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Burning Flames in a Storm

von

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Prolog

Es gibt Augenblicke in unserem Leben, in denen Zeit und Raum tiefer werden und das Gefühl des Daseins sich unendlich ausdehnt.

 

(Charles-Pierre Baudelaire)

 

 

Prolog

 

 

 Hamburg 1890

 

 

Die dichten Nebelschwaden, die sich um die Stadt Hamburg gelegt hatten, wurden von dem warmen Licht der aufgehenden Wintersonne allmählich durchbrochen. Levi zog an seiner Zigarette und ließ seinen Blick über die Elbe schweifen. Die zarten Sonnenstrahlen glitzerten und tanzten auf der Wasseroberfläche, während unzählige kreischende Möwen über ihn hinwegflogen.

Mit ausdrucksloser Miene blieb sein Stahlgrau an der Silhouette eines mächtigen Dampfers hängen, welcher sich wie ein gewaltiges Monster über das Wasser durch den Nebel hindurch schob und auf den Hafen zusteuerte. Die Wellen rauschten, sein Atem stockte unwillkürlich. Dieses Bild trug etwas Vertrautes in sich. Etwas, wonach er sich manchmal sehnte, wenn er mit seinen Gedanken alleine war. Seltsamerweise erinnerte es ihn an Duisburg.

 

In seiner Kindheit war er oft in den frühen Morgenstunden mit seiner Mutter Kuchel am Duisburger Hafen gewesen. Voller Neugier hatte er die riesigen Frachtschiffe auf dem Wasser beobachtet. Es waren wenige Stunden der Unbeschwertheit, die er an manchen Tagen gemeinsam mit seiner Mutter erleben durfte.

Inzwischen kam ihm diese Erinnerung wie ein anderes Leben vor. Ein Leben, welches er längst hinter sich gelassen hatte…

Ungeplant wurde das Gängeviertel in Hamburg sein zu Hause. Er war weit weg von Duisburg. Und weit weg von ihr.

Auf einmal überfiel eine Gänsehaut seinen Körper. Ein Schmerz durchzuckte sein Inneres und fraß sich wie Gift durch seine Eingeweide. Das Gefühl, in ein dunkles Loch zu stürzen, welches er gekonnt verdrängte, sobald es ihn zu erdrücken versuchte, flammte in ihm auf. Der Schmerz wandelte sich in ein pochendes Gefühl. Es tat so weh, dass er einen Moment nicht atmen konnte. Am liebsten hätte er seine Fäuste geballt und irgendetwas zerschlagen.

Verärgert darüber, dass er es zugelassen hatte, an sie zu denken, schnippte er den Zigarettenstummel aus der Hand und wendete seinen Blick von dem Dampfer ab. Der kalte Wind jaulte ihm durch das Haar, begleitet von einem leichten Nieselregen. Auf den roten Dächern Hamburgs schimmerten vereinzelte Reste von Schnee. Es dauerte nicht mehr lange, bis er gänzlich weggeschmolzen sein würde.

 

Mürrisch trottete er an der Kaimauer entlang. Der Boden glich einer Schlammwüste. Fette, tote Ratten lagen verstreut neben und in den Rinnsalen. Es herrschte bereits seit der Morgendämmerung rege Betriebsamkeit. Arbeiter waren mit schweren Säcken vollbepackt und verluden diese auf die Karren. Lastkähne schoben sich dicht aneinander vorbei. Ohrenbetäubendes Klopfen und Hämmern dröhnte aus den umliegenden Werfthallen. Der faulige Gestank, der von den Fleeten emporstieg, füllte die kalte Luft.

Hamburg das Tor zur Welt, wie es ihm Furlan einst erklärt hatte. Für Levi war es ein weiteres Rattenloch, in dem er gezwungenermaßen hauste. Wer unten geboren war, der blieb unten, wie er traurigerweise feststellen musste. Mehrere viel zu dürre, schmutzige Kinder rannten an ihm vorbei. Ihre Kleidungen waren zerlumpt und dem frostigen Winter nicht angepasst. Sie hatten rote Näschen, bleiche Gesichter und krümmten sich vor Husten. Ein weiteres alltägliches Bild.

 

Das Gängeviertel war schlimmer als alles, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte. Manche Gassen waren so dunkel und schmal, dass er kaum hindurchpasste. Es war ein finsteres Labyrinth ohne Anfang und Ende. Das Elend und die Not waren groß, aber niemanden interessierte es. In diesem verdammten Elend saß er fest, denn er konnte nie wieder zurück nach Duisburg. Nie wieder, das klang hart und endgültig. Und das war es auch. Sein Magen zog sich schmerzlich wie ein Knoten zusammen, als er an seine kleine Halbschwester dachte. Würde er sie je wieder sehen? Er schnaubte bitter. Vielleicht würde sie ihn irgendwann suchen. Aber würde sie ihm verzeihen, dass er sie im Stich gelassen hatte?

