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Beautiful Behavior

von

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Rache

Im Schutz der Dunkelheit beobachtete Vermouth – die in Wahrheit die Schauspielerin Sharon Vineyard war – das Haus der Familie Starling. Ein Foto des Hausherren hing an ihrem Rückspiegel. Ein rotes X zierte sein Gesicht und stellte ihr aktuelles Ziel dar. Sie war wütend, schämte sich und sie hasste ihn.

Ihre Schauspielkarriere hatte Jahre zuvor begonnen. Anfangs war sie nur ein kleiner Fisch im großen Haifischbecken. Und dann trat die Organisation in ihr Leben. Eigentlich hatte sie diese nur für ihre Pläne benutzen wollen. Aber so leicht ließen sie sich nicht auf der Nase tanzen und ein Entkommen war schon lange nicht mehr möglich. Nach und nach fügte sie sich ihrem Schicksal und übernahm alle möglichen Aufträge. Aufgrund ihrer Tätigkeiten als Schauspielerin bekam sie von der Organisation einen Leibwächter zur Verfügung gestellt. Sie mochte den Mann nicht, doch er tat seine Arbeit sehr gewissenhaft. Nachdem er sie vor einem Angriff beschützte und sich eine Kugel einfing, fiel er für eine lange Zeit aus. Ihr Manager drängte auf einen zeitnahen Ersatz und so hatten sie Agent Starling – unter einem falschen Namen – angeheuert. Sie waren zwar vorsichtig und ließen ihn von oben bis unten überprüfen, konnten aber nichts finden, was auf seine Tätigkeit beim FBI schließen ließ. Starling war immer in ihrer Nähe und verbrachte mehrere Monate mit ihr. Je mehr Zeit verging, desto besser schien er zu wissen, welche Knöpfe er drücken musste, damit sie plauderte wie ein altes Waschweib. Sich die Probleme von der Seele reden, tat gut und sie fühlte sich nach langer Zeit befreit.

Doch dann wurde alles anders. Mit einem Mal fiel das gesamte Kartenhaus in sich zusammen, als sie durch Zufall die wahre Identität ihres Beschützers herausfand. Eigentlich wollte sie ihre Rache an dem Agenten alleine auskosten, doch leider musste auch die Organisation von der Wahrheit erfahren. Und diese schob die ganze Schuld auf sie. Jetzt gehörte sie zu jenem Mitgliedern, die beobachtet wurden und Rechenschaft ablegen sollten. Selbstverständlich musste sie diesen Fehler aus der Welt tilgen.

Vermouth warf einen Blick nach draußen. Der Wagen des Agenten parkte in der Einfahrt, verließ den Wagen und betrat das Haus. Bald, bald würde sie ihre Rache bekommen. Langsam öffnete Vermouth die Wagentür und stieg aus.
 

Diese Mehrfachbelastung zerrte an seinen Nerven. Er agierte seit mehreren Wochen verdeckt und hatte noch eine Familie, die ihn brauchte. Wann immer es ging, fuhr Agent Starling nach Hause und kümmerte sich um seine Frau und seine Tochter. Beide waren wichtiger als alles andere in dieser Welt. Aber sie waren auch der Grund, warum er immer noch gefährliche Aufträge annahm. Seine kleine Tochter sollte in einer friedlichen Welt aufwachsen. Eine Welt ohne Angst und Schmerzen.

Da Sharon für einige Tage in ein Wellness-Hotel wollte und ihm Zwangsurlaub aufgebrummt hatte, konnte auch er einige Tage entspannen. Sicherheitshalber hatte der Agent ihre Aussage überprüft und war froh, dass sie tatsächlich im Hotel war. So konnte er endlich nach Hause. Zum Glück hatte er eine verständnisvolle Ehefrau, die die Wichtigkeit seiner Arbeit verstand und ihm den Rücken stärkte.

Um Jodie nicht zu wecken, machte er sich auf Zehenspitzen auf den Weg in die Küche. Die Wahrscheinlichkeit, dass das kleine Mädchen trotzdem noch wach war, lag bei 50%. Jodie war schon immer ein aufgewecktes Kind und versuchte immer bis zu seiner Rückkehr wach zu bleiben. Sie hatte es bisher nur selten geschafft, gab aber nicht auf. Da kam sie eindeutig nach ihm. „Da bin ich wieder“, sagte er und drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. „Schläft Jodie schon?“

Die Amerikanerin nickte. „Sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten und ist im Wohnzimmer eingeschlafen. Ich hab sie nach oben ins Bett getragen.“

Agent Starling schmunzelte. „Dann kann ich mir morgen ja wieder was anhören.“

„Ja, darauf kannst du dich schon gefasst machen. Denk an die Gute-Nacht-Geschichte. Du hast sie ihr versprochen und sie wird dich auf dieses Versprechen festnageln.“

„Morgen schaffe ich es sicher“, entgegnete er und sah zu den Töpfen. „James kommt in etwa zwei Stunden zu einer Besprechung her. Ich muss oben noch etwas vorbereiten, danach können wir zusammen essen“, fügte er hinzu.

„Ja, ist gut.“

Agent Starling gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und ging nach oben.

Sie sah ihm nach und lächelte. Manchmal konnte man ihren Mann wie ein offenes Buch lesen. Die Frau des Agenten deckte den Küchentisch und goss den letzten Rest Orangensaft in ein Glas. Morgen früh wurde sie eine neue Packung kaufen.

Ein Knarzen aus dem Wohnzimmer ließ sie aufhorchen. Ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, begab sie sich in das angrenzende Zimmer. Das Licht flackerte. „Jodie?“

Vermouth blickte in ihr überraschtes Gesicht.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“, wollte sie wissen. „Mein Mann…“ Sie verstummte als sie die Waffe in der Hand der fremden Frau sah. Ein Schalldämpfer. Niemand wird etwas hören, schoss es ihr in den Kopf. Oh Gott…Jodie…

„Wenn du nicht willst, dass was passiert, bleibst du ruhig“, entgegnete die Schauspielerin mit der Stimme des Agenten. Sie liebte es, ihre Opfer so zu quälen. Die Stimme ihres Liebsten sollte das letzte sein, was sie hörte.

Angela erkannte die Lüge in den Augen ihres Gegenübers und sie hatte ihr Gesicht gesehen. Das hieß, sie würde die Nacht nicht überleben, außer es geschah ein Wunder. Und warum sprach die Frau mit der Stimme ihres Mannes? Sie biss sich auf die Unterlippe und ging ihre Optionen durch.

„Brav“, gab Vermouth von sich. „Und jetzt gehen wir gemeinsam nach oben.“

„Hast du das gehört, Teddy? Mama und Papa kommen gleich nach oben“, flüsterte Jodie ihrem Teddybären zu. Nachdem sie wieder wach geworden war, kletterte sie aus ihrem Bett und ging in den Flur. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern und ging nach unten. Als sie vor dem Wohnzimmer stand, lauschte sie. Jodie freute sich und nahm an, dass sie nun die versprochene Gute-Nacht-Geschichte zu hören bekam. Um nun von ihren Eltern nicht erwischt zu werden, lief Jodie ganz schnell nach oben und versteckte sich hinter dem Treppengelände. Von dort aus beobachtete sie, was sich im Erdgeschoss abspielte.

Es tut mir so leid, Jodie. Die Frau des Agenten begab sich in den Flur. Würde sie nun wirklich nach oben gehen, würde sie ihre Tochter in Gefahr bringen. Um ihre Familie zu beschützen, stolperte sie absichtlich und fiel auf den Boden. Bei ihrem Sturz hatte sie ihre Handtasche ebenfalls umgeworfen und diese unter sich versteckt. Sie musste ihren Mann irgendwie auf diese Situation aufmerksam machen. Aber reichte der Sturz schon aus?

Vermouth verdrehte die Augen. „Was soll das?“, wollte sie mit der Stimme des FBI Agenten wissen.

Wer ist das? Von ihrem Versteck hinter dem Treppengelände beobachtete Jodie was geschah.

„Ich bin gestolpert“, log Angela.

„Dann steh wieder auf.“

„Hören Sie auf mit der Stimme meines Mannes zu sprechen.“ Während sich Angela langsam aufrichtete, öffnete sie ihre Handtasche und zog ihre Waffe heraus. Selbstverständlich hatte Vermouth bemerkt, dass es eine Falle war. „Du dummes Mädchen“, entgegnete die Schauspielerin und schoss auf die Frau.

Angela sackte zusammen und die rote Flüssigkeit breitete sich aus. „Es tut…mir so leid…Jodie…“, wisperte sie leise.

Vermouth ging zu ihr und trat ihr in den Bauch. „Das hättest du nicht tun sollen.“ Sie kniete sich hin und sah zu der Waffe. „Du hättest sie wenigstens laden sollen. Lass mich raten, die Patronen hast du getrennt von der Waffe aufbewahrt. Hast du gedacht, ich würde wirklich auf diesen Trick hereinfallen?“

„Fahr…zur Hölle…“

„Heute nicht“, entgegnete Sharon. „Viel Spaß beim Sterben“, fügte sie hinzu und ging an ihr vorbei.

Die Frau des Agenten nahm ihre letzte Kraft zusammen. Langsam setzte sie sich wieder auf und zog aus ihrer Handtasche eine kleine Schatulle. Sie war mit einem Schloss gesichert, welches sie augenblicklich aufsperrte. Anschließend befüllte sie die Waffe mit den Patronen und schoss auf den Eindringling.

Der Schuss verfehlte Vermouth. Die Schauspielerin blickte sich um und lächelte. „Dummes Mädchen“, wiederholte sie und gab erneut einen Schuss ab. „Sayonara.“ Vermouth ging die Treppen nach oben und blickte sich um. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen. „Na so was“, murmelte sie leise und ging in das Zimmer.

Verängstigt hatte Jodie ihr Versteck gewechselt. Als die Schauspielerin ihr Kinderzimmer betreten hatte, lief Jodie die Treppenstufen nach unten. Sie rüttelte ihre Mutter. „Mama…Mama…mach die Augen auf“, flehte sie leise. „Mama…bitte…mach deine Augen auf. Mama…ich hab Angst…“ In ihrem zu Hause war eine Frau die die Stimme ihres Vaters nachmachen konnte und sie wusste nicht, wo ihr Vater war. „Mama…“ Jodie schluchzte.

Aber die Angesprochene rührte sich nicht.

„Jodie?“

Als das Mädchen die Stimme ihres Vaters hörte, zuckte sie zusammen. Das ist wieder diese Frau, schoss es ihr durch den Kopf. Jodie hörte Schritte. Sie wusste, dass sie sich verstecken musste. Aber sie wusste auch, dass man dieses finden würde. Wie in Trance nahm Jodie die geladene Waffe und lief ins Wohnzimmer. Sie versteckte sich hinter dem Sofa. Von ihrem Vater wusste sie, dass eine Waffe großen Schaden anrichten konnte, aber sie konnte auch ein Leben retten. Er hatte sie schon häufiger zum Schießstand mitgenommen und sie die Waffe bedienen lassen. Damals hatte sich Jodie gefreut, dass ihr Vater ihr etwas beibrachte. Aber jetzt hatte sie Angst vor dem, was sie mit der Waffe tun würde. „Bitte…sie soll weggehen…“, wisperte Jodie ihrem Teddybären zu. Sie hatte ihn kein einziges Mal aus der Hand gegeben. Das junge Mädchen zitterte am ganzen Leib.

„Jodie?“

Erneut rief die Stimme nach ihr. Jodie konnte nicht zu ordnen, ob es sich um die Frau handelte oder ob es nicht doch ihr Vater war. Wie sollte sie die Beiden nur unterscheiden? Jodie schloss die Augen und drückte ihren Teddy an sich.

Agent Starling bekam nicht mit, was sich im Erdgeschoss abspielte. Er saß im Arbeitszimmer und druckte einige Unterlagen aus. Erst als der Schuss aus der Waffe seiner Frau fiel, überkam ihn die Anspannung. Sofort läuteten alle Alarmglocken und er holte seine Dienstwaffe aus dem Safe. Er lud diese mit Patronen und verließ das Arbeitszimmer. „Jodie“, hörte er seine Stimme. Doch nicht er war es, der seine Tochter rief. Sie war in der Nähe. Sharon! Es gab nur eine Person die Stimmen imitieren konnte. Starling wusste nun, dass sie in sein Heim eingedrungen war. Er musste handeln und seine Familie beschützen. Egal was auch kommen würde, er musste Jodie in Sicherheit bringen. Mit schnellen, aber auch leisen Schritten marschierte er nach unten und suchte seine Tochter. Selbstverständlich hatte er die offene Tür des Kinderzimmers gesehen. Würde er den Raum betreten, würde er in eine Falle laufen. Da war er sich sicher. Und er wusste, dass sie nach seiner Tochter rief, um ihn herauszulocken. Würde sie Jodie in ihre Finger bekommen…daran wollte er nicht denken.

„Angela“, wisperte er leise, als er die Leiche seiner Frau fand. Er kniete sich hin und kämpfte gegen seine Tränen. Sie war seine große Liebe und er konnte sie nicht beschützen. Der Agent schloss seine Augen, sprach in Gedanken ein Gebet und stand wieder auf. Er folgte den blutverschmierten, kindlichen Fußspuren bis ins Wohnzimmer. Die ganze Zeit hoffte er, dass Jodie unverletzt war.

„Jodie? Wo bist du?“ Seine Stimme wurde leiser. „Jodie, ich bins, Daddy. Hab keine Angst. Es wird alles gut.“

Jodie zitterte. Mittlerweile hielt sie die Waffe vor sich. Ihre beiden Zeigefinger lagen auf dem Lauf und ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte nicht vorgehabt abzudrücken, aber dann kamen die Schritte näher. Langsam öffnete das Mädchen ihre Augen und als eine Silhouette vor ihr erschien, zuckte sie zusammen. Dabei löste sich ein Schuss. Ein tödlicher Schuss.

„Jo…die…“ Der Agent sackte zusammen und starrte sie mit offenen Augen an. Blut floss aus dem Loch in seiner Stirn und er fiel nach hinten. Er war augenblicklich gestorben.

Jodie weitete ihre Augen. „Papa?“, fragte sie leise. Als sie realisierte, dass es tatsächlich ihr Vater war, ließ sie die Waffe zu Boden fallen und krabbelte zu ihm. Sie zerrte an seinem Arm. „Papa…bitte…Papa…sag doch was…Papa…“, wisperte sie. Jodie rüttelte weiter an ihm. „Papa…bitte…es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.“ Immer wieder wiederholte sie diese vier Worte.

Schuld

Als Vermouth den Schuss hörte, stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Sie bekam eine Gänsehaut und wusste, dass irgendwas nicht stimmte. Etwas an ihrem Plan war schief gegangen. Doch die Schauspielerin war auf solche Situationen vorbereitet und konnte auch Improvisieren. Sie konnte sich selbst schützen, sei es nun mit einer Waffe oder durch Selbstverteidigung. Vermouth hielt ihre Waffe vor sich und verließ das Kinderzimmer. Kinder waren so eine Sache in ihrem Leben. Sie konnte sich zwar eine Familie vorstellen, wollte aber nicht, dass sie die Organisation in die Finger bekam. Wenn es ging, versuchte sie das Leben von Kindern zu verschonen und dafür zu sorgen, dass sich diese nicht in der Nähe befanden. Ging es aber nicht anders, machte sie keine Ausnahmen. Ihr schlechtes Gewissen hatte sie schon vor Jahren ganz tief in ihrem Inneren verschlossen. Und so war es vorherbestimmt, dass Jodie Starling ein Kollateralschaden werden würde. Doch sie würde es kurz und schmerzlos machen; wenigstens das hatte das Mädchen verdient.

Allerdings schien es, als wäre die ganze Situation aus dem Ruder gelaufen. Vermouth sah sich auf dem Flur um. Es war leise, eigentlich viel zu leise. Die Atmosphäre war aufgeladen, aber die Schauspielerin ließ sich nicht beirren. Sie stieg die Treppenstufen nach unten und blickte zu der Leiche von Frau Starling. Ihr Blick folgte den Blutspuren und sie konnte sich fast denken, was passiert war. Vermouth folgte den blutigen Spuren und kam im Wohnzimmer an. Sie war in schwarz gekleidet, das Haar hochgesteckt und das Gesicht durch eine schwarze Mütze verborgen. Sie erkannte sofort, dass auch Agent Starling nicht mehr am Leben war. Sie begutachtete Jodie, dann Agent Starling und dann wieder Jodie. Das Mädchen saß schluchzend auf dem Boden und hielt ein Stück vom Hemd ihres Vaters fest. Ihr Nachthemd hatte sich bereits verfärbt und sog die rote Flüssigkeit auf, die sich mittlerweile auf dem Boden verteilte. Sie schien die gesamte Situation noch nicht gänzlich verstanden zu haben, schien aber zu wissen, dass ihre Eltern nicht mehr am Leben waren. Trotzdem fand Jodie keine Kraft um aufzustehen, Hilfe zu rufen oder wegzulaufen. Sie war nun einmal ein kleines Kind – schwach und verängstigt. „Papa…“, flüsterte sie leise.

Jodie hatte nicht bemerkt, dass Vermouth das Wohnzimmer betreten hatte. Sie wusste auch nicht, dass die Schauspielerin die Situation bereits genauestens analysierte und argwöhnisch wurde. Zwar wollte Sharon mit ihrer Stimmimitation den Agenten herauslocken, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass das Mädchen ihren Vater erschießen würde. Aber so war es nun einmal mit Kindern, sie sorgten für unvorhergesehene Situation. Sofort überkam sie die Wut. Sie war um ihre Rache gebracht worden und jetzt wo Starling tot war, musste sie sehen wo sie blieb. Allerdings gab es immer noch die Akten, um die sie sich kümmern musste. Vermouth biss sich auf die Unterlippe und versuchte Ruhe zu bewahren. Niemand durfte je in Erfahrung bringen, dass ihr Plan durcheinandergebracht wurde. Aber wer sollte es schon ausplaudern? Selbst wenn sie von der Organisation beschattet wurde, es würden nie alle Details ans Licht kommen. Und letzten Endes hatte sie ihren angeblichen Fehler aus der Welt geschaffen.

Vermouth atmete tief ein, dann aus. Atemübungen machte sie bereits seit Jahren – seit sie mit der Schauspielerei angefangen hatte und neben dem Sport auch noch Yoga vollzog. Man musste sich schließlich fit halten und den Anforderungen der Filmbranche genügen. Langsam kehrte in ihr Ruhe ein. Schließlich wurde ihr klar, dass sie zwar nicht die perfekte Rache bekam, aber es hatte sich trotzdem gelohnt. Vermouth stellte sich vor wie alles abgelaufen war: Agent Starling musste die Leiche seiner Frau gefunden haben, wollte dann sein Töchterchen in Sicherheit bringen und war ihr ins Wohnzimmer gefolgt. Dort hatte das Mädchen dann ausversehen und aus Furcht ihren Vater erschossen. Sie war das Letzte was er gesehen hatte und er würde nie wissen, wie ihr Leben weiterging. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Damit konnte sie leben und sie ließ es sich nicht nehmen, eine kleine Siegestrophäe mitzunehmen. Vermouth beugte sich zu dem Agenten und nahm seine Brille an sich. In wenigen Minuten würde es vorbei sein. Sie musste nur noch die Akten vernichten, die der Agent über sie und die Organisation führte und ihre Spuren im Haus auslöschen. Es würde schnell gehen. Vermouth steckte ihre Waffe in den Bund ihrer Hose. Noch einmal blickte sie zu dem Agenten und zu Jodie. Ihre Blicke kreuzten sich. Jodie hatte aufgehört zu weinen, sah aber immer noch sehr mitgenommen aus. Vermouth blieb ruhig, sie durfte jetzt nicht panisch reagieren, sondern musste besonnen sein. Aus diesem Grund wartete sie erst einmal ab. Wer auch immer den ersten Zug machte, entschied über Sieg und Niederlage.

