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Gedenke des Todes, Drachenritter

Memento Mori - 3. Platz im Herbst-/Winterwettbewerb 2004
von

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1. Teil

Bevor ihr das lest, noch ein paar kleine Anmerkungen. Ich hab die Originalnamen (soweit ich sie kenne) benutzt, außer den von Razu, weil da mag ich Razu lieber ^_^

Außerdem ist mir klar, dass Sheela eigentlich viel jünger ist, als sie in der Geschichte erscheint. Die Geschichte beginnt übrigens fünfzehn Jahre bevor Bastard!! anfängt, also, nicht wundern.

Sämtliche Charaktere aus Bastard!! gehören Hagiwara Kazushi.

Ko, Meriya und die Gestalt in schwarz sind meine eigenen Kreationen, gehören also mir! ^_^

Das Gedicht am Anfang ist aus der Neuauflage von Bastard!!

Ansonsten, Kritik ist immer gerne gehört ^_^

Viel Spaß beim lesen! Eure Lea Kim
 


 

Gedenke des Todes, Drachenritter 1. Teil

Memento Mori
 

Alas, baleful influence still remains.
 

A long, long time ago, a great war was fought.

An Evil Sorcerer from darkness with an army

Of monstrous demon statues and horrid beasts

Attempted to infringe upon four Kingdoms

For a spell of forty-two months.

The Uparitou War, it was called

The dreary gloom hid the sky.

No light was seen for one-third of each day.

No skyglow at night.
 

Then came a Dragon Kinght with sacred light.

The one chosen by the sages,

Given such power and vigor equal to a mighty Dragon'fs,

Bravely stood before the Evil One.

After battles for some days and nights

The Sorcerer was severely defeated.

Thus was made the gloom to disappear forever.

And the sky was never to be disgraced again.
 

Where has the Dragon Knight gone?

Alas, he too was never to be seen again therefore.
 

Sie beobachtete sie, die Menschen, wie sie lebten, wie sie handelten, wie sie sich selbst betrogen, sich selbst um ihr Glück brachten, wie sie ihr Leben einfach wegschmissen, als wäre es ein altes Kleidungsstück, das nicht mehr der derzeitigen Mode entsprach. Sie wussten nicht, welches Geschenk ihnen gegeben wurde, welche Möglichkeiten sie hatten, welche Chancen sie verpassten. Die Menschen waren blind gegenüber ihrer eigenen Umwelt und zu selbstverliebt, als dass sie es erkennen können.

Sie konnte ihnen kein Mitleid entgegenbringen. Nicht diesen Lebewesen. Nicht ihnen.

Warum sagten sie, sie wären glücklich und töteten sich dabei gegenseitig? Warum waren sie so verlogen? Warum machte es ihnen nichts aus?

Sie wurde nicht schlau aus der Menschheit, sie waren so skrupellos und doch... Sie hatten Jahrtausende überlebt, obwohl sie sich jederzeit selbst auslöschten, meist aus nichtigen Gründen. Eigentlich dürfte es sie nicht mehr geben.

Die Menschen waren so hartnäckig, so stur, so rücksichtslos. Sie waren so arrogant, so selbstgerecht und so hochmütig. Sie bildeten sich ein, sie wären die Krönung der Schöpfung, Gottes Ebenbild! Was für ein Irrglaube. Sie waren so blind, dass sie ihre eigenen Fehler schon längst nicht mehr wahrnahmen.

Die Menschen waren nichts, nichts wert. Welch eine Ironie, dass sie von ihnen abhängig war.
 

Er hörte die morgendlichen Geräusche, das leise Fußgetrappel der Diener, das Vogelgezwitscher von draußen, welches in den letzten Tagen immer weniger geworden war, der Windzug, der durch das geöffnete Fenster in das Zimmer hineinwehte und die Fensterläden klappern ließ.

Er war müde, so müde. Er wollte nicht aufstehen, nicht schon wieder das tun, wozu er geboren war. Er hasste es. Er wollte es nicht, aber er musste. Er war es so müde.

Schleichend stieg er aus seinem Bett, um sich seinem Training zu widmen. Sein Tag fing früh an, keiner der anderen stand bei Sonnenaufgang auf.

Aber anscheinend war er heute diesmal doch nicht der Erste. Bevor er ganz aus dem Bett gekrochen war, wurde die Tür zu seinem Zimmer aufgeschlagen und ein kleiner, schwarzhaariger Wirbelwind stürmte hinein, genau auf ihn zu. Mit aller Wucht wurde er zurück auf sein Bett geschmissen und fest gedrückt, so dass er beinahe keine Luft mehr bekam. Die zierlichen Ärmchen seiner Schwester umklammerten ihn zitternd. Sie schluchzte erbarmungswürdig. Nur schwer konnte er sie beruhigen.

"Es ist alles gut, weine nicht, ist ja gut, du brauchst nicht traurig zu sein, es ist alles in Ordnung", flüsterte er ihr leise ins Ohr. "Weine nicht, meine kleine Shee, alles wird gut." Und dabei musste er an seine eigene Bestimmung denken. Er hasste es, seine kleine Schwester belügen zu müssen.

"Du ... ich ...du ... tot und ich ...", stammelte die kleine Sheera und konnte trotz allen guten Zuredens nicht völlig in ihrem Weinkrampf innehalten. "Du ... wirst sterben.", schniefte sie schließlich ganz leise, dass er es fast nicht hörte.

Er wusste, dass er sterben würde, dafür war er geboren worden, aber es erschütterte ihn, dass seine kleine Schwester davon erfahren hatte. Er liebte sie und hatte von jeher versucht all das schreckliche Unheil von ihr fern zu halten. Wie hatte sie es erfahren? Woher wusste sie es?

Seine kleine Shee, sie war noch so jung und musste soviel erleiden. Ihre gemeinsame Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater hatte sich so gut es ging um seine Tochter gekümmert, doch die Mutter hatte er nicht ersetzen können, zumal er sich noch um ein gesamtes Königreich kümmern musste. Auch er, ihr großer Bruder, hatte nicht als Ersatz gereicht, bei weitem nicht. Und nun der Krieg.

Sheera hatte ein solches Schicksal nicht verdient, niemand hatte ein solches Schicksal verdient!

Vorsichtig löste er seine Schwester aus der festen Umarmung und schaute ihr lächelnd ins rotgeweinte Gesicht. Mit einer Hand wischte er ihr die Tränen weg.

"Ich werde nicht sterben, noch nicht."

"Aber ich habe sie gesehen", begehrte Sheera auf. "Sie wird dich mir wegnehmen!"

Er schüttelte den Kopf. "Keiner wird mich je dir wegnehmen, ich werde immer auf dich aufpassen, kleine Shee."

"Doch, sie wird es tun, ich weiß es", erwiderte sie aufgebracht. Ihre Sorge um ihn hatte sich nun in Wut verwandelt. Ihre kleinen Fäustchen hämmerten an seine Brust, als würde sie dadurch das Unheil, das über ihm schwebte, austreiben können. Er hielt sie nicht davon ab. "Sie wird dich holen", heulte sie.

Er drückte sie an sich, um sie abermals zu beruhigen, doch sie riss sich aus seinen Armen. Wütend und zornig schrie sie ihn an: "Ich hasse sie, sie darf dich nicht holen! Du gehörst ihr nicht!" Dann lief sie aus dem Raum, einen verdutzten und traurigen großen Bruder zurücklassend.

Welch eine große Trauer hatte in ihren Augen gelegen.

Nachdenklich und besorgt nahm er seinen alltäglichen Tagesrhythmus auf. Während des gesamten Vormittages sah er seine Schwester kein einziges Mal, obwohl er immer Ausschau nach ihr hielt. Es betrübte ihn, wie sie ihn verlassen hatte, so voller Anklage in ihren Augen, als ob es seine Schuld wäre.

Nur, was war passiert, dass sie so aufgewühlt war? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, sosehr er sich auch bemühte, einen Grund für ihr Verhalten zu finden. Und wer war diese Person, von der Shee gesprochen hatte? Eine Frau aus seinem Umfeld oder vielleicht eine Feindin? Er kannte die Gefahr, die das Königreich bedrohte. Unter den Anführern der Gegner gab es nur ein weibliches Wesen, die Donnergöttin. War sie es, die ihn holen sollte? Nein, sie konnte es nicht sein, oder etwa doch? Wenn sie ihn in einem Kampf tötete, dann holte sie ihn in gewisser Weise.

War es das, was seine kleine Shee ahnte? Dass er im Kampf gegen die Donnergöttin sterben würde?

Die arme kleine Shee, sie war so mitgenommen von den Schlachten, die sich gehäuft hatten, seit der Herbst angefangen hatte. Der Krieg bedrückte das ganze Volk. Jeden Moment konnte wieder ein Angriff erfolgen. Die Menschen lebten in ständiger Angst vor erneuten Überfällen. Dass das nicht an seiner Schwester spurlos vorbei ging, war unausweichlich.

Sie mussten diesen Krieg gewinnen, auch wenn es hoffnungslos erschien. Er musste ihn gewinnen, diesen sinnlosen, abscheulichen Krieg.

Wie lange lebte er schon darin, in diesem Albtraum, der nicht enden wollte? Von dem er so müde war, so ausgelaugt. Es schien endlos her zu sein, dass die ersten Attacken sein Leben erschüttert und ihn herausgerissen hatten, hinein in eine Welt der Zerstörung und der Willkür. Der Feind war stark und übermächtig, wie sollte er ihn nur besiegen? Woher sollte er nur die Kraft nehmen?

Mit einem kräftigen Schlag auf seine Schulter wurde er in die Gegenwart zurückgeholt.

"Was grübelst du so vor dich hin, Prinz Razu", erklang eine dunkle, tiefe Stimme hinter ihm. Es konnte nur einer sein, denn kein anderer von seinen Freunden nannte ihn bei seinem Titel. Als er sich umdrehte, erblickte er den angehenden Hohepriester Geo, wie er erwartet hatte.

"Shee ist böse auf mich."

"Shee? Böse auf dich, ihren heißgeliebten Bruder?", fragte Geo ungläubig. "Das halte ich für ein Gerücht."

Razu zuckte mit den Schultern und ging weiter, Geo folgte ihm. "Es ist aber so."

"Jetzt erzähl doch keinen Quatsch, sie verehrt dich", entgegnete Geo bestimmt, alle Zweifel damit wegwischend. "Sie wird sich schon wieder beruhigen."

Doch Razu war noch nicht davon überzeugt. "Sie kam heute morgen weinend in mein Zimmer, ich konnte sie kaum beruhigen."

"Sie hat wohl schlecht geträumt", mutmaßte Geo. "Das ist nichts ungewöhnliches in dieser Zeit, der Krieg geht auch an ihr nicht spurlos vorbei."

Das gleiche hatte Razu auch schon vermutet, aber der Zweifel und die Sorge nagten weiter an ihm. Sheera war eigentlich ein sehr fröhliches Mädchen, sie spielte gern, und auch Alpträume verarbeitete sie schnell. So einfach konnte es nicht sein. Es steckte mehr dahinter. Er hatte die Angst in diesem kleinen Körper gefühlt, die Angst um ihn, ihren großen Bruder, der sie ihr Leben lang beschützt hatte und für sie gesorgt hatte, die Angst, dass er sterben würde. Sie war echt gewesen, diese Angst, keine Illusion.

"Vielleicht hast du Recht", lenkte er ein. "Aber..."

"Aber du machst dir Sorgen", beendete Geo für ihn den Satz. Es war nicht das, was Razu sagen wollte, aber er beließ es dabei. Sollte Geo denken, dass Shee nur einen Alptraum hatte, die anderen hatten schon genug Sorgen, als dass sie sich auch noch darüber Gedanken machen mussten. Er würde es schon selber herausfinden, was mit seiner Schwester passiert war.

"Für wann ist die nächste Versammlung angesetzt", fragte Razu, um endgültig das Thema wechseln zu können. "Hoffentlich nicht heute."

"Hast du es noch nicht gehört?", fragte Geo überrascht. "Dein Vater hat eine Krisensitzung veranlasst. Wir sollen uns alle im großen Saal einfinden, es sind Boten heute früh gekommen. Ich dachte, du wüsstest das. Weshalb wären wir sonst in dieser Richtung unterwegs."

Das stimmte, sie waren auf dem Weg zum großen Saal, der nur für hochoffizielle oder dringende Staatsangelegenheiten genutzt wurde. Die Situation war ernst, sonst hätte sein Vater nicht auf diese Weise gehandelt.

Und auf einmal war er der Krieger, als der er geboren war. Seine Gedanken gehörten der bevorstehenden Schlacht, die kommen würde, mit Sicherheit. Jegliche eigenen Sorgen verbannte er aus seinem Kopf, die konnte er nicht gebrauchen. Im Kampf zählten Reflexe, wer zuviel nachdachte, starb. So lautete das ungeschriebene Gesetz. Und er konnte es sich nicht leisten, zu sterben, er musste dieses Königreich beschützen.

Auch wenn er des Kämpfens müde war, so vergaß er doch nicht seinen Treueid, den er vor seinem Vater und vor dem gesamten Volk geschworen hatte. Er würde sein Reich verteidigen, bis der Tod ihn holen würde, er kannte seine Pflicht, er kannte sein Schicksal.

Er vergrößerte seine Schritte, er wollte nichts verpassen.

Krachend schlugen die Türflügel zum großen Saal an die Wand, als er sie mit aller Wucht aufstieß. Mit ernstem Gesicht trat er in den Raum hinein, Geo blieb leicht hinter ihm. Alle Anwesenden hatten sich umgedreht und schauten ihn nun verwundert, vereinzelnd auch zornig, an. Nur sein Vater blickte wohlwollend auf ihn, seinen einzigen Sohn und Thronfolger. Er spürte wieder die schwere Last, die mit seinem Schicksal verbunden war. Er sah die Minister tuscheln, ob sein arrogantes Verhalten, doch er ignorierte sie. Sie hatten eh nichts zu sagen, jedenfalls fast nichts. Und gegen ihn, den Prinzen hatten sie nichts in der Hand.

"Mein Vater und König!" Razu verneigte sich leicht. Sein Vater nickte gutmütig.

"Wie ich eben schon erwähnte, hat uns vor wenigen Stunden ein Bote erreicht, der eine wichtige Nachricht brachte", erklärte der König die Situation. "Anscheinend planen unsere Gegner uns in den nächsten Tagen in einzelne Schlachten zu verwickeln, um uns mürbe zu machen. Sie haben ein verstecktes Lager errichtet, um von dort agieren zu können. Mit einer großen Streitmacht werden wir wohl nicht rechnen müssen, jedoch ist es unabdingbar, dass wir auf der Hut bleiben. Deshalb wird eine kleine Gruppe von uns sie ausspionieren und gegebenenfalls verhindern, dass sie angreifen können. Auch wird ab jetzt die Bewachung der Stadt verdoppelt, ich möchte nicht, dass wir überrascht werden."

Die Anwesenden nickten, sie hatten nichts an dem Plan auszusetzen.

"Du, Razu", Razu blickte hoch zu seinem Vater, "wirst die Gruppe anführen."

Razu zuckte leicht zusammen, widersprach jedoch nicht. Er musste gehorchen, aber ein gutes Gefühl hatte er dabei nicht.

Normalerweise hätte er ohne Zögern den Auftrag angenommen, doch dieser Tag war nicht normal. War es nur die Sorge um Shee, weswegen er sich unbehaglich fühlte? Oder war es der angebliche Tod, der ihm vielleicht bevor stand, weshalb er den Befehl am liebsten verweigert hätte? Das war doch absurd! Er war ein Krieger, er war nie etwas anderes gewesen. Warum sollte er nun, gerade in dieser schwierigen Zeit, sich nicht mit jeder Faser seines Herzens für sein Land einsetzen wollen? War er einfach nur zu müde?

Er war hin und hergerissen und wusste nicht, damit umzugehen. Zuviel war in der letzten Zeit passiert und sie alle litten daran, physisch wie psychisch.

Voller dunkler, ungewöhnlicher Gedanken wartete er das Ende der Versammlung ab, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Sein Vater hatte den Auszug auf die nächste Nacht angesetzt. Ihre Feinde sollten nicht gleich bemerken, was sie vorhatten.

Während er sich in Richtung Ausgang wandte, bemerkte er eine Bewegung im hinteren Teil des Saales. Einer der Vorhänge schwang leicht zur Seite, als hätte sich dahinter jemand versteckt oder versteckte sich noch immer. Er schritt darauf zu und zog den Vorhang beiseite. Auf dem kalten Steinfußboden kauerte seine kleine Schwester, die ihn verschreckt anblickte, ob seiner Entdeckung. Er sah, dass sie wieder geweint hatte. Hatte sie etwa die gesamte Sitzung mit angehört? Dann musste sie auch seinen Befehl mit bekommen haben. Kein Wunder, dass ihr Gesicht tränenverschmiert war.