Er hasste sich abgrundtief. So sehr, dass er manchmal in den dunkelsten Stunden mit dem Gedanken spielte, sein jämmerliches Dasein ein Ende zu bereiten. Sie sollte ihn hassen. Es war besser, dass seine kleine Schwester nichts mehr von ihm wissen wollte. Etwas anderes hatte er nicht verdient…

 

Betrübt steckte er seine eisigen Hände in seine Hosentaschen, während ihm der Wind ins Gesicht peitschte. In Gedanken versunken drängte er sich zwischen den Menschenmassen hindurch, die gerade von Bord gegangen waren. Hufengeklapper der vorbeiziehenden Droschken vermischten sich mit Kindergeschrei. Vornehme Damen in hochwertigen bunten Kleidern flanierten gemeinsam mit ihren Gatten an ihm vorbei, während auf der anderen Seite verhärmte Mägde riesige Wäschesäcke auf ihren Rücken schleppten. Levi sah auf den ersten Blick, dass sie krank waren, die Augen leer und glasig. Wahrscheinlich sah er nicht anders aus.

 

Plötzlich gefror jeder Zentimeter seines Körpers, als er eine sanfte Stimme hinter seinem Rücken vernahm, die ihm derart vertraut schien, dass er das Gefühl bekam, sein hämmerndes Herz würde in tausend Teile zerspringen.

»Wären Sie so nett, sich um…«, drangen die Worte der Frau in sein Gehör, bevor sie mitten im Satz mit zittriger Stimme unterbrach. Sie musste mit einem der Schiffsleute gesprochen haben.

Er war sich nicht sicher, ob er sich in der Wirklichkeit befand oder träumte. Die Luft blieb stehen. Alles verschwamm um ihn herum. Seine Brust verengte sich. Diese Stimme …das konnte nicht sein …er musste träumen.

Er sollte weiter gehen, dem drängenden Impuls, sich umzudrehen, widerstehen. Es war unmöglich. Sie war in Duisburg. Seine Kehle war mit einem Schlag staubtrocken.

 

Er war unfähig, sich nur einen Millimeter zu bewegen und doch waren seine Sinne geschärft. Er hörte das Klackern ihrer Schuhe. Das Rascheln ihres Kleides. Sie näherte sich ihm. Ihre Schritte klangen anders als sonst. Vorsichtig und ängstlich. Sein Puls raste und sackte einen Atemzug später zusammen. Das Klackern verstummte abrupt. Sie musste dicht hinter ihm sein. Er spürte ihren warmen Körper. Ein vertrauter Duft umhüllte ihn. Es roch nach Pfirsich und Vanille …und nach ihr.

Für einen kurzen Moment schloss er seine Lider und sog den Geruch tief ein.

 

Es ist nur ein Traum, dachte er. Schließlich träumte er jede Nacht von ihr.

 

Gleich würde er aufwachen. Allein. Ohne sie - wie die letzten zwei Jahre zuvor auch…

 

 

 

 

 

 

 

 

Teil 1
 

Kapitel 1

 

Drei Jahre zuvor
 

Duisburg, 16. Mai 1887
 

Isabella presste verkrampft ihre Kiefer aufeinander und hielt die Luft an. Sie hatte soeben das Gefühl, als würden ihre Eingeweide zerquetscht werden, weshalb sie ihre Finger in den Holzbalken, an dem sie sich stützte, krallte.
 

»Wir haben es gleich geschafft, gnädiges Fräulein«, stammelte Petra nervös, während sie die Schnüre des blauen Korsetts feste zusammenzog. Oh, wie sie es hasste, mit den Worten »gnädiges Fräulein« angesprochen zu werden. Aber egal wie oft sie den Dienstmädchen erklärte, dies zu unterlassen, sie sprachen sie immer wieder mit dieser Bezeichnung an.
 

»Schneller Petra, ich bin viel zu spät dran«, keuchte Isabella mit einem Hauch der Verzweiflung in ihrer Stimme, fuhr sich unterdessen mit gequälter Miene durch das nussbraune Haar. Indes schweiften ihre blauen Augen zu der breiten Fensterfront nach draußen. Ihr imposantes Schlafgemach bot einen wundervollen Ausblick in den riesigen, blühenden Garten. Aber diesen konnte sie unter dem gewaltigen Zeitdruck nicht genießen.
 