„Wer…wer sind Sie?“, wollte das kleine Mädchen wissen und stand langsam auf.

„Das ist ein großes Geheimnis. Ich kann es dir leider nicht verraten, aber merke dir eines: A secret makes a woman woman“.

Jodie sah zur Hand der Schauspielerin. „Das ist die Brille von meinem Daddy.“

Vermouth schaute zu ihrer Trophäe. Es war schade darum, aber scheinbar hatte sie keine andere Möglichkeit. „Oh, Entschuldige“, entgegnete sie und reichte dem Mädchen die Brille. „Nimm sie.“

Jodie nahm die Brille und hielt sie fest. In ihrer anderen Hand hielt sie noch ihren Teddy. „Was ist mit meinem Papa?“, fragte Jodie. „Ist er eingeschlafen?“ Mit einem Mal wurde ihre Stimme traurig. „Dabei hat er mir doch eine Gute-Nacht-Geschichte versprochen.“

Die Schauspielerin begriff, was mit dem Mädchen los war. Um sich selbst zu schützen, hatte sie die Wahrheit verdrängt und fokussierte sich nun auf etwas Anderes. Vermutlich glaubte sie sogar was sie sagte. „Wenn du möchtest, kannst du an seiner Seite warten.“

„Ja“, antwortete Jodie und setzte sich zu ihrem Vater.

Auch wenn sich an Vermouths Gesichtsausdruck nichts veränderte, widerte sie die Situation an. Aber welche Wahl hatte sie schon? Sollte sie das Mädchen in ihr Zimmer schicken oder aus dem Haus? So war es für alle Beteiligte am besten. „Machs gut, Kleine.“

Vermouth verließ den Raum und ging nach oben in das Arbeitszimmer. Sie verteilte im gesamten Raum Benzin und legte eine Spur in den Flur und von dort in den Keller. Anschließend machte sie sich auf den Weg nach draußen. Nachdem alles mit Benzin getränkt war, holte sie eine Packung Streichhölzer heraus. Sie zündete eines an und betrachtete die Flamme. Anschließend warf sie das Stückchen Holz auf die Benzin-Lache und sah zu, wie sich das Feuer ausbreitete. „Tut mir leid, Kleine, aber so ist es für uns alle am Besten.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen ging Vermouth zu ihrem Wagen und fuhr weg.

Jodie spielte mit ihrem Teddybären, doch schnell wurde ihr das Spiel monoton. Das junge Mädchen blickte zu ihrem Vater und stand wieder auf. Sie lief in die Küche und suchte nach dem Lieblingssaft ihres Vaters. Die Leiche ihrer Mutter im Flur sowie das Glas mit dem Saft auf dem Küchentisch realisierte sie nicht. „Papas Saft ist leer. Aber er trinkt ihn doch so gerne nach dem Aufstehen“, murmelte sie und lief zurück ins Wohnzimmer. „Papa, ich geh ganz schnell Saft kaufen“, erzählte Jodie und öffnete die Tür zur Terrasse. Immer wenn es schnell gehen musste und sie eine Abkürzung nehmen wollten, verließen sie das Haus über diesen Weg. Jodie wusste, dass sie das Haus eigentlich nicht ohne ihre Eltern verlassen durfte oder nur dann, wenn es mit ihren Eltern abgesprochen war. Aber sie machte nun eine Ausnahme, um ihm eine Freude zu machen. Außerdem kannte sie den Weg. Schon früher durfte sie alleine zum Laden und ein Päckchen Saft kaufen, allerdings ging ihr ihre Mutter meistens heimlich hinterher.

Es war bereits dunkel geworden und Jodie war kalt. Trotzdem trug sie nur ihr Nachthemd und hatte keine Schuhe an. Jener Abend hinterließ ein Trauma, welches Jodie noch nicht bewältigen konnte. Als Jodie vor dem Laden stand, stellte sie fest, dass bereits geschlossen war. Trotzdem versuchte Jodie die Türklinke herunterzudrücken und rein zu kommen. Es klappte nicht. Traurig blickte sie zu ihrem Bären. „Was mach ich denn jetzt? Ich kann Papa den Saft nicht mitbringen.“

Jodies Teddybär gab keinen Ton von sich. Das kleine Mädchen sah sich um. Sie traute sich nicht alleine weiter zu gehen. Die Strecke war sie bislang noch nicht einmal mit ihren Eltern gegangen. Außerdem begann sie sich zu fürchten. „Dann gehen wir wieder nach Hause, Teddy“, sprach sie zu diesem und machte sich langsam auf dem Weg.

Langsam spürte Jodie die Kälte und begann zu frösteln. Zum Glück war es nicht mehr so weit bis nach Hause. Als ein Wagen neben ihr anhielt, erschrak sie und drückte ihren Teddybären an sich. Das Fenster wurde heruntergekurbelt und im Wageninneren das kleine Licht angeschaltet, welches sonst nur anging, wenn man die Tür öffnete. „Jodie? Was machst du denn hier?“

Jodie erkannte James und lächelte. „Onkel James“, fing sie an. „Ich wollte Saft kaufen gehen, aber der Laden ist zu und jetzt kann mein Papa nach dem Aufstehen keinen Saft trinken.“

James war irritiert. Er wusste, dass Jodie nicht alleine raus gehen durfte – besonders nicht um diese Uhrzeit. „Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“, wollte er wissen.

Jodie schüttelte den Kopf. „Ich hab es Papa gesagt, aber er schläft im Wohnzimmer. Mama schläft auch.“ Jodie dachte nach. „Und die Frau ist auch schon gegangen.“

Der Agent wurde hellhörig. Für heute Abend war nur ein Treffen geplant und das war das mit ihm. Bei einem außerplanmäßigen Treffen wäre er informiert worden, selbst wenn es sehr spontan war. Hierfür hatten sie einen geheimen Code entwickelt, den sie in Nachrichten verwenden konnte. James entschied, dass er Jodie nicht beunruhigen wollte und lächelte. „Na komm, steig ein, ich fahr dich nach Hause.“

„Und was ist mit dem Saft? Papa trinkt ihn doch immer so gerne.“

„Ich erkläre ihm, dass der Laden geschlossen war und ihr morgen früh Saft kaufen geht, in Ordnung?“

Jodie überlegte einen Augenblick, nickte dann aber. „Ja, ist gut.“

„Warte kurz, ich stelle den Wagen so hin, dass du einsteigen kannst.“

Das Mädchen nickte. James startete den Motor und wendete. Dann entfernte er seinen Sicherheitsgurt und stieg aus. Er ging zur Beifahrerseite und öffnete diese für Jodie. Das Mädchen stieg ein und griff nach dem Sicherheitsgurt. Nachdem sie diesen zu fassen bekam, schnallte sie sich an. Der FBI Agent ging wieder zur Fahrerseite. Er stieg ein und legte den Sicherheitsgurt um sich. Erst im Inneren des Wagens bemerkte er, dass Jodies Nachthemd rot verfärbt war und sie in keinem guten Zustand war. Er schluckte, wusste aber nicht, welche Fragen er stellen konnte oder wie weit er gehen durfte. „Wir fahren jetzt nach Hause.“

Jodie nickte und hielt ihren Teddybären in der einen, die Brille ihres Vaters in der anderen Hand. „Du? Onkel James? Wacht mein Papa wieder auf?“

James schluckte erneut. Die Frage schnürte seine Kehle zu. Jodies Anblick und ihre Aussage zur fremden Frau hatten bereits dafür gesorgt, dass er eine vage Vermutung hatte. Doch jetzt war er sich nahezu sicher, dass etwas Schlimmes passiert war. Jetzt musste er nur noch die passenden Worte finden. „Was auch immer mit…deinem Vater ist…er wird dich immer lieb haben.“

„Ist das wahr?“

„Natürlich. Du bist für deine Eltern das Wichtigste auf der Welt. Sie lieben dich, immer und egal was auch passiert.“

Jodie lächelte. „Ich liebe sie auch.“

Der Agent war froh, dass sie nicht weiter nachhakte. Doch je näher er dem Haus der Familie Starling kam, desto mehr Spannung lag in der Luft. James wusste, dass irgendwas vorgefallen war. Er wusste aber nicht, ob er Jodie zum Ort des Geschehens mitnehmen konnte. Ehe er allerdings eine Entscheidung treffen konnte, bemerkte er den Tumult in der Straße. Einige Menschen standen draußen, blickten schockiert drein und tuschelten. Überall sah er Blaulicht und die Feuerwehr fuhr gerade von der anderen Straßenseite in die Einfahrt.

Jodies Augen weiteten sich, als sie ihr Elternhaus sah. Es stand in Flammen. „Mama und Papa sind noch da drin.“

„Jodie“, begann James ruhig. „Die Feuerwehr hat alles unter Kontrolle.“

„Aber Mama und Papa…“, wisperte sie. Jodie entfernte den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. Sie lief nach draußen und auf das Haus zu.

Sofort folgte James ihr und hob sie vom Boden hoch. Er drückte sie an sich. „Es wird alles wieder gut.“ Er sah sich um und hoffte, Starling und seine Frau zu sehen. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass sie nicht mehr am Leben waren.

Jodie begann wieder zu schluchzen. „Ich bin…Schuld. Mama und Papa sind…Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid…“ Sie hielt sich an James fest, zitterte und wiederholte erneut diese vier Worte. Es war das Ende ihrer Kindheit.

20 Jahre später

Der Todestag jährte sich. Seit dem unglücklichen Tag waren mehr als 20 Jahre vergangen und noch immer schmerzte der Verlust. Er war zu spät gekommen und verlor seinen besten Freund. Nur Jodie – seine kleine Tochter - überlebte, weil sie zum besagten Zeitpunkt nicht im Haus war. Aber auch sie konnte er nicht retten.

James kannte sie bereits seit sie ein Baby war. Kaum das Jodie zwei Tage alt war, hielt er sie schon in den Armen. Seitdem brachte er ihr regelmäßig Geschenke mit, brachte sie zu Bett und las ihr Gute-Nacht-Geschichten vor. Er war der perfekte Onkel und gehörte schon zur Familie. Sie kannten sich von der Ausbildung in Quantico und hatten sich für die gleiche Niederlassung in New York entschieden. Aufgrund ihres guten Verhältnisses und dem gegenseitigen Vertrauen, agierten sie schnell als Partner. Egal welcher Fall rein kam, sie teilten sich die Arbeit. Während Starling eine Familie gründete, blieb James unverheiratet und kinderlos. Er hatte Starling schon immer dafür beneidet, dass er Arbeit und Familie unter einen Hut bringen konnte. Doch er selbst wollte nicht damit leben, dass sich eine Frau in ständiger Sorge um ihn befand und in Gefahr geraten konnte. Das gleiche galt für ein potentielles Kind. Auch Starling hatte diese Angst, doch anstatt kürzer zu treten, arbeitete er aktiv weiter. Er wollte für seine Frau und Tochter eine Welt schaffen, in der die Kriminalitätsrate sehr gering war. Doch letzten Endes hatte ihm dieser Wunsch das Leben gekostet.

Das FBI ermittelte seit knapp 25 Jahren gegen die Organisation. Wann immer sie eine Spur hatten, sie ging wieder verloren. Erst mit Sharon Vineyard schienen sie wieder einen Anhaltspunkt zu haben. Beide Agenten wollten den Auftrag unbedingt übernehmen und hatten schließlich eine Münze geworfen, um zu entscheiden, wer verdeckt ermittelt und wer das Verbindungsglied zum FBI darstellte. Jetzt wünschte sich James, dass er vehement darauf bestanden hätte, die Aufgaben zu tauschen. Dann wäre alles anders – sein bester Freund würde noch leben, dessen Frau ebenfalls und Jodie wäre keine Waise geworden.

Doch die Vergangenheit konnte nicht geändert werden, egal wie sehr er es sich wünschte. Als er an jenem Abend Jodie auf der Straße vorgefunden hatte, überkam ihn bereits ein schlechtes Gefühl. Als er das Mädchen in ihrem blutgetränkten Nachthemd sah, wusste er, dass irgendwas gänzlich schief gegangen war. Trotzdem hatte ein kleiner Teil von ihm die Hoffnung nicht aufgegeben. Doch dann sah er den Aufruhr vor der Einfahrt der Familie Starling. Die Nachbarn standen schockiert auf der Straße, die Polizei evakuierte das Gebiet und regelte den Verkehr und die Feuerwehr löschte den Brand. Alles brannte lichterloh und als zwei Leichen geborgen wurden, konnte sich James vorstellen was passiert war. Und er war sich sicher, dass Jodie es auch wusste. Dennoch wartete er auf das Ergebnis der Identifikation der Leichen. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wurde der Anschlag auf die Familie Starling für die Öffentlichkeit als Unfall deklariert. Beim FBI hingegen wusste jeder, dass der Agent in Ausübung seiner Pflicht sein Leben ließ.

An jenem Tag hatte die Organisation auch Jodie zerstört. Das kleine Mädchen weinte ununterbrochen und immer wenn man versuchte sie zu den Begebenheiten zu befragen, entschuldigte sie sich. Es dauerte, bis sie eine Aussage machen konnte. Alle waren sich sicher, dass sich Jodie schuldig fühlte, überlebt zu haben. Und Jodies Aussage untermauerte diese These. Doch keiner hatte je erfahren, dass Jodie diejenige war, die ihren Vater erschossen hatte. Sie selbst hatte es verdrängt und erinnerte sich nur noch daran, dass sie eine fremde Frau im Wohnzimmer bei ihrem Vater sah. Den Rest reimten sich die Agenten zusammen und es wurde nie hinterfragt.

Doch Jodies Trauma hinterließ Spuren. Beim Anblick von Blut begann sie zu weinen und zog sich danach zurück. Bis heute fragte sich James, ob er mehr hätte tun können, um Jodie zu helfen. Sie war ein kleines Kind und seine Wohnung war alles andere als kindgerecht. Dennoch nahm er sie bei sich auf, bis das FBI eine andere Bleibe fand. Danach kam Jodie zu einem netten Paar, welches Erfahrung mit traumatisierten Pflegekindern hatte. Er glaubte, dass es das Beste für sie war, aber nun war er sich nicht mehr so sicher.

Jodie war schon immer eine gute Schülerin und vom Erbe ihrer Eltern konnte sie auch auf eine gute Universität gehen. Trotzdem hatte James Angst davor. Trotz all ihrer Probleme wollte Jodie die Täterin finden – ohne zu wissen, dass diese dem FBI wohl bekannt war. Leider konnten sie ihr nichts nachweisen, aber wenn Jodie die Wahrheit erfuhr, konnte es übel enden.

Möglicherweise würde es nie dazu kommen. Während einer Studentenfeier in den Semesterferien wollte sie einer Kommilitonin helfen und mischte sich in einen Streit ein. Ihr Streitpartner stürzte und verletzte sich schwer. Seine Eltern gaben Jodie die Schuld und zeigten sie an. Durch einen Deal der Anwälte wurde die Anklage allerdings fallen gelassen und Jodie musste Schmerzensgeld zahlen, welches von James übernommen wurde. Als die Vorlesungen wieder losgingen, war Jodie Gesprächsthema Nummer eins. Einen Monat später erhielt James einen Abschiedsbrief von ihr und Jodie tauchte unter. Das war nun drei Jahre her und egal was James auch tat, keiner konnte Jodie finden. Da kein Verbrechen vorlag, konnte ihm auch das FBI nicht helfen.

Doch er gab die Hoffnung nicht auf und war – wie jedes Jahr – sowohl an das Grab der Familie Starling als auch zu ihrem alten Haus gefahren. Da er nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte, standen seine Chancen nicht gut. Aber er wollte es trotzdem versuchen. Egal wie, er wollte mit Jodie sprechen und sie in seine Arme schließen.

Das Klingeln seines Handys holte James wieder in die Realität zurück. Er zog es aus seiner Jackeninnentasche und las die eingegangene Nachricht. Wir brauchen dich. Decker. Anschließend sah er auf das Grab der Familie und versuchte zu lächeln. Ich rette sie. Das versprech ich euch. Danach verließ er den Friedhof und fuhr ins Büro.

Dort angekommen, machte er sich sogleich auf den Weg in sein Büro, legte die Jacke ab und startete den Computer. Es waren keine zehn Minuten vergangen da stand Agent Decker bereits in seiner Tür. „Black. Konferenzraum 3.“

James runzelte die Stirn. Normalerweise gingen sie freundlich miteinander um. Durch die kurze Aufforderung in das Konferenzzimmer zu kommen, wusste der Agent, dass es dringend oder kritisch war. Oder Beides. Er griff nach seinem Notizbuch und machte sich dann auf den Weg in den Konferenzraum. Die dort versammelten Agenten kannte er – Fallon, Camel, Akai, Montgomery und Jackson – hatte aber bisher wenig mit ihnen zusammengearbeitet. Black grüßte die Männer und setzte sich. Agent Decker blieb vorne sehen und entsperrte seinen Laptop. Anschließend rief er eine Präsentation auf und zeigte diese am großen Bildschirm im Raum. „Danke, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten“, begann er ruhig. „Sie alle sind gute Agenten und haben uns in der Vergangenheit bereits einen großen Dienst erwiesen. Aus diesem Grund haben wir entschieden, Sie in eines der düsteren Geheimnisse des FBIs zu involvieren.“ Sein Blick glitt zu James. „Vor mehr als 25 Jahren sind wir auf eine Verbrecherorganisation aufmerksam geworden. Zur damaligen Zeit hatten wir noch das Glück, mit den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden anderer Länder in guter Kooperation zu stehen. Wir tauschten gegenseitig Informationen aus und halfen einander ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Wie wir mittlerweile wissen, begeht diese Organisation Verbrechen unterschiedlicher Art. Darunter illegale Geschäfte, Erpressung, Raubüberfälle und Auftragsmorde. Sie haben überall in der Welt Mitglieder und pflegen Kontakte zu den Reichen und Schönen. Neben ihren finanziellen Verbrechen stehen auch Spionage und Beseitigung von Bedrohungen auf dem Tagesordnungspunkt, auch wenn es sich dabei um ihre eigenen Leute handelt. Sie sind stets darauf bedacht, bei ihren Aktivitäten keine Spuren zu hinterlassen. Im Laufe der letzten Jahre haben wir in Erfahrung bringen können, dass sie sehr gerne mit Scharfschützen, Handfeuerwaffen, Feuer, Bomben und Gift arbeiten. Viel Aufmerksamkeit ohne aufzufallen. Viele ihrer Mitglieder tragen Decknamen, die auf alkoholischen Getränken basieren. Während der ganzen Zeit konnten wir keines ihrer Verstecke oder Treffpunkte in den Staaten ausfindig machen. Über ihre Ressourcen wissen wir auch nichts. Vor 20 Jahren fanden wir schließlich eine Spur zu ihnen und entsandten ein Agententeam.“ Decker blickte erneut zu James.