Ohne ein Wort hob er sie hoch, drückte sie fest an sich und streichelte ihr übers seidig weiche Haar. Er brauchte nichts zu sagen, denn es würde nicht helfen. Diesmal konnte er sie nicht belügen, um ihren Schmerz zu lindern, diesmal war er hilflos.

Und auch dieses Gefühl hasste er.
 

Er fürchtete die Nacht nicht, er hatte gelernt, sie zu nutzen und unter ihrem Mantel verdeckt seine Feinde zu besiegen. Schon unzählige Male hatte er eine solche Spionageaktion durchgeführt, doch an diesem Abend war die Nacht nicht seine Beschützerin, diesmal war sie der Feind, in deren Schatten sich die Schrecken des Krieges verbargen und der Seele. In dieser Nacht würde er den Tod treffen.

Er hatte sich von Shee nicht verabschieden können. Er hatte sie überall gesucht, aber sie blieb unauffindbar. Sie hatte sich vor ihm versteckt, sonst hätte er sie gefunden, und dies bedrückte ihn sehr. Sie beide wussten, was ihm auf dieser Reise zustoßen würde, aber verhindern konnten sie es nicht. Vielleicht war es sogar besser so, redete er sich ein. Sie sollte ihn nicht traurig sehen und sie sollte nicht traurig sein. Sie war doch so ein fröhliches Mädchen.

Innerlich verfluchte er sich und das, wofür er geboren war, die Pflicht, die ihn daran hinderte, ein normales Leben zu führen und für seine Schwester da zu sein.

Sie waren nicht viele. Er hoffte, dass dieser Umstand ihnen half, unentdeckt zu bleiben. Das Lager sollte nordwestlich vom Schloss liegen, im Zentrum des großen Waldes, der die Gegend dort beherrschte. Dieser Wald wurde von den einfachen Leuten gemieden. Es rankten sich düstere Mythen und grausame Legenden um diesen Ort. Das meiste davon war reiner Aberglaube, aber in jeder Geschichte steckte ein Körnchen Wahrheit, wie er gelernt hatte. Sie sollten ihr Unternehmen nicht auf die leichte Schulter nehmen und er wusste, dass dies keiner von ihnen tat.

Seine Gruppe bestand aus vier Personen, Nils John, Dana Meniketi, Geo Nort Sort und ihm selbst. Er hatte nur seine engsten Freunde, denen er jederzeit sein Leben anvertrauen würde, zu dieser Mission mitgenommen. Ihnen traute er, vertraute er. Sie waren nicht korrupt, sondern ehrlich und treu. Bessere konnte man in dieser Welt nicht finden. Doch leider waren sie nicht vollständig. Geos Frau, Shiri Tempest, fehlte. Sie machte die Runde komplett, mit ihr wären sie beinahe unbesiegbar gewesen.

Er hatte mit diesen Leuten etliche Abenteuer erlebt, seit er laufen gelernt hatte. Er hatte mit ihnen gespielt, gekämpft, erobert, geweint, gesiegt. Er glaubte an sie und sie glaubten an ihn. Zusammen hatten sie sich immer stark gefühlt.

Aber in diesem Augenblick fühlte er sich alles andere als stark.

Er dankte Gott innerlich, dass er seine besten Freunde ausgewählt hatte, ihn zu begleiten, auch wenn Geo im Schloss eine Frau mit Kind hatte. In ihrer Nähe fühlte er sich ein bisschen sicherer. Und jedes Stück Sicherheit, das er bekommen konnte, war ihm bei dieser Tat nur recht. Es lag ein Schatten auf ihnen, und dieser Schatten raubte ihm die Sinne.

Vor Stunden waren sie aufgebrochen und langsam näherten sie sich dem angeblichen Lager, doch bis jetzt blieb alles ruhig, sie hatten nichts Ungewöhnliches entdecken können. Die Geräusche der Nacht unterschieden sich nicht von denen anderer Nächten, hier und da schrie ein Kauz, die Bäume rauschten leicht im Wind, es war nicht ungewöhnlich. Es dürfte sich aber nicht so anhören, es war falsch.

Ein Lager, auch ein kleineres, musste Spuren hinterlassen. Doch nirgends waren Anzeichen von Humanoiden zu erkennen. Keine neu getretenen Pfade, keine abgeknickten Zweige und Äste, und auch kein Leuchten eines Wachfeuers war in der Ferne zwischen den Bäumen zu sehen.

Hatten sie gefälschte Informationen bekommen? Waren sie an der falschen Stelle? Hatte sich der Bote geirrt, der ihnen die Nachricht gebracht hatte? War er vielleicht sogar ein Spion gewesen? Razu konnte das nicht glauben. Die königlichen Kuriere waren treu und loyal, sie wurden sorgsam ausgewählt. Aber wenn sie einem Zauber erlagen...?

Eine böse Ahnung beschlich ihn.

Er gab das Zeichen zum Halten. Mit wenigen Handzeichen erklärte er der Truppe sein Misstrauen. Die anderen nickten, auch sie fühlten das Hinterhältige an diesem Ort, auch ihnen war klar, dass sie einer Täuschung erlagen. Wie konnten sie sich daraus befreien?

Da sie zu keiner Lösung kamen und auch ihr Argwohn nicht bestätigt wurde, schlichen sie weiter. Immer die Befürchtung im Geiste, einem Angriff zum Opfer zu fallen. Sie mussten diese Mission erfolgreich meistern, ansonsten würde ihrem Volk ein schreckliches Schicksal bevorstehen. Und dies mussten sie unter allen Umständen verhindern.

Razu war sich sicher, dass die anderen von seinem Vater den Befehl erhalten hatten, ihn mit ihrem eigenen Leben zu beschützen. Er war schließlich der Thronfolger, er musste überleben, damit das Volk weiter an die Hoffnung und Rettung ihres Landes glaubte. Er war unersetzbar. Wenn er sterben würde, nicht auszudenken was mit dem Land passieren würde. Er musste einfach siegreich sein, eine andere Alternative gab es nicht. Er konnte sich nicht hinlegen und ausruhen, seine verdammte Pflicht hinderte ihn daran. Und doch fühlte er seinen nahen Tod, die Erlösung von allem.

Was dachte er da nur? Der Tod sollte ihn retten? Das war nicht die Lösung, nicht der Ausweg. Er musste stark sein, und für sein Land kämpfen, er durfte doch nicht einfach aufgeben und sich dem Tod freiwillig in die Arme werfen! Er hatte eine Aufgabe, die er erfüllen musste, er durfte seinen Vater und sein Volk nicht enttäuschen. Er musste doch wieder zu Shee zurück, er hatte es ihr versprochen. Er hatte ihr doch versprochen, noch nicht zu sterben. Warum sehnte er sich da nur nach dieser trügerischen Ruhe? Er hatte doch einen Eid geleistet.

Seine Gedanken um diese düstere Frage ließen ihn nachlässig werden. Die Angst vor der dunklen Zukunft, die sich in seinem Kopf zusammen braute, verschleierte die Zeichen, die er im wachen Zustand sofort erkannt hätte. Seine Kumpanen vertrauten ihm, so entging auch ihnen die Falle, in die sie liefen.

Von der einen Sekunde auf die nächste füllte sich das sonst tote Blätterdach über ihren Köpfen mit Leben. Seile wurden heruntergelassen, eine Salve Pfeile, der sie nur knapp entkamen, schoss auf sie zu und eine Meute von Angreifern, deren Schwerter und Säbel matt im fahlen Licht des Mondes, ihre Gesichter hingegen zerfurcht und unförmig, erschienen, stürmte ihnen entgegen. Ihnen blieb kein Ausweg, denn die Gegner hatten sie eingekreist.

Der Prinz und seine Vasallen sahen sich einer zehnfachen Übermacht gegenüber, einer Übermacht, der sie nicht stand halten konnten, so verbissen sie sich auch wehren mochten.

Doch noch gaben sie sich nicht besiegt. Razu sah aus den Augenwinkeln, wie sich Geo auf einen Zauberspruch konzentrierte, die anderen hatten ihre Waffen gezückt. Nur noch wenige Sekunden trennten sie von dem Kampf.

Razus Gedanken jagten hin und her. Er musste einen Ausweg finden, und zwar schnell. Er war es sich und seinen Freunden schuldig, und vor allem Shee. Sie durften diesen Kampf nicht verlieren, auch wenn es ausweglos schien.

Ihre Feinde wollten sie mit ihrer schieren Übermacht nieder strecken, hinter ihnen war der Wald wieder tot und leer. Wahrscheinlich hatten sie nur einfache Krieger erwartet, und nicht die besten Kämpfer des Landes. Sie mussten sich also nur mit diesen Gestalten messen. Ihre Lage war schwierig, aber nicht hoffnungslos.

Bevor Razu jedoch weitere Überlegungen anstellen konnte, attackierte ihn der erste Angreifer. Razu duckte sich, wich somit dem Schlag aus, und setzte seinerseits nach. Er holte aus und schlug seinem Gegner mit der Breitseite des Schwertes den Schädel ein. Einer war erledigt, doch sogleich stürmten zwei weitere Angreifer auf ihn zu.

Sie kämpften mit aller Kraft, ihre Mission stand auf dem Spiel, ihr Volk stand auf dem Spiel. Doch schon nach kurzer Zeit waren sie alle sehr angeschlagen. Dana kämpfte, wie Razu mit einem kurzen Seitenblick erkannte, nicht mehr mit ihrem Schwertarm, Nils bedeckten zahlreiche große und kleine Wunden und er selbst wurde immer weiter nach hinten gedrängt.

Es kam der Zeitpunkt, da sie alle vier mit dem Rücken aneinander standen. Sie hatten die Zahl ihrer Angreifer verringert, doch noch immer war kein Gleichgewicht hergestellt worden. Nun stand es zwanzig gegen vier, und sie waren schon erschöpft, während ihre Gegner einigermaßen ausgeruht waren.

Ihre Feinde hatten den Ring um sie gänzlich geschlossen und schlichen nun sabbernd und blutgierig um sie herum. Diese Gestalten waren schon lange keine Menschen mehr, denn sie waren von der bösen Magie verführt worden. Verderbtheit lebte in ihren Herzen, Hass in ihren Gedanken. Sie gierten nach Leben anderer. Einer gefürchteten kleinen Armee standen sie hier gegenüber. Und jetzt wurde Razu klar, warum es keine Nachhut gab, ihre Feinde brauchten sie nicht. Diese Unmenschen würden ihren Auftrag, seinen und den Tod seiner Freunde, gewissenhaft bis zum Ende ausführen. Bis zum welchen Ende auch immer. Er fürchtete, dass es sein Ende sein würde.

Erwartete ihn nun dennoch der Tod? Sollte der Tod doch der einzige Weg sein aus diesem Alptraum? Er musste seinen Freunden vertrauen, musste einfach darauf bauen, dass sie es schaffen würde. Die Last war so schwer.

Hintern ihren Gegnern gewahrte er eine andere Gestalt. Fast im Dunkeln verborgen stand sie zwischen den Bäumen, und es wahr ihm, als ob diese Gestalt nur ihn beobachten würde. Ein Gefühl von Ruhe überkam ihn, von stillem Schlafes, von der ewigen Stille. Die Gestalt rührte sich nicht, stand außerhalb der Wirklichkeit und blickte ihn doch an, direkt und unmittelbar.

Dies musste der Tod sein, fuhr es ihm durch den Kopf, und plötzlich beruhigte sich seine Seele. Es war nicht mehr wichtig, ob er sterben würde.

In diesem Moment vergaß er seine Feinde, sein Freunde, sein Land und seine Pflicht.

Sein Schwert sank nach unten und dies gab den Gegnern das Zeichen zum Angriff. Er und seine Freunde wurden niedergemetzelt als hätten sie keine Verteidigung, doch Razu war es gleich. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich befreit und er gab sich diesem Gefühl hin. Er starb.
 

Und doch war er nicht tot. Ein eigenartiges Gefühl durchflutete ihn. Er hörte jemanden schreien, jemand der ihm viel bedeutete, oder noch bedeuten möge. Er sah sich als Kind, als jungen Mann und alten Greis gleichzeitig. Er roch Regen und fühlte den herannahenden Sturm. Er schmeckte Härte, die ihn schmelzen ließ. Und die Bilder, Geräusche, Empfindungen wechselten, verwischten ineinander, arrangierten sich neu, gebaren andere Bilder, andere Geräusche, andere Empfindungen.

All seine Sinne waren trunken und schwer von Klängen, Farben, Düften, erzählten ihm jeder eine eigene, grausige Geschichte, die er nicht verstand. Er versuchte, sich dagegen zu wehren. Sein Kopf barst von all den Eindrücken, die ständig in ihn eindrangen und versuchten, sein Selbst zu zerstören. Wenn dies tatsächlich der Tod war, so war er nicht gerecht.

Nein, ich bin nicht gerecht. Ich bin das Ende.

Das Ende? Wie sollte dies das Ende sein? Dies hier war die Hölle.

Die Hölle ist ein Danach. Du bist Hier.

Hier? Er wollte nicht hier sein, wollte weg, und sich wie ein kleines Kind verstecken. Er wollte diesem Irrsinn entfliehen, der ihn gepackt hatte und nicht mehr losließ.

Die Bilder um ihn herum erschreckten ihn, und faszinierten gleichzeitig. Er sah eine Mutter ein totes Kind gebären, einen tanzenden Bären, lachende deformierte Kinder, einen Baum, der seine Blätter verlor, Menschen, die sich gegenseitig mit Schlamm bewarfen, einen einsamen Wanderer, dessen Schritte das herumliegende Laub aufwirbelten, die Sonne als rotglühenden, alles vernichtenden Ball, grelle Blitze, todbringende Wolken, und hinter all diesen Bildern stand die Gestalt, die er bei der Schlacht gesehen hatte, und beobachtete ihn.

Er konnte ihr nicht entrinnen, konnte nicht entfliehen, denn es gab keinen anderen Ort, außer dem Hier. Er war gefangen, war wieder gefesselt und gebunden.

Die Ruhe hatte ihn betrogen.

"Dies ist kein Betrug." Und diesmal erkannte er, dass diese sinnliche feminine Stimme aus dem Munde der herrschenden Gestalt heraus floss und sich wie ein Leichentuch sanft auf ihn legte.

Die Bilder verblassten und verschwanden gänzlich, als er sich auf die Gestalt konzentrierte. Sie trat auf ihn zu. Oder war er es, der sich ihr näherte?

"Kein Betrug, ein Fehler", gestand die Gestalt.

Nun konnte er sie genauer erkennen, so nah war sie inzwischen heran gekommen. Sie war weiblich, doch die Kapuze ihres langen, schwarzen Mantels verdeckte das Gesicht. Nur weiße, bleiche Haut blitzte darunter hervor.

"Wer bist du?", fragte Razu schließlich.

"Du weißt es", antwortete sie.

Razu schwieg. Er wusste die Antwort, aber er war ein Mensch, und Menschen wehrten sich gegen das Offensichtliche. Und auch jetzt noch bekämpfte er die Wahrheit. Obwohl er es am eigenen Leib erfahren hatte.

Er wollte es nicht wahr haben, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war.

"Und was passiert jetzt?", fragte er weiter, auf Hoffnung sinnend diesem Abgrund entfliehen zu können.

"Ich werde meinen Fehler korrigieren."

"Welchen Fehler?"

"Deinen Tod."

Und die Wahrheit schlug ihm ins Gesicht.
 

Er erwachte aus seiner Starre.

Ihre Feinde hatten den Ring um sie nun gänzlich geschlossen und schlichen sabbernd und blutgierig um sie herum. Der endgültige Angriff stand ihm und seinen Kameraden kurz bevor.

Er würde kämpfen, auch wenn er dabei sterben würde. Der Tod schreckte ihn nicht, er erwartete ihn beinahe. Und doch, er wusste, dass dies nicht sein Ende sein würde. Er hatte schließlich ein Versprechen abgegeben, und es war ihm, als hätte auch er ein Versprechen erhalten.

Er konzentrierte sich, mobilisierte seine letzten Kräfte. Er spürte, wie seine Freunde es ihm nachmachten. Sie waren nicht am Ende, noch nicht, sie hatten schon schlimmeres erlebt und überlebt.

Der Angriff kam schnell. Sämtliche Gegner stürzten sich auf einmal auf sie, doch gleichzeitig behinderten sie sich auch selber. So konnte Razu in der Menge kurz abtauchen, um ihre Feinde von hinten zu attackieren. Seine Taktik ging auf, gleich zwei Gegner setzte er mit einem Streich außer Gefecht, und einen weiteren mit dem nächsten Hieb.

Ihre Gegner hatten sie glattweg unterschätzt, in ihnen schlummerte der Kampfgeist ihres gesamten Volkes, denn sie waren die obersten Ritter des Landes und die Stärke der Krone. Keiner hatte sie jemals besiegt und das würde so bleiben. Was waren da ein paar lächerliche Marionetten des bösen Magiers gegen ihre geballte Kampfkraft?