Es war ein herrlich sonniger Tag und nicht nur das; ihre Familie – eine sehr angesehene Unternehmerfamilie der Oberschicht – präsentierte am heutigen Tage die Erbauung des mächtigsten Stahlwerkes des gesamten deutschen Kaiserreichs. Es war ganz und gar ein wichtiges Ereignis für die Familie Smith. Viele hochrangige Geschäftsleute, der Bürgermeister und sogar die Presse würden vor Ort sein. Isabella durfte bei solch einem wichtigen Anlass nicht fehlen, geschweige denn zu spät kommen. Sie sah in ihrem Inneren schon das enttäuschte Gesicht ihres Vaters und die brodelnde Wut dahinter, wenn sie es nur wagte, verspätet zu erscheinen.
 

Isabellas zierlicher Körper zuckte zusammen, als Petra endlich die letzten Schnüre zusammenzog und verknotete. Mit zusammengekniffenen Lidern versuchte sie einen schmerzenden Laut zu unterdrücken. »Ist die Kutsche schon startbereit, Petra?«, fragte sie angespannt und wandte sich zu ihr um. Petra biss sich auf die Unterlippe. »Ähm, ich bin mir nicht sicher, gnädiges Fräulein.« Jetzt hatte sie aber genug von diesem bescheuerten »gnädigen-Fräulein-Getue«. Genervt rollte sie mit den Augen. »Wann verstehst du endlich, dass du mich bei meinem Namen nennen sollst, Petra?«, zischte sie gereizt.

Sofort bemerkte sie, dass das letzte bisschen Farbe aus Petras eh schon blassem Gesicht wich und sie beschämt zu Boden blickte. »Verzeihung.«
 

In diesem Moment tat es Isabella viel mehr leid. Sie wusste schließlich, dass es den Hausmädchen im Verein für Hauswirtschaft so beigebracht und erwartet wurde. Sie legte sanft ihre Hand auf Petras Schulter. »Ach, vergiss, was ich gesagt habe. Ich danke dir!«

Erleichterung strich über Petras verkrampfte Züge. Was bläute man den jungen Mädchen in diesem Hauswirtschaftsverein eigentlich alles ein?
 

Isabella hatte sich in der Vergangenheit nie Gedanken über die Dienstmädchen gemacht. Es war für die Oberschicht selbstverständlich, Bedienstete zu haben. Aber seit Petra bei ihr war, kreisten ihre Gedanken um dieses Thema. Petra und sie waren im selben Alter. Und während Isabella ein behütetes Leben in diesem imposanten Anwesen voller Unbekümmertheit führte, musste Petra schwer schuften und das rund um die Uhr. Natürlich wurde sie für ihre Dienste entlohnt, bekam einen Schlafplatz und genügend zu Essen – aber sie war ebenso eine junge Frau. Diese Tatsache stimmte Isabella das erste Mal in ihrem Leben nachdenklich. Nicht, dass sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Mitnichten. Frauen hatten in Deutschland keine Rechte, egal ob sie der Oberschicht angehörten oder nicht. Die Männer bestimmten über ihr Leben. Allerdings musste sich Isabella niemals Sorgen über Geld machen, geschweige denn Hunger leiden. Die meiste Zeit verbrachte sie auf der Veranda mit ihren unzähligen Romanen, die sie verschlang. Bücher und Dichtungen waren ihre größte Leidenschaft. Wobei ihre Eltern ein scharfes Auge darauf hatten, was ihre Tochter zu lesen bekam, was Isabella, je älter sie wurde, zunehmend missfiel. Ihr Vater hatte immer das letzte Wort und dem galt es unter keinen Umständen zu widersprechen. Selbst ihre Mutter hütete sich, gegen ihren Ehemann das Wort zu erheben. Isabella hatte noch nie mitbekommen, dass sie den Ansichten ihres Gatten etwas entgegenzusetzen hatte. Wieso sollte sie auch? Schließlich wusste der Mann am besten, was richtig oder falsch zu sein schien. Nun, so sicher war sich Isabella tatsächlich nicht, wobei sie sich nie intensiv mit dieser Frage beschäftigt hatte. Das ihr Vater als Oberhaupt der Familie jegliche Entscheidungen traf, war üblich und sie kannte es nicht anders. Also warum darüber grübeln?
 