Der ältere Agent räusperte sich. „In diesem Fall sollte ich nun übernehmen. Ich gehörte zu diesem Agententeam wie auch mein Partner Agent Starling. Während er versuchte innerhalb der Organisation zu ermitteln, war ich sein Kontaktmann. Er wurde der Bodyguard von jener Person und sammelte Informationen. Da wir unser Archiv als nicht sicher empfanden und noch nicht auf elektronische Unterlagen umgestellt waren, lagerte er die Akten bei sich zu Hause. Wir planten eine Übergabe…aber…“ James brach ab. Er brauchte einen Moment um sich zu fangen. „Sie haben es herausgefunden und meinen Partner sowie seine Frau umgebracht. Nur ihre Tochter hat überlebt. Doch danach sind sie untergetaucht und wir verloren jede Spur. Alle paar Jahre gab es neue Hinweise, aber nichts, das uns weiterhalf. Dazu muss ich einwerfen, dass diese Organisation in der ganzen Welt verteilt arbeitet und wir ihren Hauptstandort auf Japan eingrenzen konnten.“

„Wieso Japan?“, wollte Montgomery wissen.

„Die Person die damals beschattet wurde, war Schauspielerin. Sie nahm damals viele Rollen in Amerika an, tauchte dann aber – wie bereits erwähnt – unter. Wir konnten sie nicht finden, aber wenn sie drehen musste, tauchte sie einfach am Drehort auf. Es gibt keine Spur, dass sie hier wohnte oder mit dem Flugzeug einreiste“, kam es von Decker. „Sie pendelte schon damals sehr oft zwischen Amerika und Japan hin und her. Außerdem hat sie dort auch eine entsprechende Fangemeinde und dreht dort ebenfalls. Deswegen sind wir uns sicher, dass dort das Hauptquartier ist. Unsere damaligen Kontakte zum MI6, BND und CSIS haben diese Annahme bestätigt.“

Agent Fallon verengte die Augen. „Wenn Sie von Schauspielerin reden, meinen Sie doch nicht etwa Sharon Vineyard?“ Mittlerweile wusste jeder auf der Welt von den schauspielerischen Fähigkeiten der Frau.

Decker nickte. „Genau die meinen wir. Wir sind uns sicher, dass sie außerhalb der Drehtage eine andere Identität annahm und deswegen nicht gefunden werden konnte. Leider gibt es keine Beweise, dass sie zu dieser Verbrecherorganisation gehört. Und solange sie sich im Ausland befindet, haben wir keine Möglichkeit gegen sie zu ermitteln. Das gleiche gilt für die Organisation.“

„Ich dachte, Agent Starling hat Akten gesammelt“, warf Agent Camel ein.

„Das stimmt“, antwortete James. „Wie ich bereits erwähnte, wurden Agent Starling und seine Frau ermordet. Aber nicht nur das, sie setzten das gesamte Haus in Brand. Die Spurensicherung konnte nichts finden, was Akten ähnelte, weder in Papierform noch auf der Festplatte. Es war alles weg. Sie sind umsonst gestorben…“

Agent Decker sah betroffen drein. „Wir haben damals nichts unversucht gelassen, um den Großteil zu rekonstruieren, doch es war vergebens.“ Er räusperte sich. „Weswegen ich Sie alle hier zusammengerufen habe: Wir haben Hinweise, dass Sharon Vineyard wieder nach New York kommt. Es wurde in den Medien groß angekündigt. Sie wird hier wieder einen Film drehen. Die Dreharbeiten gehen mindestens ein halbes Jahr. Ein Mehrteiler, der komplett abgedreht werden soll.“

James sah schockiert aus.

„Wir gehen allerdings davon aus, dass sie bereits hier ist und den Rummel um sich beobachtet. Ihre Anwesenheit könnte uns helfen, wieder gegen die Organisation zu ermitteln. Vielleicht schaffen wir es dieses Mal, sie zu Strecke zu bringen.“

Wir gehen allerdings davon aus, dass sie bereits hier ist… James gingen diese Worte nicht aus dem Kopf. War die Schauspielerin möglicherweise sogar am Grab und verhöhnte damit das FBI? „Wir müssen alles dafür tun, sie zu überführen.“

„Was ist mit dem Mädchen?“, fragte Akai.

„Was?“ James blickte den Agenten an.

„Sie sagten, dass die Tochter überlebt hat. Wurde sie damals befragt?“

„Das wurde sie. Sie weiß, dass es eine Frau war, aber nicht wer. Wir haben ihr während der Befragung ein paar Bilder von Frauen gezeigt, darunter auch von Sharon Vineyard. Sie konnte sie nicht identifizieren.“

„Verstehe“, murmelte Shuichi. „Gab es seit jenem Tag Anschläge auf das Mädchen.“

„Nun…das ist kompliziert“, antwortete James. „Es gab einige…Zufälle, aber nichts, was wir als Anschlag deklarieren würden. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sie auch eines der Ziele der Organisation darstellt.“

„Obwohl so viel Zeit vergangen ist?“, wollte Camel wissen.

„Wie ich erwähnte, eines der Ziele der Organisation ist es, Bedrohungen zu beseitigen. Vielleicht haben sie sich damals noch nicht als gefährlich eingestuft und vielleicht wollten sie ausreichend Gras über die Sache wachsen lassen. Wir wissen es nicht, müssen aber vom Schlimmsten ausgehen“, gab Decker von sich. „Ausgerechnet heute… Heute jährt sich der Todestag. Wir glauben nicht an Zufälle. Es ist, als würden sie uns verhöhnen, indem sie uns ausgerechnet heute die Rückkehr von Sharon Vineyard mitteilen.“

„Wie gehen wir jetzt weiter vor?“

„Recherche und verdeckte Ermittlungen“, entgegnete Decker. „Wir müssen wissen wann sie dreht und mit wem. Wer ihre Bodyguards sind, Stylisten, Manager und mit wem sie sich sonst trifft. Sie darf nicht dahinter kommen, das wir ihr auf den Fersen sind.“

„Wer kümmert sich um die junge Frau? Sie sollte vorerst nicht alleine draußen rumlaufen“, kam es von Akai.

James runzelte die Stirn.

„Was?“

„Sie ist vor drei Jahren verschwunden.“

„Die Organisation?“

„Nein, es gab einen Abschiedsbrief. Es war ihre Handschrift. Es sieht nicht nach einem Verbrauchen aus. Wir…ich suche nach ihr.“

„Jodie, so heißt sie, ist auch ein Punkt auf unserer Liste.“ Decker sah in die Runde. „James, du hältst dich erst einmal im Hintergrund und koordinierst die Aufgaben. Ich werde das Sprachrohr zu oben sein. Jackson und Fallon, Sie kümmern sich um die Dreharbeiten. Wenn es sein muss, geben Sie sich als Fans aus und versuchen in Erfahrung zu bringen, was dort passiert. Sie haben freie Hand. Wenn Sie feststellen, dass es Probleme gibt, ziehen Sie sich zurück. Montgomery, Sie übernehmen den Flughafen, alle Einreisemöglichkeiten und die Aktivitäten, die aus dem Ausland kommen können. Notfalls holen Sie sich Unterstützung von Akai oder einem anderen Agenten. Camel, Sie übernehmen die ganzen Hintergrundrecherche und unterstützen die anderen Kollegen. Akai, Sie versuchen Jodie ausfindig zu machen. Wir wissen, dass Sie ein paar Kontakte im Untergrund haben. Nutzen Sie sie. Mindestens einmal die Woche fertigen Sie alle einen Bericht an. Wir dürfen nicht wieder alle Ergebnisse verlieren, außerdem treffen wir uns wöchentlich zur Besprechung. Wenn Sie fern bleiben, dann nur mit gutem Grund. Also gut, wenn es keine weiteren Fragen gibt, begeben Sie sich an die Arbeit.“

James atmete tief durch. Sie hatten eine zweite Chance bekommen und würden diese nutzen.

Beginn

Shuichi Akai und Andre Camel betraten ihr gemeinsames Büro. Camel ließ sich auf seinen Platz fallen und seufzte. „Ich beneide dich. Du darfst dich bei diesem Fall eigenständig auf die Suche machen und ich führe nur Recherche durch oder unterstütze die anderen Teams.“

Das hatte allerdings auch einen Grund. Während Shuichi sehr gut darin war, eine Situation detailliert zu bewerten und auch spontan die besten Entscheidungen zu treffen, kreative Ideen hatte und sich auch bei den älteren Kollegen einen Namen machte, war Camel das komplette Gegenteil. Er brauchte länger um eine Entscheidung zu treffen, zweifelte oftmals an sich und wurde eher übersehen. Deswegen hielt er sich bei den Fällen häufig im Hintergrund und sah zu, wie immer alle anderen die Lorbeeren einheimsten. Aber das war in Ordnung. Irgendwann würde seine Zeit kommen. Irgendwann würde er nicht mehr im Schatten seiner Kollegen stehen. Und auch wenn er jetzt enttäuscht war, er würde sein Bestes geben. Der Fall war groß und ein Teil von ihm hoffte, dass er an anderer Stelle gebraucht werden würde.

Shuichi setzte sich ebenfalls und entsperrte seinen Computer. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Du bist dabei und das zählt. Wenn die anderen Teams Unterstützung brauchen, wirst du geholt. Sei dafür bereit und vernachlässige dein Training nicht. Zeig ihnen, dass du es kannst, dann werden sie dir auch alleine Fälle oder Aufgaben mit höherer Gefahrenstufe anvertrauen.“

Camel nickte. Es war beinahe so, als hätte sein Kollege seine Gedanken gelesen. „Weißt du schon wie du bei der Suche vorgehen willst?“

„Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht“, entgegnete Shuichi. Er würde zuerst die gängigsten Wege versuchen: soziale Medien, Befragung von Freunden, Nachbarn, Kommilitonen, Lehrern, Professoren, Arbeitskollegen, Ärzte und der Familie. Dann würde er Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Gefängnisse, das Leichenschauhaus und die Friedhöfe abklappern. Unter Umständen käme auch noch die Gesichtserkennung in Frage. Danach konnte er eine Stufe höher gehen und versuchen Auskunft bei Banken, Versicherungen und Ämtern zu erhalten. Kannte er ihre Hobbys, konnte er noch gezielter vorgehen. Konzerte oder andere Veranstaltungen würden dann auch auf seiner Liste stehen. Erst wenn er New York ausschließen konnte, würde er die Suche auf Flughäfen, Bahnhöfe, Häfen, andere Städte und Länder ausweiten. Allerdings war sich Akai sicher, dass Jodie immer noch irgendwo in New York und Umgebung war. Wie er aus der Besprechung wusste, wollte Jodie den Mörder ihrer Familie finden und es war ein Klischee, dass der Täter früher oder später zurück an den Tatort kam. Nur wenn sie den Täter kannte und wusste, wo sich dieser aufhielt, war ihre Abwesenheit erklärbar. Zudem musste er in Erfahrung bringen, wie es Jodie schaffte, keine Spuren zu hinterlassen und von James nicht gefunden zu werden. Um einen FBI Agenten auszutricksen, musste man einiges auf dem Kasten haben. Und wenn es nicht anders ging, würde er sowohl auf einige Kontakte zurückgreifen, als auch versuchen Jodie in die Enge zu treiben. Das ging am einfachsten, wenn er sie von mehreren Privatermittlern suchen lassen würde. „Aber zuerst muss ich mich in ihren gesamten Fall einarbeiten und die alten Akten lesen. Dann brauche ich alle Unterlagen die Black hat. Mindestens ein Gespräch mit ihm lässt sich nicht vermeiden. Aber ich bin mir sicher, dass ich sie früher oder später finden werde.“

Camel war fasziniert von so viel Selbstbewusstsein. „Glaubst du wirklich, du schaffst das, was andere nicht geschafft haben?“

Akai öffnete die interne Datenbank und tippte Jodies Namen in das Suchfeld. Augenblicklich erschienen mehrere Verweise zu Dokumenten, die sich alle im Archiv befanden. Akai schrieb die Aktencodierung auf einen Zettel und rief das elektronische Archiv auf. „Ich weiß zwar nicht, warum sie ausgerechnet mich mit der Suche beauftragt haben, aber Decker wird sich dabei etwas gedacht haben.“ Als er versuchte die Archivakten zu öffnen, erschien eine Fehlermeldung. Sie wies ihn darauf hin, dass er nicht die notwendigen Berechtigungen besaß. Shuichi prägte sich die Aktencodierung ein und stand auf.

„Viel Erfolg“, gab Camel von sich. Wie gern würde er ihm nun seine Hilfe anbieten. Doch er kannte Shuichi und wusste, dass es dafür noch zu früh war.

Akai nickte und verließ das Büro. Er ging den langen Gang entlang, beobachtete das hektische Treiben einiger Kollegen und lief die Treppe nach oben. Als er vor dem Büro von Agent Decker stand, klopfte er an. Einen Augenblick später betrat er die Räumlichkeiten. „Agent Decker?“

Decker blickte ihn an. „Agent Akai, was kann ich für Sie tun?“

„Warum ich?“

Er hatte mit dieser Frage bereits im Besprechungsraum gerechnet. „Ich weiß, Sie erwarten andere Aufgaben, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich am besten für die Suche nach Jodie Starling eignen. Als Ihr Vater verschwunden ist, haben Sie nichts unversucht gelassen, um ihn zu finden. Damals haben Sie einiges vom MI6 gelernt. Nicht zu vergessen, dass Sie zu jener Zeit erst Student waren.“

„Ich verstehe, es war meine familiäre Vorgeschichte die Sie dazu bewegt hat.“

„Nicht nur. Sie haben gewisse…Kontakte und solange es dem FBI nicht schadet, können Sie frei handeln.“

Shuichi steckte die Hände in die Jackentasche. „Um alles in meiner Macht stehende tun zu können, brauche ich die Berechtigungen für alle Akten der Familie Starling.“

„Sehen Sie die Freigabe als getätigt an.“

„Danke, Sir“, entgegnete Shuichi. „Was passiert, wenn ich sie gefunden habe?“

„Agent Akai, Sie sind von sich überzeugt, was gut ist, aber gehen Sie nicht davon aus, dass es einfach werden würde. Die Suche nach Jodie erfordert Ihre volle Aufmerksamkeit. Fehler oder Ablenkungen werden nicht toleriert.“

Das hatte sich der Agent bereits gedacht.

„Wenn Sie Jodie gefunden haben, werden Sie ihr nicht von der Seite weichen und sie beschützen. Haben Sie noch weitere Fragen?“

„Nein.“ Shuichi drehte sich um. „Sie können sich auf mich verlassen“, fügte er hinzu und ging raus. Insgeheim konnte sich der Agent in Camel hineinversetzen. Auch sein Mitwirken bestand nur aus einer Suche und Babysitten. Doch er schluckte seinen Ärger herunter und suchte das Büro von James Black auf. Bei seiner ersten Befragung musste er unvoreingenommen sein. Stellte er dann beim Lesen der Akten Ungereimtheiten fest, konnte er das nächste Gespräch suchen. Shuichi klopfte an die Tür und trat einen kurzen Moment später ein. „Agent Black?“

James blickte auf. „Agent Akai, was führt Sie zu mir?“ Er wies auf den freien Platz vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich doch.“

„Danke.“ Shuichi schloss die Tür hinter sich und kam vor. Er setzte sich und beobachtete seinen älteren Kollegen. „Bevor ich mich mit den Akten von damals vertraut mache, möchte ich die ganze Geschichte von Ihnen hören. Außerdem brauche ich ein Foto von Jodie.“

Black runzelte die Stirn. Es wäre eine Lüge zu sagen, dass er nicht damit gerechnet hatte. „Natürlich“, nickte er und holte seine Geldbörse heraus. Er öffnete ein Fach und schob ein Foto über den Tisch. „Das ist sie. Weitere Bilder sind in der offiziellen Akte zu ihrem Verschwinden.“

Shuichi nahm das Bild und betrachtete die junge Frau.

Black atmete tief durch. Jedes Mal wenn er die Geschichte erzählen musste, fiel es ihm unglaublich schwer. „Es ist schon so lange her, aber ich erinnere mich, als wäre es erst gestern. Wir haben uns in Quantico während der Ausbildung kennengelernt und wurden sehr schnell Freunde. Wir teilten uns nicht nur ein Zimmer im Wohnheim, wir wurden auch immer in die gleiche Gruppe eingeteilt und dann kamen wir auch noch in die gleiche Niederlassung in New York. Am Anfang arbeiteten wir getrennt, aber irgendwann wurden wir Partner. Dann fand er eine Frau und gründete eine Familie. So oft wie es ging, war ich bei ihnen und kümmerte mich um Jodie. Sie war ein so süßes Kind. Ich hatte Starling nahe gelegt, den aktiven Dienst zu beenden, aber er wollte nicht. Er hatte immer den Traum, eine Welt zu schaffen in der seine Familie sicher war.“ James seufzte. „Als wir den Auftrag bekamen, mussten wir sogar eine Münze werfen, um zu entscheiden wer verdeckt ermittelt und wer als Kontaktperson fungiert. Ich hab verloren…mittlerweile mehr als nur meinen besten Freund. Ich mache mir immer noch Vorwürfe, dass ich nicht darauf bestanden habe, dass ich Undercover gehe. Wir waren an jenem Abend verabredet und wollten Informationen austauschen…als ich zum Haus fuhr, sah ich Jodie auf der Straße. Sie trug ein…blutdurchtränktes Nachthemd und keine Schuhe. Das arme Mädchen fror und ich wollte sie nach Hause bringen. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern schliefen und dass…eine Frau bei ihnen zu Hause war. Ich hatte sofort gewusst, dass etwas fürchterlich schief gelaufen war. Als ich beim Haus ankam, evakuierte die Polizei schon das Gebiet und die Feuerwehr löschte den Brand. Es wurden zwei Leichen geborgen, die eindeutig als Starling und seine Frau identifiziert werden konnten. Bei der darauffolgenden Befragung hat Jodie von der Frau erzählt, wie sie mit ihr sprach und dann bei ihrem Vater – der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war – gelassen wurde. Da ihr irgendwann langweilig war, wollte sie ihrem Vater etwas zu trinken holen. Weil es keinen Saft mehr gab, war sie rausgegangen und hatte dadurch nur knapp überlebt. Jodie fühlte sich so schuldig überlebt zu haben…und wir konnten sie einfach nicht trösten“, entgegnete der Ältere. Er brauchte einen Moment um sich zu fangen. „Wir haben den Brand als Unfall in den Medien getarnt und da von zwei Leichen berichtet wurde, mussten wir Jodie in Sicherheit bringen. Am Anfang kam sie zu mir, aber Sie können sich vorstellen, dass das keine optimale Lösung war. Ein paar Wochen später kam sie zu Pflegeeltern, die sich liebevoll um sie kümmerten. Und so wurde Jodie langsam erwachsen. Wir haben ihr nie die Wahrheit gesagt, da es zu gefährlich gewesen wäre, auch wenn sich die Organisation im Hintergrund hielt und wir ihre Spur verloren.“

„Ich verstehe“, murmelte Shuichi nachdenklich. „Ist sonst noch was im Leben des Mädchens passiert, was für meine Recherche hilfreich wäre?“

Black wandte den Blick ab, sah dann aber wieder zu Akai. „Sie erzählte oft, dass sie sich beobachtet fühlte. Wir sind dem nachgegangen, aber am Ende stellte sich heraus, dass die Mitschüler und Eltern erfuhren, dass sie Waise war. Manchmal war sie für einige Stunden verschwunden und wir fanden sie vor dem alten Haus der Familie. Vor drei Jahren gab es dann einen Zwischenfall. Während einer Studienfeier wollte sie einem anderen Mädchen helfen. Ihr Streitpartner stürzte und verletzte sich schwer. Jodie wurde angezeigt und musste Schmerzensgeld zahlen. Ich dachte, es ginge ihr gut, aber kurz darauf erhielt ich einen Abschiedsbrief von ihr. Erst während meiner eigenen Recherchen fand ich heraus, dass sie wegen dem Streit gemobbt wurde. Vielleicht war das der Auslöser…ich weiß es nicht…“

