aber ein kurzer Blick auf meinen Astralkörper teilt mir folgendes mit: Klement, du bist total verdreckt, stinkst und könntest ne Rasur vertragen. In dem Aufzug könnte ich zwar streng genommen trotzdem zur Polizei, immerhin bin ich in unzweifelhaften Schwierigkeiten - allerdings mit sauberer Kleidung wirkt es sich doch etwas seriöser und hm.. sagen wir vertrauenerweckender. Der Gammellook taugt nicht so gut für ernsthafte, jedoch unglaubliche Berichte. Oh ja - saubere Kleidung ist zwar eine ganz famose Idee, aber woher nehmen und nicht stehlen? Und selbst wenn ich wollte - das Haus hat zwar gerade noch ein Bett und ein Waschbecken zu bieten, aber weder Kleiderschrank noch Kleider sind hier zu finden. Und der Blick auf des Nachbars Statur teilt mir eine 3 Nummern zu große Konfektionsgröße mit. Soll ich meine Sachen etwa waschen? Der Gedanke ist geradezu abstoßend. Zuhause weigere ich mich sogar erfolgreich, einer Waschmaschine auch nur einen meiner Blicke zu schenken. Und jetzt soll ich das Zeug von Hand waschen? Kann ich nicht. Ausserdem würde das Zeug nie so schnell trocken werden. Also brauche ich einen anderen Einfall. Oh.. übrigens: Grade fällt mir ein, dass ich ja noch immer gesucht werde. Also sollte ich mich eigentlich in eine Verkleidung hüllen, während ich zur Polizei latsche. Sonst hat sich das ganze Versteckspiel nicht gelohnt. Schwierigkeitsgrad Nummer zwei: Saubere, passende Wäsche + Verkleidung.
 

Das alles hätte ich mir sparen können, wenn ich nicht zu eitel gewesen wäre, um in diesem Aufzug mit den Beamten mitzufahren. Aber jetzt sind sie weg und ich hab das Nachsehen.
 

* * * *
 

Gott, vergib mir, denn ich bin ein bösartiger Sünder.

Ich habe mich erstens in dein abgesperrtes Gotteshaus eingeschlichen, zweitens das Weihwasser zum Rasieren entweiht, drittens dem Pfarrer eine seiner Roben geklaut und mich viertens vor Hunger an ein paar Handvoll Hostien vergriffen. Aber ich bin in göttlicher Mission unterwegs und ich hoffe, du verzeihst einem Schäfchen in Not diesen Fehlgriff. Nimm's mit Humor.
 

Die Pfarrerrobe ist auch wirklich nur eine Notlösung, aber wenigstens sauber, trocken und eine halbwegs gute Verkleidung. Aber irgendwie liegt mir das erhabene Herumstolzieren nicht. In der Hinsicht bin ich kein guter Schauspieler. Anstatt würdevoll und geziemt zu wandeln, bewege ich mich wie eine Mischung aus dem Papst und einem Hofnarren, der seine Beine geschient hat. Aber so komme ich doch unbehelligt ein gutes Stück weiter in die Stadt, wo ich dann die Robe schnellstmöglich gegen eine abgetragene Arbeiter-Latzhose eintausche, die ein gläubiges Russenschäfchen einem bittenden Wanderprediger auf Missionarsreise (mir) für bedürftige nepalesische Gastarbeiter gespendet hat. Hallo? Nepalesische Gastarbeiter? Wirklich seltsam, mit was man so alles durchkommt. Unverfroren, möchte ich behaupten. Mit dieser Masche habe ich in der letzten halben Stunde neue Unterwäsche, einen schicken Pulli und zwei T-Shirts erstanden. Diesen Trick sollte ich mir merken, die Leute hier sind so unglaublich karitativ und versuchen mir auch gleich noch ihre ganze Altkleidersammlung aufzuladen. Auf diese Weise habe ich jetzt sogar eine "milde Gabe" in Form von ein paar funkelnden Eurostückchen in der Tasche, mit denen ich mir im nächsten Café ein Frühstück gönne, nachdem ich mich auf der Toilette in die Kluft eines Durchschnitts-Arbeiters geworfen habe.
 