Geschwind verhalf ihr Petra, das cremefarbene Kleid aus Spitze mit den elegant eingearbeiteten Verzierungen überzuziehen. Gleich darauf eilte sie zu ihrer Holzkommode, griff nach ihren elfenbeinfarbigen Handschuhen und ihrem knallig roten Hut, der mit mehreren bunten Rosen verziert war. Bevor sie sich diesen auf den Kopf setzte, warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel auf ihrem Frisiertisch, der sich neben dem Bett befand. Kurzerhand überlegte sie, ob sie etwas Puder auftragen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Die Zeit saß ihr im Nacken. Isabella hätte natürlich gemeinsam mit ihren Eltern zur Stahlfabrik aufbrechen können. Doch die Vorbereitungen und das Gerede über die Stahlproduktion langweilte sie, weshalb sie ihrer Familie hoch und heilig versprochen hatte, mit einer Kutsche nachzukommen. Allerdings war sie den ganzen Vormittag über so sehr in einem ihrer Romane vertieft gewesen, dass sie die Zeit um sich herum komplett vergessen hatte. Jetzt steckte sie im Schlamassel, den sie sich selbst eingebrockt hatte. Nicht mal ihre Haare waren zu einer anständigen Frisur hergerichtet. Ein Desaster. Sie hörte schon förmlich das Getuschel der anderen Damen hinter vorgehaltener Hand. Nun war es nicht mehr zu ändern.
 

Sie raffte ihre Röcke und stürmte aus dem Zimmer in den Flur hinaus. Zügig rannte sie die Treppe hinunter, um über die Eingangshalle in den Innenhof zu gelangen. »Isabella Smith, in diesem Haus wird nicht gerannt!«, ermahnte die Hausdame Silvia und fixierte sie mit ihren strengen grünen Augen, wie ein Raubtier, das auf Beutezug war. Bestürzt schüttelte sie ihren Kopf.

Isabella warf ihr einen zornigen Blick zu. »Ich habe es aber eilig, Silvia!«, rief sie und legte noch einen Zahn zu. Sie wäre bestimmt um einiges flinker, wenn dieser verdammte Unterrock und das Korsett nicht derart eng anliegen würden. Die Hausdame stemmte ihre Hände auf die Hüfte und schürzte die Lippen. »Das ist ganz und gar nicht damenhaft, Fräulein!«, nuschelte sie erbost, während sie ihr folgte.
 

Im Hof angekommen sah sich Isabella hektisch nach der Kutsche um. »Wo bleibt Gunther mit der Kutsche?«, nörgelte sie und zog unterdessen einen Schmollmund wie ein trotziges Kleinkind. Ein junger Mann ritt auf einem schwarzen Pferd auf sie zu. Ungeduldig stieg er von dem Hengst ab und runzelte die Stirn. »Das Rad der Kutsche ist an einer Stelle gebrochen, gnädiges...«

Indes hob Isabella mahnend die Hand und unterbrach ihn. »Sprich es nicht aus. Ich kann es nicht mehr hören. Nenn mich gefälligst Isabella!« Ihr Gegenüber verstummte prompt und musterte sie irritiert.
 

»Gunther, haben wir denn kein Ersatzrad?«, hakte sie panisch, mit zitternder Stimme nach. Gunther schüttelte seinen Kopf. »Leider nicht. Wir bekommen erst morgen die Lieferung.« Er stoppte und kratzte sich nachdenklich den Hinterkopf. »Ich könnte eine Kutsche oder Droschke mieten. Allerdings müsste ich dazu in die Stadt reiten.«

Das konnte doch alles nur ein dummer Scherz sein. Angespannt biss sie sich auf ihre Unterlippe. Der Tag war die reinste Katastrophe und sie mittendrin. Sie brauchte schleunigst eine Lösung. Dann umformte ein verspieltes Lächeln ihre Lippen, sie sah Gunther energisch an. »Reich mir bitte die Zügel.«
 

Der Angesprochene riss entsetzt die Augen auf. »Isabella, der Hengst ist nicht für eine Dame angemessen gesattelt«, stieß er hervor, bedachte sie mit einem ungläubigen Blick.
 

»Nun, das sehe ich selbst«, erwiderte sie. »Ich werde wie ein Mann reiten!« Ungehalten zerrte sie sich keuchend den nach ihrer Meinung viel zu engen Unterrock herunter. Sie hatte das Gefühl, das Korsett schnürte ihr die Luft ab. Beschämt schaute Gunther zur Seite, auf seinen Wangen legte sich eine tiefe Röte.