„Haben Sie noch den Abschiedsbrief?“

„Ja. Eine Kopie finden Sie in der Akte zu ihrem Verschwinden. Sie bedankte sich für alles, was ich für sie getan hab und entschuldigte sich dafür, dass sie zu schwach war, um ihr Leben so weiterzuleben. Sie wolle endlich auf eigenen Füßen stehen und nicht nur als Tochter eines Agenten oder Opfer gesehen werden. Und dafür war New York nicht der richtige Ort. Außerdem wollte sie…den Täter suchen. Weil…kein Verbrechen vorlag, konnten wir nicht viel machen. Es wurde eine Suche gestartet, aber weder das FBI noch ich, haben Jodie gefunden.“

„Kann es nicht sein, dass sie zu anderen Familienmitgliedern geflüchtet ist?“

James schüttelte den Kopf. „Ihre Eltern waren beide Einzelkinder und ihre Großeltern sind noch vor ihrer Geburt gestorben.“

„Verstehe“, meinte Akai nachdenklich. „Haben Sie die Suche wiederholt?“

„Natürlich“, nickte Black. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich sie finde. Ich habe alles in meiner Macht stehende getan, Nachbarn, Mitschüler und Freunde befragt. Ich war sogar an der Uni, hab es bei ihren Ärzten versucht, der Bank…aber sie hat niemanden eingeweiht und alle Verbindungen gekappt“, entgegnete er. „Ich fahre regelmäßig zum Friedhof und zum ehemaligen Haus der Starlings, weil ich hoffe, dass sie irgendwann dort auftaucht, aber…nichts… Die einzige Erklärung warum wir sie nicht finden konnten, kann nur die sein, dass Jodie New York verlassen hat, vielleicht sogar das Land. Wir haben die Suche selbstverständlich ausgeweitet…ohne Erfolg.“

Shuichi dachte nach. „Eine Entführung durch die Organisation ist ausgeschlossen?“

James seufzte. „Nein, aber ich hoffe, dass sie nichts damit zu tun haben. Andernfalls würde ich wohl durchdrehen“, murmelte der Agent. „Ich habe die Hoffnung, dass Jodie alles aus eigenem Antrieb geplant und umgesetzt hat. Aber auch das macht mir Angst, weil…das hieße, dass sie diesen Plan schon länger verfolgt hat. Am Tag des Mordes ist mit Jodie etwas passiert, es hat sie zerstört und diese Zerstörung zieht sich durch ihr weiteres Leben.“

„Können Sie mir was zu Jodies Hobbys sagen? Oder zu anderen Aktivitäten, die sie gern gemacht hat?“

Black runzelte die Stirn. „Sie mochte Videospiele. Manchmal spielte sie die Nächte durch. Ich glaube aber, dass sie immer noch Albträume hatte. Unter Stress ist es besonders schlimm. Als Kind musste Jodie eine Therapie machen um alles zu verarbeiten. Ansonsten war sie früher oft in der Bibliothek und hat gelesen. Durch meine Arbeit habe ich nicht mehr so viel von ihr mitbekommen und irgendwann hat sie mir nicht mehr alles erzählt.“

„Ich werde mir von den Akten ein genaues Bild machen, damit ich Jodie besser einschätzen kann. Es wäre möglich, dass ich danach erneut mit Ihnen reden muss. Ansonsten werde ich mit dem gleichen Ansatz beginnen, wie Sie auch. Befragung und Recherche. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass Jodie in New York ist.“

„Was? Aber…?“

„Sie sagten es selbst. Für eine spontane Handlung war alles zu gut durchgeplant. Das heißt, sie muss hier irgendwo eine Person haben, der sie vertraut. Vermutlich wusste sie auch, dass man sie hier schnell finden würde und hat die Stadt eine Zeitlang verlassen. Vermutlich in einem Auto. Flughäfen und Bahnhöfe hätten nur dazu geführt, dass sie gefunden worden wäre. Also bleibt das als einzige Option übrig. Ich gehe davon aus, dass sie ein oder zwei Jahre in einer anderen Stadt gelebt hat, möglicherweise unter einem falschen Namen. Wenn sie davon ausgeht, dass die erste Suche nach ihr nichts gebracht hat, wartet sie, bis eine zweite Suche gestartet wird. Dann kann sie wieder zurück kehren. Und wissen Sie was das heißen kann?“

James blickte ihn irritiert an. An eine solche Möglichkeit hatte er selbst nicht gedacht.

Akai lächelte. „Es könnte sehr gut sein, dass ihre Hilfe hier beim FBI arbeitet. Das würde erklären, warum sie spontan verschwinden konnte. Momentan ist das aber nur meine Spekulation. Ich möchte trotzdem die Suche nach Jodie unter Verschluss halten und werde bei Fragen immer angeben, dass ich keine Hinweise habe und nicht weiter kommen. Falls sie noch Kontakt hätten, soll Jodie nicht vorgewarnt sein. Ich war bereits bei Agent Decker und erhalte die Freigabe für die damaligen Fälle. Falls Sie eigene Akten angelegt haben, die dem FBI nicht zugänglich sind, übergeben Sie sie mir, bitte.“

„Ich stelle Ihnen alles zusammen“, wisperte James leise.

Vergangenheit

Aus dem Gespräch mit James hatte Shuichi einige wichtige Informationen erhalten. Es hatte ihm auch klar gemacht, dass er umso strukturierter an die Sache herangehen musste. Und ganz am Anfang stand die Recherche. Er musste alles was damals passiert war, aufarbeiten. Durch das Bild, welches er nun von Jodie gewonnen hatte, wusste er, dass sie bereits viel durchmachen musste: der Verlust ihrer Eltern, das Gespräch mit ihrem Mörder, die Pflegefamilie, der Streit mit dem Kommilitonen, der Unfall und den Ärger danach. Aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass ihr Verschwinden von langer Hand geplant war. Die Frage war nur, ob es Jodies Idee war oder ob nicht doch die Organisation ihre Finger im Spiel hatte.

Als Shuichi sein Büro betrat, war Camel in seine Recherchen vertieft. Es war gut, denn momentan wollte er sich nicht mit seinem Kollegen austauschen. Akai setzte sich auf seinen Platz, legte das Foto von Jodie auf den Tisch, entsperrte den Computer und rief die Archiv-Software auf. Zuerst öffnete er die Akte von der Mordnacht vor 20 Jahren. Wie Decker versprochen hatte, hatte er nun Zugriff auf diese Akten. Shuichi lies sich die Unterlagen durch. Den Großteil kannte er bereits, da es darum in dem Meeting mit den anderen Agenten und in seiner Unterredung mit Black ging. Trotzdem irritierten ihn zwei Dinge. Das Blut auf Jodies Nachthemd konnte eindeutig ihren Eltern zugeordnet werden, aber es gab keinen Verweis darauf, dass Jodie nach genug bei ihnen war. Das und die Tatsache, dass sich das kleine Mädchen immer wieder entschuldigte, wurde vom Therapeuten, vom Arzt und von anderen Agenten auf einen Schockzustand geschoben. Und dann gab es noch das Einschussloch im Kopf des Agenten. Alles deutete darauf hin, dass Starling aus nächster Nähe und von unten erschossen wurde. Möglicherweise hatte die Schauspielerin etwas damit zu tun, aber es gab keine Hinweise, dass der Agent gefesselt war oder sich irgendwie wehren musste. Jeder vermutete, dass er mit dem Leben seiner Familie bedroht wurde und deswegen bei dem perfiden Spiel mitmachte. Dennoch hatte Shuichi das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Und letzten Endes waren Vermutungen nur Schall und Rauch. Sie waren weder Wahrheit noch Lüge.

Akai machte sich ein paar Notizen und schloss die Akte. Anschließend begann er mit der Akte von Jodies Verschwinden. Black hatte viel Zeit in die Suche von Jodie investiert. Eine Handschriftenanalyse bestätigte, dass der Abschiedsbrief von Jodie geschrieben wurde. Es gab außerdem Belege, dass sich keine versteckten Botschaften in dem Brief befanden. Sicherheitshalber hatte dies Shuichi ebenfalls überprüft. Die Agenten hatten damals nichts unversucht gelassen, um Jodie zu finden, doch die junge Frau blieb wie vom Erdboden verschwunden. Das bestätigte Akai in seiner ersten Annahme und dennoch suchte er auch noch nach anderen Hinweisen. Glücklicherweise hatte ihm James seine privaten Unterlagen zur Suche bereits geschickt. Shuichi merkte, dass sie ihm viel bedeutete. Er hatte sogar sein Privatvermögen für die Suche flüssig gemacht und tat, was er konnte. Aber auch wenn James keine Spur zu Jodie aufbauen konnte, waren seine Taten nicht vollkommen nutzlos.

Seit einigen Jahren kam Jodie regelmäßig ins Büro und versuchte Zugang zu den Akten ihres Vaters zu bekommen sowie zu der Akte von der Todesnacht. Dabei war sie mit mehreren Kollegen ins Gespräch gekommen; einige alte Hasen aber auch jene, die ihre Ausbildung gerade erst beendet hatten. Shuichi leckte sich über die Lippen. Würde an seiner Theorie, dass Jodie eine Kontaktperson beim FBI hatte, etwas wahr sein, musste er nur mit diesen Kollegen sprechen. Er notierte sich die Namen und rief einen nach dem anderen an. Sie erzählten alle das gleiche: Immer wenn Jodie nach den Akten fragte, wurde sie entweder nach Hause geschickt oder an James verwiesen. Nur einen Agenten – Roy Tripton – konnte er nicht erreichen. Agent Tripton befand sich bei einem Außeneinsatz. Aber das würde Shuichi nicht aufhalten, er würde das Gespräch einfach an einem anderen Tag führen.

Der Agent fuhr seinen Computer runter und nahm das Bild von Jodie. Er blickte noch einmal zu Camel, der nun erst seine Anwesenheit bemerkte. „Ich arbeite den Rest des Tages außerhalb.“

„Eh…ja ist gut“, murmelte Camel irritiert und blickte seinem Kollegen nach.

Shuichi ging in den Keller, wo sich das Team von der Technik ein Monopol aufgebaut hatte. Er mochte die Kollegen, den sie versuchten immer zu helfen und machten das Unmögliche möglich. Zu einigen von ihnen hatte er ein gutes Verhältnis, denn er wollte immer verstehen, was sie taten und welchen Hintergrund die Technik hatte. Akai klopfte an die Tür und trat ein. „Hey Maddie“, grüßte er die junge Agentin.

„Akai, was treibt dich hier nach unten?“, wollte sie wissen. Maddie Wilson arbeitete früher für einen großen IT-Konzern und war vor fünf Jahren zum FBI gekommen. Neben ganz normalen Fällen kümmerte sie sich um alles, wozu die anderen Agenten einen Computer brauchten. Sie sah sich Datenbanken an, baute Systeme nach und versuchte Taten am Computer zu rekonstruieren.

„Ich brauch deine Hilfe.“ Er schob das Bild von Jodie über den Tisch. „Ich suche diese junge Frau. Sie wurde vor drei Jahren erkennungsdienstlich behandelt und ist einige Monate danach verschwunden. Prüf bitte, ob sie in den letzten drei Jahren irgendwelche Probleme hatte.“ Akai verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem benötige ich eine Auswertung von der Gesichtserkennungssoftware. Ich möchte wissen, wo sie in den letzten drei Jahren gesehen wurde. Sie kann sich nicht die ganze Zeit versteckt halten. Überprüf bitte auch alle Bilder wo sie eine Mütze oder eine Maske getragen haben könnte.“

Maddie sah ihn irritiert an. „Eine Maske? Du glaubst, sie wär mit einer Maske nicht aufgefallen?“

„Es geht nicht um die Art von Maske, die du dir gerade vorstellst. In Japan ist es üblich, dass man einen Mundschutz trägt, wenn man eine Erkältung hat. Es gibt auch Prominente, die sich dadurch verstecken wollen. Auch hier habe ich schon einige Asiaten gesehen, die den Mundschutz tragen. Wenn sie es auch mal gesehen hat, könnte sie es sich zu Nutze gemacht haben.“

Die Agentin dachte nach. „Jetzt versteh ich. Ich schicke dir dann die Ergebnisse per Mail.“

„Danke. Und jetzt komm ich zu meiner komplizierteren Bitte.“ Er schmunzelte.

„Ich habs geahnt“, murmelte Maddie. „Na los, was brauchst du?“

„Wie bereits erwähnt, diese Frau ist verschwunden, wir schließen Fremdverschulden aus…“

„Ich ahne übles…“,

„…deswegen brauche ich Bilder von ihr mit einer anderen Haarfarbe, langhaarig, mit anderen Haarschnitten, ohne Brille, mit Leberflecken und Sommersprossen und alles andere, was dir einfällt. Vielleicht zauberst du ihr auch ein paar Pfunde ins Gesicht und lässt sie etwas abnehmen. Ich brauche alle möglichen Variationen“, erklärte der Agent.

Maddie seufzte leise auf. „Auch wenn ich vieles mit Automatismen laufen lasse, dauert es alle notwendigen Einstellungen vorzunehmen. Besonders dann, wenn du so viele verschiedene Variationen willst. Ich kann dir alles bis morgen Abend fertig machen.“

„Der Fall hat höchste Priorität. Du kannst dir das von Agent Decker bestätigen lassen.“

„Von Decker?“, entgegnete Maddie leise. „Gut, wenn das so ist, kriegst du alles spätestens heute Abend.“

Shuichi lächelte. „Danke, ich verlass mich auf dich. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, melde dich bei mir.“

„Als ob ich Probleme bekommen würde.“

Shuichi schmunzelte. „Also dann…“, er hob zum Abschied die Hand und verließ das Gebäude. Draußen blickte der Agent in den Himmel. Er würde alles tun, was er konnte, um Jodie zu finden. Auch dann, wenn es aussichtslos aussah. Niemand würde ihm vorwerfen können, dass er die Aufgabe auf die leichte Schulter nahm oder zu wenig dafür tat. Und auch wenn jemand nicht gefunden werden wollte, Spuren würde es trotzdem immer geben.

Akai stieg in seinen Wagen, schnallte sich an und startete den Motor. Unter Beachtung des Tempolimits fuhr er zum NYPD – dem New York Police Department. Viele Polizisten mochten das FBI nicht, denn FBI Agenten konnten ihnen immer die Fälle entziehen oder als ihre Vorgesetzten fungieren. Andererseits waren auch die Agenten nicht immer von der Polizeiarbeit überzeugt und stellten die Arbeit oftmals in Frage. Trotzdem hatte sich Shuichi entsprechende Kontakte aufgebaut und war sich nicht zu schade, diese um Hilfe zu bitten. Viele Kontakte zu haben, konnte nur von Vorteil sein. Shuichi parkte seinen Wagen und stieg aus. Er betrat das NYPD und wurde von den dortigen Polizisten kritisch beäugt. Ohne eine Jacke oder eine Mütze, die ihn als FBI Agenten auswies, konnte er auch als grimmiger Japaner bezeichnet werden.

Am Empfang versuchte er ein Lächeln aufzusetzen. „Akai, ich möchte mit Detective Pollard sprechen.“

Die Dame musterte ihn. „Haben Sie einen Termin?“

„Nein, aber er wird mich trotzdem gern empfangen. Rufen Sie ihn bitte an.“

„Warten Sie bitte einen Moment“, sagte sie und nahm den Hörer des Telefons in die Hand. Während sie die Nummer wählte, stellte sich Akai ein wenig abseits. „Detective Pollard, hier ist ein junger Mann, der Sie sprechen möchte. Er sagt, sein Name sei Akai und dass Sie ihn empfangen würden.“

„Schicken Sie ihn durch. Er kennt den Weg.“

„Ja, Detective“, murmelte sie und legte auf. Die Empfangsdame sah wieder zu Akai. „Sie können durchgehen, der Detective erwartet Sie.“

„Danke“, entgegnete Shuichi und ging zu dessen Büro. Er klopfte an die Tür und trat ein. „Detective Pollard“, begann er.

„Agent Akai.“ Pollard beugte sich nach vorne. „Was verschafft mir die Ehre? Es muss ja dringend sein, wenn Sie sogar persönlich vorbei kommen.“

„Sie kommen natürlich gleich zur Sache.“ Shuichi lächelte und setzte sich. „Ich benötige die Akte zu einem Fall, der vor drei Jahren stattgefunden hat. Es ging dort um eine junge Frau; Jodie Starling. Sie war wohl in einen Unfall verwickelt. Ich brauche Einblick in die Unterlagen.“

Pollard seufzte. „Wie kritisch ist es?“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich muss nur etwas überprüfen. Und bevor Sie fragen, nein, ich kenne nicht die Aktennummer.“

Der Polizist runzelte die Stirn und tippte Jodies Namen in den Computer. „Mhm…da haben wir es ja…“

„Ja?“ Shuichi beobachtete ihn. „Was haben Sie gefunden?“

„Vor drei Jahren gab es auf einer Studentenfeier ein Handgemenge bei dem ein junger Mann stürzte. Er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht und bekam eine Hirnblutung diagnostiziert. Eigentlich hatte er Glück, denn dort konnte er behandelt werden und nach einigen Wochen auch nach Hause entlassen werden. Diese Jodie Starling wurde allerdings angezeigt und bekannte sich auch schuldig. Sie hatte einen guten Anwalt, aber es kam nie zu einer Anklage.“

„Wieso nicht?“

„Die Anwälte haben sich geeinigt. Starling musste ein hohes Schmerzensgeld zahlen. Und das war es auch schon. Es gab keinen Verweis von der Uni und auch keine anderen Konsequenzen für sie. Vermutlich weil alles als Unfall eingestuft wurde.“

Shuichi nickte verstehend. „Können Sie mir die Akte schicken?“

„Agent Akai, Sie wissen doch, dass die Akten das NYPD nicht verlassen dürfen. Auch nicht per E-Mail an eine nicht autorisierte Adresse. Ich könnte Ihnen maximal die entsprechenden Passagen ausdrucken.“

„Gut, das würde mir auch reichen“, entgegnete er. „Könnten Sie auch überprüfen, ob Starling in den letzten drei Jahren sonst noch irgendwo involviert war?“

„Jetzt wird es interessant“, gab Pollard von sich und druckte einen Auszug aus der Akte aus. Anschließend setzte er die Suche nach Jodies Namen im System fort. „Ein paar Monate darauf gab es eine Vermisstenanzeige von James Black. Der Fall wurde aber eingestellt, als er uns den Brief übergab. Es war eindeutig, dass sie aus freien Stücken ging. Danach haben wir nichts mehr.“ Pollard stand auf und holte den Zettel aus dem Drucker. Er reichte ihn an Akai und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Verstehe. Danke für Ihre Hilfe.“ Shuichi stand auf.

„Sie suchen die junge Frau, nicht wahr?“

Akai nickte.

„Wenn Sie nicht gefunden werden will, werden Sie es schwer haben.“

„Das mag sein, aber das gehört zu meinem Job.“ Shuichi lächelte. „Ich habe bereits einen Plan, um sie zu finden. Ach ja, machen Sie sich keine Sorgen, sie ist in keine Machenschaften involviert; keine Zeugin, keine Täterin. Mein Boss möchte nur das ich sie finde und nach Hause bringe.“

„Wenn Sie trotzdem Hilfe brauchen…“

„Danke für das Angebot“, sagte Shuichi ruhig. „Wenn es notwendig ist, melde ich mich“, fügte er hinzu und verließ das Büro. Nachdem er schon einige Punkte auf seiner imaginären Liste abhacken konnte, war es Zeit gewesen zwei weitere Orte aufzusuchen: den Friedhof und Jodies ehemalige zu Hause. Akai war schon gespannt, was er dort herausfinden würde.