Der Kaffee tut gut und das Essen macht es sich wohlig in meinem Magen bequem. Endlich hab ich eine kleine Verschnaufpause, um zu überlegen, wie's weitergehen soll. Ein guter Plan muss jetzt her..

Mal angenommen, diese Verrückten von Sladis suchen mich immernoch. Welche Möglichkeiten bleiben mir? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie am Flughafen und an den Bahnhöfen lauern? Und in den Taxen. Brrr. Ich will garnicht daran denken, was passiert wäre, wenn ich mit diesem Taxifahrer-Fake weitergefahren wäre. Wie steht's mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle Bushaltestellen überwachen können. Ich muß raus aus der Stadt. So schön Moskau auch sein mag, und so schön die Sonne jetzt auch scheinen mag (das tut sie wirklich), ich habe bisher nur schlechte Erfahrungen hier gemacht. Moskau, bunt, voller Leben, auf den Straßen ist der Teufel los, Wasserpfützen glitzern in der Sonne. Könnte wirklich schön sein. Aber ich habe genug vom Agentenspiel und will meine Ruhe. Die Absicht, hier zur Polizei zu gehen, habe ich auch wieder verworfen. Erstens wäre ich nicht sicher, ob ich mich auch wirklich gut mit ihnen verständigen könnte und zum zweiten klingt meine Geschichte ehrlich gesagt schon ein bisschen abgehoben. Als Ausländer in brüchigem Englisch ist die Sache doch schon ziemlich kompliziert. Noch dazu als Deutscher. Seit diesem Eklat vor ein paar Jahren steht es mit der deutsch-russischen Freundschaft nicht mehr so gut. Ich muss zurück nach Deutschland und dort Hilfe finden. Dort kann ich mich erklären, Steinbeck und mein Vater sind beides mehr oder weniger bekannte Männer - da werd ich wohl Gehör finden. Und Personenschutz. Aber zuerst muss ich zurück in die Heimat kommen. Vielleicht kann ich sogar mit den Bussen nach Deutschland fahren. Immer ein kleines Stückchen - keine Langstreckenbusse. Das wird zwar stressig, aber ist wohl am Sichersten. Und in Deutschland sofort zum ersten Polizeipräsidium. Schnell weg hier aus dieser grässlichen Stadt.
 

Ich sehe in meine leere Kaffeetasse. Wenn ich die Augen nicht scharfstelle, kann ich darin eine goldene Flüssigkeit erkennen. Darin trudelt eine halbe Zitronenscheibe. Ich sehe ihr eine Weile zu und ihr Anblick wirkt wie hypnotisch. Ich zwinge mich zum Blinzeln, aber das Trugbild bleibt. Sobald ich aber die Augen darauf konzentriere, ist es verschwunden und zurück bleibt eine leere Kaffeetasse. Seufzend entspanne ich den Blick und sehe wieder der Zitrone zu, wie sie sanft auf der Oberfläche von einem Rand zum anderen gleitet. Und im Kreis dreht sie sich. Dann wieder taucht sie kurz unter, kommt wieder nach oben. Der Tee zieht helle Schlieren, wird noch goldgelber. Und plötzlich ist sie weg. Ich sehe hoch, eine junge Bedienung räumt das leere Geschirr zusammen und fragt etwas, ich schüttle den Kopf. Ich bezahle das Essen und gehe nach draussen, wo ich die Straße hinunterlaufe und versuche verbissen, das Bild wieder aus dem Kopf zu bekommen.
 

* * * *
 

Die Polizei wird in Spionagefilmen immer sehr naiv und unfähig dargestellt, in reinen Polizeiserien dagegen clever und smart, stets erfolgreich und kompetent. Wie sie wohl meine Geschichte aufnehmen werden? Und was sie dann unternehmen? Werden sie's mir überhaupt abnehmen? Ich an ihrer Stelle würde das nämlich nicht. Aber ich habe ja jetzt Zeit genug, mir eine handfeste Version der Ereignisse zurechtzulegen. Eine halbe Stunde noch bin ich hier. Dann heißt es adieu, Moskau. Ich fühle mich fast schon sicher. In meiner Verkleidung als Arbeiter falle ich niemandem auf und nach den Bussen habe ich mich auch schon erkundigt. Die ersten paar Strecken werden wie gesagt klein sein. Von Vorstadt zu Vorstadt, immer eine andere Linie. So oft wie möglich wechseln. Dann, wenn die Entfernung größer geworden ist, kann ich längere Strecken wagen, vielleicht sogar Züge.
 