»Um Himmels willen, Isabella!«, kreischte Silvia schrill und schlug sich die Hände über den Mund. »Zieh sofort diesen Rock wieder an!«
 

Als Isabella sich endlich aus dem Rock befreit hatte, atmete sie erleichtert auf. So könnte ihr Plan funktionieren. In diesem grauenvollen Unterrock konnte sie sich auch später irgendwie wieder reinzwängen oder ihn am besten einfach auslassen. Er war ihr sowieso lästig. Sie strich ihr Kleid glatt und wickelte den weißen Stoff in ihren Händen zusammen, ehe sie mit ihren schmalen Fingern die Zügel umfasste. Behutsam streichelte sie dem schwarzen Hengst über den Hals

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»Sie können doch nicht...« Gunther brach ab, während Silvia fast einen Tobsuchtsanfall bekam.
 

»Und wie ich kann«, entgegnete Isabella belustigt. Es war schon urkomisch, wie sich die beiden aufführten. Gut, sie wusste selbst, dass es Frauen nicht gestattet war, mit gespreizten Beinen auf einem Pferd zu sitzen und erst recht nicht in dieser Haltung zu reiten. Aber das hielt sie nicht im Geringsten davon ab, es trotzdem zu tun. Schließlich befand sie sich in einer Notlage. Sie würde aufpassen, sich von niemandem erwischen zu lassen. Entschlossen reckte sie das Kinn und stieg mit ihrem linken Fuß in den Steigbügel. Ihr Kleid zog sie bis über die Knie hoch und schwang sich mühevoll auf den Sattel. Abermals kam es ihr so vor, als würde ihr das Korsett die Eingeweide zu Brei quetschen.
 

»Wenn dich jemand sieht!«, brüllte Silvia verständnislos. »Du weißt, was dir dann droht. Es schickt sich nicht für eine Dame in dieser Haltung auf einem Pferd zu sitzen! Lass Gunther wenigstens den Damensattel holen!« Benommen griff sie sich an die Stirn und starrte mit weit aufgerissen Augen zu Isabellas nackten Waden. »Isabella, man sieht zu viel Haut!« Sie schien den Tränen nahe. Als ob sie gleich ersticken würde, schnappte sie nach Luft und wedelte mit ihren Händen wild vor ihrem Gesicht herum.

»Also ich finde es bequem«, meinte Isabella gelassen mit einem breiten Grinsen auf ihrem Gesicht. »Dann kommt wenigstens mal Sonne auf meine blassen Waden.« Zufrieden mit sich richtete sie ihr Blau nach vorne. »Gunther, öffne bitte geschwind das Tor! Ich muss mich beeilen, wenn ich nicht zu spät erscheinen will.« Ohne zu zögern, setzte sie den Hengst mit einem leichten Tritt in Bewegung.
 


 

Levi atmete angestrengt aus, wischte sich den Schweiß von seiner Stirn. Er brauchte zwingend eine Pause. Bereits seit vier Uhr morgens stand er auf den Beinen. Wie immer war die Arbeit in der Fabrikhalle des Stahlwerks alles andere als angenehm. Er hatte geradezu das Gefühl, als würde sich seine Haut trotz Kleidung unter der erbarmungslosen Hitze ablösen. Das Arbeiten in der Stahlfabrik war ein harter Knochenjob, die Luft in der Fabrikhalle erstickend dünn. Der stechende Schweißgeruch breitete sich wie ein nebeliger Dunst im ganzen Geschoss aus. Ebenso roch es an manchen Tagen nach verbranntem Fleisch, wenn sich einer der Arbeiter an den extrem heißen, funkensprühenden Hochöfen verletzte. Mittlerweile hatte er sich längst angewöhnt, die staubige Luft nicht allzu tief einzuatmen, da ihm die beißenden Gerüche in der Halle auf den Magen schlugen und ihm speiübel davon wurde.

Levi empfand die Arbeit als pure Ausbeute. Nicht einmal Schutzkleidung wurde ihnen zur Verfügung gestellt, obwohl es häufig zu schweren Arbeitsunfällen kam. Wie oft hatte er erleben müssen, wie einige seiner Kollegen bei lebendigem Leibe verbrannt oder durch einzelne Stahlteile zerquetscht wurden. Doch am Ende hatte es niemanden interessiert. Wer sollte sich auch für die Menschen aus der Unterschicht interessieren? Die Oberschicht betrachtete die Leute aus den Armutsvierteln bestenfalls als lästiges Ungeziefer, dass keinerlei Ansprüche erheben durfte und nur am Leben war, um deren Drecksarbeit zu verrichten.
 