Erster Anhaltspunkt

Shuichi warf einen Blick auf die Uhr auf seinem Handy. Langsam setzte die Dunkelheit ein. Doch damit hatte er nur einen weiteren Vorteil auf seiner Seite. Die Wahrscheinlich, dass Jodie das Grab ihrer Eltern besuchte, war groß. Abends, wenn sie in der Dunkelheit keiner erkennen würde oder sie wusste, dass James im Büro war, sogar noch größer. Aber wenn sie tatsächlich nicht gefunden werden wollte, konnte es auch gut sein, dass sie das Grab Tage vorher aufsuchte oder Tage später aufsuchen würde. Jetzt musste er sich nur überlegen, wie er die nächsten Tage den Friedhof im Blick behalten konnte. Aber auch hierfür würde er eine Lösung finden. Und wenn er Glück hatte, würde er ihr vielleicht tatsächlich begegnen – auch wenn es die anderen Agenten nicht konnten.

Akai ahnte was in der jungen Frau vorging, er wusste was sie fühlte und was sie sich wünschte. Manchmal war die Welt einfach nur ungerecht. Menschen starben, wurden getötet und grundlos aus dem Leben gerissen. Als Hinterbliebener fühlte man sich allein und manchmal auch schuldig. Es gab kaum einen Trost. Schmerz konnte man nicht vergessen, nur unterdrücken oder lernen damit umzugehen. Doch scheinbar war das Jodie nicht vergönnt gewesen. Stattdessen reihte sich ein Unglück an das nächste.

Shuichi stand vor den Toren des Friedhofs. Er war schon öfters zu Beerdigung von Kollegen zum Friedhof gefahren und wusste, dass es mehrere Ein- und Ausgänge gab. Dadurch wurde es nur noch schwerer, Jodie irgendwo aufzulauern. Selbst wenn sie den Haupteingang nahm, konnte sie ihm noch entwischen. Obwohl es schon spät war, kamen noch immer zahlreiche Besucher und er tat es ihnen nun gleich. Akai trat durch das Eingangstor und sah sich um. Direkt vor ihm war eine kleine Wiese mit Blumen, die diesen trostlosen Ort etwas freundlicher erscheinen lassen sollte. Rechts und links gab es Fahrradständer und Bänke zum Ausruhen. Der Weg führte zunächst geradeaus bis die erste Abzweigung kam. Eine Beschilderung wies den Leuten den Weg, zudem gab ein Schild den Überblick über den Friedhof. Shuichi sah kurz darauf und erfasste alle wichtigen Informationen. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Häuschen des Friedhofswärters. Zu dessen Aufgaben gehörte nicht nur das Ausheben von Gräbern oder dem Vorbereiten der Bestattungen. Er war auch für die Pflege der Grünflächen sowie die Sicherheit zu jeder Tages- und Nachtzeit zuständig. Außerdem unterstützte er Trauernde bei der Auswahl des richtigen Platzes und stellte den Kontakt zu weiteren Parteien, wie Steinmetze, her. Durch die Verwaltungsangelegenheiten wusste der Wärter welches Grab durch welche Person belegt war. Und auch wenn die Tätigkeiten von mehreren Personen erledigt wurden, hoffte Shuichi, dass man ihm sagen konnte, ob Jodie irgendwann an diesem Ort gesichtet wurde.

Akai klopfte an die große Fensterscheibe, die einen Moment später zur Seite geschoben wurde. Augenblicklich musterte er den älteren Mann – eine Angewohnheit um immer auf der Hut zu sein. Außerdem konnte es nie schaden, wenn man seinen Gegenüber immer beschreiben konnte.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche ein Grab.“

Noch ehe der Agent weiterreden konnte, kicherte der Wärter. „Da sind Sie hier richtig. Wir haben auch noch unbesetzte Stellen.“

Akai verdrehte die Augen. Wenn das ein Scherz sein sollte, war es kein besonders Guter. „Ich suche das Grab der Familie Starling.“

Der Mann beäugte ihn einen Moment und nickte dann. Sofort tippte er den Familiennamen in den Computer und erhielt auch einen Treffer. „Das Familiengrab liegt im östlichen Flügel des Friedhofs. Bereich 41. Sie müssen hier am Häuschen rechts vorbei, dann geradeaus bis Sie zur zweiten Abzweigung kommen. Dort gehen Sie dann nach links und einfach geradeaus weiter. An jedem Abschnitt befindet sich ein Schild, Sie können Bereich 41 gar nicht verfehlen“, erklärte er.

Shuichi nickte. „Danke. Erinnern Sie sich auch an die Beerdigung?“

„Jungchen“, fing der Alte an. „Auch wenn ich alt bin, das war alles noch vor meiner Zeit.“

„Verstehe“, gab Akai von sich. Er holte sein Handy heraus und rief das Bild von Jodie auf, welches er im Büro schnell gemacht hatte. Dieses hielt er an die Scheibe. „Haben Sie diese Frau hier schon einmal gesehen?“

Der Wärter stand auf, richtete seine Brille und blickte auf das Foto. „Mhm…süßes Ding“, murmelte er nachdenklich. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, tut mir leid. Hier ist so viel Durchgangsverkehr und meistens bin ich mit anderen Sachen beschäftigt. Und selbst wenn ich sie gesehen hätte, so ein Allerweltsgesicht hätte ich wieder vergessen.“

Shuichi hatte sich etwas Ähnliches bereits gedacht. Trotzdem wollte er nichts unversucht lassen. Schließlich hatte ihm auch Agent Decker klar gemacht, dass er Fehler nicht verzieh. „Danke.“ Er steckte das Handy weg und entfernte sich von dem Häuschen. Weitere Fragen konnten zu Misstrauen führen. Und falls Jodie noch kommen und vom Wärter beobachtet werden würde, konnte sie gewarnt sein.

Der FBI Agent folgte den Anweisungen des Friedhofswärters. Als er im Bereich 41 ankam, ließ er seinen Blick über die Gräber schweifen und beobachtete erneut die Menschen. Körpersprache sagte viel aus. Ein Blick, eine Geste, das Verhalten…all das halfen dabei um Menschen wie offene Bücher lesen zu können.

Er musste eine Weile suchen, ehe er das Familiengrab fand. Die Stelle würde zur Tageszeit ausreichend Sonne abbekommen und war dennoch durch mehrere Bäume geschützt. Außerdem waren die Gräber viel gründlicher gepflegt als an anderen Stellen. Sie lagen nicht dicht beieinander, sondern hatten ausreichend Abstand. Auch Starlings Eltern lagen in Bereich 41. Anhand der Kerzen und frischen Blumen konnte er erkennen, dass das Grab heute zahlreich besucht worden war. Es gab viele Möglichkeiten; Freunde, Kollegen, Agenten, aber auch Menschen, die nach Jodie suchten.

Shuichi stand eine Weile vor dem Grab. Er wartete und beobachtete. Zwei Stunden später entschied er, es für heute sein zu lassen, weswegen er sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen machte. Akai stieg ein, schnallte sich an und startete den Motor. Auch wenn es dunkel war, fuhr er zum Haus der Familie Starling.

Mittlerweile war das Haus komplett saniert worden. Nichts erinnerte mehr an den Brand vor 20 Jahren. Zwei Wagen und zwei Kinderfahrräder standen in der Einfahrt. Eine neue Familie war eingezogen, die hoffentlich mehr Glück haben würde, als Jodie. Akai blieb im Wagen sitzen und beobachtete das Haus und die Straße. Doch ein weiteres Mal führte ihn nichts zu Jodie, sodass er zwei Stunden später nach Hause fuhr.

Am frühen Morgen des nächsten Tages machte sich der Agent erneut auf den Weg zum Haus der Familie Starling. Familien mit Kindern waren früh wach und in der Eile erzählten sie einem auch Dinge, die ihnen sonst nicht so einfach über die Lippen kämen. Als erstes war Shuichi bei den neuen Bewohnern des Hauses. Doch keiner kannte Jodie oder ihre Familie. Sie hatten zwar von dem Unglück erfahren, konnten ihm aber auch nicht weiterhelfen. Sie hatten auch nicht mitbekommen, ob die junge Frau jemals draußen vor dem Haus stand und die Familie beobachtete.

Danach holte sich Shuichi weitere Informationen von anderen Nachbarn ein. Aber Jodie wurde von Keinem gesehen. Entweder sie war tatsächlich nicht da oder sie stellte sich einfach nur gut an. Shuichi ging zurück zu seinem Wagen und streckte sich. Aufgeben kam nicht in Frage, denn es gab noch zahlreiche Optionen. Außerdem hinterließ er seine Nummer bei den Nachbarn und hoffte, dass bald jemand Kontakt zu ihm aufnahm.

„Entschuldigung?“

Akai drehte sich um. Eine ältere Dame stand vor ihm. „Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich habe Sie den ganzen Vormittag durch das Fenster gesehen. Sie sind von einem Haus zum nächsten gegangen. Sie haben meine Familie nach der kleinen Jodie befragt. Ist irgendwas passiert? Geht es dem Mädchen gut?“

Shuichi versuchte so freundlich wie möglich zu lächeln. Ältere Menschen redeten gerne und scheinbar hatte er jemanden vor sich, der ihm etwas erzählen wollte. Auch wenn sie es noch nicht wusste. „Ich bin auf der Suche nach ihr. Kennen Sie sie?“

„Jodie war noch so klein. Sie war immer ein aufgewecktes Kind, sie lachte und war immer so fröhlich. Ich erinnere mich noch gut an damals. Wenn ihre Eltern arbeiten waren oder etwas anderes erledigen mussten, kam ich zum Babysitten rüber. Ich brachte meine beiden Hunde mit, sie hat die beiden so geliebt. Och was war sie für ein süßes Mädchen…“

Shuichi hörte ihr aufmerksam zu. Am liebsten hätte er sie unterbrochen und nach dem Kern ihrer Erzählungen gefragt, aber stattdessen ließ er sie einfach weiterreden. Sie musste ihm vertrauen und das ging nun einmal nicht anders.

„In jener Nacht war es draußen so laut. Als ich aufgestanden und ans Fenster gegangen bin, stand das Haus in Flammen. Ich habe sofort die Feuerwehr gerufen und bin rausgelaufen. Es war so schrecklich. Ich konnte auch nicht ins Haus und ich dachte, dass alle drei umgekommen waren…“

Akai nickte. „In welchem der Häuser wohnen Sie?“

„Direkt nebenan. Wir hatten bei dem Zaun extra eine Tür eingebaut, damit ich immer rüberkommen konnte, ohne erst außen herum zu müssen.“

„Sie sagten, Sie wurden wach, weil es laut war. Was haben Sie gehört?“ Akai wurde hellhörig. Die Nachbarin stand zwar auch in dem Bericht vom FBI, aber die Informationen selbst zu hören, machte die Situation nur realer.

„Es hat furchtbar geknallt, so wie wenn man mit dem Auto unterwegs ist und ein Reifen platzt. Das hab ich auch alles der Polizei erzählt und dem anderen netten Herren. Wie hieß er doch gleich? Es war etwas mit einer Farbe. Blue. Nein. Red…auch nicht…mhm…“

„Black?“

„Ja, genau. Black“, nickte die ältere Dame. „Er war so nett zu mir. Ich hab ihn schon oft hier gesehen. Er war auch in der Nacht da. Ich war so froh, dass die kleine Jodie wohlauf war. Aber seitdem war nichts mehr wie es war.“ Sie seufzte. „Die arme Kleine…“

„Haben Sie Jodie danach wieder gesehen?“

„Das habe ich. Ich wusste, dass Jodie in eine Pflegefamilie gekommen war, aber sie kam trotzdem noch regelmäßig her. Ich nahm sie dann immer in meine Obhut und spielte mit ihr. Aber dann…kam sie eine ganze Weile nicht mehr her.“

Akai hatte manchmal Schwierigkeiten ihren Erzählungen zu folgen. Hin und wieder schweifte sie ab oder erzählte belanglose Kleinigkeiten, doch jetzt wurde er hellhörig. Nun kamen sie zum Knackpunkt. „Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?“

„Das letzte Mal mit ihr gesprochen?“ Sie überlegte. „Das war etwa vor drei Jahren. Ja, drei Jahre ist es nun her. Wie die Zeit vergeht. Meine kleine Jodie ist so groß geworden, richtig erwachsen. Eine junge Frau.“

„Hat sie Ihnen etwas über ihr Leben oder ihre Pläne erzählt?“, wollte Shuichi wissen.

„Ihre Pläne? Ja, natürlich. Sie wollte das Studium abschließen und dann etwas von der Welt sehen. Wie ich sie beneidet habe. Ich wollte auch immer eine lange Reise antreten, aber dann habe ich eine Familie gegründet und zu meiner Zeit war es noch üblich, dass die Frau zu Hause blieb.“

Shuichi nickte verstehend. „Haben Sie sie seitdem wieder einmal gesehen?“

„Ja, aber wir haben nicht miteinander geredet. Ich habe sie oftmals aus dem Fenster beobachtet. Sie starrte auf ihr Elternhaus. Es wurde erst vor einigen Jahren saniert, ich glaube aber, dass ihr das keiner erzählt hat. Ich wollte runter und mit ihr sprechen, aber…sie war schon weg.“ Sie seufzte. „Wie gerne würde ich noch einmal mit dem Mädchen sprechen.“

„Ich verstehe. Sie war nicht zufällig gestern auch hier?“

Die Alte schüttelte den Kopf. „Das habe ich auch gehofft, aber es ist schon einige Wochen her. Vielleicht kommt sie in drei Monaten zum Geburtstag ihres Vater wieder her.“

„Einige Wochen“, murmelte der Agent. „Könnten Sie mich bitte anrufen, wenn Sie sie hier wieder sehen?“

„Ich weiß ja nicht“, murmelte sie. „Damit ist mir eigentlich nicht so wohl. Ich kenn Sie ja nicht.“

„Das versteh ich. Ich bin ein Freund von Mr. Black und er macht sich Sorgen um Jodie. Sie war schon lange nicht mehr…zu Hause und ich möchte Jodie bitten, sich mal wieder bei ihm zu melden. Er hat auch bald Geburtstag und ihr Besuch wäre ein schönes Geschenk.“

„Oh, ja, das versteh ich. Das Mädchen ist ihm auch ans Herz gewachsen. Sie hat ihn immer Onkel genannt.“ Sie lächelte. „Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, schaue ich was ich tun kann.“

„Danke.“ Shuichi ging zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. Aus dem Handschuhfach holte er ein Notizbuch hervor und schrieb dort seine Telefonnummer auf. Er riss den Zettel heraus und reichte ihn der älteren Dame. „Sie können mich auch noch spät abends anrufen. Um meinem Freund eine Freude zu machen, ist keine Uhrzeit zu spät. Ich würde gerne wieder herkommen und mich mit Ihnen über Jodie unterhalten, natürlich nur wenn es Ihnen keine Umstände bereitet.“ Wenn er schon einen Fuß in der Tür hatte, würde er diesen auch gänzlich nutzen. Selbst dann, wenn er in die Privatsphäre einer anderen Person eindringen musste. Und die ältere Frau schien auch jemanden zum Reden zu brauchen.

„Oh, das wäre wunderbar. Ich kann Ihnen auch alte Fotos zeigen.“

„Gerne.“

Eine neue Spur

Zusammen mit der älteren Frau betrat Shuichi das Haus. Eigentlich wollte er wieder zurück in das Büro fahren, die bisherigen Ergebnisse auswerten und anschließend weiteren Spuren nachgehen. Doch der Blick der alten Dame und ihr erneutes Angebot, ihm Bilder von Jodie zu zeigen, hatten ihn zu zwei Schlüssen kommen lassen. Entweder wusste die Frau etwas und wollte unbedingt reden oder sie war einsam und wollte reden. Vielleicht sogar Beides.

Shuichi blickte sich um Flur um. Auf der kleinen Kommode standen Fotos der Familie Kyle – jung, alt, zusammen, alleine. Vor etwas mehr als einer Stunde hatte er hier mit einer anderen Frau gesprochen. Es konnte sich um ihre Tochter oder Enkelin gehandelt haben. Das würde er noch erfahren.

„Hier entlang“, sagte die ältere Dame mit einem Lächeln auf den Lippen. „Meine Familie hat das Haus umgestaltet, damit ich einen eigenen Bereich habe.“

Akai nickte verstehend. „Mrs. Kyle…“

„Janice, nennen Sie mich Janice“, entgegnete sie und brachte ihn in ihr kleines Wohnzimmer. „Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Tee? Ich trinke um diese Uhrzeit immer Tee. Früher haben sich meine Enkelkinder zu mir gesetzt und ich habe ihnen Geschichten erzählt. Soll ich Ihnen auch eine Geschichte erzählen?“

Jetzt wusste Shuichi, dass die Frau einfach nur jemanden zum Reden brauchte. Vermutlich kamen ihre Enkelkinder nicht mehr so oft zu Besuch wie früher. Vielleicht war sie aber auch ein wenig verwirrt. Er setzte sich. „Wenn Sie Kaffee da haben, würde ich einen Kaffee nehmen, ansonsten komme ich auch mit Tee zurecht. Sie können mir in der Zwischenzeit schon einmal das Fotoalbum geben.“

„Das Fotoalbum? Ach ja, die Bilder von früher, die ich Ihnen zeigen wollte.“ Janice ging an den Schrank und holte mehrere Alben heraus. Sie legte diese auf den Tisch. „Ich weiß leider nicht, welches das Richtige ist. Jetzt wo alles nur noch über dieses online geht, ist alles so viel anders geworden. Meine Enkel haben versucht mir diese Cloud zu erklären, aber das ist alles so neumodisch und ich schau mir die Bilder doch so gerne an. Warum sollte ich sie irgendwo verschieben wollen. Ah, Tee, ich wollte Tee kochen“, entgegnete sie und verließ den Raum.

Shuichi seufzte. Das würde noch ein langer und anstrengender Tag werden. Der Agent nahm eines der Alben und blätterte darin rum. Und im nächsten. Und im nächsten. Bis er endlich das richtige fand, kam Janice mit dem Tee zurück. Sie beobachtete den jungen Mann und blickte auf das Album. „Da waren die Kinder noch so klein.“

Akai nickte und betrachtete das Bild. „War Jodie gut mit Ihren Enkelkindern befreundet?“

„Mit Leslie.“ Sie setzte sich. „Die beiden waren immer ein Herz und eine Seele. Als Jodie von hier weggezogen ist, haben sich die beiden Mädchen nur noch selten gesehen. Es hat mir das Herz gebrochen. Danach war es nie mehr wie früher.“

Shuichi runzelte die Stirn. „So etwas kann passieren, wenn ein Umzug stattgefunden hat. Wissen Sie, wann die beiden Frauen das letzte Mal Kontakt hatten?“

Die alte Dame dachte nach. „Das war…“

„Grandma.“ Leslie kam in das Wohnzimmer ihrer Großmutter und starrte Shuichi mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ihn erkannt und gelauscht, als er ihre Mutter über Jodie befragte.