Die Schlacht war zu Ende noch bevor er einen weiteren Gegner nur Strecke bringen konnte. Er sah auf, in das breit grinsende Gesicht seines besten Freundes. An dessen Stirn klaffte eine blutende Wunde, aber sonst schien es ihm gut zu gehen.

"Wir haben's überlebt."

"Mal wieder", lächelte Geo.

"Ich hatte kurz das Gefühl, dass es das Ende wäre." Razu wandte sich den anderen beiden zu, die anscheinend mehr oder weniger wohlbehalten den Angriff überlebt hatten. Dana presste zwar ihren rechten Arm an sich, lächelte ihm jedoch zu, als sie Razus Blick auf sich spürte.

"Diesmal war es knapp, Geo, richtig knapp."

"Bis jetzt haben wir es immer geschafft."

"Irgendwann nicht mehr."

Die Euphorie, die Razu eben noch gespürt hatte, das Rauschen des Blutes in seinem Kopf, verflog und es überkam ihm die Gewissheit über einen zweifelhaften Sieg.

Sie hatten gewonnen, aber welchen Preis hatten sie dafür bezahlt?

Das dies eine Falle gewesen, und ihre Information gefälscht war, war unwiderlegbar. Doch wozu das alles? Hatte dies als Ablenkung dienen sollen? Wofür? Waren das Schloss und die Stadt in Gefahr?

Sie mussten zurück, sofort.

Er half seinen Freunden einige Wunden zu verbinden, Geo war ihnen dabei eine große Hilfe, denn seine Heilsprüche linderten die Schmerzen der gesamten Gruppe, danach gab Razu ihnen den Befehl zum Rückzug.

Sie folgten ihm, auch sie hatten die Falle erkannt.

Auf ihrem Weg zurück zur Stadt redeten sie kaum miteinander. Sie wussten, dass ihnen vielleicht ein schrecklicher Anblick bevorstehen würde. Eine düstere Stimmung herrschte zwischen ihnen. Sie hatten zwar den Angriff überlebt, auch wenn die Übermacht sie beinahe zur Strecke gebracht hätte, aber dennoch blieb die dunkle Vorahnung, das etwas nicht stimmte.

Ihr Rückweg dauerte kürzer, so dass sie bald im Morgengrauen die Stadt erreichten.

Sie war nicht verwüstet oder einem Angriff zum Opfer gefallen, ihnen allen fiel ein Stein vom Herzen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich dann doch nicht bewahrheitet.

In der Stadt war es seltsam ruhig, als ob sie den Atem anhalten würde. Sie begegneten keiner einzigen Seele. Dies war ungewöhnlich, selbst dafür, dass sie einen Umweg in Kauf nahmen, um keinen großen Rubel zu verursachen, und sich somit von den geschäftigen Plätzen fern hielten. Normalerweise sollten ihnen auch hier, in den ruhigen Gassen, Menschen begegnen. Doch die Stadt war ruhig, sie schlief noch, war wie ausgestorben.

Auf ihrem Weg hoch zum Schloss geriet Razu abermals ins Grübeln. Seit dieser merkwürdigen Schlacht hatte er alle tristen Gedanken zur Seite geschoben und nur an ihre sichere Rückkehr gedacht. Nun überdachte er den vergangenen Kampf. Hätten sie anders reagieren können? Warum war ihm vorher nichts aufgefallen? Und vor allem, warum hatte er seine Vorahnung nicht ernst genommen? Die Spuren von vierzig Männern hätte er bemerken müssen. Stattdessen hatte er sich seinen dunklen Gedanken hingegeben, die ihn schließlich ausgeliefert hatten. Er hatte die Verantwortung getragen, er war schuld an ihrem Misslingen. Er durfte aber doch keine Fehler machen, nicht er. Die anderen vertrauten doch auf ihn. War die Müdigkeit schon so weit fortgeschritten, dass er seine Pflicht als Krieger und Beschützer des Landes nicht mehr erfüllen konnte? War der Krieg zu hart gewesen? Hatte er zu schnell erwachsen werden müssen?

Er fand keine Antwort auf diese Fragen, und er zögerte auch, weiter nach einer Antwort zu suchen. Sie würde ihm nicht gefallen, denn sie würde sein Leben verändern, und davor hatte er Angst. Im Augenblick wusste er, was er zu tun hatte. Er wusste, wer er war, wo er stand und was seine Pflichten waren. Er war zwar in gewisser Weise gebunden, konnte sich aber innerhalb dieser Grenzen frei bewegen. Nicht viele Menschen teilten dieses doch eigentlich glückliche Schicksal mit ihm. Aus dieser Welt auszubrechen konnte er sich nicht vorstellen. Dazu hatte er weder den Mut, die Kraft, noch den dazugehörigen Willen.

Im Schloss angekommen, erwartete sie die Nachricht von Shiris Tod.
 

Er horchte der Stille in seinem Inneren, der Ruhe, die ihn ergriffen hatte und der Leere in seinem Kopf. Er glaubte eine ferne Stimme zu vernehmen, die ihn schon seit Tagen heimsuchte, doch er wusste, dass es nur Einbildung war, sein musste. Die Welt lag fern von ihm. Seine Versuche, sie zu erreichen, hatte er aufgegeben. Er sah keinen Sinn mehr darin.

Nicht mal ein Tag war vergangen, seit sie Shiri beerdigt und verabschiedet hatten. Sie war, neben Geo, seine engste Vertraute gewesen, und nun war sie weg. Es tröstete ihn nicht, dass sie vielleicht nun an einem besseren Ort weilte, an dem kein Krieg herrschte, nicht im Land, noch in den Köpfen der Menschen, an dem es friedlich war.

Der Preis, den die Mission gekostet hatte, war hart.

Sie alle waren von der Nachricht geschockt gewesen, dass Shiri bei einem Mordanschlag auf den König ums Leben gekommen war. Ihre Feinde hatten es sich zu Nutze gemacht - deshalb die falschen Informationen über das angebliche Lager im Wald -, dass die besten Kämpfer nicht zugegen waren in dieser Nacht und somit den König nicht beschützen konnten. Und auch dafür war er verantwortlich.

Seltsamerweise hatte Geo die Nachricht sehr gut verkraftet. Keine Miene hatte er verzogen, als er davon hörte. Er trauerte zwar über den Verlust seiner geliebten Frau, schien aber nicht daran zu verzweifeln. Schließlich musste er sich um seine kleine Tochter kümmern. Geo hatte immer wieder betont wie sehr Yoko ihrer Mutter doch ähnele.

Razu hoffte, dass es ihm helfen würde, doch wenn er seinem besten Freund in die Augen schaute, erkannte er nur unendliches Leid darin. Und Schuld. Geo litt, die anderen sahen es nicht, aber Razu wusste es. Geo litt, als hätte er seinen Sinn zum Leben verloren und er gab sich die Schuld dafür. Razu konnte ihm das Leid nicht abnehmen, aber innerlich übernahm er für ihn wenigstens die Schuld. Geo hätte bei seiner Frau und seiner Tochter bleiben sollen, stattdessen hatte Razu ihn mitgenommen, in eine Falle.

Dennoch, ändern konnte Razu nun auch nichts mehr, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Das Leben lief weiter, immer weiter, folgte dem Weg und scherte sich nicht um Zurückgebliebene. Das Ziel war fern, doch das Leben lief, immer weiter, weiter und weiter. Er wünschte sich, dass es einmal eine Pause machen würde.

Er stand in den weiträumigen Gartenanlagen des Schlosses. Es war Nacht und der Mond schien bleich hinunter auf die Erde.

Nicht oft war er hier, seit dem Tod seiner Mutter kein einziges Mal. Hier lag seine Kindheit, und an dessen Fehlen erinnert zu werden, hatte ihn immer geschmerzt. Damals verlief das Leben noch normal, war bunt, war fröhlich. Heute hatte sich das Bild geändert, die heile Kinderwelt, in der er gelebt hatte, gab es nicht mehr. Heute überschattete der Krieg das Land, kalt und gnadenlos. In einer solchen Welt aufzuwachsen, das konnten nur die Stärksten. Shee war Meisterin darin geworden.

Seine kleine Shee. Sie hatte ihn mit großen traurigen Augen angeblickt, als er ihr von Shiris Tod erzählt hatte, doch geweint hatte sie nicht. Sie war in diesem Moment so erwachsen gewesen, wahrscheinlich mehr als er selber. Shee hatte nur genickt und sich zurückgezogen. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Auch das er selbst lebend wieder nach Hause gekommen war, hatte sie nur beiläufig wahr genommen, so schien es ihm jedenfalls. War sie immer noch böse auf ihn? Oder war etwas während seiner Abwesenheit geschehen, wovon er wissen müsste? Was war in dieser Nacht wirklich passiert?

Rief die Stimme ihn abermals? Musste wohl wieder nur Einbildung sein. Er glaubte, sie zu kennen, sie schon einmal gehört zu haben. An einem anderen Ort, der Welt so fern, wie er ihr im Moment war.

Er glaubte, sich an eine Gestalt zu erinnern, eine Gestalt in schwarz, mit einer Stimme, die ... die er nun hörte. Es war keine Einbildung, er hörte die Stimme wirklich, und sie rief nach ihm, nur nach ihm. Doch sie war so fern, so weit weg, er konnte nicht feststellen, woher sie kam. Aber er musste. Er musste wissen, wer diese Gestalt war, denn sie schien die Lösung zu dem Rätsel zu sein, die Erklärung für all das Unerklärliche, der Ausweg hinaus.

Er lauschte.

Woher kam die Stimme? Wohin sollte er sich wenden? Wo war sie nur? Wo?

Er suchte sie, lief durch den Garten, schaute da, schaute dort. Jeden Stein drehte er um, jeden Busch drückte er zur Seite, hinter jedem Baum konnte sie stehen, doch nirgends war ein Zeichen von ihr. Er durchforstete jeden Winkel, jedes kleine Versteck, an das er sich aus seiner Kindheit erinnern konnte. Wo war sie nur? Der Engel in schwarz. Wo konnte er sie nur finden?

Er hastete weiter, trotz seiner Ausdauer als Krieger atmete er schwer, Seitenstiche plagten ihn, die Büsche und Bäume verschwammen um ihm herum. Er rannte, strauchelte, fing sich wieder, begann nach ihr zu schreien und schreckte damit ein Eichhörnchen auf, das hastig einen Baum emporkletterte, bog in den nächsten Abschnitt des Gartens ein, stoppte. Es war der letzte, hier musste sie sein. Auch hier machte er keine Pause, lief wieder weiter, überprüfte jede Ecke, jeden einzelnen Fleck, an dem sie sein konnte, selbst die unmöglichen. Er suchte sie, bis er schließlich erschöpft zu Boden sank. Er hatte sie nicht gefunden, nirgends, an keinem Ort. Sie blieb nur eine Stimme, eine Stimme, die ihn rief, ihn zu sich holen wollte. Aber warum offenbarte sie sich dann nicht?

Ihre feine Stimme im Ohr wurde ihm klar, dass er abermals versagt hatte. Seine Suche war vergebens gewesen. Verzweiflung übermannte ihn.

"Wie schwach ihr doch seid. Versagt schon bei der kleinsten Anstrengung."

Razu schreckte hoch. Sie war es!

Sie stand vor ihm, eingehüllt in ihren schwarzen Umhang, dessen Kapuze noch immer ihr Gesicht verbarg, und sah auf ihn herab. Schnell kam Razu auf die Beine, die nach diesem anstrengenden Lauf noch immer leicht zitterten.

Er konnte es nicht glauben, sie stand tatsächlich vor ihm. Warum hatte sie sich nicht eher gezeigt? Warum hatte sie gewartet, bis seine Kräfte schwanden und er schon die Suche aufgegeben hatte? Sie musste ihn doch gehört haben, er hatte sie doch auch gehört.

Sie schien auf eine Antwort zu warten, die Razu ihr jedoch nicht gab. Fassungslos über ihr plötzliches Erscheinen konnte er sie nur anstarren, diesen Engel in schwarz.

Dann zog sie ihre Kapuze herunter und blickte ihn geradewegs an mit ihren dunklen, leuchtenden Augen. Glattes, flammendrotes Haar floss an ihrem blassen Gesicht herunter.

"Dich gibt es wirklich", sagte Razu schließlich, fast flüsternd.

"Warum hast du mich gesucht?", antwortete sie. Irgendwie klang es verächtlich.

Ja, warum eigentlich? Er hatte ihre Stimme gehört, und dann? Er hatte sie einfach finden müssen, wiedersehen müssen. Wo hatte er sie nur das erste Mal getroffen?

Er erwiderte wieder nichts, blieb stumm. Dass sie einfach nur da war, reichte ihm. Er hatte sie gesucht, weil er sie finden wollte, mehr nicht. Das war die Antwort, doch wenn er sie aussprechen würde, würde sie hohl und leer klingen. Deshalb blickte er sie nur an, seinen schwarzen Engel.

"Ich kann nicht ewig hier stehen und warten", sagte sie mit einer Spur Ärger in der Stimme.

"Warum nicht?"

"Ich habe eine Pflicht zu erfüllen."

Auch sie? War auch sie gebunden an eine Pflicht? Er konnte es kaum glauben. Das erste Mal seit Jahren fühlte er sich nicht mehr abseits, nicht mehr eingeengt, beengt von Schicksal und drangsaliert von Müdigkeit. Konnte er endlich hoffen?

"Dann teilen wir das gleiche Schicksal."

"Wohl kaum", entgegnete sie herablassend und starrte ihn weiterhin verächtlich fragend an. Doch er konnte in ihren Augen erkennen, wie wenig es sie interessierte.

Sie war nicht freiwillig hier, spürte er. Diese verschlossene Mauer, die sie in den nur wenigen Sätzen zwischen ihnen aufgebaut hatte, enthielt keinen einzigen Riss, keinen Spalt, durch den er hätte kriechen können. Seine winzige Hoffnung, die ihn vielleicht noch gerettet hätte, schwand. Sie war nicht die Lösung, nicht die Antwort, sie war ihrer Stimme nicht gerecht.

Hatte er sich täuschen lassen? War er so verzweifelt gewesen, dass er sich eingebildet hatte, sie könne ihm helfen? Wie närrisch von ihm. Er musste allein den Weg finden, wie er es gelernt, wie er es seither gelebt hatte. Keiner konnte ihm helfen, schon gar nicht eine Stimme, die ihn narrte und Versteckspiel mit ihm trieb, um sich dann als Sackgasse zu entpuppen.

"Wer bist du, dass du dich anmaßt so mit einem Prinzen zu sprechen? Weißt du eigentlich, wer vor dir steht?", fragte er dann ärgerlich. Er war wütend, vor allem auf sich. "Warum rufst du nach mir und zeigst dich dann nicht?" Aufgebracht ruderte er dabei mit den Armen, als würde er gleich abheben wollen. In einer anderen Situation hätte er dies alles sicherlich ziemlich komisch gefunden.

Sie schüttelte ihren Kopf und schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Ihr Blick, nun etwas resigniert, bannte ihn, als sie erneut in seine Augen schaute, durchdringend und ohne Wimpernschlag.

"Du bist hartnäckiger, als ich gedacht habe", sagte sie, aus ihrem Mund klang es wie eine Beleidigung. "Auch ich bin manchmal nachlässig, es hätte nicht passieren dürfen. Was du gehört hast, war die Stimme des Todes."

Des Todes? Aber er lebte doch noch, er atmete, sein Herz schlug, er lebte, er war doch nicht tot.

Wer war sie nur? Woher kannte er sie?

"Die Stimme des Todes? Weshalb...?"

"Du warst in meinem Reich, deshalb kannst du sie jetzt hören. Es war ein Fehler, meinerseits." Es schien ihr nicht recht zu sein, darüber zu sprechen.

"In ... deinem Reich?" Welchem Reich?

"Du warst tot, Prinz Razu Ur", erklärte sie. War eine Spur Widerwille in ihrer Stimme? "Doch du bist der Erste, der aus meinem Reich wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist. Du hast den Tod überlebt, Prinz."

Razu schaute sie ungläubig an, als wolle er es nicht glauben, wo er es doch schon längst akzeptiert hatte.

"Ich war tot?", fragte er gedämpft.

Sie nickte.

"Und habe überlebt?"

Wieder nickte sie.

"Ich habe den Tod überlebt?"

Diesmal zeigte sie keine Reaktion. Er brauchte auch keine weitere Bestätigung, er wusste es ja, nur eingestanden hatte er es sich nicht. Er war gestorben, in der Schlacht, vor zwei Nächten. Er war im Hier gewesen, in ihrem Reich, im Reich des Todes. Und sie war der Gebieter, der Herrscher, sie war der Tod. Der Tod, der mit flammendem Haar das Leben beendete, mit einem einzigen Schnitt. Sie war dort gewesen, sie hatte es ihm erklärt, und er hatte es vergessen.