Noch bevor Levi sich auf den Weg zum Hof begab, lief er in den mickrigen, schummrig beleuchteten Waschraum, um sich zumindest den widerwärtigen Dreck von seinen Händen abzuwaschen. Pechschwarzer Dreck. Überall, wo er nur hinsah. Seine Kleidung war voller Rußpartikel und Schmutz. Er legte seinen Hut auf die Anrichte, den er während der Arbeit trug, um seine Kopfhaut vor den glühenden Funken zu schützen und drehte den Wasserhahn auf. Er presste seine Kiefer aufeinander, als das kalte Nass seine überhitzten, aufgeschürften Hände berührte. Es schmerzte. Trotzdem griff er zur Handbürste und schrubbte sich eisern den Dreck runter, der wie eine zweite Haut an ihm klebte. Allein, dass es hier fließendes Wasser gab, war viel wert. In den vielen anderen Fabrikhallen, in denen er früher gearbeitet hatte, hatte er einen solchen Luxus nicht vorgefunden.

Mit einem grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht stieg er eine Treppe hinauf, um in den Hof zu gelangen. Als er die schwere Tür öffnete, stach ihm das grelle Sonnenlicht in den Augen. Es war beinahe ungewohnt, die warme Sonne auf seiner Haut zu spüren, denn an vielen Tagen bekam er diese erst gar nicht zu Gesicht. Levi schuftete von früh morgens bis spät in die Nacht hinein. Jeden Pfennig, den er verdiente, war überlebenswichtig. Er musste nicht nur sich selbst davon ernähren, sondern ebenso seine kleine Halbschwester sowie seine Mutter.
 

Tief in Gedanken versunken trottete er den Kiesweg entlang, als er von Weitem lautes Gelächter vernahm. Einige Meter entfernt von dem Stahlwerk erkannte er seinen Chef Ludwig Smith mit seinem Sohn Erwin. Die Herren standen auf einer Tribüne und waren mit edlen Jackett Anzügen bekleidet. Die seidenen Zylinder auf ihren Köpfen glänzten in dem Sonnenlicht. Direkt vor ihnen auf Holzbänken saß die feine Gesellschaft. Bei deren Anblick löste sich ein verächtlicher Laut von seinen Lippen. Mit verschränkten Armen lehnte er sich an das kalte Gemäuer und blickte mit finsterer Miene zu der Menge. Wie er diese Oberarschlöcher verabscheute. Diese Welt war alles - nur nicht gerecht. All die Arbeiter rackerten sich Tag für Tag unter menschenverachtenden Bedingungen den Arsch ab, nur damit diese reichen Wichser noch reicher wurden. Aber was erwartete er vom Leben? Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte er längst begraben. Die Realität war grausam und brutal. Und doch hatte er es nie anders kennengelernt. Er hatte nie eine behütete oder gar beschwerdefreie Kindheit erleben dürfen. Sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, da war er nicht mal geboren. Seit er zurückdenken konnte, lebte er im armutsbetroffenen Arbeiterviertel, weshalb es für ihn nicht verwunderlich war, dass er oftmals an Hunger litt. Als Kind war er ein kleines Skelett mit Haut überzogen. Seine Mutter Kuchel versuchte, als Prostituierte ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es war gefährlich und sorgte immerzu für Ärger mit der Polizei. Meistens kehrte Kuchel gegen Mittag nach Hause, übersät mit blauen Flecken und Striemen. Levi musste als Kind machtlos dabei zusehen, wie seine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst wurde.
 

Auf der anderen Seite hatte ihn dieses Leben abgehärtet. Er war nicht so leicht aus der Fassung zu kriegen, was ihm mittlerweile zugutekam. Er konnte sich überall durchsetzen. Er arbeitete seit einigen Jahren für die Familie Smith. Bevor dieses Stahlwerk erbaut wurde, war er in einer der Eisenhütten in Duisburg tätig gewesen. Zuerst als Vorarbeiter und dann irgendwann sogar als Aufseher, um zu kontrollieren, ob die Arbeiter ihren Job sachgemäß verrichteten. Die Entlohnung war zwar unter aller Sau, aber allemal besser als nichts zu haben und zu verhungern.
 

Er schloss für einen Moment seine schweren Lider, ehe er sie nach wenigen Sekunden wieder öffnete. Seine ausdruckslose Miene erstarrte, als er eine junge, zierliche Frau auf einem schwarzen Pferd erblickte. Erstaunt hob er eine Braue. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie zweifelsohne zur Oberschicht. Aber ihr Auftreten war so gar nicht schicklich, wie sie in dieser Aufmachung auf dem Pferd saß. Dabei war selbst ihm bewusst, wie steif und konservativ die Oberschicht war.

War der Frau tatsächlich klar, was sie da tat?
 