„Leslie, Schatz, wir haben gerade über dich gesprochen. Erinnerst du dich noch an die kleine Jodie? Er sucht nach ihr.“ Janice sah zu Akai. „Da fällt mir ein, ich weiß gar nicht, wie Sie heißen…“

„Akai“, antwortete er. „Ich bin ein Freund von James, Onkel James.“

„Onkel James“, murmelte Leslie. „Ich erinnere mich an ihn. Er hat früher oft mit uns gespielt.“ Sie räusperte sich. „Sie waren heute schon bei meiner Mutter und haben nach Jodie gefragt. Warum?“

„Jodie ist vor drei Jahren weggezogen und James würde sie gerne wiedersehen. Deswegen wollte ich versuchen, sie ausfindig zu machen. Wann hatten Sie das letzte Mal mit ihr Kontakt?“

„Ist schon lange her“, antwortete sie. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie jetzt gehen. Sie werden sicher verstehen, dass es mir komisch vorkommt, dass Sie bei den Nachbarn rumfragen. Sollte sich Jodie bei uns melden, sage ich ihr, dass Sie sie gesucht haben. Ob sie sich meldet oder nicht bleibt ihr überlassen.“

Sie wusste etwas. Aber Shuichi konnte sich denken, dass es nichts brachte, sie zu bedrängen. Er stand auf. „Entschuldigung, ich wollte nicht aufdringlich sein.“

„Aber nicht doch, Jungchen. Meine Enkelin macht sich immer so viel Sorgen um mich.“

„Grandma!“

Shuichi lächelte. „Sie haben ja meine Nummer. Scheuen Sie sich nicht, mich zu kontaktieren.“

Leslie entgegnete nichts mehr und brachte ihn nach draußen. Als sie zurück ins Wohnzimmer ihrer Großmutter kam, blickte sie sie streng an. „Grandma, ich hab dir doch schon oft genug gesagt, dass du nicht immer wildfremden Menschen glauben oder ihnen vertrauen sollst. Wer weiß, warum er Jodie in Wahrheit sucht. Du weißt doch, was damals passiert ist.“ Sie seufzte.

Die ältere Dame nickte. „Du hast ja Recht, mein Schatz. Es ist so schade, um den heißen Tee.“

„Den trink ich mit dir, Grandma. Ich hol uns noch ein paar Kekse dazu“, gab Leslie von sich und ging in die Küche. Sie nahm ihr Handy heraus und tippte eine Nachricht. Jemand sucht nach dir. Pass auf dich auf.
 

Nachdem Shuichi am Nachmittag ins Büro kam, begann er eine Datei anzulegen. Er schrieb alles nieder, was er in den letzten beiden Tagen in Erfahrung gebracht hatte. Wirkliche Anhaltspunkte hatte er nicht. Dennoch würde er es noch einmal am Grab ihrer Eltern versuchen. Alleine schon aufgrund der Tatsache, dass bald der Geburtstag ihrer Mutter anstand. Akai tippte nachdenklich mit den Fingern auf dem Tisch, als es an der Tür klopfte. „Herein.“

Ein junger Agent betrat das Büro. „Mir wurde gesagt, dass Sie nach mir gesucht haben“, begann er. „Ich bin Agent Roy Tripton.“

„Agent Tripton.“ Shuichi lächelte. „Bitte, setzen Sie sich.“ Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Roy setzte und blickte seinen Kollegen an. „Ehrlich gesagt, ist mir noch nicht ganz klar in welcher Angelegenheit Sie mich sprechen wollten. Ich bin zuständig für Wirtschaftskriminalität und Sie…naja nicht…“

Akai musterte den Agenten. Alterstechnisch unterschieden sie sich nur in einigen Jahren und ihre Erfahrung war von ihrem Aufgabengebiet abhängig. „Ich arbeite gerade mit Agent Black an einem Fall. Er wirkte etwas unkonzentriert und so konnte ich in Erfahrung bringen, dass vor 20 Jahren sein bester Freund – ebenfalls ein FBI Agent – getötet wurde und dessen Tochter seit drei Jahren verschwunden ist.“ Shuichi hatte sich dazu entschieden, den Fall der Organisation auch innerhalb des FBIs als streng vertraulich zu behandeln. Zudem konnte er nicht ausschließen, dass eine weitere Gefahrenquelle dazu führen würde, dass sich Jodie auch weiter versteckt hielt. „Deswegen stelle ich derzeit ein paar Nachforschungen an.“

„Und…und was habe ich damit zu tun?“

„Ich habe mich in die Akten eingelesen. Bevor Jodie vor etwa drei Jahren verschwunden ist, kam sie regelmäßig her und versuchte sich Zugang zu den Akten ihres Vaters zu verschaffen. Sie wollte seinen Tod aufklären und den Mörder finden. Ich weiß, dass sie damals mit mehreren Kollegen ins Gespräch gekommen ist. Das ist natürlich kein Problem. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Kommilitonen verschwand sie auf einmal. Und da kommen Sie ins Spiel, Agent Tripton. Ich weiß, dass Sie mit Jodie Kontakt hatten.“

„Wie Sie schon sagten, hatten viele Agenten mit ihr…Kontakt.“

„Das stimmt“, nickte Shuichi. „Diese habe ich auch schon befragt. Sie wissen doch, dass jeder Besuch im Büro dokumentiert wird. Jodie war oft hier und in den zwei Jahren bevor sie verschwunden ist, hatte Sie immer nur Sie besucht.“

Agent Tripton runzelte die Stirn. „Das habe ich auch Agent Black erzählt. Wir sind bei einem ihrer Besuche ins Gespräch gekommen und ich bot ihr an, dass ich ihr gerne zuhören, wenn sie jemanden zum Reden braucht.“

„Ja, das sagten Sie“, gab Akai ruhig von sich. „Aber wissen Sie, was mich an der ganzen Sache verwundert?“

„Was?“

„Sie ist einfach so untergetaucht und seit drei Jahren scheitert jeder daran, sie zu finden. Was glauben Sie wohl, wie sie das angestellt hat?“

Tripton schwieg.

„Ich glaube, sie hatte Unterstützung. Von einer Person, die genau weiß, wie das System funktioniert und wie man untertauchen kann, ohne gefunden zu werden. Ich glaube, dass ihr jemand geholfen und alle Spuren beseitigt hat. Und natürlich muss es jemanden gegeben haben, der dafür sorgte, dass ihr Agent Black nicht auf die Schliche kam. Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Agent Tripton.“

„Sie glauben, dass ich…“

Shuichi lehnte sich nach vorne. „Ich glaube es nicht nur. Ich weiß es. Ich weiß, dass Sie für Jodie hier die Strippen gezogen haben“, log er. „Und jetzt möchte ich, dass Sie mir alles erzählen, was passiert ist. Oder ich sorge dafür, dass Sie wegen Behinderung der Justiz für die nächsten Jahre nur noch Schreibtischarbeit leisten werden.“

Roy Tripton schluckte abermals. „Ich…verstehe nicht, was Sie meinen. Ich habe keine Ermittlungen behindert und nichts verschleiert.“

„Das kommt darauf an“, begann Shuichi ruhig. „Noch sieht es so aus, als würde Jodie nicht gefunden werden. Aber wenn alle bisherigen Versuche sie zu finden, scheiterten, können wir das alles auch aus als Entführungsfall hochspielen, rückwirkend natürlich. Und wenn Sie bei den bisherigen Befragungen etwas gewusst und verschwiegen haben, zählt das als Behinderung. Also, Agent Tripton, möchten Sie etwas Sagen oder soll ich die Unterlagen fertig machen und Sie erhalten Post von anderer Stelle?“

Roy seufzte leise auf. „Ich hätte wissen sollen, dass es mich in Schwierigkeiten bringt. Gut, Agent Akai, ich sage Ihnen alles was ich weiß. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie sie finden.“

„Versuchen wir es.“ Shuichi lächelte. Er liebte es, wenn ein Bluff zum gewünschten Erfolg führte und bei Agent Tripton hatte er an der Körperhaltung erkannt, dass er mehr wusste.

„Ich habe Jodie Starling vor viereinhalb Jahren kennengelernt. Sie kam her, um Einsicht in die Akten ihres Vaters zu bekommen, besonders die Akte von seiner Ermordung. Sie wurde aber immer wieder weggeschickt. Ich traf sie vor dem Büro, sie saß auf den Treppenstufen und weinte. Ich war gerade erst seit einigen Wochen im Dienst und empfand es als meine Pflicht ihr zu helfen. Wir sind ins Gespräch gekommen und sie hat mir alles über ihren Vater erzählt. Ich versprach, mich umzuhören. Als ich das tat, bekam ich aber auch einen Maulkorb verpasst. Seit jeher spendete ich ihr Trost und…“ Er wurde etwas verlegen. „…wir kamen uns näher. Dann ist das mit ihrem Kommilitonen passiert und Jodie war am Boden zerstört. Ich schlug ihr vor, irgendwo anders ein neues Leben anzufangen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich wollte sogar mit ihr gehen, aber…dann kam alles anders.“

„Was meinen Sie damit?“

Tripton seufzte. „Sie wusste, dass sie nicht einfach so weggehen konnte, gerade wegen Agent Black. Also hab ich das alles für sie organisiert und sie auf alles vorbereitet. Sie wusste, wie sie unbemerkt aus der Stadt kommt und wie sie sich danach verhalten muss.“

„Wo haben Sie sie hingeschickt?“

„Nach London“, antwortete Roy ruhig.

„London?“

Er lächelte. „Nicht das London in England. Das in Ohio.“

„Ich verstehe“, gab Akai von sich. „Sie wählen einen Ort der nicht eindeutig bestimmt werden kann. Gut, sie ist also in London, Ohio.“

„Nein“, entgegnete der Agent und seufzte. „Wir hatten ein ganzes Jahr noch regelmäßig Kontakt und ich fuhr sie oft besuchen. Aber dann brach sie die Verbindung zu mir ab. Als ich dort war, war sie weg, die Wohnung und ihre Arbeitsstelle gekündigt. Es gab nur einen Brief und bevor sie fragen, nein, ich habe ihn nicht aufgehoben. Sie hat sich bei mir bedankt und entschuldigte sich für die Probleme, die sie mir bereitet hat. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Ich war auch in den anderen namensgleichen Städten, aber…“ Er schüttelte den Kopf.

Shuichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Deswegen haben Sie mir jetzt also alles erzählt. Sie wussten, dass ich Jodie nicht finden würde, weil sie selbst nicht wissen wo sie ist.“

Roy nickte. „Es tut mir wirklich leid wegen Agent Black, aber ich kann Ihnen nicht helfen.“ Er räusperte sich.

„Gut“, murmelte Shuichi. „Unter welchem Namen hat Jodie in London gelebt?“

„Als Jodie Maria Saintemillion. Maria ist ihr Zweitname, den wir als ihren Rufnamen angaben und Saintemillion ist der Nachname einer Identität aus dem Zeugenschutzprogramm. Als Kind hat sie mitbekommen, wie Agent Black darüber sprach, ob eine Pflegefamilie oder das Zeugenschutzprogramm das Richtige für sie wäre. Ich dachte, es sei so offensichtlich, dass man keinen Zusammenhang erkennt. Und es hat ja auch geklappt. Wir haben ihr Aussehen verändert, Haarfarbe, Augenfarbe und ihr einen Job besorgt, wo man keine Fragen stellt.“

„Ich verstehe. Wo hat sie gearbeitet?“

„In einem kleinen Diner in Wilmington, Ohio, es liegt eine dreiviertel Stunde von London entfernt. Deswegen hatten wir auch keine Angst, dass sie über die Sozialversicherungsnummer gefunden wird. Ärzte wären kein Problem gewesen, aufgrund der Schweigepflicht. Allerdings hatten wir geplant, dass sie deswegen nach Dayton, Cincinnati oder Indianapolis fahren sollte. Unter normalen Umständen dürfen Behörden oder Ärzte weder Daten noch Hinweise an Außenstehende herausgeben und da Jodie nicht vermisst gemeldet werden konnte, waren wir recht sicher. Jeder FBI Agent hat gewisse Kontakte, das hat sehr geholfen, als Agent Black mit der Suche anfing.“

Akai nickte verstehend. „Also haben Sie seit zwei Jahren nichts mehr von Jodie gehört“, fasste er zusammen.

„Das ist korrekt. Und jetzt hätte ich gerne die Beweise, die Sie gegen mich haben. Und bitte, Black darf von meinem Zutun nichts erfahren.“

„Es gibt keine Beweise“, antwortete Shuichi ruhig.

„Aber Sie sagten doch…“

„Ich habe nie von Beweisen gesprochen“, sprach Akai ruhig. „Ich habe lediglich erwähnt, dass ich weiß, dass Sie ihr geholfen haben. Es war ein Bluff und Sie sind darauf reingefallen.“

Agent Tripton schluckte. „Aber…wie…Sie konnten doch nicht wissen, dass…“

„Hätten Sie mir glaubhaft versichert, nichts damit zu tun gehabt zu haben, hätte ich Ihnen geglaubt. Aber Ihre Körpersprache hat eine ganz andere Sprache gesprochen. Als FBI Agent sollten Sie eigentlich wissen, wie man sich nicht verrät. Sie wissen doch, ein guter Lügner ist auch ein guter Schauspieler, der seine Lüge bis ins kleinste Detail einstudiert hat und souverän erzählen kann. Als ich das Thema mit Jodie ansprach, haben Sie den Blickkontakt vermieden. Außerdem sind Sie auf dem Stuhl hin und her gerutscht und zögerten. Als wir dann auf Jodies aktuellen Aufenthaltsort kamen, waren Sie souveräner. Daher weiß ich, dass Sie dabei nicht gelogen haben.“

„Körpersprache, aber natürlich. Deswegen bin ich auch auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert. Und…was machen Sie jetzt?“

„Ich werde Jodie weiter suchen.“ Er lehnte sich nach hinten. „Sie müssen sich wegen Black keine Sorgen machen. Von mir wird er nichts erfahren. Sie werden es ihm selbst erzählen.“

Kein Entkommen

Jodie saß an ihrem Schreibtisch im Büro einer Detektei und versuchte ihre freie Zeit so sinnvoll wie möglich zu verbringen. Da sie gerade an keinem aktiven Auftrag arbeitete, recherchierte sie für ihre Abschlussarbeit. So hatte sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: einen Studienabschluss in Literaturwissenschaften und erste Berufserfahrung – auch wenn diese nichts mit ihrem Studium gemeinsam hatte. Dennoch hatte Jodie Kriminalistik als Nebenfach gewählt, was einen gewissen Einfluss auf ihre Abschlussarbeit hatte.

Als ihr Handy klingelte, blickte sie auf dieses. Die Nummer kannten nur wenige und wenn es keine Werbung war, bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Nachricht wichtig war. Jodie nahm das Handy und rief die Nachricht auf. Jemand sucht nach dir. Pass auf dich auf. Sie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte sie gehofft, dass James die Suche endlich aufgab, aber er scheinbar hatte er einen weiteren Versuch unternommen. Dabei hatte sie ihm im Brief eindeutig klar gemacht, dass sie nicht gefunden werden wollte. Dass sie ein neues Leben ohne die Spuren der Vergangenheit beginnen wollte. Einerseits verstand sie ihn, seit Jahren war er wie ein Vater für sie, aber manchmal erdrückte sie seine Fürsorge.

Die junge Frau seufzte und legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Sie war dankbar für die Nachricht, denn nun wusste sie, dass sie wieder vorsichtig sein musste. Dabei hatte sie gehofft, dass dieses Leben hinter ihr lag. Aber vielleicht hätte sie nicht wieder nach New York kommen sollen. Erneut zweifelte sie an ihrer Entscheidung von vor zwei Jahren. Doch egal wo sie war, es schien, als wäre ihr kein Glück vergönnt. Weder früher noch jetzt.

Nach dem Mord an ihren Eltern kämpfte sie immer wieder aufs Neue darum und gab die Hoffnung nicht auf. Und immer wenn sie glaubte, dass es endlich bergauf ging, passierte irgendwas Furchtbares. Damals der schreckliche Unfall auf der Studentenfeier, in dessen Anschluss sie das Gespött an der ganzen Universität war. Aber das war belanglos, im Vergleich zum Mord an ihren Eltern.

Seit Jahren versuchte Jodie die Mörderin ihrer Eltern zu finden. Genau so lange tappte sie im Dunkeln. Damals hatte sie dem FBI alles erzählt, was sie wusste. Es begann mit dem Mord an ihrer Mutter im Flur, ging dann dazu über wie sich Jodie im Wohnzimmer wiederfand und mit der Frau sprach und endete damit, wie sie James traf und mit ihm wieder nach Hause fuhr. Erst vor dem brennenden Haus hatte sie das wahre Ausmaß des Abends realisiert. Schlimmer war allerdings, dass das FBI seitdem keine einzige Spur hatte – zumindest kam ihr das so vor. A secret makes a woman woman. Diese Worte wiederholte sie immer wieder. Bei jedem Gespräch achtete sie darauf, ob der Satz fiel. Selbst dem FBI hatte sie diesen Satz genannt und gehofft, dass die Frau gefunden wurde. Da es nicht anders ging, musste sie die Suche auf eigene Faust vornehmen und versuchte an die Ermittlungsakten zu kommen – zwecklos.

Jeder FBI Agent mit dem sie sprach, verwies sie auf James Black. Aber James wollte ihr die Unterlagen nicht zur Verfügung stellen. Vor viereinhalb Jahren traf sie dann auf Roy. Zu jenem Zeitpunkt saß Jodie auf den Treppenstufen vor dem FBI Gebäude und weinte. Sie war enttäuscht und verletzt, da sie keinen Schritt weiter kam und ihr keiner helfen wollte. Nicht einmal James, der ihr versprach, immer an ihrer Seite zu sein und sie zu unterstützen. Dann kam Roy, setzte sich zu ihr und hörte ihr einfach nur zu. Es war lange her, dass sie sich wieder geborgen fühlte und sie war sogar ein klein wenig verliebt, in diesen netten Mann. Er war genau das, was sie gebraucht hatte. Und auch wenn er ihr nichts zu den Ermittlungen sagen durfte, die Gespräche mit ihm taten ihr einfach gut.

Selbst dann, als das mit dem Studenten war. Er war für sie da, doch den ganzen Schmerz konnte er nicht von ihr nehmen. Nicht einmal dann, als sie von ihren Kommilitonen gemieden und das Gesprächsthema Nummer eins an der Universität war. Alles fühlte sich surreal an und dann schlug ihr Roy vor, die Stadt zu verlassen - gemeinsam ein neues Leben beginnen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es war eine schöne Vorstellung, aber dennoch gab es Menschen, die sie nicht einfach so ziehen lassen würden. Deswegen hatten sie sich einen Ausstiegsplan überlegt und gehofft, dass James es verstehen und nicht nach ihr suchen würde. Im Nachhinein war es ein kindischer Plan. Sie sollte sich verstecken, um nicht mehr an die Vergangenheit erinnert zu werden. Und da ihre Verbindung zu Roy bereits durch die Besuche im Büro bekannt war, mussten sie erst einmal getrennt leben und es so aussehen lassen, als hätte er auch keine Ahnung wo sie war.