"Ich bin hier, um dich vergessen zu lassen", sagte sie nach einer Weile.

Vergessen? Die Wahrheit, die er gesucht hatte? Die Antwort darauf, dass er der Welt so fern war? Und wieder sich quälen mit den Fragen, kämpfen mit der unbekannten Müdigkeit, die ihn zu übermannen drohte, der verlockenden Ruhe? Nein, das wollte er nicht, er wollte nicht vergessen, und er wollte sie nicht vergessen.

"Nein", sagte er bestimmt.

"Nein?", echote sie irritiert. Verwirrung legte sich auf ihre Züge.

"Ich habe deine Stimme, oder die des Todes, wie auch immer, schon vorher gehört." Er wehrte ab, als sie etwas erwidern wollte. "Ich habe schon einmal vergessen, ein weiteres Mal will ich es nicht. Ich möchte mich daran erinnern können, an den Tod und ... an dich."

Tat es ihr leid? Freute sie sich? War es ihr egal? Razu konnte nicht erraten, wie sie seine Antwort aufgenommen hatte. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen?

"Nun, das ist deine Wahl, sei es so. Meine Arbeit ist damit getan." Halb wandte sie sich ab, zögerte, blieb dann stehen und blickte ihn weiter undurchschaubar an. Er selber wollte ihr nicht den Rücken zukehren, wollte ihren Anblick in sich einsaugen, als könne er ihn jederzeit wieder verlieren, wieder vergessen, obwohl er sie doch heute zum ersten Mal richtig sah.

Dann drehte sie sich gänzlich um, ging ein paar Schritte und verschmolz lautlos mit der Dunkelheit.

Der Schimmer ihrer roten Haare leuchtete noch sanft und kalt in seinen Augen, als sie schon längst verschwunden war.
 

Seine Schritte führten ihn zum Schloss zurück, längs der erhabenden Eichen, die seinen Weg säumten. Mit seinen Füßen wirbelte er das herabgefallene Laub hoch, einzelne Blätter klebten an seinen Stiefeln. Und bei jedem Schritt knirschte der Kies unter ihm.

Er hatte nicht den kürzesten Weg gewählt, so dass er nun durch einen Teil des Garten ging, der selbst im Sommer nicht oft benutzt wurde. Vor wenigen Minuten noch war er hier durchgerannt, gehetzt und betört von ihrer sinnlichen Stimme, nun hatte er Zeit in Ruhe hier entlang zu wandern, sorgsam den Fuß vor den anderen zu setzen und nachzudenken.

Er musste sich über vieles Gedanken machen. Vor allem über sich selbst.

Er konnte es kaum glauben, dass er noch vor wenigen Augenblicken dem Leben beinahe den Rücken gekehrt hatte, es verloren geglaubt hatte, für immer. Noch eben hatte die Müdigkeit ihn fast ganz durchdrungen, doch jetzt wusste er, was er tun musste.

Noch immer spürte er die schwere Last auf seinen Schultern, und er wusste, dass er dieser Pflicht bis an sein Lebensende schuldig war, doch nun zollte er ihr nicht mehr die Bedeutung zu, wie er es vorher getan hatte, bevor er gestorben war.

Der Tod hatte seine Sichtweise geändert.

Sein Leben, seine Person hatte nie ihm allein gehört, er war ein Prinz und somit ein Teil des Volkes. Er hatte sein Lebtag funktionieren müssen, nach diesen ungeschriebenen Gesetzen und Regeln, die fast undurchschaubar waren. Etikette, Treue und Ehre hatten sein Leben bestimmt, nicht er. Nun, dies würde er ändern. Auch wenn es heißen sollte, dass er sein Volk und sein Land im Stich ließ.

So schnell es möglich war, würde er aufbrechen, um sie zu suchen, seinen schwarzen Engel. Er musste sie wiedersehen, dies allein zählte im Moment. Der Krieg war unwichtig geworden, er war ihm eh nicht gewachsen.

Trotz mitternächtlicher Zeit und kaltem Wind hockte auf den Stufen hoch zum Eingang eine kleine, schwarzhaarige Gestalt, die erwartungsvoll in seine Richtung blickte. Razu stoppte abrupt. Hatte Shee die ganze Zeit auf ihn gewartet? Warum war sie hier und nicht in ihrem Bett?

Mit weit ausholenden Schritten eilte er auf sie zu, kniete sich nieder und nahm sie fest in die Arme.

In seinen Überlegungen hatte er vergessen, dass er Shee alleine zurücklassen musste, wenn er auszog. Konnte er das überhaupt? Sie war doch seine Familie, er hatte doch nur sie. Konnte er seine kleine Schwester in den Wirren des Krieges alleine lassen, einfach ihrem ungewissen Schicksal überlassen? Hatte er nicht immer geschworen, sie zu beschützen? Wo war sein Schwur jetzt? Aber hatte er nicht auch geschworen, seinem Volke immer beizustehen? Eben gerade hatte er sich gegen diesen Eid entschieden, in der sicheren Hoffnung, dass es die richtige Entscheidung war, dabei floh er nur, aus Angst, nicht bestehen zu können. Was war er doch für ein Verräter!

Sheera blieb stumm und Razu fühlte sich, als ob er ihr eine Erklärung schuldig wäre.

Zögernd, fast widerwillig, fing er an zu sprechen. Erst stockend, dann immer schneller: "Shee, du ... ich. ... Es tut mir leid, Shee, aber ich werde gehen müssen. Ich muss einfach, verstehst du? Ich kann nicht mehr hier bleiben. Bitte versteh mich, Shee. Ich werde immer an dich denken, aber diese Reise muss ich machen." Es war eine schlechte Entschuldigung.

Noch immer hielt er sie fest, Sheera hatte sich kein einziges Mal gerührt oder etwas gesagt, doch nun zog sie sich aus seiner Umarmung zurück. Mit traurigen Augen, die doch eigentlich fröhlich lachen sollten, schaute sie ihn an. Verletztheit und Verlust lag in ihrem Blick.

Mit zitternden Fingern - wann hatten sie angefangen zu zittern? - strich er ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht.

"Du hast sie gesehen, nicht wahr?", murmelte sie fragend.

"Wen soll ich gesehen? Wen meinst du Shee?"

"Die mit den flammenden Haaren und den kalten Augen."

Woher wusste Shee von ihr? Hatte sie sie gesehen? War Shee ihm vielleicht heimlich gefolgt? Hatte sie womöglich ihr Gespräch mit angehört?

Der Schrecken durchzog ihn wie ein eisiger Schwerthieb. Wenn Shee nun wusste, was passiert war? Er fühlte Panik in ihm aufsteigen.

"Woher kennst du sie? Bist du mir gefolgt?", fragte er angstvoll aufgeregt. "Antworte!" Razu fing an, seine Schwester zu schütteln, so sehr hatte die Furcht von ihm Besitz genommen. Seine kräftigen Hände umgriffen ihre feinen Arme, rüttelten an ihr, bis sie zu wimmern anfing. Das leise Geräusch ließ ihn aus seiner Trance aufschrecken und er gewahrte, was er getan hatte. Die Trauer darüber überwältigte ihn.

Noch einmal umarmte er sie, diesmal zarter, um nicht in die Gefahr zu geraten, sie zu erdrücken. Hatte er vielleicht auch sie nun verloren? Sie, seinen einzigen Halt?

Ein dicker Kloß schloss ihm die Kehle zu, als er sich erneut entschuldigen wollte. Nur ein paar unverständliche Wortlaute brachte er hervor.

Das Wimmer hatte aufgehört und er spürte, wie sich zwei kleine Arme sanft um seinen Hals legten. Eine leise Stimme flüsterte in sein Ohr. "Geh, wenn du gehen musst."
 

Ein letztes Mal lauschte er dem Vogelgezwitscher im Morgengrauen, dem erwachenden Tag und dem Aufgang der Sonne. Ein letztes Mal stand er auf den Zinnen der Burg und blickte auf die unter ihm liegende Stadt hinunter. Vereinzelt sah er schon einige Menschen auf den Beinen, aber nur wenige, als ob sie ihm nicht verzeihen wollten, dass er heute ging.

Der Anblick stimmte ihn traurig.

Er wollte sich nur noch einmal verabschieden, von seinem Land, bevor er loszog, und ein letztes Mal den beginnenden Tag genießen. Er verließ nicht nur einfach das Schloss, er verließ auch seine Heimat, die einzige, die er hatte, die er jemals gehabt hatte, seine Familie, die er über alles liebte, seine Freunde, die ihm wichtiger waren als sein eigenes Leben, seine Vergangenheit, sein gesamtes Selbst. In diesem Land war er aufgewachsen, diesem Land und diesem Volk hatte er alles zu verdanken. Er hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde.

Doch er bereute seine Entscheidung nicht mehr, zu viel hatte er darüber nachgegrübelt, ob sie richtig oder falsch war. Aber es gab kein Richtig und kein Falsch, es gab nur Ja oder Nein.

Die Welt war nicht schwarzweiß, sie war auch nicht grau, sie war bunt, grellbunt. Manchmal tat es in den Augen weh.

Er wusste nicht, ob er Erfolg haben würde oder wie lang seine Suche andauern mochte, noch ob er sie überhaupt überstand. Das Ziel lag irgendwo da draußen, und der Weg dahin war ungewiss.

In diesen Zeiten des Krieges war das Reisen zu einem lebensgefährlichem Abenteuer geworden. Die Menschen hatten Angst, zu recht, und sie warteten ab, wie ihr weiteres Leben wohl verlaufen mochte, in ständiger Furcht, sie könnten es verlieren. Einsame Wanderer wurden zu gemiedenen Fremden, die lieber Jetzt als Gleich aus den Dörfern getrieben wurden, als ob die Tradition der Gastfreundschaft plötzlich verboten war.

Razu verstand ihr Verhalten, und halbwegs billigte er es auch, aber noch heute würde er zu dieser Gruppe der Gemiedenen gehören und als eine weitere umherziehende Gestalt durch die Länder streifen. Er hatte nicht vor, seinen Vorteil aus seiner Geburt zu missbrauchen, es würde seiner Suche mehr schaden als nützen. Er hatte Angst, dass er sie dann nicht finden würde. So musste er notgedrungen die Rolle des Landstreichers einnehmen, wenn sie ihm auch missfiel. Seine Reise würde so oder so nicht leicht werden.

Er wandte sich von der Stadt ab, sie half ihm auch nicht, seinen Abschied besser ertragen zu können. Vielmehr stieg das Gefühl der nie endenden Schuld wieder in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zu.

Er kam nicht weit, Geo hielt ihn auf.

"Du wirst also tatsächlich gehen?", fragte er. Er ließ sich wirklich nichts anmerken, nichts von seiner Trauer oder seiner Wut. Wie schaffte er das? Es war Razu unerklärlich.

Er nickte als Antwort.

"Der König-"

"Mein Vater hat mir seinen Segen gegeben", fiel ihm Razu ins Wort, wobei er sich wieder zur Stadt drehte.

Geo trat an seine Seite und blickte wie er auf die Häuser hinunter. Razu überlegte, ob Geo etwas anderes sah als er oder ob es das gleiche war. Er kam zu dem Schluss, dass es unwichtig war.

"Das meinte ich nicht", erwiderte Geo, seine Hände ruhten dabei auf der Brüstung, sie zitterten leicht.

"Mein Entschluss steht fest", sagte Razu schließlich. Noch nie hatte er sich seinem besten Freund so fern gefühlt, dabei hatte er immer auf ihn bauen können. Wo waren nur die unbeschwerten Tage geblieben, an denen sie noch fröhlich gewesen waren, an denen die Welt ihnen gehört hatte? Sie schienen für immer verloren zu sein, vermisst und vergessen, abgeschoben, in die hinterste Ecke der Welt. Sie hatten lange nicht mehr zusammen gelacht. Der Krieg hatte alles verändert, der Krieg und der Tod.

"Hier, nimm das." Geo reichte ihm einen unscheinbaren Ring, in dem eine kleine Perle eingebetet war. Razu zögerte erst, dann nahm er den Ring von der darbietenden Hand und streifte ihn über seinen rechten kleinen Finger, er passte perfekt.

"Was...?"

"Ein Rufzauber, falls du Hilfe brauchst", erklärte Geo.

"Danke."

Dann ging Geo. Kein Wort des Abschieds, kein Wort der Klage, als hätte er verstanden, wie wichtig diese Reise Razu war. Razu würde ihn vermissen, wahrscheinlich ihn am allermeisten.

Seiner Abreise stand nun nichts mehr im Wege, er hatte sich schon gestern bei allen verabschiedet, so konnte er jetzt ohne die übliche Abschiedstrauer von dannen ziehen.

Einen Augenblick noch stand er still, dem Wind leicht die Stirn bietend, und schaute zum unerreichbaren Horizont, der in der Ferne verschwamm. Dorthin würde er nun reisen. Es war die richtige Entscheidung.

Er würde los ziehen, den Tod zu finden.

2. Teil

Kommentare, Kritik könnt ihr an: lea@leana.de schicken.

Viel Spaß beim lesen! Eure Lea Kim
 

Gedenke des Todes, Drachenritter 2. Teil

Memento Mori
 

Sie beobachtete ihn, den Menschen, der lebte, der auf die Suche gegangen war, um sie zu finden, der seine Familie und sein Land im Stich ließ, um sie wieder zu sehen, als wäre sie die Lösung, als wäre sie der Ausweg, die Hoffnung auf Ruhe. Oh ja, sie brachte Ruhe, aber es war die endgültige. Dieser Mensch war verrückt, er suchte etwas, das er niemals finden würde, nicht bei ihr. Seine Reise war sinnlos und er war zu blind, als dass er es erkannte.

Sie konnte ihm kein Mitleid entgegenbringen, er hatte sich sein Schicksal selbst ausgesucht, also sollte er auch die Krankheiten der Welt am eigenen Leib spüren. Er hatte es verdient, er war so dumm, ein Musterbeispiel eines Menschen.

Sie wurde nicht schlau aus ihm. Er wusste doch, wer sie war. Warum suchte er sie? Die Menschen fürchteten sich vor ihr. Warum er nicht? Warum kam er freiwillig?

Dieser Mensch war anders, obwohl er so stur war, so hartnäckig und so rücksichtslos. Er war auf der Suche nach ihr, hatte das etwas zu bedeuten? In all den Jahren, den Jahrhunderten, in denen sie ihrer Pflicht nachkam, war ihr noch nie ein Mensch wie er begegnet. Sollte es etwas bedeuten? Sie konnte es sich nicht vorstellen, wollte es nicht.

Die Menschen änderten sich nicht, sie blieben, wie sie waren, skrupellos, arrogant und blind. Und dieses eine Exemplar würde ihre Meinung auch nicht ändern.

Seine Suche war vergebens, es würde interessant werden, sein Scheitern zu beobachten.
 

Der Winter hatte begonnen, lautlos und schleichend legte er sich auf die Menschen, seine eisige Hand bedeckte das immer kahler werdende Land. Morgens bedeckte Raureif Wälder und Wiesen, und vereinzelnd fielen schon glitzernde Schneeflocken auf die Erde.

Seit Wochen war er nun unterwegs und war erschrocken über den Zustand des Landes. Wo er auch hinkam, überall herrschte Hunger und Armut. Er hatte die ausgemergelten Gesichter gesehen, die nach der schlechten Ernte dieses Jahres kaum Essen zum Überwintern hatten. Verdreckte Kinder, deren Kleider aus weniger als einfachem Leinen bestand und gegen den schneidend kalten Wind keinen Schutz boten. Die einigermaßen betuchten Bauern horteten ihre Vorräte für sich selbst. Es war schon schwer genug so durch den Winter zu kommen, da brauchte man von seinen wenigen Habseligkeiten nichts an Ärmere abzugeben, die wahrscheinlich eh nur zu faul waren richtig zu arbeiten. Fremde wurden erst gar nicht geduldet, sondern gleich fortgeprügelt. Die Leute hatten Angst, Angst vor der Zukunft, Razu sah es in ihren Augen. Und diese Angst war der größte Schrecken, den er auf seiner bisherigen Reise gesehen hatte. Zum ersten Mal war ihm bewusst geworden, wie sehr die Menschen unter dem Krieg litten. Es war, als läge ein Schleier über der Welt, der jegliches Leben zu ersticken drohte.

Auch er spürte den Hunger, der knurrend in seinem Magen rumorte. Seine Vorräte waren vor ein paar Tagen zur Neige gegangen. Seine Versuche sie aufzufüllen, waren bei dieser Jahreszeit nicht gerade von Erfolg gekrönt. Und in einem Dorf nach einer Mahlzeit zu fragen, kam nicht in Betracht. Er meidete Menschen, sie lenkten ihn ab.

Er war nicht nur einfach gegangen, er hatte sich auch von seinem bisherigen Leben, das ihm doch nie ganz allein gehört hatte, abgewandt. Er brauchte eine Auszeit, Abstand von allem und allen, so schwer es auch in der ersten Zeit sein mochte.