Der kleine Busbahnhof liegt am Rand einer Parkanlage. Mein Geld reicht locker für eine Fahrkarte in den Vorort, dort muss ich mir dann aber überlegen, wie ich zu Geld komme. Mit meiner ID kann ich ja nun nicht mehr bezahlen.. wie umständlich. Diese kleinen Plastikdinger sind so praktisch, ich habe schon fast verlernt, mit Münzgeld zu bezahlen. Aber hier scheint noch mehr als die Hälfte der Leute bar zu bezahlen. Ältere Menschen vor allem. Na herrlich. Ich kann mir jetzt schon vorstellen, dass ich die Busfahrt in einem vollen Wagen mit steinalten, mürrischen, motzenden oder jammernden Weibern verbringen muss, die allesamt nach Moder und Kölsch Wasser riechen. Ich brauche unbedingt Ablenkung.
 

Am Kiosk um die Ecke bekomme ich gewünschte Ablenkung. Deutsche Zeitung, bitteschön. Natürlich bekomme ich das niveauvollste Blatt der Deutschen Pressegeschichte. Fakten, Fakten, Fakten: die gute alte BildZeitung. Aber immerhin etwas. Auf der Bank an der Haltestelle lasse ich mich nieder und schlage die Zeitung auf. Aha. Deutsche Sängerin geht fremd in Schwangerschaft. Konzernchef in Schmiergelderaffäre überführt. Die Artikel sind des Lesens nicht wert und ich überfliege sie nur kurz, dabei bin ich wenigstens von meiner Umwelt nicht zu sehen. Ein Otto-Normal-Installateur mit der Bildzeitung. Beschränkt und nur schlagzeilenfähig. Authentischer geht's nicht mehr. Die ältesten Tricks wende ich hier an, ha, ihr Trottel, und nichts bemerkt ihr! Wäre doch gelacht! Grinsend blicke ich meinem Selbst entgegen. Und gefriere. Meine Lippen grinsen immernoch, obwohl es nichts zu grinsen gibt.
 

BildZeitung, Seite vier glotzt mir mein überdimensional vergrößertes ID-Bild entgegen. Dazu ein Artikel, der mit horrenden Schlagzeilen gespickt ist:

- Klement R. (23) in verzwickten Mordfall verstrickt! -

- Student erbt ein Vermögen! -

- Mutmaßlicher Täter spurlos verschwunden! -

- Ist die Mafia im Spiel? -

- Richter in Russland untergetaucht! -
 

... eh Leute, das ist ein Witz, oder?!
 

* * * *
 

Familie Kruschek ist entsetzt. Soviel Aufregung an einem Tag sind sie wahrlich nicht gewohnt. Frau Kruschek lässt vor Nervosität ein paar Maschen fallen. Eigentlich wollte sie sich beruhigen, aber das funktioniert angesichts dieser Ereignisse überhaupt nicht. Erst dieses entzückende junge Mädchen, das, zugegeben, etwas seltsam ausgesehen hatte, aber ganz allein auf der Strasse herumgelaufen ist und von ihrem Mann aufgegabelt wurde. Natürlich hat sie als pflichtbewusste Bürgerin und sorgende Mutter noch in derselben Nacht die Polizei angerufen und das Kind dort gemeldet. Als dann eine knappe Stunde später ein Wagen vor der Tür hielt, war Frau Kruschek natürlich immer noch wach und empfing die junge Frau, die ganz ausser sich vor Freude war, ihr Kind wiederzuhaben. Zufrieden ging Frau Kruschek ins Bett, nachdem das Mädchen wieder wohlbehalten bei ihrer Mutter gelandet war.
 