»Mut hat sie jedenfalls, das muss ich ihr lassen«, murmelte er anerkennend, während er weiterhin beobachtete, wie sie sich ihm anmutig näherte. Sie wirkte auf ihn so selbstsicher und lebendig. Und ihr Auftritt hatte durchaus etwas Anziehendes, das konnte er nicht leugnen. Wie sie da völlig ungeniert auf dem Pferd saß, als ob es ihr scheißegal war, was der Rest der Welt von ihr dachte. Seine Mundwinkel zuckten leicht in die Höhe, als sie wenige Meter entfernt von ihm ihren schwarzen tierischen Gefährten zum Stehen brachte.
 


 

Ludwig Smith blickte auf die neugierigen Gesichter der Anwesenden hinab. Er stand auf einer Tribüne vor dem riesigen Stahlwerk »Vulkania«. Sein ganzer Stolz. Und eigentlich hätte er nicht glücklicher sein können. Doch etwas drückte ihm gewaltig auf die Stimmung. Wo zum Henker war Isabella? Alle wichtigen Handelspartner inklusive der Presse waren vor Ort. Es war unabdingbar, dass die gesamte Familie anwesend war. Plötzlich vernahm er entsetztes Stöhnen von den hinteren Reihen seiner angesehenen Geschäftspartner. Einige schüttelten abschätzig ihre Köpfe, während andere wild miteinander anfingen zu tuscheln. Ludwigs Brauen zuckten unwillkürlich und er richtete seinen Blick zur Seite.
 

Indes gefror sein Gesicht zu Stein. »Hat sie jetzt etwa komplett ihren Verstand verloren?«, schimpfte er bebend vor Zorn. Unterdessen löste sich seine starre Mimik und wandelte sich zu einer finsteren Pratze. Da war sie – sie ritt völlig unbekümmert auf einem Pferd. Breitbeinig - wie ein Mann. Und als wäre das nicht anstößig genug, sah man zu seinem Entsetzen ihre nackte Haut bis zu den Knien. Ein Skandal. Er holte ein Tuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich die Schweißtropfen von seiner Stirn. Alles in seinem Inneren brodelte vor Wut. Wie konnte sie es nur wagen! Erst tauchte sie zu spät auf und dann auch noch so? Was hatte er nur falsch gemacht? Womit hatte er das verdient? Seine Gattin neben ihm wurde kreidebleich und auch Erwins Miene schien steinern, als er seine kleine Schwester sah.
 


 

Isabella schluckte schwer, als sie endlich am Stahlwerk ihres Vaters ankam. Sie hätte nie im Leben damit gerechnet, dass die Zeremonie vor dem Gebäude stattfand, sondern hinter dem Gemäuer am schönen Hafen. Sie spürte förmlich die stechenden, abwertenden Blicke der Gäste auf ihrem Körper. Es fühlte sich so an, als würde ihre Haut von tausenden Nadeln durchbohrt. Damit war sie eindeutig zu weit gegangen. Sie rückte schuldbewusst ihren Hut zurecht und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Suchend schwebten ihre Augen über die Anwesenden. Und dann entdeckte sie ihren Vater. Mitten auf der Tribüne. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Ihre Mutter daneben war bleich wie ein Gespenst, ihr Bruder Erwin schüttelte missbilligend seinen Kopf in ihre Richtung und selbst Erwins Frau wirkte, als würde sie gleich umkippen. Jetzt war es zu spät, sie konnte das Geschehene nicht mehr rückgängig machen. Sie biss sich auf die Unterlippe und stieg von ihrem Pferd ab.
 

Unerwartet blieb ihr Augenmerk an einem Mann kleben, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Sein schwarzes Haar war zu einem Undercut geschnitten, einige Strähnen fielen ihm über die Stirn. Er trug ein graues Hemd, welches er bis zu seinen Ellbogen hochgekrempelt hatte und eine dunkle Hose.
 

Ein leichtes Prickeln durchfuhr ihren Körper, als sich ihre Augen trafen. Sein Blick wirkte unglaublich hart und rau, was sie für einen kurzen Moment erschaudern aber zugleich neugierig werden ließ.
 

Energisch bewegte sie sich auf ihn zu und lächelte ihn an. »Wären Sie so nett, sich um mein Pferd zu kümmern?«

»Tch, sehe ich so aus oder was?«, erwiderte er kühl. »Ist doch schließlich dein Gaul.«

Irritiert blinzelte sie ihn an. »Dann eben nicht«, entgegnete sie verwundert, als hätte sie niemals damit gerechnet, dass jemand derart mit ihr zu sprechen wagte.
 