Ein Jahr lebte sie in Ohio unter falschem Namen und erstaunlicherweise ging es ihr gut dabei. Sie hatte sich eine ganz andere Identität aufgebaut, nette Menschen kennengelernt und geglaubt, Frieden gefunden zu haben. Sie war nicht mehr wie früher. Selbst die Arbeit in dem kleinen Diner in Wilmington mochte sie. Ihr Studium hatte sie zwischenzeitlich pausiert. Gegen ihre Wohnung konnte sie auch nichts sagen, auch wenn es natürlich besser ging. Aber alles hatte seinen Preis, genau wie ihre äußerliche Veränderung. Jodie musste immer auf die Pflege ihrer Perücke, aber auch die Kontaktlinsen achten. Außerdem hatte sie ihren Kleiderstil verändert und sich den Bewohnern angepasst. Mit Roy hielt sie ein Jahr Kontakt, telefonisch, per Nachrichten und besonders dann wenn er sie besuchen kam. Sie liebte seine Besuche und genoss die Zeit mit ihm. Auch wenn ihr James leid tat, konnte sie sich nicht bei ihm melden. Nur ein vollständiger Schnitt würde Beiden helfen.

Aber es gab trotzdem jemanden, der es nicht gut mit ihr meinte. Der neue Vermieter war…alles andere als ein Sonnenschein. Allein bei dem Gedanken an diese Zeit, jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

Jodie hatte sich nichts dabei gedacht, als sie ein Paket für ihren Vermieter annahm. Er wohnte nur zwei Etagen unter ihr und hatte sie immer gegrüßt, ihr die Tür geöffnet und ihr manchmal sogar Kleinigkeiten aus dem Supermarkt mitgebracht. Brokkoli als Blumenstrauß war allerdings ein sehr perfider Scherz, zumal sie Brokkoli nur aß, wenn es unbedingt sein musste.

Als er am Abend sein Paket abholen wollte, hatte sie sich nichts Böses dabei gedacht. Während sie sein Paket holte, betrat er ihre Wohnung und schloss die Tür.

„Hier haben wir es ja schon, Mr. Clyde“, sagte Jodie und reichte ihm den Gegenstand.

„Mr. Clyde war mein Vater“, gab er von sich und verzog das Gesicht. „Nennen Sie mich John und ich nenn Sie von nun an Maria. Deal?“

„Ja, in Ordnung“, antwortete sie überrascht und ging zu Tür. Maria war in diesem Jahr ihr offizieller Rufname. Anfangs hatte es gedauert, bis sie sich daran gewöhnte, aber nun war es kein Problem mehr. „Sie müssen jetzt leider gehen, ich hab morgen die Frühschicht und sollte heute Abend nicht zu lange wach sein.“

Er versperrte ihr den Weg und lächelte. „Keine Sorge, ich bring Sie ins Bett.“ Ehe Jodie reagieren konnte, drückte er sie gegen die Wand. „Du willst es doch auch, ich seh es an deinen Blicken.“ Er leckte sich über die Lippen.

Mit einem Mal verengte Jodie die Augen und stieß ihr Knie gegen seinen Schritt. Anschließen drückte sie ihn von sich weg und zwang ihn auf die Knie. Bereits als kleines Kind war sie in Kampfsport und Selbstverteidigung unterrichtet worden und hatte auch in Ohio nicht damit aufgehört. „Fassen Sie mich nie wieder an. Nie wieder. Haben Sie das verstanden?“

„Du kleines Miststück“, entgegnete der Mann.

„Ich rufe jetzt die Polizei.“ Auch wenn Jodie wusste, dass sie dadurch für James leicht zu finden wäre, konnte sie ihren Vermieter nicht ungeschoren davonkommen lassen. Wer wusste, wem er sonst noch etwas antat.

„Das wirst du nicht tun“, gab er von sich und stürzte sich auf Jodie. Prompt war ein Zweikampf daraus geworden. Gegenstände auf den Möbeln fielen zu Boden, andere Gegenstände krachten gegen die Wand, laute Geräusche hallten durch die Wohnung. Schließlich war John Clyde mit einem Schuh auf Jodie losgegangen. Ihr Kopf dröhnte nach dem Schlag und sie wurde zu Boden gerissen.

„Du kleine Schlampe. Glaub ja nicht, dass du so einfach davon kommst.“ John setzte sich auf sie und begann sie zu würgen. „Wer nicht hören will, muss fühlen.“

Jodie rang nach Luft, zappelte und versuchte wieder die Oberhand zu gewinnen. Doch dann wurde ihre Wohnungstür aufgestoßen und ein älterer Mann riss ihren Vermieter von ihr. Jodie hustete und setzte sich auf. Automatisch kroch sie nach hinten, bis sie an die Wand stieß.

„Du lässt die Finger von dem Mädchen“, raunte der Mann und schlug John ins Gesicht. Er taumelte nach hinten und blieb liegen. „Braver Junge.“

Jodie schluckte und verzog das Gesicht. Ihr Hals schmerzte, trotzdem sagte ihr Instinkt, dass sie nicht mehr in der Wohnung bleiben konnte. Langsam kam sie wieder auf die Beine. Als sie den ersten Schritt Richtung Tür machte, sah der Mann zu ihr. „Bitte…tun Sie mir…nichts…“, wisperte sie.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Ich tu dir nichts“, fing er an. „Du bist Jodie, Jodie Starling, nicht wahr?“

Jodie sah ihn entsetzt an. Woher wusste er das? Hatte Roy ihn geschickt? Hatte James sie wieder suchen lassen?

„Ich hätte dich fast nicht erkannt. Äußerlich hast du ziemlich verändert, aber nach dieser…Rangelei sieht man den Ansatz deiner Perücke.“ Er lächelte.

„Sie…sind der Mann, der…im Diner…war“, murmelte sie leise und zog die Perücke gänzlich vom Kopf. In den letzten Tagen hatte sie ihn häufiger im Diner in Wilmington gesehen und bedient. War er ihr tatsächlich über 70 Kilometer bis nach Hause gefolgt?

„Nenn mich Ed“, entgegnete er. „Ich bin Privatdetektiv und wurde von James Black engagiert um dich ausfindig zu machen. Es war wirklich nicht leicht deinen Spuren zu folgen. Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.“

„Sie sind von James beauftragt worden mich zu finden?“, fragte Jodie leise.

„Das bin ich. Einen Moment.“ Er griff in seine Jackentasche und holte eine Karte heraus. Diese reichte er Jodie. „Siehst du, ich habe nicht gelogen.“

Edward Sherman - Privatdetektiv

„Dann haben…Sie mich jetzt ja gefunden. Und…jetzt?“

Er nickte. „Bitte entschuldige, dass ich dir vom Diner aus hierher gefolgt bin, aber nachdem ich dich in Wilmington und Umgebung nicht mehr finden konnte, hatte ich keine andere Wahl.“

„Woher wussten Sie, dass das…hier…?“

„Ich habe draußen im Wagen gewartet und wollte dir ein paar Minuten zum frisch machen geben, ehe ich hochkomme. Dann habe ich den Lärm gehört.“

„Und…was haben Sie jetzt vor? Rufen Sie…James an?“

Ed blickte zu ihrem Vermieter. „Mach dir um ihn keine Sorgen, ich werde ihn der Polizei übergeben. Bestimmt bist du nicht die erste Frau der er so etwas antun wollte. Ich zweifel nicht daran, dass ich schnell fündig werde. In der Zwischenzeit möchte ich dich bitten hier in der Wohnung zu bleiben und danach mit mir wieder nach New York zu kommen. James hat sich Sorgen um dich gemacht.“

Jodie schluckte. „Ich..“ Sie schaute zur Tür.

„Bitte lauf nicht wieder weg“, sagte Ed ruhig. „Ich kann dir helfen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Mir kann keiner helfen. New York war…“ Jodie fehlte die weitere Kraft zum Stehen. Daher ließ sie sich zu Boden gleiten. „Ich hab dort nur schlimme Erfahrungen gemacht.“

„Ich weiß. Deine Eltern sind vor vielen Jahren gestorben. Ich kannte deinen Vater. Wir haben früher oft zusammengearbeitet. Er war ein echt netter Kerl und ist ein guter Freund geworden. Immer wenn wir uns getroffen haben, hat er von seinem kleinen Mädchen erzählt.“

„Sie kannten meinen…Dad?“

„Ja und ich war über seinen Tod sehr bestürzt. Deswegen war es mir auch eine Herzensangelegenheit dich zu finden und wieder nach Hause zu bringen.“

„Nach Hause…“ Jodie kamen die Tränen. „Ich weiß nicht, ob es noch mein zu Hause ist. Meine Eltern sind…tot und das FBI tut nichts um ihre Mörderin zu finden…und sie geben mir keine Information, damit ich…mich auf die Suche machen kann. Ich weiß nicht, ob ich…wieder zurück gehen kann…ich kann nicht wieder in mein altes Leben. Ich bin nicht mehr die, die ich damals war. Ich…ich habe kein zu Hause mehr…“

Ed kniete sich zu ihr und strich ihr über die Wange. „Natürlich hast du noch ein zu Hause. Es ist bei den Menschen die dich lieben. Dich vor ihnen zu verstecken, ist keine Lösung. Damit sorgst du nur bei diesen Menschen für Schmerz. Ich versteh dich ja, es ist nie einfach mit einem so immensen Verlust umzugehen, aber glaub mir, irgendwann wird es leichter. Und wenn du möchtest, unterstütze ich dich in New York. Wir können gemeinsam nach der Mörderin deiner Eltern suchen. Ich versprech es dir.“ Er reichte ihr seine Hand. „Was sagst du?“

Jodie schluchzte, ehe sie sich gänzlich in den Tränen verlor. Obwohl ihr Kopf ihr sagte, dass sie es nicht tun sollte, sprach ihr Herz eine andere Sprache. Ihre zittrige Hand nahm seine. „Bitte…helfen Sie mir…“

Rückkehr nach New York

Ed hielt sein Versprechen. Während Jodie weiterhin in ihrer Wohnung hockte – und auch daran dachte, wieder wegzulaufen – brachte er ihren Vermieter zur Polizei. Sie wusste allerdings nicht, was dort besprochen wurde. Aber was es auch wahr, es sorgte dafür, dass ihr Vermieter für mindestens 24 Stunden in Gewahrsam blieb. Sie war froh, denn so konnte sie mit diesem Leben abschließen, ohne ihm erneut gegenübertreten zu müssen.

Trotzdem war Jodie weiterhin verunsichert und brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Gefühlsausbruch war ihr peinlich, aber nun musste sie das Beste daraus machen. Und leider hieß dies, dass sie wieder nach New York zog. Weder Roy noch James hatte sie informiert, da ihre Angst die Beiden enttäuscht zu haben, zu groß war. Roy hatte wegen ihr seinen Job riskiert und letzten Endes war dies umsonst. Dafür würde sie von James mit offenen Armen empfangen und von seiner Liebe erdrückt werden.

Die ganze Nacht hatte Jodie damit verbracht, verschiedene Kündigungsschreiben aufzusetzen. Da Ed sie am nächsten Morgen abholen wollte, hatte sie ein schlechtes Gewissen, einfach nicht zur Arbeit im Diner zu erscheinen. Sie wusste zwar, dass sie nicht die Erste sein würde, die so was tat, aber für ihren Boss und ihre Kollegen tat es ihr dennoch Leid. Aber es musste nun einmal sein. Glücklicherweise sah es bei der Wohnung anders aus. Sie hatte noch nicht so viele Sachen in ihrer Wohnung und alles, was nicht in die Tasche passte, würde sie später holen. Oder jemanden für das Ausräumen der Wohnung engagieren.

Aber auch nachdem sie damit fertig war und endlich ins Bett gehen konnte, lag sie wach. In ihrem Kopf lief ein Film mit verschiedenen Szenarien, wie ihre Rückkehr nach New York aufgenommen werden würde. Obwohl sie keine Angst haben musste, hatte sie sie. Und so wurde aus der kurzen Nacht eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen war sie vollkommen übermüdet in Eds Wagen gestiegen und nach zehn Minuten Fahrt eingeschlafen.

Eine Stunde bevor sie in New York ankamen, wurde die junge Frau wieder wach. Verschlafen blickte sie aus dem Fenster. „Mhm…wo bin ich…?“

Ed schielte zu ihr. „Wir sind auf dem Weg nach New York. Es dauert nicht mehr lange.“

Jodie rieb sich die Augen. „Verstehe. Glauben Sie, es war richtig…meine Zelte in London und Wilmington einfach so abzubrechen?“

„Bitte versteh das nicht falsch“, begann er. „Aber du hast das auch schon vor einem Jahr gemacht. Hattest du damals auch ein schlechtes Gewissen?“

Jodie schluckte, dann nickte sie. „Es war…nicht einfach. Aber…es war besser so.“

Ed blickte auf die Straße. „Ich werde mich um die Auflösung deiner Wohnung kümmern. Und wenn du möchtest, rede ich mit deinen Kollegen im Diner. Ich habe die halbe Nacht gegen deinen Vermieter ermittelt. Du musst keine Aussage machen, ich habe da bereits andere Opfer im Auge. Um den Rest kümmer ich mich von New York aus.“

„Danke“, wisperte Jodie und lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe. „Allein schaff ich das alles nicht. Ich war noch nie gut im Alleinsein.“

„Denk so was nicht. Du hast ein paar schlechte Tage gehabt, aber irgendwann scheint auch wieder die Sonne.“

„Stand das in einem Glückskeks?“

„Nein, das hat dein Vater mal zu mir gesagt, als es mir nicht so gut ging.“

Jodie kämpfte mit den Tränen. „Dad…ich vermisse ihn…und Mom…jeden Tag…“

Ed nickte verstehend. „Irgendwann wird es leichter.“

„Es ist schon fast 20 Jahre her“, warf Jodie ein. „Und es ist noch nicht leichter geworden.“

„Natürlich nicht“, entgegnete Ed ruhig. „Die Mörderin deiner Eltern ist noch nicht gefasst worden. Und solange dies der Fall ist, kannst du nicht damit abschließen. Wir finden sie, ich werde alles tun was ich kann. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Ich weiß nicht einmal was damals genau passiert ist“, gab sie leise von sich.

„Erzähl mir davon. Bitte.“ Er sah wieder zu ihr. „Nur wenn du willst. Wir können aber auch später darüber reden. Aber wenn ich dir helfen soll, muss ich es wissen.“

Jodie schluckte. Egal wie oft sie es einer Person erzählte, es wurde nicht einfacher. „Wie ich mittlerweile weiß, hatte mein Vater einen Fall beim FBI übernommen. Was er genau gemacht hat, wollen sie mir bis heute nicht sagen. Ich war klein und hab…geschlafen. Als ich Stimmen gehört habe, bin ich wach geworden. Mein Vater hatte mir eine Gute-Nacht-Geschichte versprochen, deswegen habe ich mein Zimmer verlassen und bin runtergegangen. Als ich im Wohnzimmer war…war da diese Frau. Damals habe ich nicht gewusst, in welcher Gefahr ich mich befand und…sie wirkte nett. Wir haben geredet und sie gab mir sogar die Brille meines Vaters zurück. Natürlich habe ich sie dem FBI gegeben wegen der Fingerabdrücke. Sie war es auch, die mir sagte, dass mein Vater schläft.“ Jodie wischte sich die Tränen weg. „Ehrlich gesagt, war ich sogar etwas wütend auf meinen Vater. Er hatte mir eine Geschichte versprochen und dann schlief er selbst. Seitdem kann er mir keine Geschichten mehr vorlesen. Ich habe…dann bei ihm gewartet, bis er aufwacht. Irgendwann wurde mir langweilig und ich wollte ihm Saft aus der Küche holen. Er war alle und ich bin rausgegangen, um eine neue Packung zu kaufen. Die Therapeuten haben gesagt, dass ich wohl mehr mitbekommen habe und mich der Schock dazu gebracht hat, das Haus zu verlassen. Allein oder ohne Erlaubnis durfte ich das Haus nicht verlassen, aber damals… Draußen habe ich dann James getroffen. Er brachte mich nach Hause und dort stand das Haus in Flammen. Ich erinnere mich noch daran, wie zwei schwarze Säcke aus dem Haus getragen wurden.“

„Leichensäcke…“

Jodie nickte. „Meine Eltern lagen darin.“ Sie schloss ihre Augen. „Ich erinnere mich nicht mehr daran, wo meine Mutter war. Sie war zu Hause, aber nicht im Wohnzimmer und auch nicht in der Küche. Aber sie ist in dem Haus gestorben. Sie haben mir gesagt, dass ich nicht nur unter Schock stand, sondern mich auch schuldig fühlte, weil ich überlebt habe und…meine Eltern nicht. Mittlerweile stimme ich dem zu. Wäre ich nicht rausgegangen, wäre ich jetzt auch tot.“

„Jodie. Du musst dich nicht schuldig fühlen. Du hast überlebt, weil es dein Schicksal war.“

„Das sage ich mir auch immer…und das ich die Mörderin hinter Gittern bringen soll.“

„Möchtest du später zum FBI gehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann kein Blut sehen. Mir wird sofort schlecht und mein Kreislauf bricht zusammen. Das ist wohl…seit diesem Abend…“

„Aber du versuchst trotzdem die Wahrheit herauszufinden, weil es das FBI nicht schafft.“

„Hat Ihnen das James gesagt?“

„Er sagte, dass du die Akten einsehen wolltest.“

„Ja“, nickte sie. „In den Nachrichten hieß es, das der Brand ein Unfall war, aber FBI intern weiß jeder, dass er in Ausübung seiner Pflicht gestorben ist. Und meine Mutter war ein zusätzliches Opfer…ein Kollateralschaden, wenn man es so will. Ich bin regelmäßig zum FBI und habe…versucht Einsicht in die Akten zu bekommen. Ich wollte unbedingt lesen, was mein Vater damals alles getan hat und…was das FBI zum Tod meiner Eltern ermittelt hat. Ich hatte die Hoffnung, dass ich etwas finde, was die anderen übersehen haben. Sehr unrealistische Vorstellung, ich weiß. Aber ich habe die Akten nicht bekommen, obwohl ich zur Familie gehöre. Sie sagten, es wäre, weil es sich um interne Akten handelt.“

Ed nickte. „Das ist auch richtig. James hat mir von damals erzählt und ich habe auch versucht an die Akten zu kommen. Ich habe ihnen meine Hilfe angeboten, aber das hat mir auch nichts gebracht. Die einzige Möglichkeit wäre Diebstahl, aber das ist keine Option.“

„Ich weiß“, murmelte Jodie. „Ich habe auch daran gedacht. Diebstahl der Akten wird schwer geahndet. Und wenn man eine Akte aus dem Archiv entnimmt, muss man sich in eine Liste eintragen. Selbst, wenn man eine Akte im elektronischen Archiv liest, wird das vermerkt. Und aufgrund des Arbeitsvertrages darf man nichts an Außenstehende verraten. Selbst wenn man das wollte, bestimmte Akten sind nur wenigen Agenten zugänglich.“

Ed fuhr weiter. „Was ist dann passiert? Du hast die Akten nicht bekommen, aber deswegen verlässt man nicht die Stadt.“ Natürlich hatte er einiges von James erfahren, aber er musste es mit ihren eigenen Worten hören.