Doch die Bettruhe hatte nicht lange gehalten. Aufgeschreckt waren sie beide, Frau Kruschek und ihr Mann, der normalerweise so laut schnarchte, dass sie Lärm des Nachts gänzlich überhörte. Einbrecher!, war ihr erster Gedanke gewesen, Herr Kruschek war sofort wach gewesen, hörte das Rumoren im ersten Stock und bewaffnete sich mit dem schon seit Jahren losen Bettpfosten. Aber wer glaubt, dass Frau Kruschek ängstlich zurückgeblieben wäre, der irrt sich. Mutig grabbte sie ihre Parfümsprüher und folgte ihrem Mann im Rücken, um gegebenenfalls die Einbrecher blind zu sprühen. Aber so weit kam es nicht. Schon auf der Treppe kam ihnen ein schwarzer Mann entgegen und bevor Herr Kruschek darauf reagieren konnte, wurde ihm der Bettpfosten aus den Händen gerissen. Frau Kruschek wollte gerade ihr gut duftendes Gift verspritzen, doch der Junge war flink und duckte sich weg, zwei Sekunden später schepperte das Parfumfläschchen auf den Treppenabsatz. Jetzt sahen die beiden erschütterten Ehegatten, dass der Einbrecher nicht alleine war. Es waren sechs oder sieben dieser schwarz gekleideten Gestalten, die gerade jede Schublade aufrissen, jede Schranktüre aufstießen, ohne etwas vom Tafelsilber mitgehen zu lassen. Aus den anderen Zimmern kamen jetzt noch mehr dieser Kerle und Frau Kruschek riss die Augen auf, als einer der Kerle etwas zwischen den Fingerspitzen hielt. Die Stiefelchen des Mädchens, die sie vergessen hatte. Sie fluchten allesamt, die Eheleute Kruschek machten keinen Mucks, als der Kerl vor ihnen drohend mit dem Bettpfosten vor ihrer Nase herumwackelte.
 

"Wo ist er?!" krächzte der Vermummte und bedachte beide mit einem sehr zonigen Blick. "Wo habt ihr ihn versteckt?!" Unsicher sahen sich die zwei Rentner an und versuchten zu verstehen. "Stellt euch nicht so dumm! Das Kind! Den Jungen! Mit den weißen Haaren, wo ist er!!" Frau Kruschek zog hierauf die Stirn in Falten und belehrte den frechen jungen Mann: "Erstens, das kleine Ding ist ein süßes Mädchen und zweitens haben wir keine Ahnung wo es ist, und drittens - dir, Bürschchen, würde ich das sowieso nicht erzählen und wenn ich es wüsste! Was fällt euch überhaupt ein, hier einfach.." Frau Kruschek verstummte, als ein Pistolenlauf auf sie gerichtet wurde. Die Stimme ihres jungen Gegenübers klang scharf und ... gefährlich. "Hören Sie mir gut zu, Oma! Sie sehen zu viel fern - das ist jetzt definitiv nicht der Zeitpunkt für Sie, die Heldin zu spielen. Die Zeiten, in denen die alte Frau dem Dieb mit der Handtasche eins überbrät, sind vorbei! Sie beantworten jetzt meine Frage, sonst kann ich Ihnen versprechen, dass es kein Happy End geben wird!" Herr Kruschek schwitzte, seine nackten Zehen klebten am Dielenholz. "Ihre Mutter hat sie abgeholt!" stieß er hervor und kassierte einen Rippenstoß seiner Frau.

"Ihre WAS?!"

"Sie sagte, sie sei die Mutter und hat sie mitgenommen, schon vor ein paar Stunden!"

Der Vermummte stieß einen sehr blasphemischen Fluch aus und schien tatsächlich etwas zu verzweifeln unter seiner Maskerade.

"Wenn Sie mich belügen..!!"

"Die Polizei hat die Frau hergeschickt! Sie war.. etwa so groß und hatte braune Haare! Ich schwöre bei Gott!" Herr Kruschek hatte wirklich zuviele Filme gesehen, in denen die Bedroher die Nerven verloren und ständig mit Infos beruhigt werden mussten. Von seiner Frau erntete er vernichtende Blicke, die jedoch in Angesicht dieser anderen, akuteren Bedrohung von ihm abprallten.

"Jemand hat den Polizeifunk abgehört!" schrie er den anderen zu und man konnte fast die betretenen Gesichter unter den schwarzen Stoffen erkennen.

"Da war doch aber nichts! Unsere Leute haben das überprüft!"