Er hatte oft an Shee denken müssen, seine kleine Shee. Warum wirkte sie nur so erwachsen, wenn sie doch noch so klein war? Er fühlte sich ihr gegenüber schuldig, obwohl sie ihm doch verziehen hatte.

Und Geo, sein bester Freund, er war mit ihm schon durch dick und dünn gegangen. Es war einsam ohne ihn an seiner Seite.

Er hatte erst jetzt gemerkt, wie sehr er alle liebte, wie viel sie ihm bedeuteten, jetzt, wo er allein war. Über vieles war er sich in den letzten drei Wochen klar geworden, vor allem über sich selbst, aber trotz allem trieben ihn die Fragen in seinem Kopf weiter, sein Weg war noch nicht zu Ende. Seinem Ziel noch immer hinterher jagend hatte er noch viele Rätsel zu entschlüsseln, und irgendwie war er zuversichtlich, dass er es schaffen würde.

Schon lange hatte er sich nicht mehr so gefühlt, frei von allen Zwängen, unabhängig und hoffnungsvoll, obwohl die Trauer über seinen Abschied immer noch täglich an seine innere Tür klopfte. Die Last wurde leichter, je weiter er ging.

Er blickte hoch in die Sonne und musste blinzeln. Es war ein guter Tag. Selten war dies der Fall. Viel zu oft bedeckten graue Wolken den Himmel und versperrten der Sonne den Blick, als wollten sie die Welt im Dunkeln einsperren. Und viel zu früh verschwand das Sonnenlicht hinter dem fernen Horizont, so dass er nur wenige Stunden am Tag wandern konnte. Nachts suchte er sich meistens eine geschützte Stelle abseits vom Weg, klaubte etwas Reisig zusammen und baute sich damit ein provisorisches Lager. Sein einziger Schutz gegen die Kälte war ein warmer Umhang. Der auch sein einziger Luxus auf dieser Reise war.

Schon einige Wegelagerer, die ihm aufgelauert hatten, hatte er vertreiben müssen. Seine Bewaffnung bestand zwar nur aus einem einfachem Dolch, aber seine Ausbildung hatte er bei Meistern ihres Faches absolviert. Gegen Straßenräuber und Gesetzeslose konnte er sich auch so zur Wehr setzen. Wie schnell solche Schurken doch rennen konnten, beeindruckte ihn immer noch.

Er wusste nicht, wohin dieser Weg, den er ging, ihn führen würde, geschweige denn, ob es der richtige war. Nur sein Ziel hatte er immer vor Augen. Sie, diese dunkle Gestalt mit den flammendroten Haaren und dem durchdringenden Blick, der ihm in einem Wimpernschlag jedwedes Geheimnis verraten hatte, und doch seine wahre Natur, die hinter diesen Augen existierte, verdeckt und verschwiegen, vor ihm verbarg.

Eine Gabelung ließ ihn in seinen Schritten inne halten. Rechts führte der Weg weiter, auf dem er gerade stand, breit und einladend. Links stieß ein schmaler, kaum ausgetretener Pfad auf den Weg. Er wunderte sich, dass er ihn überhaupt bemerkt hatte und nicht einfach den weiteren Verlauf des Weges zu seiner Rechten gefolgt war.

Lange musste er überlegen und ihm fiel auf, dass sich der Weg zum ersten Mal auf seiner Reise verzweigte, ihm eine Entscheidung abrang, die er weder treffen konnte, noch wollte. Welche Richtung war die Richtige? Gab es ein Richtig überhaupt? Welcher Pfad führte ihn zu seinem Ziel? Welcher zu ihr?

Kein Schild am Wegesrand wollte ihm einen Hinweis geben, keine schicksalhafte Fügung wollte ihm helfen, oder doch? Als er nochmals nach links schaute, sah er direkt in die dunklen Augen eines beachtlichen Raben, der auf einem herabhängenden Ast hockte und ihn unentwegt anschaute. Der Rabe flog auf, als er sich ihm zu wandte, segelte über ihn hinweg, drehte im nächsten Augenblick und flog in die Richtung, die der Weg einschlug. Es war ein herrliches Gefühl den Raben bei seinem Flug zu beobachten.

Still stand Razu da und starrte dem nachtschwarzen Vogel hinterher. Er hatte Zeit, auch diese Last hatte er abgegeben. Zeit war etwas Kostbares und Zeit für sich zu haben ein Reichtum, den er sich selbst nie erlaubt hatte. Nun konnte er es.

Razu wählte den schmalen Pfad zu seiner Linken.

Seine Füße waren schon längst wieder auf Wanderschaft, während er selber in Gedanken noch an der Weggabelung stand und den wunderschönen Vogel betrachtete.
 

Das Feuer knisterte und knackte. Funken sprangen tanzend in den Himmel, flogen hoch zu den Sternen, um sich im Dunkel zu verlieren. Der Duft von gebratenem Fleisch, der sich ihm verführerisch in die Nase kräuselte, gesellte sich dazu und stieg hinauf in die Nacht. Erwartungsvoll drehte er den Stock, auf dem das von Fell befreite Kaninchen gespießt war, über die prasselnden Flammen. Er hatte Glück gehabt, es zu fangen.

Er schmeckte schon das saftige, warme Fleisch auf seiner Zunge, den herben Geschmack des wilden Tieres, spürte seinen Bauch zufrieden rumoren, als ein Knacken dicht hinter seinem Rücken ihn aufhorchen ließ. Eilends zückte er seinen Dolch mit der Linken, griff mit der Rechten hinter sich, wobei er leider das Kaninchen ins Feuer fallen lassen musste, konnte gerade noch ein Handgelenk fassen und erklärte drohend: "Lass deine Waffe fallen, wenn dir dein Leben lieb ist!"

Ein unterdrücktes Keuchen begleitete das Herabfallen eines harten Gegenstandes und dessen dumpfen Aufprall auf den Waldboden.

"Jetzt verschwinde und versuch keine Tricks", befahl er barsch. Er lockerte seinen Griff und, als er sicher war, dass der Wegelagerer nicht nach seiner Waffe greifen würde, ließ er das Handgelenk ganz los.

Nun bedauerte er es, dass er so nah am Weg lagerte. Wegen diesem Strauchdieb verkohlte gerade sein Abendessen, dabei hatte der Tag so schön enden können. Um nicht völlig mit leerem Magen schlafen zu müssen, fischte er den Stock schnell aus dem Feuer und begann das Fleisch von Asche und Holzstücken zu befreien. Zwischendurch ergriff er die Waffe, ein grobes Messer, hinter ihm und verwahrte es sicher unter seinem Umhang.

"Woher wusstest du, dass ich da war?", fragte die Gestalt. Die Stimme war hoch, zu jung für einen Erwachsenen, fast mädchenhaft. Und auch das Handgelenk war schlank genug einem Jüngling zu gehören. Razu schätzte ihn auf dreizehn, vierzehn, höchstens fünfzehn.

"Setz dich da hin", seufzte er und zeigte auf die Stelle ihm gegenüber.

Der Junge trat hinter ihm hervor ins flackernde Licht und setzte sich auf die ihm zugewiesene Stelle. Sein kurz geschnittenes Haar hing ihm fransig ins magere Gesicht und seine Klamotten, die um seinen schmächtigen Körper schlabberten, zerschliessen und mit zahlreichen Löchern überseht, zu kalt für die Jahreszeit, verrieten Razu die Verzweiflung, die den Jungen getrieben hatte, ihn zu überfallen. Flehend starrten die Augen des Jungen auf das Kaninchen.

"Was macht so ein junger Bursche wie du alleine in dieser Gegend? Vor allem, da sich kaum Reisende hierher verirren", fragte Razu.

Doch der Junge antwortete nicht, kauerte sich viel mehr näher ans Feuer, das Fleisch nicht aus den Augen lassend, und hielt seine zartgliedrigen Hände an die wärmenden Flammen.

"Wie hast du mich bemerkt?", wollte er wissen.

"Du warst zu laut." Razu zuckte mit den Schultern, als wäre dies offensichtlich gewesen.

Er konnte den Blick des Jungen nicht deuten, als dieser seine Antwort hörte. War er nun überrascht oder hatte er es geahnt? Razu wurde neugierig. Kein normaler Mensch wanderte durch eine solch verlassene Region, wenn er keinen vernünftigen - oder auch unvernünftigen - Grund dazu hatte. Schon seit einigen Tagen hatte er keine einzige Menschenseele mehr getroffen. Warum nun diesen Burschen?

Er begann vorsichtig, das Fleisch abzuknabbern. Es war etwas zäh und angebrannt, aber noch zu genießen.

"Wie heißt du?", fragte er zwischen zwei Bissen.

Der Junge blieb stumm, starrte weiter auf Razu, wie er Stückchen für Stückchen das Kaninchen vertilgte, in einer Gemächlichkeit und Genauigkeit, die ansonsten nur alte Menschen an den Tag legten.

"Wie du heißt, will ich wissen", wiederholte Razu seine Frage, diesmal bestimmter, nachdrücklicher.

"Ko."

"Einfach nur Ko?"

Der Junge nickte, wenn auch zögernd. Razu glaubte ihm nicht, beließ es aber dabei. Wenn er ihm nicht seinen richtigen Namen verraten wollte, dann hatte er auch einen Anlass dafür. Razu wollte den Kleinen nicht verschrecken, indem er die Wahrheit gewaltsam aus ihm herauspresste.

"Nun Ko, was verschlägt dich hier in diese Gegend? Und warum versuchst du wehrlose Wanderer auszurauben?", wollte Razu wissen.

"Wehrlos?", schnaubte Ko. "Wer ist hier wohl der Wehrlose?"

Razu musste grinsen. Die Wut des Kleinen amüsierte ihn, da sie doch unbegründet war, ja eigentlich bei ihm, Ko, selbst liegen müsste. Doch dieser hatte sich gerade vom Täter zum Opfer ernannt.

"Du bist nicht gerade in der Lage, Fragen zu stellen, mein Kleiner", meinte Razu, noch immer schmunzelnd. "Und jetzt sag mir endlich, was du hier treibst."

"Ich bin von zu Hause weggelaufen", brummte Ko verdrießlich.

"Weggelaufen? Da hast du dir aber eine schlechte Jahreszeit ausgesucht", bemerkte Razu und nagte weiter an dem schon halb verzehrten Kaninchen.

"Ich hab's nicht mehr ausgehalten", erklärte Ko knapp. Noch immer blickte er ihn nicht direkt an, sondern das Fleisch in seinen Händen

"Wie viele Tage bist du schon unterwegs?"

"Zehn."

"Und vor wie vielen Tagen hast du das letzte Mal etwas gegessen?", fragte Razu. Ihm war der hungrige Blick Kos nicht entgangen.

"Vier."

"Dann musst du Hunger haben."

"Was soll die ganze Fragerei?" Ko sah auf, ihm geradewegs in die Augen. Unnachgiebig war sein Blick, unbeirrt und willensstark, die Augen eines Raubtieres.

"Hast du nun Hunger oder nicht?"

Ko gab keine Antwort, aber er brauchte es auch nicht. Razu reichte dem Jungen den Rest von seinem kargen Mahl. Dieser beeilte sich, das Fleisch an sich zu reißen und zu verschlingen. Er musste wahnsinnigen Hunger gehabt haben.

Das Feuer brannte allmählich herunter, nur die Glut spendete noch ein wenig Helligkeit, und die war so schwach, dass sie die Welt ins Gegenteil umkehrte.

Nachdem Ko auch den letzten klitzekleinen Rest des Kaninchen verspeist hatte, es waren wirklich nur noch Knochen übrig, soweit Razu es beurteilen konnte, legte er sich so dicht, wie er es wagte, an die Feuerstelle, bettete seinen Kopf in eine Mulde, die er mit seinen Armen formte, und begann einzuschlafen.

Razu war darüber so perplex, dass er zuerst kein Wort des Widerspruchs fand und dann lächelnd seinen Umhang als Decke über ihn breitete. Den Kleinen hatte ein schlimmeres Schicksal heimgesucht.

Weggelaufen von zu Hause, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte. War das nicht auch Razu? War er nicht auch vor seinen Pflichten geflüchtet? Vor seinem Schicksal als Prinz und zukünftigem König? Hatte er einfach nur Angst und war deshalb auf dieser Reise? Auf dieser Suche, die von allen nur blind belächelt wurde? Er hatte sich vorgestellt, dass er Antworten finden würde, wie die Rätsel in seinem Leben gelöst werden und er endlich zufrieden sein konnte. Er hatte nie darüber nachgedacht, welche Rätsel und welche Fragen beantwortet werden sollten. Oder hatte er auch das nur vorgeschoben?

Ihm war wirr im Kopf. Zum ersten Mal auf seiner Reise verlor er den Weg aus den Augen, er verschwamm, verzweigte sich, endete. Aber er durfte nicht enden, der Weg war wichtig, er führte ihn doch ans Ziel. Er wusste, wohin er wollte. Es war der einzig klare Gedanke in seinem Kopf, nur warum er dorthin wollte, hatte er vergessen.

Er hatte es tatsächlich vergessen, er wusste es einfach nicht mehr, es war weg.

Er blickte hoch zu den Sternen, doch sie leuchteten nicht, waren matt und glanzlos, stierten auf ihn herab, höhnisch und boshaft. Sie griffen nach ihm, zehrten an seinen Armen, seinen Beinen, seinen Haaren. Grabschten nach seinen Worten, seinen Bildern, seinen Sinnen. Er konnte nicht von ihnen lassen, suhlte sich in ihrem treulosen Schein, ihrer niederträchtigen Heiligkeit, dem falschen Glück, das sie versprachen. Dort oben würde er die Wahrheit erfahren, riefen sie, die reine, die ehrliche, die gemeine. Sie war verlockend, diese Wahrheit der Sterne, so einleuchtend und so einfach. Er wollte sie, mehr als alles andere, er wollte die Wahrheit, die reine, die gemeine. Er wollte sie, doch er bekam sie nicht.

Er flehte, bettelte, drohte. Nichts, die Sterne schwiegen, verloschen in ihrem falschen Glanz, erloschen, einer nach dem anderen. Sie ließen ihn allein zurück, gepeinigt und ausgezehrt. Leere füllte seinen Verstand. Er fühlte sich ausgenutzt und weggeworfen. Nichts war geblieben, nur das Bild einer Frau mit flammendroten Haaren.

Die Nacht war kalt, er schlief keine einzige Sekunde.
 

Ko hatte sich ihm angeschlossen, einfach so. Ohne einen Grund zu nennen, war er ihm am nächsten Morgen gefolgt, immer zwei Schritte hinter ihm, bis Razu schließlich stehen blieb, so dass Ko zu ihm aufschließen konnte. Seitdem waren sie zu zweit unterwegs.

Die Reise war trotz der unerwarteten Gesellschaft nicht angenehmer geworden, eher mühsamer, zeitraubender. Das Essen war knapp, sie fanden noch nicht mal genug für eine Person und mussten die kümmerliche Nahrung, die sie noch fanden, unter sich aufteilen. Die Nächte waren eiskalt, die Tage wurden immer kälter. Längst reichte der eine Umhang von Razu nicht mehr aus, sie beide irgendwie warm zu halten. Nun trug ihn Ko, Razu hatte ihn ihm überlassen. Er konnte es nicht mit ansehen, wie der Kleine fror.

Razu hatte gezwungenermaßen die Verantwortung für Ko übernommen. Er war noch zu keiner Entscheidung gekommen, ob dies nun gut war oder schlecht. Razu hatte frei sein wollen, unabhängig von allen. Er war seiner Pflicht, seiner Verantwortung gegenüber seiner Krone brüchig geworden, mit vollem Bewusstsein, und jetzt musste er sich um das Wohl dieses jungen Ausreißers kümmern.

Aber dies waren nicht die schlimmsten Veränderungen, die aufgetreten waren. Er konnte nicht mehr schlafen. Nachts wälzte er sich unruhig hin und her, versuchte sich in eine bequemere Lage zu bringen, in der er Ruhe fand, doch der Schlaf kam nicht, sowenig wie Erholung. Dann gab es Stunden, in denen er zwar einschlief, doch bei jedem noch so leisen Geräusch erschrocken hochfuhr oder schweißgebadet, von Alpträumen geplagt, aufwachte, nicht wissend, ob er noch träumte oder diesen abscheulichen Nachtmähren entflohen war. Dann sah er hinüber zu Ko, der friedlich schlief, und die Gewissheit, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war, schlich in ihm auf, begleitet von einem nagenden Gefühl, endlich aufzuwachen. Morgens fühlte er sich matt und entkräftet, kaum dazu in der Lage aufzustehen, doch irgendwie schaffte er es jedes Mal seinen müden Körper empor zu heben und seine Reise fortzusetzen. Manchmal wusste er danach nicht mehr, weshalb er auf Wanderschaft war.