Mit einem verängstigten Blick schaute sie auf die Tribüne zu ihrem Vater. Sie musste sich sputen, bevor er genau denselben Tobsuchtsanfall wie Silvia bekam. Wobei wahrscheinlich war es dazu sowieso längst zu spät gewesen. Der Fremde schien ihren Unmut bemerkt zu haben, er stieß sich mit einem Fuß von der Wand ab und steuerte auf sie zu. »Geben Sie schon her«, grummelte er.
 

Überrascht wanderten ihre Iriden zu dem Schwarzhaarigen. Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie musterte ihn eingehend. Seine komplette Kleidung war von dunklem Ruß und Schmutz versehen. Und jetzt, auf den zweiten Blick wirkte er erschöpft. Dunkle Schatten vergruben sich unter seinen schmalen Augen, was ihn jedoch keineswegs weniger attraktiv aussehen ließ. Für einen Moment brannten sich seine sturmgrauen Augen in ihre. Wieder durchfuhr dieses Kribbeln ihr Inneres.

»Was ist jetzt?«, hakte er mit ruhiger Stimme nach. »Soll ich das Pferd zu den anderen bringen oder nicht?«

Sie nickte. »Das wäre überaus freundlich von Ihnen.« Sie überreichte ihm die Zügel und ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich danke Ihnen.«
 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm er die Zügel. Isabella stockte der Atem, als sie bemerkte, dass sowohl seine Hände als auch seine Arme mit einigen Brandnarben überzogen waren.
 

»Wie heißen Sie denn?«, wollte sie wissen.
 

»Das kann Ihnen doch egal sein«, zischte der Schwarzhaarige und ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich mit dem Pferd von ihr ab.
 

Unverschämter Kerl, dachte sie erzürnt. Und doch fand sie ihn unglaublich interessant. Noch nie hatte ein fremder Mann derart mit ihr gesprochen – so direkt. Die meisten Männer schmierten ihr immerzu Honig ums Maul. Zu dieser Kategorie gehörte dieser attraktive Mann wohl definitiv nicht. Allerdings hatte Isabella jetzt andere Sorgen, als sich über diesen Fremden den Kopf zu zerbrechen.

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,

diese FF schwirrte mir schon länger im Kopf herum. Das Deutsche Kaiserreich um das 19. Jahrhundert hat es mir besonders angetan. Damals gab es eine unzählige Anzahl an technologischen Errungenschaften. Doch die Industrialisierung brachte nicht nur Fortschritt, sondern auch gravierende soziale Probleme mit sich. Besonders grausam waren die miserablen Arbeitsbedingungen sowie die geringe Entlohnung in den Fabriken und die unmenschliche Unterbringung der Arbeiterschaft. Ein weiteres Problem war die schwierige Situation der Frauen; diese hatten keinerlei Rechte und waren den (Ehe-)Männern praktisch ausgeliefert.

Diese Geschichte soll einerseits den Kontrast zwischen der Oberschicht und der Arbeiterklasse zeigen. Anderseits beschäftigt sie sich mit den vielen Problemen des 19. Jahrhunderts, darunter die Arbeiter – und Frauenbewegung. Natürlich steht die Liebesgeschichte und die Gefühlswelt der Protagonisten sowie ihre Beziehungen zueinander im Vordergrund.


**Wichtige Anmerkungen**



Triggerwarnung: Da sich die Story mit den Problemen des 19. Jahrhunderts befasst, enthält sie: Antisemitismus, Ableismus, Homophobie, Gewalt, Rassismus, Kraftausdrücke und Sexismus (vor allem Hysterie).

Ich habe viel Literatur zum 19. Jahrhundert gelesen, zusätzlich haben mich folgende Werke zu dieser Geschichte inspiriert; Miriam Georg »Elbleuchten«, die Historie von Krupp, Elizabeth Gaskell »Norden und Süden«, Marina Mohr »Hysterie und Kriminalität im 19. und 20. Jahrhundert«.

Neben den Hauptcharakteren Levi und Isabella werden Erwin, Frieda, Eren, Hitch, Furlan und Hanji einen größeren Part innehaben.

Onyankopon, Marco, Gabi, Grisha, Dina, Fragon, Kuchel, Reiner, Falco, Historia, Pieck, Flocke, Rod Reiss, Ymir, Nanaba, Annie, Nifa, Auruo, Petra, Jean, Sasha, Kenny, Lynne, Moblit, Porco, Gunther, Armin, Yelena und Carly Stratmann (aus dem OVA Lost Girls) werden auch vorkommen.

Viel Freude mit der Geschichte! ♡ Komplett anzeigen

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