"Vielleicht haben sie eine Parallel-Leitung benutzt! Verdammt!" Der Mann, der die zierlichen Stiefel in der Hand hielt, fluchte hingebungsvoll und schleuderte das Schuhwerk quer durch den Raum. Er hatte Glück, dass niemand in der Schußlinie gestanden hatte.

"Wohin sind sie gefahren, alter Mann!" zeterte der Einbrecher weiter, obwohl ihm das Versagen schon in den Augen stand.

"In die Stadt runter, wohin sonst?" sagte stattdessen Frau Kruschek und musterte die Kerle in ihrem Wohnzimmer. Sie schienen alle noch recht jung zu sein, einige wirkten schockiert, andere standen stocksteif, viele überlegten, zupften am Türrahmen. Auf keinen Fall solche Profis, wie sie in den Filmen vorkamen. Allerdings verstand sie dieses ganze technische Gefasel nicht. Aber das machte nichts.

"Wann war das?! Ist das lange her?!"

"Na schon ein paar Stunden.."

"Was?! Das ist nicht möglich!!.. Wie hat diese Frau ausgesehen!!"

"Mein Gott, es war dunkel!"

"Alter! Statur, was für ein Wagen?!"

Frau Kruschek lieferte eine detaillierte Beschreibung eines Wagens, der definitiv nicht mit dem übereinstimmte, den sie in Erinnerung hatte. Aus einem dunklen Golf wurde ein weißer verbeulter Japaner, die hübsche dunkelhaarige Frau wurde zu einer etwas zerzausten, dicklichen Mamsel in Schlabberkleidung. Warum sollte sie diesem ungehobelten Kerl behilflich sein, das kleine Mädchen wiederzufinden? Sie hoffte nur inständig, dass diese Grobiane das arme Ding nicht aufspürten - warum auch immer. Wozu suchten auch fast erwachsene Männer ein junges Mädchen? Oder Jungen, was immer es auch gewesen sein mochte. Sie wollte lieber garnicht daran denken. Zum Glück verließen sie die Eindringlinge schnell wieder und Frau Kruschek griff zum Telefon.

"Polizei?! Hallo, Kruschek wieder! Gerade eben wurde bei uns eingebrochen!"
 

Im Laufe des folgenden Gesprächs, wurden einige Dinge für die arme Rentnerin ziemlich unerklärlich. Der Mann am Telefon leugnete vehement, dass sie in dieser Nacht niemanden geschickt hatten, um irgendwen abzuholen. Keiner konnte etwas mit dem Kind anfangen, das sie doch vor Kurzem am Telefon beschrieben hatte. Ihre Nummer war zwar im Protokoll verzeichnet, doch fraglicher Anruf dauerte nur ein paar Sekunden - Frau Kruschek hätte nach einer kleinen Pause mit einer Entschuldigung, sie habe sich verwählt, aufgelegt. Aber natürlich hatte man ihr gleich darauf ein paar Beamte geschickt wegen des Einbruchs. Frau Kruschek war sich garnicht mehr sicher, ob das alles wirklich so passiert war oder ob sie nur wieder ein wenig verwirrt war, wie es in letzter Zeit öfter der Fall gewesen war. Aber ihr Mann bestätigte auch vor der Polizei noch einmal alles - das Kind auf der Straße, der Anruf bei der vermeidlichen Polizei, die vermeidliche Mutter des Kindes und schließlich die schwarzgekleideten Kerle, die ihr Haus auf den Kopf gestellt und nach dem "Jungen" gefragt, jedoch nichts gestolen hatten.
 

Vor allem aber hatte Frau Kruschek jetzt Angst um das arme Ding. Wer war diese Person, die es mitgenommen hatte? Ganz offensichtlich nicht die Mutter. Eine Entführung? Und wer waren diese seltsamen Einbrecher gewesen?

"Oh hoffentlich ist das arme Kind nicht in Gefahr!" jammerte die Rentnerin, als die Polizei irgendwann mittags wieder abrückte. Im Kreis ihrer Nachbarn musste sie noch einmal haarklein erzählen, wie das mit dem Einbruch und diesen Halunken gewesen war. Die mitfühlenden Omis wiegten anerkennend den Kopf, als die alte Dame stolz erzählte, wie sie den bösen Jungs mutig entgegentrat und sie sogar belogen hatte.