Er war zu zerschlagen, als dass er sich wundern, noch darüber nachdenken konnte, weswegen er nachts keinen Schlaf mehr fand und tagsüber wie ein Geist durch die Gegend wankte.

Zugleich war er froh, dass Ko nicht nach seinem Zustand fragte, obwohl dieser während ihrer gemeinsamen Zeit immer redseliger geworden war und immer fröhlicher. Er erzählte von seiner kleinen Schwester, mit der er winters immer Schlittschuh gelaufen war, seiner lieben, aber kranken Mutter, seinen Raufereien mit seinem größeren Bruder in der Kinderzeit. Nur seinen Vater ließ er in seinen Erzählungen aus, und auch die näheren Umstände, die ihn zum Ausreißen veranlasst hatten, sprach er mit keinem Wort an, nicht mal, als Razu ihn direkt danach fragte.

Zeitweise vertiefte sich Ko jedoch in seine eigenen Gedanken, beobachtete dabei mit einem träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht die sich kaum verändernde Umgebung, und war nicht mehr ansprechbar.

In diesen Momenten, in denen Razu sich seltsam fern von Ko und der restlichen Welt fühlte, dachte er wiederholt daran, nach Hause zurückzukehren, doch konnte er es nicht. Das Gefühl in ihm drängte ihn weiter, die rätselhafte Düsternis lockte ihn. Er musste sie einfach noch einmal sehen, nur ein einziges Mal.

Ko war während Razus Grübeleien ein paar Schritte vorausgeeilt, winkte ihn nun heftig gestikulierend heran und stürmte, als er sicher war, dass er Razus Aufmerksamkeit hatte, voran. Er verschwand für kurze Zeit hinter dem Hügel, dem der Pfand gerade hinauf und hinunter folgte. Der Umhang flatterte dabei wild um seinen schmächtigen Körper. Razu beeilte sich, hinter ihm herzukommen. Der Pfad, der in der letzten Zeit immer stetig angestiegen war, endete hinter dem Buckel abrupt vor einer gigantischen Schlucht.

Der Anblick hinunter war atemberaubend.

Vor ihm erstreckte sich ein weites Tal, dessen Enden er kaum erkennen konnte. Ein Fluss, der aus dem Norden heran floss, schlängelte sich durch die bebauten Ackerflächen, jetzt brach liegend, und den einzelnen kleinen Wäldern. Im Süden erahnte Razu eine kleine Ansammlung von Hütten und Häusern, die, dicht am Wasser gebaut, das erste Anzeichen von Menschen seit Tagen waren und somit Wärme und Nahrung versprachen. Längst hatte er seinen Vorsatz, Dörfer zu meiden, über Bord geworfen. Sie beide brauchten dringend Essen, ansonsten konnte er für nichts garantieren.

"Wir müssen einen Weg hinunter finden", sagte Ko aufgeregt.

"Nicht mehr heute."

"Aber dahinten ist ein Dorf, vielleicht kriegen wir da was zu essen", begehrte Ko auf, als er Razus entschlossenes Gesicht sah.

"Es ist zu gefährlich, außerdem dunkelt es schon. Wir versuchen, morgen nach unten zu kommen."

Ko wollte ihm widersprechen, entschied sich jedoch dagegen.

Sie richteten ihr Lager nicht weit entfernt der Schlucht in einer Senke ein, entzündeten ein kleines, prasselndes Feuer und setzten sich schweigend gegenüber. An diesem Tag hatten sie kein Glück gehabt, kein noch so mageres Kaninchen war ihnen über den Weg gelaufen, noch hatten sie etwas essbares im Wald gefunden. Sie hungerten beide.

Wenn die Menschen in diesem Dorf sie nun verjagten, wie Razu es in anderen Dörfern erlebt hatte? Es war eine Vorstellung, die ihm mehr als missfiel. Sie mussten dort einfach Hilfe finden.

Es war eine dämliche Idee von ihm gewesen, mitten im Winter auf Wanderschaft zu gehen, die blödsinnigste, die er je gehabt hatte. Seine Vorbereitungen waren nur mäßig gewesen, seine Vorräte zu knapp kalkuliert und zu schnell verbraucht, von der kalten Jahreszeit hatte er sich überraschen lassen und zu Guter letzt war er nun auch noch für einen fünfzehnjährigen Jungen verantwortlich. Er hatte so ziemlich alles falsch gemacht.

Aber er hatte auch nicht erwartet, dass seine Reise so lange andauern würde. Seit wie vielen Tagen und Wochen war er nun schon unterwegs? Er hatte sie nicht gezählt, war davon ausgegangen, dass er noch vor Winteranbruch zurückkommen würde. Jetzt saß er hier, die Knie angewinkelt und fest umschlungen, hypnotisierend ins Feuer starrend, in einem Landstrich, den er vorher nie bereist hatte, noch nicht mal geahnt hatte, dass er existierte, und, um ehrlich zu sein, niemals drüber nachgedacht hatte.

Wann würde seine Suche endlich enden?

Er schaute hinüber zu Ko, der sich schweigsam in dem großen Umhang vergrub. Ein Schauer rieselte seinen Rücken hinunter.

Die Flammen tanzten auf Kos Gesicht, vertieften die Kanten und Furchen des Hungers, verschärften die Schatten, die über den lauernden Augen lagen, verwandelte sein Angesicht in das Bild eines kahlen Schädels, aus dem zwei unergründliche Höhlen ihn direkt anschauten, durchschauten. Razu grauste es. Schnell wandte er sich von diesem Bild ab, riss sich los von diesem unbegreiflichen Abgrund. Er spürte, wie er zu zittern anfing.

Was war das gewesen? Selbst ihre Augen, ihre Blicke hatten ihn nicht solcherart erschaudern lassen, nicht eine solche Kälte ihn ihm wecken können. Wie hätte Ko...? Er war doch nur ein kleiner Junge. Was passierte mit ihm? Wurde er langsam verrückt?

Es musste seine Erschöpfung sein. Seit Tagen hatte er nicht mehr richtig geschlafen, keine Erholung mehr finden können. Kein Wunder, dass er langsam Halluzinationen hatte und an Sinnestäuschungen litt.

Er vergewisserte sich, dass Ko sich nicht in einen Totenkopf verwandelt hatte, atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und bereitete sich auf eine weitere durchwachte und eisige Nacht vor.
 

In schwarz war sie gehüllt, in Dunkelheit und Düsternis, einzig ihr Haar leuchtete blutrot.

Ihr Gesicht von ihm abgewandt, ihr Blick in die Ferne gerichtet, schien sie erstarrt zu sein, einer lautlosen Melodie lauschend. Sie war so fern von ihm, so unerreichbar weit weg, verloren dieser Welt und fremd dem Leben.

An welchem Ort weilte sie in diesem Moment? Welche Gedanken rauschten durch diesen stolzerhobenen Kopf? Er hätte es gerne gewusst, er hätte gerne alles von ihr gewusst. Er wollte sie erkunden, erforschen, sie entdecken und ergründen. Er wollte sie umarmen und nie wieder loslassen müssen.

Er rief nach ihr, stumm und wortlos, denn die Worte hatten ihn verlassen, verspotteten ihn aus ihren Verstecken heraus, lachten höhnisch. Sie hörte ihn nicht, regte sich nicht, wartete und lauschte weiter.

Er lief zu ihr und stürzte, rappelte sich auf und lief weiter. Ein zweites Mal versuchte er sie zu erreichen, doch auch diesmal gelang es ihm nicht, scheiterte an seinen Bemühungen, scheiterte an seiner Müdigkeit. Sie blieb ihm fern, verharrte weiter in ihrer Bewegung, die von ihm fort führte. Seine Sehnsucht zu ihr übermannte ihn, umgab ihn wie einen frostigen Hauch, durchflutete ihn auf unerträglichste Weise und verursachte zugleich einen heißen Schauer in seinem Inneren.

Ständig darauf bedacht, nicht an Stärke zu verlieren, sondern ihn leidend leben zu lassen, hatte seine Sehnsucht ihn zu einem Leben verurteilt, das ihn zu Untreue und Verrat, zu Täuschung und Blendung getrieben hatte. Er war seiner Familie, seiner Krone und seiner Pflicht abtrünnig geworden, allein um ihretwillen. Er war schuldig geworden wegen ihr, aber er lud die Schuld gerne auf sich, begrüßte sie mit offenen Armen, schloss sie in sich ein und warf den Schlüssel weg. Wenn dies der Preis für seine Sehnsucht sein sollte, so zahlte er ihn mit Freuden.

Nun sah er seinen schwarzen Engel, den er kaum zu finden gehofft hatte, vor sich stehen, so nah, dass er sie hätte berühren können, und doch so fern, dass er sie nicht erreichen konnte. Hatte er sie verloren? War alles vergebens gewesen? War seine Reise zuende? War alles zuende? Sollte dies das Ende sein?

Er betete, flehte sie an zu antworten, oder ihn einfach nur wahrzunehmen. Doch was würde er sehen, wenn sie ihn anschaute? Erkennen? Bitterkeit? Freude? Enttäuschung? Beinahe hatte er Angst davor.

Er hatte nie vergessen, wer sie war oder welche Pflicht sie trug. Das Leben war ein Traum, aber sie war Wirklichkeit, sie war wirklich. Sie musste es sein.

Warum redete sie nicht mit ihm? Sie hatte es doch schon einmal getan, hatte schon einmal das Wort an ihn gerichtet, hatte ihn persönlich aufgesucht. Musste er erst wieder sterben, um mit ihr sprechen zu können? War dies das eigentliche Ziel seiner Reise? Der Tod selbst? Das Ende von allem?

Wer den Tod sucht, der wird den Tod finden.

Schmerz wie brennend heißer Regen prasselte auf ihn herab, zerfraß seine Haut und krallte sich mit dornengespickten Klauen an ihm fest. Seine Seele brannte, sein Körper zersprang. Flammen leckten an ihm hoch, umschlossen ihn, hielten ihn gefangen in einem Gefängnis aus Pein und Elend.

Er fiel auf die Knie und keuchte Blut. Widerhaken zogen an ihm, zerrissen das übrig gebliebene Fleisch in Fetzen, zerrten ihn auf die Beine zurück. Er schrie.
 

Kos Kopf, der über ihn gebeugt war, nahm er als erstes wahr, jedoch nur schwach und undeutlich. Das Feuer war erloschen, nicht einmal die Kohlen glühten noch.

"Du hast im Schlaf geschrieen", sagte Ko.

War das wieder einer dieser Alpträume gewesen? Oder Wirklichkeit? Hatte sie ihn verlassen? Warum hatte sie ihn verlassen?

Razu setzte sich auf. Benommen schüttelte er den Kopf und die Bilder verflogen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was ihn so erschreckt hatte. Es war weg, nur ein dumpfes Gefühl der Schwebe blieb, das die vergangenen Schatten in seinem Inneren ersetzte, Frieden vorgaukelte und Chaos barg. Er kramte in seinem Gedächtnis, doch er fand nichts. Nichts war ihm geblieben, nicht mal ihr Gesicht.

Er wandte sich zu Ko, der neben ihm kniete, mit verschlossener und ernster Miene. So hatte ihn Razu nur bei ihrem bizarren Kennenlernen erlebt. Es jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

"Es ... ist nichts", wehrte Razu ab. "Mach dir keine Sorgen."

"Das tu ich aber."

Razu blickte ihn an, überrascht und gleichzeitig traurig.

"Nein, tu das nicht", sagte er schroff. Es klang härter als er gewollt hatte. Er drehte sich von Ko weg, damit er ihm nicht in die Augen schauen musste, und starrte in die mondbeschienene Dunkelheit hinein. Irgendwo dort war sie.

"Und warum nicht?", fragte Ko herausfordernd.

"Es haben schon genug Menschen wegen mir gelitten. Ich habe keine Lust noch einem Schmerzen zuzufügen", antwortete Razu.

Es stimmte, er mochte Ko und er wollte ihm nicht wehtun, nicht, wenn er es vermeiden konnte. Was Ko brauchte, war eine Heimat, einen Ort, an den er nach Hause kommen konnte, keinen törichten Flüchtling, der Wahnvorstellungen bekam.

"Wir werden uns morgen trennen", entschied Razu. "Du gehst zum Dorf und bittest um Unterkunft für den Winter. Ich werde in die entgegengesetzte Richtung weitergehen. So ist es am besten."

"Ach, und der feine Herr bestimmt das einfach so, ja?", schnaubte Ko zornig. "Hat wohl die Weißheit mit Löffeln gefressen, was?"

Natürlich war Ko aufgebracht, aber... Natürlich? So natürlich war es doch gar nicht. Sie waren erst seit ein paar Tagen, zwei Wochen höchstens, zusammen unterwegs. Warum wurde Ko dann so wütend über seine Entscheidung?

Razu wandte sich wieder zu seinem kleinen Schützling, der vor unterdrücktem Groll sachte bebte. Aus ihm würde einmal ein starker Mann, wenn nicht ein mächtiger Krieger werden, irgendwann. Razu kannte sich damit aus, er hatte diese Phase auch durchlebt.

Er konnte sich an einen Vorfall aus seiner Jugend erinnern. Damals hatte er sich geweigert, gegen den Rat seiner Lehrmeister, von seinen Kämpfen mit Monstern und Dämonen abzulassen. Er hatte sich in seinem jugendlichen Heißsporn stark und unerschütterlich gefühlt, hatte sich nicht beeindrucken lassen wollen von ihrem furchtmachendem Geschwätz. Er war siegreich gewesen, und mit jedem getötetem Monster stieg seine Arroganz. Er war unbezwingbar, unbesiegbar, bis ein Dämon ihn beinahe getötet hatte.

Die Wunde war nur langsam geheilt und hatte ihm Zeit gelassen, über seine unbedachten Taten nachzudenken.

Seine Lehrmeister hatten Recht gehabt. Hätte er auf sie gehört, wäre es nicht so weit gekommen. Ko musste doch einsehen, dass er es nur gut mit ihm meinte.

"Du musst verstehen-"

"Ich verstehe sehr gut. Du kannst es kaum erwarten, mich loszuwerden!"

"Das stimmt nicht", begehrte Razu auf. "Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich dich schon vor Tagen weggeschickt. Ohne ein Dorf in der Nähe, zu dem du gehen könntest. Sei nicht dumm!"

Sei nicht dumm, dass hatten ihm seine Lehrmeister auch gesagt. Nun stand er auf ihrer Seite und schimpfte Ko, der sich doch nur Sorgen um ihn gemacht hatte.

"Was soll ich in diesem blöden Dorf?", schnaufte Ko ärgerlich. "Ich bin ausgerissen, weil es mir leid war. Ich wollte Abenteuer erleben, die Welt erkunden und ein großer Krieger werden. Nicht auf einem heruntergekommenem Hof vergammeln."

Und Razu war ein Krieger und erlebte Abenteuer, wenn auch keine märchenhaften. Wie sollte er ihm den Wunsch, mit ihm zu gehen, abschlagen, wo er doch genau wusste, wie sich Ko fühlte?

Aber er hatte selber lernen müssen, dass Erwachsene manchmal auch Recht hatten und ihnen Folge zu leisten war, selbst wenn es auf dem ersten Blick ungerecht erscheinen mochte. Er hatte es gelernt, zwar auf die härtere Tour, doch hatte er es gelernt. Ko musste doch auch begreifen, dass er ihn nicht strafen, sondern schützen wollte.

"Es ist zu deinem Besten, Ko."

"Woher willst du wissen, was für mich das Beste ist?"

Razu zuckte mit den Schultern. Erst nach einer längeren Pause, in der er sich seine Worte für Ko genau überlegte, antwortete er.

"Meine Suche ist nicht ungefährlich. Ich möchte dich dieser Gefahr einfach nicht aussetzen."

"Wonach suchst du eigentlich?"

Razu wurde von dem plötzlichen Themawechsel überrumpelt, begann zu stammeln.

"Ich ... nun, ich." Er brach ab, wusste nicht, was er sagen sollte.

"Du hast mir nie erzählt, warum du durch die Gegend reist."

Das hatte er tatsächlich nicht. Immer war Ko es gewesen, der geredet hatte. Razu hatte ihm nur zugehört.

"Ich suche jemanden."

"Und wen?"

Er konnte Ko schlecht die Wahrheit sagen, wollte es auch gar nicht. Das ging ihn nichts an. Das war allein seine eigene Angelegenheit.

"Eine ... Frau."

"Liebst du sie?"
 

Sie würden das Dorf noch heute Abend erreichen. Razu war erleichtert darüber, zumal die Sonne schon sehr tief über dem Horizont hing.

Es hatte einige Zeit gedauert, um den Weg nach unten zu finden, und die Strecke bis zum Dorf war doch länger, als er angenommen hatte. Der Pfad war nie gerade, wand sich zwischen Wiesen und Äckern, Bäumen und Sträuchern hin und her, machte dort einen Knick, hier eine Schleife, als wolle er die Reisenden nicht zu ihrem Ziel führen. Seltsame Menschen mussten hier leben, die einen solch planlosen Weg benutzten.