"Ja und die Frau? Wie konntest du ihr das Mädel so einfach mitgeben?"

"Ich weiss auch nicht, aber ich war so fest davon überzeugt, sie sei die Mutter.. ich habe garnicht daran gezweifelt, dass sie es nicht sein könnte. Obwohl sie doch ein bisschen jung war für so ein Kind in dem Alter, wenn ich recht überlege. Das hätte ich eigentlich gleich merken müssen.."
 

* * * *
 

Die Luft ist so dick, dass man daraus einen Pizzateig kneten könnte. Wütendes Schweigen drängt sich in alle Ecken und sucht nach einer Lunte. Fieberhaftes Überlegen, wie man den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen könnte. Das Donnerwetter hat es schon gegeben. Von ganz oben. Ein vernichtendes Urteil. Aber sie können es sich zum Glück jetzt nicht leisten, Mitarbeiter zu versetzen oder gar zu entlassen. In wenigen Stunden wird die ganze Operation übertragen - an eine weitaus fähigere Komission, wie sich der Einsatzleiter stichelnd ausgedrückt hat. Aber sie konnten schließlich nicht ahnen, dass der "Vogel schon ausgeflogen" war, als sie dort ankamen. Dabei war es wirklich ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Ort herauszubekommen. Im Polizeifunk war nichts gewesen, kein Hinweis. Genauso auf der Telefonleitung. Ein bisschen Glück, viel Recherche und Detektivarbeit hatte sie das gekostet. Reifenspuren, Infos hinter der Hand, geschicktes Aushorchen, vier Tote. Eine Unmenge Leute haben dann den ganzen Stadtteil durchkämmt und letztendlich waren sie ungeheuer stolz gewesen, den Unterschlupf herauszufinden. Wenn man schon diesen Richter verloren hatte. Und jetzt waren wieder beide weg. Mit dem Unterschied, dass einer jetzt öffentlich gesucht wird und der andere von jemand anderem aufgegriffen wurde. Und sie können so garnichts machen. Nichts! Keine Spur! Nur die Beschreibungen der Entführerin und ihrem Wagen, die sicher auch nicht stimmen. Die Kacke ist quasi am Dampfen. Und alles in seinem allerersten Auftrag..
 

"Die Sache mit Steinbecks Leiche war doch eine gute Idee. So wird sich Richter hüten, zur Polizei zu gehen. Wenigstens etwas. Und irgendwann werden wir ihn finden. Er hat kein Geld, er kann nicht zurück nach Deutschland. Irgendwann muss er seine ID benutzen!"

"Das ist lächerlich! Sie haben diesen Knaben schon viel zu sehr unterschätzt! Dieser Richter ist ein schlauer Kerl. Der wird einen Weg finden, aus Russland zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und irgendwem wird er sich irgendwann anvertrauen!"

"Nicht, wenn wir ihn zuerst finden! Wir haben hervorragend recherchiert! Wir haben Six auch gefunden, nur eben leider zu spät.."

"Wir sind immer einen Schritt zu spät! Soll dieser.. dieser Student uns an der Nase herumführen? Warum werfen Sie nicht gleich das Handtuch und lassen die beiden frei gewähren nach ihrem Belieben? Und das mit den vier Autoknackern hätte man auch anders erledigen können. Nur gut, dass man diese Massaker unter Kriminellen immer gleich auf die Mafia schiebt. Trotzdem sollten sie lernen, unauffälliger zu verhören!"

"Sie wissen sehr wohl, dass das nicht die Schuld meiner Leute ist!"

"Es ist mir ganz egal wessen Schuld es ist! Sie haben weder Richter, noch Six abgefangen - in meinen Augen sind das ganz einfach Mißerfolge! Sie sind für diese Entwicklung verantwortlich. Und da Sie offensichtlich unfähig sind, einen Studenten und ein kleines Kind in Zaum zu halten, werden sich ab jetzt die Leute von Silaz darum kümmern!"
 

* * * * *
 

'Hab keine Angst. Wir werden dir nichts tun. Halt schön still, bitte!'

Es ist dunkel. Verwirrt blinzelt der Junge. Er ist müde, doch gleich darauf hellwach. Es rumpelt dumpf, der Boden, auf dem er liegt, vibriert gleichmässig. Die Stimme in seinem Kopf kennt er nicht. Die Stimme ist sanft, beruhigend und doch erschrickt er.

'Wer bist du?' fragt er zurück und versucht sich zu bewegen. Seine Glieder sind schwer und lassen sich nicht bewegen. 'Wer bist du? Wo bin ich? Was willst du?' Unbeantwortete Fragen. Es wird heller. Erst Schemen, dann Umrisse, Farben, unscharfe Formen. Er bekommt Angst, er hört seltsame Stimmen, Geräusche. Seine Arme und Beine kribbeln, lassen sich nur sehr wenig bewegen, aber sie schmerzen dabei.

'Was habt ihr mit mir gemacht? Ich will hier weg! Wo ist Klement?'

Ein heißer Schmerz zuckt auf, ein brennender Punkt in der Armbeuge. Langsam fließt ein kochender Strom, wie Lava, die Ader hinauf und breitet sich aus. Die Schmerzen werden dumpf, ein pochendes Geräusch wird leiser. Alles ist dunkel.
 

Besorgt streicht die junge Frau eine nervige Strähne aus dem Gesicht. Das Stärkste, was zu finden ist. Und es hält gerade mal drei Stunden. Das ist jetzt erst das zweite Mal und er gewöhnt sich schon daran.

"Du wirst mir noch ganz schön Probleme machen, mein Kleiner.." Das Auto fährt mit konstanter Geschwindigkeit weiter.



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Kommentare zu dieser Fanfic (18)
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Von: abgemeldet
2008-10-18T11:13:07+00:00 18.10.2008 13:13
Hi,

für gewöhnlich mag ich keine Ich-Erzähler (finde, sie engen die Perspektive zu sehr ein), aber Klement beim Erzählen zu zuhören wird nie langweilig, sondern bleibt immer unterhaltsam, das gefällt mir sehr gut.

Allerdings mach ich mir ehrlich Sorgen um Juno, ich würde dem Kleinen gern mal ein bißchen Glück gönnen, davon scheint er bisher nicht allzu viel gehabt zu haben.

Hoffe, die Geschichte geht trotz der (sehr) langen Zeit, die sie jetzt schon pausiert, irgendwann weiter und ich erfahre was aus den beiden Jungs geworden ist - ich drück ihnen die Daumen, dass es was Gutes wird. ^^°

Möge die Muse der Schreibkunst dir (und deiner Leserschaft *g*) gewogen sein... ^.~

lG

Zwiebel
Von:  HorusDraconis
2005-11-16T08:24:06+00:00 16.11.2005 09:24
Diese Story ist Buchreif. Hast du schon was in den Druck gegeben? Bitte schick mir ne kurze Info, wen du das nächste Kapitel on hast.

Cya

Horus
Von:  Pie
2005-09-15T16:39:00+00:00 15.09.2005 18:39
Boah, das gibts echt nicht. Weißt du, da denke ich mir 'Liest du mal ein wenig in Tsches Sachen rum' und dann tu ichs und lese das erste Kapitel, das zweite, das dritte usw. bis zum dreizehnten Kapitel und ich bin total begeistert. Ich wollte heute eigentlich in die Buchhandlung gehen, weil ich meine Bücher ausgelesen hatte und hab das leider nicht geschafft. Ich hatte schon befürchtet, dass ich mich langweilen müsste, aber dann bin ich auf diese Bestseller-reife Geschichte gestoßen - WOW! Grammatikalisch, vom Audruck und der Rechtschreibung betrachtet und vom Inhalt gesehen ist diese Geschichte eine Glanzleistung und gehört eigentlich nicht unter FF, denn hier spielen deine Charaktere mit - alles ist original von dir, das ist ja das tolle daran. Eine in sich stimmige, sehr gut erzählte Geschichte mit gut ausgearbeiteten Charakteren. Ich habe letztens drei Bücher von einem Autor gelesen (übrigens Bestseller-Autor), der genauso gerne die ironische Seite an solchen Geschichten beleuchtet. Ich muss ehrlich zugeben, dass mir deine Story hier sehr zusagt.
Schreib bitte bitte weiter und sollte es dir nichts ausmachen, schick mir die Kapitel per E-Mail, dann muss ich nicht darauf bauen, dass Animexx mitspielt!