Ko erzählte gerade wieder von seiner kleinen Schwester, die, noch fünf Jahre alt gewesen, einmal ihrem Hahn alle Schwanzfedern ausgerissen hatte, weil sie sie so schön gefunden hat. Razu hörte nur halbherzig zu.

Seit ihrem Aufbruch im frühen Morgengrauen hatte Ko mit keinem Wort ihr nächtliches Gespräch erwähnt, meidete das Thema mit sturer Ignoranz, und pfiff fröhlich und ausgelassen, wenn er von seinen Geschichten pausierte, als könne er damit die hartnäckigen Geister der vergangenen Nacht vertreiben. Es gelang ihm nicht.

Razu musste immer wieder an Kos letzte Frage denken, er hatte ihm noch keine Antwort gegeben. Er wusste selbst nicht, wie sie aussah.

Nachdem er das Gespräch für beendet erklärt hatte, hatte keiner von ihnen mehr geredet. Razu hatte nicht mehr einzuschlafen versucht, stattdessen hatte er Wache gehalten. Er hatte Angst davor, dass der Alptraum sich fortsetzen würde, Angst, dass er in diesen Flammen vergehen könnte. Die Nacht war ihm immer eine treue Begleiterin gewesen, die ihm Schutz spendete, nun war sie der Feind, vor dem er sich in Acht nehmen, den er fürchten musste.

Würde sich jetzt alles gute, beruhigende, aus seinem bisherigen Leben in etwas dunkles, erschreckendes verwandeln? Er erzitterte vor diesem Gedanken.

Das Dorf kam in Reichweite, man konnte schon einzelne Häuser voneinander unterscheiden. Razu schritt weiter aus, beachtete den verdutzten Ko nicht, der mitten in der Melodie aufhörte zu pfeifen. Er wollte nur seinen unheilvollen Gedanken entfliehen.

Ko schloss wieder zu ihm auf und schwieg. Die Stille zwischen ihnen war erdrückend.

Mit jedem Schritt kamen sie ihrem sicheren Zufluchtsort näher, doch Razu war, als ob ihr Ziel sich immer weiter von ihnen entfernte. Sobald sie jedoch das Dorf endlich betraten, die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont, verwandelte sich die scheinbare Sicherheit in eine bedrohliche Falle. Das Dorf war menschenleer.

Es war grausig, denn es gab keine Anzeichen für einen Kampf oder einen Überfall. Die Häuser waren alt, jedoch noch sehr gut erhalten. Sie alle zeigten keine Spuren einer gewaltsamen Zerstörung. Es war, als ob die Einwohner einfach ihr Dorf verlassen hätten.

Razu und Ko wanderten die kurze Straße hinunter bis zum Ende des Dorfes. Auch dort fanden sie keinen Hinweis auf das, was hier geschehen war. Sie waren ratlos.

"Was machen wir jetzt?", fragte Ko nach einer Weile.

Razu zuckte mit den Schultern, er wusste es nicht.

Da erschall eine raue Stimme hinter ihnen.

"Was wollt ihr hier, Fremde?"

Sie war nicht freundlich gesinnt.

Razu drehte sich zu der Person um. Es war ein älterer Mann, noch kein Greis, der energisch auf sie zu schritt. Sein Gesicht war angespannt und seine Hände leicht zu Fäusten geballt. Razu ahnte nichts Gutes.

"Wie sind zwei Wanderer, die seit Tagen nichts mehr richtiges gegessen haben. Wir bitten um Unterkunft und eine kleine Mahlzeit", antwortete Razu.

Der Mann baute sich vor ihnen auf, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte auf sie hinab. Er war gut einen Kopf größer als Razu.

"Wir dulden keine Schmarotzer", sagte er grimmig. "Verschwindet von hier!"

Aus den Augenwinkeln sah Razu, wie sich Ko anspannte. Beruhigend legte er eine Hand auf die Schulter des Kleinen.

"Wir gehen."

Mit einem Nicken wandte Razu sich von dem Riesen ab und ging davon, Ko zerrte er dabei hinter sich her. Außer Hörweite riss sich dieser von ihm los und begann lauthals Razu anzuschnauzen.

"Was sollte das? Du hättest den Typen doch locker fertig machen können. Warum fliehst du wie ein feiges Huhn? Ich denk, du bist ein Krieger und kein Schwächling."

Seine Augen funkelten zornig.

"Vielleicht, vielleicht hätte ich ihn überwältigen können", gab Razu zu. "Aber hast du auch die Meute hinter ihm gesehen, die sich dem Dorf genähert hat?"

Ko schüttelte den Kopf.

"Obendrein wäre es nicht richtig gewesen."

Ko wollte etwas erwidern, beließ es dann aber dabei.

"Lass uns einen Schlafplatz suchen, ich bin müde", meinte Razu und marschierte weiter, Ko folgte ihm.

Abermals wunderte sich Razu, weshalb Ko sein Verhalten so sehr missbilligte. Es wäre töricht gewesen, sich gegen den Mann zu stellen und einen Kampf zu provozieren. Nicht nur angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses. Er hätte ihn besiegen können, schließlich war der Mann nur ein einfacher Bauer gewesen und kein ausgebildeter Kämpfer wie er selber, aber darauf kam es nicht an. Nur Narren prügelten sich der Prügelei wegen und er war kein Narr. Der Kampf war eine Notwendigkeit, kein Vergnügen. Ko musste das lernen, er hatte es auch lernen müssen.

Außerdem herrschte Krieg, selbst hier in dieser entlegenen Gegend spürte man dessen Wirkung. Ein Hauch, schmierig und klebrig verdunkelte die Welt, beschattete das Leben, legte sich auf die Herzen der Menschen und ließ sie erfrieren. Er hatte geglaubt, dem Krieg entfliehen zu können, doch er musste einsehen, dass dessen gierige Klauen wieder nach ihm schnappten, nach ihm zu packen versuchten. Seine Vergangenheit, seine Pflicht hatte ihn wieder eingeholt.

Und wie kam Ko auf den Gedanken, dass Razu ein Krieger war? Er hatte es ihm nie erzählt, selbst seinen richtigen Namen hatte er ihm verschwiegen.

Er bemerkte einen schwachen Lichtschein auf dem Rücken von Ko, der verdrossen ein paar Schritte vor ihm ging. Jemand folgte ihnen, so leise, dass er keine Schritte gehört hatte. Aber anscheinend wollte die Person beachtet werden, also war es kein aufgebrachter Dorfbewohner, der sie nachträglich zum Teufel prügeln wollte.

Er drehte sich um und achtete nicht weiter auf Ko. Eine Frau, soweit er die Umrisse richtig deutete, schritt auf sie zu. Sie hielt eine kleine Öllampe in der Hand, deren Schein gerade mal ausreichte, den Weg vor ihren Füßen im Halbdunkel zu belassen. Sie war schon sehr dicht herangekommen.

"Wartet", rief sie und winkte. Nun registrierte auch Ko, dass sie nicht allein waren, und kehrte um, stellte sich mürrisch abwartend neben Razu.

"Entschuldigt Nikolaus bitte, er ... nun, ihr könnt bei mir übernachten. Hier draußen erfriert ihr ja", sagte sie lächelnd als sie vor ihnen stoppte. Sie hielt ihre kleine Lampe etwas höher, so dass der Schein auf ihrer beiden Gesichter fiel. Verwunderung lag in ihren Augen, als sie das Licht wieder herunternahm, dann lächelte sie abermals.

"Du bist es wirklich", sagte sie, mit einem heimeligen Schauer in der Stimme. "Ich habe lange auf dich gewartet."
 

Wohlig warm war es in Meriyas Stube, warm und behaglich. Er hatte schon fast vergessen, wie sich Wärme anfühlte. Die Kälte hatte sich während seiner Reise in seine Knochen gefressen, sich in seine Gedanken gestohlen und seine Sinne betäubt. Wochenlang hatte sein Körper dieser falschen Göttlichkeit gehuldigt, und nun ließ sie sich nur schwer vertreiben. Aber er spürte, wie die lang entbehrte Wärme wieder in seine Glieder zurückkehrte, kribbelnd und prickelnd. Diese Hütte war eine Wohltat und Meriya eine Heilige.

Mit halb geschlossenen Lidern betrachtete er eingehend die knappe doch gemütliche Einrichtung. Es war nicht viel, ein abgetrennter Schlafraum, der von einem angegrauten Vorhang verdeckt wurde - einstmals musste er vor Farben gesprüht haben - , eine Feuerstelle, in der gerade ein halb erloschenes Feuer glomm, und der Tisch, auf dem die Reste ihres Mahles standen. An den Balken hingen überall Kräuterbündel und neben dem Herd waren auf einem Regal sorgsam alle Küchenutensilien aufgereiht. Gleich angrenzend an die Schlafstelle war eine Tür, die, wie Meriya gesagt hatte, zu ihrer kleinen Rumpelkammer führte. Anscheinend brauchte ein Mensch nicht mehr zum leben.

Razu hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, wie die einfachen Leute hausten. Er hatte auch nie eine Gelegenheit gehabt dazu. Zeit seines Lebens hatte er ihm Schloss von Meta=llicarna gelebt, umgeben von Bediensteten, weichen Betten, großen Sälen und prunkvollem Schnickschnack. Hatte reichverzierte Gewänder getragen, jedenfalls zu den Feierlichkeiten, edle Rösser geritten und den Helden gespielt. Und er hatte geglaubt, dass dies der Alltag war, das Normale, das Gewöhnliche.

Seine Reise hatte ihn etwas anderes gelehrt. Er hatte das Gefühl, sich schuldig fühlen zu müssen, doch er tat es nicht. Zu schläfrig war er, zu nebelig seine Gedanken, als dass sie ihn noch hätten malträtieren können.

Ein leises Weinen erklang hinter dem Vorhang. Meriya stand von ihrem Schemel auf, ging zu ihrer Schlafstätte, schob den Vorhang zur Seite und beugte sich zu ihrem Bett herunter. Ein kleines Bündel auf dem Arm wiegend schritt sie zurück zum Tisch und setzte sich neben Ko, der, mit dem Kopf in eine Armbeuge eingebettet auf der Tischplatte eingeschlafen war. Der Umhang war dabei halb heruntergerutscht.

"Das ist Rusie, mein Sohn", sagte Meriya. Razu konnte das stolze Glühen in ihren Augen sehen.

"Wo ist sein Vater?"

"Renren? Er ist gestorben ... im Krieg." Für einen kurzen Augenblick lag Verbitterung in ihrem Blick, dann glätteten sich ihre Züge wieder. "Aber der Krieg wird bald vorbei sein", sagte sie mit Zuversicht und blickte dabei zu Razu. "Bald."

"Wie seid ihr euch da so sicher?"

"Ich weiß", antwortete sie. "Ich weiß."

Diese Nacht schlief Razu ohne Unterbrechung, als würde ein Schutz auf der Hütte liegen.
 

Dämmerlicht durchwebte den Raum, hier und da zuckten Lichter, blinkten und blinzelten. Ein sachter Luftzug strich durch die Stille, pulsierte und atmete. Was er fühlte, war Leben, was er spürte, Lebendigkeit. Dieser Ort lebte.

Ein Hauch der Ruhe, die er ersehnte, lag hier verborgen, versteckt vor der Menschheit, unschuldig und rein. Es war angsteinflößend.

Die Ahnung von etwas so Unbeflecktem weckte in ihm den Drang zu fliehen. Es war ihm verboten hier zu sein, ihm und allen Menschen. Er hatte gesündigt, als er die Höhle, die hierher führte, betreten hatte. Er war vor den Göttern schuldig geworden, weil er es gewagt hatte, diese heilige Luft in sich einzusaugen. Er war verdammt, weil er existierte.

Die schwere Last der Menschensünde lag auf seinen Schultern und er drohte unter ihr zusammenzubrechen. Die Menschen waren so skrupellos, so unbeugsam, so selbstverliebt. Sie hatten gekämpft, geraubt und getötet, sich verraten, belogen und geschändet. Und er war einer von ihnen, hatte selbst gekämpft, selbst getötet, war Richter und Henker gewesen. Mit welchem Recht? Welches Recht stand auf der Seite der Menschen? Wie hatte es nur so weit kommen können? Weshalb dieser Krieg? Was war die Ursache? Was war die Ursache von allem?

Er wusste, dass ihm die Antwort darauf nicht gefallen würde, denn sie würde auch ihn richten und verurteilen, schuldig sprechen an der Welt.

Aber er hatte doch immer nur das Gute gewollt. Er war doch nicht das Böse, er war es doch nicht. Sollten all seine Taten hinfällig gewesen sein und nur sein Menschsein eine Bedeutung haben? Ja, es herrschte Krieg, aber er hatte ihn doch nicht verursacht, und auch nicht die Menschen, denen er begegnet war. Wie konnten sie schuldig daran sein? Wie konnte er schuldig daran sein? Wie konnte ein Kind wie der kleine Rusie schuldig am Unglück der Welt sein? Wie nur?

Es war nicht gerecht, dabei hatte er immer an Gerechtigkeit geglaubt. Er hatte nie daran gezweifelt, dass das Gute die Welt retten würde, und dass die Menschen irgendwann erlöst würden, anscheinend hatte er sich geirrt. Die Menschheit war verloren.

Mag sein, doch du bist es auch.

Und was würde es auch ändern? Er hatte seine Suche nicht beenden können, er würde wieder nach Hause gehen und seiner elenden Pflicht nachkommen, kämpfen und irgendwann sterben. Vielleicht sah er sie dann noch einmal wieder, aber das wagte er kaum zu hoffen.

Er hatte versagt, abermals.

Er wäre gefallen, in diesen unergründlichen Abgrund, diese düstere Finsternis, wenn nicht plötzlich eine Hand ihn gehalten hätte.

"Ich glaube an dich."

Es war Meriyas Stimme, weich und warm, ein schimmernder Regenbogen nach einem wütendem Gewitter.

Sie glaubte an ihn. Würde das ausreichen, damit er die Last und die Sünden tragen konnte? Der Glaube einer Frau? Wenn sie es doch nur wäre, die an ihn glaubte.

Andere Stimmen mischten sich ein, widersprachen und protestierten. Er konnte sie nicht verstehen, sie waren zu laut, zu fern, und zu viele, bis eine aus der Menge hervortrat und mit deutlicher und weithallender Stimme sprach: "Es ist euch verboten, zu helfen, Wächterin."

"Es ist mir nicht verboten, zu sprechen", erwiderte Meriya.

Wieder stieg das Gemurmel der Stimmen ins Unverständliche, und wieder sprach die eine Stimme: "Wir dulden keine weitere Einmischung."

Dann war es still und er war wieder allein mit seinen Gedanken.

Seine Gedanken, sie hatten ihn sein Leben lang begleitet und stellten sich jetzt als der wahre Feind heraus. Sie waren gefährlich, weil sie die Wahrheit erzählten. Und wer wollte schon gerne die Wahrheit hören, wenn es die Wahrheit des Versagens war? Er wollte sie verbannen, wegsperren und vergessen.

Wie leicht wäre es, alles zu vergessen, jeden Gedanken zu verdrängen und sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. War es das, was er sich wünschte?

Aber es wäre Flucht gewesen, ein weiteres Scheitern auf seinem Weg. Dies war ein Kampf, ein Krieg gegen sich selbst, den er bestreiten musste, er durfte nicht wegrennen. Er musste sich selbst besiegen, damit er gewann. Alles andere wäre Selbstbetrug.

Er füllte seinen Kopf mit Leere, verscheuchte das Unheil, wurde zu dem, wozu er geboren war, wurde zu einem Krieger. Gedanken zählten nicht mehr, wer zuviel nachdachte, starb. Und er konnte jetzt noch nicht sterben, seine Reise war noch nicht zuende, er hatte sie noch nicht gefunden.

Er spürte, wie diese abscheuliche Lebendigkeit verflog und die Schuld kleiner und kleiner ward, bis er sie schließlich mit einer Handbewegung von sich wischen konnte.

Er hatte die Prüfung überstanden, doch es blieb ein bitterer Nachgeschmack.

Seine Suche hatte ihm böse mitgespielt. Es war nicht sein Ziel gewesen, ein Krieger zu werden, seiner Pflicht treu ergeben und loyal. Sein Ziel war nicht der Kampf, sein Ziel war sie. Doch sie schien unerreichbar. Seine Suche hatte ihn hereingelegt.

Er sah sich um. Hinter ihm standen Meriya, die ihren kleinen Sohn auf den Armen trug, und Ko, der, halb in den Schatten verborgen, keine Regung zeigte, als Razu wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. Es war Razu, als wäre ihm sein Schützling in den letzten Stunden immer weiter entglitten, als würde ein Abgrund sie voneinander trennen. Er war traurig darüber.

Am Morgen waren sie zu dieser Höhle aufgebrochen, nachdem sie etwas gefrühstückt und von Meriya warme Kleidung bekommen hatten. Meriya war es auch gewesen, die sie hierher geführt hatte, ohne ihnen jedoch einen Grund zu nennen. Razu hatte sich schon gefragt, ob sie sie wieder aus dem Tal schicken würde, auf dem gleichen Weg, den sie am gestrigen Tag gekommen waren, aber kurz vor der schroffen Felswand, die das Tal an der Ostseite begrenzte, hatte Meriya eine andere Richtung eingeschlagen und war dem Lauf eines schmalen Seitenpfades gefolgt. Der wiederum hatte hinter einem großen Felsvorsprung vor einer mannshohen Höhlenöffnung geendet. Der Gang dahinter hatte sie hierhin geführt, zu diesem alten Ort, der seit Jahrzehnten keinen Menschen mehr gesehen hatte.

Meriya hatte ihm gesagt, dass seine Reise nun zu Ende wäre und dass nun endlich wieder Frieden herrschen würde. Aber er hatte nicht verstanden, sie nicht, und nicht das Leuchten in ihren Augen.

Wie sollte es Frieden geben, wenn dieser andauernde Krieg nie endete?

Er würde ihn beenden, hatte sie geantwortet und gelächelt. Razu hatte ihr nicht glauben können.

Nun stand sie vor ihm. Stolz war sie, und glücklich. Er wünschte, er könnte es verstehen.

Die eine Stimme sprach wieder, erschrocken fuhr Razu herum und blickte in das übergroße Gesicht eines alten bärtigen Mannes.

"Prinz Razu Ur Meta=llicarna, Ihr seid für würdig befunden worden. Wir, die Zehn Weisen Europas, geben Euch die Macht, den Magier Dark Schneider zu besiegen. So ist es gesagt, so wird es sein!"

Dann verschwand der Kopf wieder.

Die Erscheinung war so plötzlich gekommen, dass Razu beinahe glaubte, eine Halluzination gesehen zu haben, aber die Stimme war zu deutlich gewesen, zu eindringlich. Jedes einzelne Wort hatte sich in seinen Körper hineingeätzt, ihn gebrandmarkt und gezeichnet.

Als ihm bewusst wurde, dass das Gesicht nicht wieder erscheinen würde, wandte er sich zu den anderen und sah gerade noch, wie Ko Meriya die Kehle aufschlitzte.

Mit einem irren Grinsen im Gesicht leckte Ko sich genüsslich über die Lippen, während der leblose Körper Meriyas zu Boden fiel und das wimmernde Kind unter sich begrub. Ko lachte, kalt und verächtlich, das blutige Messer in den Händen haltend.

"Du wirst meinen Meister nicht besiegen", sagte er. Und seine Worte brannten wie Eis.
 

Es war still. Er begann die Stille zu hassen.

Das Kind in seinen Armen schlief friedlich, als wäre seine Mutter nicht gerade ermordet worden. Aber woher sollte der Kleine es auch wissen? Wie sollte er begreifen, welches Unrecht ihm widerfahren war? Er war unschuldig, nur die äußeren Umstände hatten ihn zum Opfer deklariert. Der kleine Rusie hatte keinen Fehler gemacht.

Im Gegensatz zu Razu.

Er war schuld, schuld am Tode Meriyas. Er hätte Ko nicht vertrauen dürfen, hätte Misstrauen hegen sollen, als er an diesem vergangenem Abend von dem Jungen überfallen worden war und der sich ihm am nächsten Morgen einfach angeschlossen hatte. Wieso war er nicht vorsichtig gewesen? Die Alpträume hätten eine Warnung für ihn sein müssen, vielleicht war sogar Ko für sie verantwortlich. Nächtelang war er wach gewesen, geschüttelt von Hunger und den Schrecken, die im Schlaf auf ihn gelauert hatten. Er wäre beinahe dem Wahnsinn verfallen, hätten sie dieses Dorf nicht erreicht. Warum hatte er Ko nicht als Verräter erkannt?

Weil er es nicht wollte, und nicht konnte. Seine verdammte Suche war ihm wichtiger gewesen, sie war ihm wichtiger gewesen, und Ko nur ein kleiner Bengel, der von Zuhause ausgerissen war. Kein normaler Mensch hätte Verdacht geschöpft.

Er hatte sich täuschen und betrügen lassen, er war ein Narr gewesen, deshalb war er schuld. Meriya könnte jetzt noch leben und Rusie hätte noch seine Mutter, wäre er nicht so egoistisch gewesen.

Wenigstens war sie glücklich gestorben. Es war die einzig tröstende Tatsache.

Meriya hatte geglaubt, dass er den Krieg beenden könnte, bis zu ihrem Ende hatte sie nicht daran gezweifelt. Es war ihm unbegreiflich, woher sie die Zuversicht genommen hatte. Hatte es etwas damit zu tun, dass er diesen Ort bezwungen, diese Prüfung bestanden hatte? Die Stimme hatte sie ,Wächterin' genannt. Er fragte sich, wovon.

Die Zeit rauschte dahin, sie war nicht mehr wichtig, nichts war mehr wichtig. Selbst der Krieg hatte seine Bedeutung für ihn verloren. Er konnte nicht mehr nach Hause zurück, in seine Heimat, dort, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Er hatte einmal zu oft versagt, einmal zu oft verloren, zu oft den großen Helden gespielt, der er nicht war.

Die Müdigkeit kehrte wieder und schlich sich in seine Seele hinein. Er wollte schlafen und alles vergessen, er war so müde. Noch eben hatte er gekämpft, doch jetzt schien sein Wille gebrochen. Nur Scherben waren übriggeblieben, deren scharfe Kanten ihm bei jeder Bewegung, jedem Atemzug bittere Schmerzen bereiteten.

Seine Suche war vergebens gewesen, er war gescheitert.

Du hast bekommen, was du gesucht hast, der Tod liegt vor dir.

Wollte ihn die Stimme schon wieder narren? Er hatte nicht gewollt, dass jemand starb. Das war nicht das Ziel gewesen. Er hatte sie gesucht.

"Aber ich bin der Tod."

Er schaute auf.

Umhüllt von ihrem dunklen Umhang stand sie vor ihm. Die Kapuze hatte sie abgenommen, so dass er ihr Gesicht erkennen konnte, dessen Bild ihm entschwunden war. Nun hatte er es wieder. Ihr Anblick schmerzte ihn, seltsamerweise.

"Ich hab dich gesucht", sagte er.

"Ich weiß."

"Warum zeigst du dich erst jetzt?"

Sie antwortete nicht, dabei wollte er Antworten haben, Antworten auf seine Fragen, Antworten auf seine Rätsel. Wieso sagte sie nichts? Weshalb blieb sie stumm?

Er stand auf. Hätten seine Hände das kleine Wesen in seinen Armen nicht gehalten, hätte er sie zu Fäusten geballt. So konnte er sie nur zornig anfunkeln.

"Warum sagst du nichts? Ich habe eine Antwort verdient", schnaubte er aufgebracht. "Ich bin durch das halbe Land gereist, um dich zu finden. Habe gehungert und gefroren. Habe den Wahnsinn überlebt, diese dämliche Prüfung bestanden. Und jetzt bleibst du einfach stumm? Das ist nicht gerecht!"

"Warum hast du mich gesucht?"

Warum er sie gesucht hatte? War das wichtig? Er hatte sie wiedersehen wollen, deshalb. War das nicht genug? Reichte das nicht oder gab es noch einen anderen Grund?

Kos Frage, die er unbeantwortet gelassen hatte, kam ihm wieder in den Sinn. War es Liebe?

"Ich wollte dich sehen", sagte er. "Ich will ..."

Er verstummte.

"Was willst du?"

Er wollte sie, sie allein.

"Komm mit mir."

"Ich kann nicht."

"Du meinst, du willst nicht."

"Ich kann nicht."

Was sollte das bedeuten? Sie war real, sie war wirklich. Warum konnte sie nicht mit ihm gehen? Oder log sie ihn an und wollte doch nicht.

"Ich habe eine Pflicht zu erfüllen", sagte sie.

"Dann schmeiß sie hin, deine verdammte Pflicht, vergiss sie." Er hatte es doch auch getan. "Komm mit, ich bitte dich."

"Ich kann nicht."

Sie schaute ihn an, undurchdringbar war ihr Blick, stark und stolz. Er hatte sich nach ihr gesehnt, nach diesem Augenblick in dem er sie wiedersah, aber nun lief alles verkehrt. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Es sollte anders sein, nicht so, nicht so.

"Warum?", fragte er.

"Du weißt es."

Er wusste es? Wenn er es wusste, warum fragte er dann? Wollte sie ihn hinters Licht führen? Ihn zum Narren halten? Woher sollte er es wissen?

Weil du das gleiche Schicksal teilst.

Das gleiche Schicksal? Welches Schicksal? Es gab kein Schicksal, nur Siegen oder Verlieren.

Es war so unwirklich. Er hatte das Leben aufgegeben und der Tod wollte ihn nicht. Was sollte er machen? Was war seine Aufgabe?

Er hatte eine Aufgabe gehabt, vor langer Zeit. Er hatte eine Verantwortung getragen, der er Treue geschworen hatte, aber er hatte seinen Eid gebrochen. Er konnte nicht mehr zurück und an dem Punkt weitermachen, an dem er aufgehört hatte.

Er senkte den Kopf und sein Blick fiel auf etwas goldenes an seiner rechten Hand. Es war der Ring, den ihm Geo gegeben hatte.

Geo hatte immer zu ihm gehalten, seit sie sich kannten. Er würde ihn nie verurteilen, davon war Razu überzeugt. Ihre Freundschaft ging zu tief, war zu fest, als dass irgendetwas sie zerbrechen konnte. Auf ihn konnte er zählen, so wie auch Geo immer auf ihn zählen konnte.

Wie mochte es ihm in der Zwischenzeit ergangen sein? Fühlte er sich auch so einsam, oder war es sogar schlimmer, da er auch seine Frau verloren hatte und nicht nur seinen besten Freund?

"Ich bin hier, um dich an deine Pflicht zu erinnern", sagte sie und riss ihn aus seinen Erinnerungen.

Seine Pflicht? Seine Pflicht hatte er abgegeben, er diente ihr nicht mehr.

"Sie ist nicht wichtig", erwiderte er, "nicht mehr."

"Sie sollte es aber sein", erklärte sie. "Dein Leben gehört nicht dir allein." Dabei zeigte sie auf das Bündel, das noch immer in seinen Armen lag. "Du trägst Verantwortung."

Der kleine Rusie schlief so ruhig, als könnte ihn nichts auf der Welt stören. Er kümmerte sich nicht um den Krieg, nicht um Schuld oder Unschuld, Leben oder Tod. Razus Probleme waren dem Kleinen egal, doch Razu durften die seinen nicht egal sein. Er musste sich um Rusie kümmern, schließlich war seine Mutter tot. Der Kleine brauchte ihn, er hatte doch sonst niemanden.

Razu war verantwortlich für ihn. Und er begriff, als er das kleine Kind betrachtete, dass er auch für die Menschen in seinem Land und darüber hinaus verantwortlich war.

Er war als Prinz geboren, als Prinz erzogen worden. Alle hatten von ihm erwartet, dass er eines Tages die Krone und die Regierung übernehmen würde. Keiner hatte ihn jemals gefragt, ob er das überhaupt wollte, keiner hatte ihn nach seinen eigenen Wünschen gefragt. Immer hatte er gehorchen und funktionieren müssen. Dabei hatte ihn die Last des Ideals, das von ihm erwartet wurde und dem er Zeit seines Lebens nachgeeifert hatte, Jahr für Jahr nieder gedrückt, hatte ihn erdrückt. Seine eigene Person hatte ihm die Luft zum Atmen genommen. Im Spiegel war er sich fremd geworden.

Nun aber konnte er alles aus einer anderen Perspektive sehen.

Er war als Prinz geboren, und damit trug er seit seiner Geburt die Verantwortung für sein Volk. Es war nicht gerecht, aber das spielte keine Rolle. Gerechtigkeit war ein Prinzip der Menschen, also mussten sie auch dafür sorgen, dass es eingehalten wurde.

Nicht seiner Krone, sondern den Menschen in seinem Land war er verpflichtet.

Er verstand, endlich verstand er. Er hatte es fast vergessen.

Er sah auf.

"Werde ich dich wiedersehen?"

"Vielleicht."

"Und was passiert jetzt?"

"Das hängt ganz allein von dir ab."

Er glaubte zu wissen, dass er sie nicht wiedersehen würde, und war traurig darüber. Aber diesmal würde er sich nicht vor seiner Verantwortung drücken. Er würde den Krieg beenden und den Schrecken ein Ende setzen. Der Krieg hatte schon viel zu lange gewütet, die Menschen hatten Frieden verdient.

Es war seine Pflicht. Und seine eigene Entscheidung.
 

Sie war der Tod. Sie war das Ende.

Die Menschen fürchteten sie, versuchten sie zu überlisten und betrogen die Welt um das ewige Leben. Aber die Ewigkeit gab es für sie nicht. Die Menschen starben.

Dies war ihre Pflicht.

Einst war auch sie ein Mensch gewesen, aber diese Zeit lag schon lange zurück. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie hatte vergessen, Mensch zu sein.

Dafür hatte sie gelernt, Menschen zu verabscheuen. Sie hatte nur die schlechten Seiten an ihnen gesehen, immer nur deren Arroganz und Blindheit. Sie hatte das Wissen um deren Grund zum Leben verloren.

Doch nun hatte sie einen Menschen getroffen, den sie nicht verachten konnte. Er war nichts besonderes, er war genauso arrogant und blind wie die anderen, aber er hatte sie gesucht und gefunden.

Und er hatte verstanden.

Vielleicht würde sie nun die Menschen verstehen.
 

Ende.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2004-02-11T16:39:50+00:00 11.02.2004 17:39
hi guru-glef

nun, das mit den wenigen Dialogen ist halt so: ich kann keine langen Dialoge schreiben^_^
zu 1: Das ist mein Stil. Ich finde einfach, das sieht schöner aus, wenn die Sätze nur mit einem Kommata verbunden sind. Außerdem entsteht dann eine direktere Verbindung zwischen den beiden Sätzen.
zu 2:ich kann keine "Action" beschreiben -_- deshalb ist der Kampf vielleicht ein bißchen kurz geraten.
Aber warum ist der so wichtig für Razus Entwicklung? (Is mir gar nicht eingefallen, die mussten nur irgendwie aus dem Palast verschwinden *g*)
zu 3: Kann sein, hab noch nie gekämpft ^_^
und das mit der Breitseite: Stimmt ^^
zu 4:Der will doch nicht auffallen, der reist sozusagen inkognito^^ (hört sich nicht gerade logisch an Mist -_-, ich überleg noch mal...)
Von: abgemeldet
2004-02-11T16:21:31+00:00 11.02.2004 17:21
Kann mich Thorti nur anschließen. Wenn man deine Story gelesen hat, kann man nachvollziehen, was damals die Gralsritter auf ihre Suche getrieben haben mag.

Auch wenn ich normalerweise Geschichten, die mehr Dialog beinhalten, bevorzuge, hat mir deine FF sehr gut gefallen. Trotzdem gibt es ein paar Dinge, zu denen ich mich kritisch äußern möchte:
1.: Häufig verbindest du Sätze über Kommata miteinander, die getrennt besser klingen würden (zB: "Sein Tag fing früh an, keiner der anderen stand bei Sonnenaufgang auf."; besser klingt meiner Meinung nach: Sein Tag fing früh an. Keiner der anderen stand bei Sonnenaufgang auf.).
2.: Der Kampf bei dem Hinterhalt im Wald sollte etwas ausführlicher beschrieben werden, da er für Razus spätere Entwicklung ja sehr wichtig ist.
3.: Dieser Kampf enthält einige logische Fehler. ZB, als du schreibst, Razu würde seinen Gegner mit der Breitseite seines Schwertes schlagen. Kein ausgebildeter Krieger benutzt ein Schwert wie einen Knüppel, zumal ein Treffer mit der Breitseite nicht annähernd die Wirkung eines Treffers mit der Schneide erreicht.
4.: Nachdem Razu seine Heimat verlassen hat, besitzt er zur Selbstverteidigung nur einen Dolch. Warum hat er (ausgebildeter Krieger, Sohn des Königs) kein Schwert mitnehmen dürfen - zumal sein Vater seine Entscheidung ja gebilligt hat?
Von: abgemeldet
2004-02-07T08:26:49+00:00 07.02.2004 09:26
ERSTER!!! ^^ *froi*

Also, auch wenn ich von Bastard praktisch null Ahnung habe, kann ich wenig mehr sagen als... WOW!!!! ^_^

Obwohl - oder gerade weil - sehr introspektiv geschrieben, hast du die Emotionen und den Gefühlskonflikt von Razu sehr gut ausgearbeitet. Sehr gute Arbeit. Wirklich beeindruckend und ergreifend.


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