Oh man, ich bin immer noch hin und weg - ich möchte auch so schreiben können wie du, aber bei mir reicht es immer nur zu sehr kurzen Geschichten - ich habe für so lange Dinge gar nicht die Geduld!

Dafür *thumbs up* - wenn ich das hier bewerten könnte (oder kann man?) würdest du ne glatte 1+ kassieren!

Ein total überwältigter Sou und neuer Fan ^.~
Von:  Ley
2005-09-10T00:59:54+00:00 10.09.2005 02:59
Tsche das verzeih ich dir nie - mein armer kleiner Juno, jetzt wird der schon wieder entführt! *heul*
Und Klement hast du auch in einen so desolaten Zustand versetzt, schäm dich... ¬,¬
Die armen Hascherls. Hoffentlich finden die bald wieder zusammen.
Muahaha, aber Frau Kruschek mit ihrem Parfümsprüher ist ne tolle Nummer gewesen *rofl*
Määääääääääääääääääääääähr!
Von:  Ley
2005-06-11T16:04:50+00:00 11.06.2005 18:04
Waaaaaaaaaaah wie süüüüüüüüüüüß! *kreisch*

Der Anfang ist mal wieder zum totlachen! Und Juno bei den Autodieben ist auch sweet. Aber das Ende! *schnüff* Wie niedlich! Tsche, ich liebe deine FF - sie ist so göttlich! Schreib bloß schnell schnell weiter und sag mir mal Bescheid wenn du das nächste Chap on stellst, damit ich es nicht erst wieder Tage später sehe! *nick nick*

Ich hoffe Juno und Klement finden sich bald wieder. ;_;
Von:  Ley
2005-02-14T21:51:37+00:00 14.02.2005 22:51
Wooooooaaaaaaaaaaaaah *kreisch*

Wieder mal absolut genial Tantchen! ^^
War ja klar, dass da in dem Auto ein Suchtrupp sitzt. Aber die beiden haben es ja zum Glück nochmal geschafft.
Sehr schön, sollte man sagen, aber nein, Tante Tsche setzt gleich nach und lässt ein Auto und Juno verschwinden!! @.@

Der Knirpsi ist doch wohl nicht aus lauter Langeweile auf die Idee gekommen, Klement nachzueifern und unter die Autofahrer zu gehen? Oo

Nyargh, schreib bloß schnell weiter. Muss doch wissen was mir meinem kleinen Juno is und was aus ihm wird, wenn Klement ihn erstmal mit Haarfärbung und Mädchen-Klamotten behandelt hat. XD

Erneut ein dickes fettes Lob von meiner Seite! Go on!

MfG, Ley
Von: abgemeldet
2004-12-04T11:27:50+00:00 04.12.2004 12:27
hihi die geschichte scheint lustig :) ich les gern weiter ^^ naja ich hab doch gesagt, am wochenende wird gelesen *g* bis dann! immer weiter!
Von:  Ley
2004-11-28T00:02:31+00:00 28.11.2004 01:02
Eh - ja, einmal hätt auch gereicht ^^°
*Anixx mal unauffällig tret*
Von:  Ley
2004-11-28T00:01:19+00:00 28.11.2004 01:01
Whooooooooooooaaaaaaaaa - genialissimo!!!
*leucht vor Begeisterung*
Wirklich wieder heftig cool! Six aka Juno (passt viel besser als Six XD) ist jetzt, wo er Klement nicht mehr umbringen will, wirklich knuffig - Schnäckä! *lol*
Ich hoffe nur mal für die Beiden, dass in dem offenbar herankommenden Auto nicht ein Suchtrupp aus diesem Pseudo-Super-Gen-Labor sitzt Oo
Also schreib schnell weiter, damit ich bald erfahre, wie es weitergeht! Die FF ist wirklich hammer! *total über toll find*

Baba, Ley *knuddelknuff*
Von:  Ley
2004-11-27T23:38:33+00:00 28.11.2004 00:38
Wuaaaaaaaaaah - GRUSLIG!

*aufs nächste Kapi stürz*


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