„Nein, nicht deswegen…“ Jodie öffnete ihre Augen und sah auf die Straße. „Ich habe beim FBI einen Agenten kennengelernt. Er hat mich getröstet und mir zugehört. Wir haben uns…verliebt und es tat mir gut, mit ihm über alles zu reden. Irgendwann hab ich auch gar nicht mehr daran gedacht, die Akten lesen zu wollen. Die Beziehung tat mir gut, aber dann…dann war ich auf einer Studentenfeier. Ein Mädchen wurde von einem Typen bedrängt und ich wollte ihr helfen. Dabei ist er gestürzt und im Krankenhaus gelandet.“ Jodie seufzte. „Es gab einen Deal und ich musste Schmerzensgeld zahlen. Danach war ich das Gespräch der ganzen Uni und…ich wurde ausgegrenzt. Eigentlich wollte ich es durchstehen…irgendwie wäre es schon gegangen, aber es war schwerer als gedacht. Mir ging es immer schlechter und dann hat R…mein Freund vorgeschlagen, dass wir zusammen weggehen. Es klang plausibel und ich dachte, dass mir der Ortswechsel gut tut. Das Problem war nur James. Ich hatte Angst, es ihm zu sagen und vor seiner Reaktion. Selbst wenn ich weggezogen wäre, er hätte oft angerufen oder wäre vorbei gekommen und so…wären die Wunden immer wieder aufgerissen. Deswegen haben wir entschieden, dass es besser wäre, wenn ich ihm nicht sage, wo ich hingehe. Er bekam einen Abschiedsbrief von mir und wir organisierten es so, dass ich nicht zu finden bin. Das hieß aber auch, dass ich erst einmal unter einem anderen Namen Leben musste. Und wenn Gras über die Sache gewachsen wäre, hätte ich wieder als Jodie Starling Leben können. Aber James hat leider trotzdem nach mir gesucht.“ Sie seufzte. „Wie haben Sie mich gefunden?“

Ed lächelte. „Ich bin Privatermittler und schon lange im Geschäft. Ich weiß, wie ich jemanden finden kann, der nicht gefunden werden will. Es war eine gute Idee, dass dir ein FBI Agent geholfen hat, das hat die Sache schwerer gemacht. Aber wenn man tiefer wühlt, findet man immer was. Am Ende musste ich einfach nur meine Mitarbeiterinnen mit der Suche betrauen. Sie riefen bei Versicherungen und Banken an und gaben sich als du aus. Sie verwickelten die Leute in ein Gespräch und können mit gezielten Fragen die richtigen Antworten herausfinden. Außerdem habe ich ein paar…Bekannte, die mir noch einen Gefallen schulden. Über deine Sozialversicherungsnummer konnte ich deine Arbeitsstelle herausfinden. Und mit den Angaben der Versicherung und der Bank konnten wir den Ort gut eingrenzen. Und dann musste ich nur noch ins Diner.“

Jodie sah zu ihm. „Durch meinen Abschiedsbrief hätte man das auf offiziellem Weg nicht in Erfahrung bringen.“

„Genau, aber deswegen gibt es uns Privatermittler. Wir bewegen uns in einer Grauzone. Wir müssen uns zwar auch an das Gesetz halten, haben aber mehr Spielraum als die Polizei und das FBI.“

Jodie rutschte auf dem Sitz hin und her. „Verstehe. Ich habe noch niemanden gesagt, dass ich wieder nach New York komme. Ich möchte nicht, dass mein Freund Ärger bekommt, weil er mir geholfen hat.“

„Das können wir gern verschweigen. Allerdings wird James sicher wissen wollen, wie du es geschafft hast, ein Jahr unterzutauchen.“

„Das dachte ich mir schon“, murmelte Jodie und atmete tief durch. „Ich weiß nicht, was ich James sagen werde, wenn wir uns wiedersehen. Mit einem Es-tut-mir-Leid wird es wohl nicht genügen.“

„Das seh ich anders. Black würde dir alles verzeihen, solange er dich nur wiedersieht. Wie hast du dir eigentlich dein weiteres Leben vorgestellt?“

„Ich wollte erst einmal…ein wenig Geld verdienen…im Diner. Und dann in ein oder zwei Jahren mein Studium wiederaufnehmen. „Literaturwissenschaften. Entweder an einer anderen Uni oder per Fernstudium. Und…“ Jodie sah auf ihre Hände. „…auch wenn ich eigentlich ein neues Leben beginnen wollte, wollte ich irgendwann doch die Mörderin meiner Eltern finden. Ich weiß, das ist total widersprüchlich.“

„Manchmal sind wir Menschen eben widersprüchlich“, gab Ed von sich. „Ich kann dich sehr gut verstehen und wie ich es dir gestern schon sagte, ich helfe dir gern bei der Suche.“

„Ja, das sagten Sie“, entgegnete Jodie. „Glauben Sie, das wäre im Sinne meiner Eltern?“

Ich glaube, deine Eltern hätten gewollt, dass du glücklich wirst. Weißt du, was mir dein Vater mal erzählt hat?“

„Was?“

„Du hast ihm irgendwann mal erzählt, du würdest später auch FBI Agentin werden. Er fand es zwar sehr gefährlich und wollte nicht, dass du diesen Berufsweg ergreifst, aber er hatte auch davon berichtet, wie er sich die Arbeit mit dir vorstellte. Ihr wäret Partner und könntet euch immer aufeinander verlassen.“

Jodie kamen wieder Tränen. Sie wischte sich diese weg, ehe sie nicht mehr aufhören konnte.

Ed nahm die Ausfahrt nach New Jersey und bog dann in eine kleine Straße ein.

„Hier geht es nicht zum FBI“, murmelte Jodie. „Und auch nicht zu James nach Hause.“

„Ich weiß.“ Ed hielt vor einem Gebäude und zeigte auf dieses. „Hier ist mein Büro. Ich habe mich entschieden, dir zu helfen. Und…ich kann verstehen, warum du James nichts gesagt hast. Das heißt nicht, dass ich es gut finde. Und wenn…du wirklich die Mörderin deiner Eltern finden willst, müssen wir uns einen guten Plan überlegen. Mit deiner Rückkehr würdest du beim FBI für Furore sorgen. Sie alle würden wieder mehr auf dich achten und darauf, dass du nicht an die Akten kommst. Außerdem…“ Er runzelte die Stirn.

„Außerdem?“

„Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn ich der Mörder deiner Eltern wäre und aus der Zeitung erfahren hätte, dass an jenem Abend nur zwei Leichen gefunden wurden, hätte ich dich entweder sofort beseitigt, später oder ich hätte dich im Auge behalten.“

Jodie schluckte. „Sie glauben, sie…“

„Es könnte sein, muss aber nicht. Ich bin mir sicher, dass dich davor das FBI auch nicht aus den Augen ließ…oder Black. Und wenn sie seitdem die Füße stillgehalten hat, kann das auch was anderes bedeuten. Aber das sollten wir rausfinden. Und ich möchte dich nicht in Gefahr bringen. Dein Vater hätte gewollt, dass ich auf dich aufpasse und beschütze. Deswegen…habe ich mich entschieden, dass wir deine Rückkehr verschweigen, auch vor Black.“

Jodie blickte ihn überrascht an.

„Meine Mitarbeiterinnen werden auch schweigen. Wir werden uns um dich kümmern und du kannst bei uns arbeiten. Du wirst keine Klienten betreuen und bleibst in deinem Büro, auch wenn Black kommt. Außerdem wirst du dein Studium wieder aufnehmen. Wir werden schauen, ob ein Fernstudium möglich ist. Ich werde dir eine Wohnung besorgen. James wird nicht auf die Idee kommen, dass du wieder in New York bist, dennoch solltest du vorsichtig sein, wenn du raus gehst. Deinem Freund sagst du auch nichts. Er wäre nur ein Risiko. Am besten du behältst das mit der Perücke und den Kontaktlinsen ebenfalls bei.“

Jodie biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte Roy nicht belügen, aber die Argumente waren eindeutig. „Danke“, wisperte Jodie.

„Heute bin ich mir sicher mit der Entscheidung, aber…falls ich meine Meinung doch ändere…oder du deine, dann reden wir darüber, in Ordnung?“

Jodie nickte.

„Jodie?“

„Jodie?“ Ihre Kollegin seufzte und tätschelte ihre Schulter.

„Mhm? Milena…entschuldige…“

„Ist alles in Ordnung?“

Interview mit Folgen

Milena beobachtete Jodie, während sie einen Stapel an Akten auf den Tisch legte.

„Mhm…“, murmelte Jodie. „Ja, alles in Ordnung. Ich hab nur…an die Vergangenheit gedacht.“ Es war schon lange her, dass Jodie das letzte Mal an die Zeit von vor zwei Jahren dachte. In der Zwischenzeit war so viel passiert und Jodie konnte nicht sagen, was passiert wäre, wäre sie nicht mit Ed wieder zurück nach New York gekommen.

„An die Vergangenheit?“, gab Milena nachdenklich von sich. „Stimmt, wir kennen uns jetzt schon eine ganze Weile.“

Jodie nickte. Noch am Abend des gleichen Tages wurde sie von Ed in die Detektei gebracht und seinen Mitarbeitern vorgestellt. Daniel arbeitete bereits seit fünf Jahren in der Detektei und war Jodie gegenüber eher skeptisch. Doch es dauerte nicht lange bis er sie als neue Kollegin akzeptierte. Milena hingegen hatte sie sofort ins Herz geschlossen und wurde zu einer guten Freundin. Sie selbst arbeitete erst seit zwei Jahren für Ed, hatte allerdings einen zusätzlichen Vertrauensbonus, da sie seine Tochter war.

Wenn Jodie die Beiden im Umgang miteinander sah, beneidete sie sie und stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie mit ihrer Familie aufwuchs. Aber nicht nur das. Ihr Herz wurde jedes Mal schwer, wenn sie daran dachte, dass sie auch mit ihrem Vater hätte zusammenarbeiten können, wenn nur alles anders gekommen wäre. Vielleicht wäre sie dann glücklich geworden und hätte ein ganz anders Leben, möglicherweise sogar einen Freund oder Mann. Aber scheinbar war ihr dies nicht vergönnt. Trotzdem wollte sie nicht daran denken, was passiert wäre, wenn alles anders gekommen wäre. Die Vergangenheit konnte keiner ändern und deswegen musste sie das Beste daraus machen.

Seit ihrer Rückkehr arbeitete Jodie für Ed. Anfänglich war sie nur für die administrativen Tätigkeiten zuständig, wie Briefe sortieren, Termine absprechen, Akten archivieren und alle anderen Kleinigkeiten, die anfielen. Milena und Ed hingegen kümmerten sich darum, dass Jodie Lebensmittel und Kleidung zur Verfügung stand. Sie begleiteten sie zu Behördenterminen oder nahmen diese in ihrem Namen war und arrangierten für sie auch eine Wohnung in der Nähe. Kurze Wege waren ein Vorteil, wenn man nicht gefunden und gesehen werden wollte. Nach einem halben Jahr durfte Jodie tiefer in die Aufträge und Fälle eintauchen und die Hintergrundrecherche durchführen. Besonders Milena war es, die sie jedes Mal tadelte, wenn Jodie einen Fehler machte. Es tat ihr auch irgendwie gut, dass man sie nicht mit Samthandschuhen anfasste und ihre Vergangenheit vor Augen führte. So kam es auch dazu, dass Jodie noch einmal ein Training zur Selbstverteidigung absolvieren musste – auch wenn sie dies bereits beherrschte. Danach wurde ihr vieles zu den Arbeitsabläufen und Vorgängen erklärt und sie musste eine Hintergrundrecherche zur Übung durchführen durchführen, während Daniel genau das Gleiche tat. Am Ende verglichen sie die Ergebnisse und danach konnte sie ihre Kollegen in der Arbeit unterstützen. Bei Observationen abends oder in der Nacht, die nicht gefährlich waren, durfte Jodie an Eds Seite im Wagen sitzen und beobachten. Sie hatte viel an diesen Abenden von ihm gelernt, vor allem wie man sich am besten vor den anderen Menschen versteckte und nicht auffiel.

Wiedererwarten machte ihr die Arbeit in der Detektei tatsächlich Spaß. Allerdings gab es immer noch ein Problem: Die Waffe. In Amerika war es normal, dass Menschen eine Waffe besaßen und auch dass Kinder schon frühzeitig im Umgang damit geschult wurden. Jodie hatte in ihrer Kindheit bereits gelernt, dass Waffen großen Schaden anrichten konnten, aber auch Leben retten, je nachdem wer sie einsetzte. Ihr Vater hatte sie schon damals häufiger zum Schießstand mitgenommen und sie die Waffe bedienen lassen – sehr zum Unmut ihrer Mutter. Damals hatte sich Jodie auch gefreut, aber mittlerweile konnte sie keine Waffe in der Hand halten. Ed hatte es mehrfach versucht und ihr eine ungeladene Waffe in die Hand gedrückt. Jedes Mal ließ Jodie diese sofort auf den Boden fallen und bekam eine Panikattacke. Sie konnte kaum atmen und schwitzte. Erst Ed schaffte es sie wieder zu beruhigen und brachte ihr ein paar Atemübungen bei.

Und so kam es, dass sie sich langsam in die kleine Gemeinschaft integrierte und sogar ihr Studium wieder aufnahm – allerdings als Fernstudium. So konnte sie an den Vorlesungen und Seminaren online teilnehmen und wurde nur mit ihrer neuen Studentenummer im Chat angezeigt. Nur zu den Klausuren musste sie hinfahren, was aber kaum ein Problem darstellte.

„Und weil wir uns so lange kennen, sehe ich dir an, dass irgendwas los ist.“

„Wie gesagt“, entgegnete Jodie ruhig. „Ich habe nur wieder an die Vergangenheit gedacht. Eigentlich sogar an die Zeit, wie ich Ed kennengelernt habe. Ich habe damals nicht vorgehabt mit ihm zu gehen, aber als er mit mir sprach, habe ich meine Meinung geändert. Und jetzt wo ich hier bin…ich kann mich gut ablenken, aber manchmal frage ich mich schon, was aus James und Roy geworden ist…wie es ihnen geht und…was sie über mich denken, würden sie mich jetzt hier sein.“

„Ach Jodie“, murmelte Milena. „Mach es dir doch nicht so schwer. Wenn du sie sehen willst, dann geh zu ihnen. Dad hat sicher nichts dagegen.“

„Ich weiß ja nicht“, sprach Jodie leise. „Damals klang alles wie eine gute Idee und…ich bin auch sehr froh, diese Erfahrung gemacht zu haben, aber jetzt weiß ich nicht, ob…“

„..ob das damals nicht ein Fehler war?“

Jodie nickte.

„Mein Vater wusste worauf er sich einließ und er wusste auch, dass du Zeit brauchst. Deswegen hat er dir auch dieses Angebot gemacht. Hätte er dich sofort wieder zum FBI gebracht, wärst du vielleicht wieder untergetaucht oder du wärst unglücklich geworden. Deswegen hat er gelogen und hilft dir beim Verstecken. Aber er weiß auch, dass es nicht ewig so weitergeht.“

Jodie schluckte. „Das passt zu ihm. Er kannte auch meinen Vater und…hat mich deswegen auch so sehr unterstützt. Soll ich dir noch was verraten?“

„Mhm?“

„Als ich wieder hier war, habe ich die Nähe zu Roy gesucht. Ich weiß, das war gefährlich, aber ich wollte ihn unbedingt sehen und auch James. Das hab ich damals häufiger gemacht, aber als Ed dann mehr anfing mir alles hier zu zeigen, hörte ich damit auf.“

„Das wissen wir“, kam es von Milena. „Mein Vater hat dich selbstverständlich auch in deinen ersten Tagen hier beobachtet. Was meinst du, warum wir das gesamte Ablenkungsprogramm gestartet haben.“

„Oh man“, Jodie kicherte trotzdem. „Ich hätte es mir denken können.“

„Mach dir nichts draus. Du musstest seit jeher auf der Hut sein und natürlich war es normal, dass du die Menschen, die dir damals wichtig waren, sehen wolltest. Deswegen hatte mein Vater die Sorge, dass du unvorsichtig werden würdest. So wie bei deiner Freundin aus Kindertagen.“

„Du meinst Leslie? Ja, das war wirklich…etwas blöd. Ich dachte am Haus meiner Eltern würde mich keiner erkennen, vor allem weil es mittlerweile jemand anderem gehört. Und dann kam Leslie auf einmal aus dem Nachbarhaus und hat mich angesprochen. Aber es hat auch Vorteile. Gerade eben hat sie mir geschrieben, dass man wieder nach mir sucht. Ich vermute, dass es wieder James ist.“

„Und was hast du jetzt vor?“

„Naja…ich denke, ich muss jetzt wieder vorsichtiger sein, wenn ich raus geh. Das bin ich natürlich, aber nun muss ich noch mehr auf der Hut sein. Dabei hab ich gehofft, dass James seine Suche mittlerweile aufgegeben hat. Aber scheinbar…“

„Es war doch vor kurzem der Todestag deines Vaters.“

Jodie nickte betroffen. „Ja, ich…hab ihn am Grab gesehen und bin dann gegangen…auch wenn es mir schwer fiel…vielleicht hat er wegen dem Datum wieder versucht…mich zu finden.“

„Das wär gut möglich“, entgegnete die junge Frau. „Er vermisst dich. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.“

„Das hast du doch schon“, gab Jodie von sich. „Du hörst mir immer zu und mehr erwarte ich nicht.“

Milena lächelte. „Ich bin immer für dich da.“

„Das weiß ich doch. Ach ja…weswegen bist du eigentlich hergekommen?“

„Ich hab dir gerade ein paar Akten auf den Tisch gelegt. Du müsstest sie bitte wegsortieren.“

Jodie blickte auf den Stapel. „Ach so, ja, mach ich gleich.“

„Danke und danach musst du mir helfen, meinen Vater ein wenig aufzuziehen.“

„Mhm? Was meinst du?“

„Hast du das nicht mitbekommen? Vor einigen Tagen kam doch diese Schauspielerin nach New York zurück. Sie hat vorher wohl in Japan gelebt. Kurz nach ihrer Rückkehr gab sie wohl ein Interview oder machte eine Home Story. Ich weiß es nicht mehr so genau, jedenfalls findet heute die Ausstrahlung in der Mediathek statt. Mein Vater ist ein Fan von ihr. Und jetzt erhofft er sich, Neues zu hören.“

„Für einen Fan hätte ich ihn eigentlich nicht gehalten“, kicherte Jodie. Ihr war klar, dass natürlich jeder Mensch Hobbies hatte und gewisse Dinge gern tat. Aber von Ed wusste sie eigentlich gar nicht was er mochte.

„Es gibt so viel, was du von ihm noch nicht weißt. Ich habe mir überlegt, dass wir uns auch mal in der Mediathek anschauen, was es gibt und wenn er uns dann Fragen stellt, geben wir ähnliche antworten.“

„Du bist ja fies.“

„Manchmal. Ich will ihn doch nur ein wenig ärgern“, entgegnete sie. „Also? Ja oder ja?“

„Na gut, du hast gewonnen. Ja. Wann wird es veröffentlicht?“

„In einer Stunde.“

„Gut, dann kümmer ich mich um die Akten und komm dann zu dir ins Büro“, sagte Jodie.

„Gut, bis gleich.“ Milena verließ das Büro und ging zu ihrem. Sie setzte sich und rief schon einmal die Mediathek auf. Immer wieder aktualisierte sie die Seite bis das Interview mit Sharon Vineyard abrufbereit war. Sie lächelte und wartete auf Jodie.

„Entschuldige, dass es länger gedauert hat.“ Die junge Frau hetzte in das Büro ihrer Kollegin, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. „Ist es schon online?“

„Ja. Wir können“, nickte Milena und startete das Interview.

Die beiden Frauen lauschten den Worten der Gesprächspartner. „Miss Vineyard, wir sind wirklich sehr froh, dass Sie uns heute die Chance für dieses Interview geben. Es war für uns alle eine Überraschung, dass Sie nun wieder nach Amerika zurückgekommen sind. Können Sie uns etwas dazu sagen?“

Sharon lächelte in die Kamera. „Ich freue mich auch. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, wie Sie vermutlich alle wissen, werde ich das nächste halbe Jahr eine Filmreihe drehen. In der Zeit möchte ich nicht zwischen New York und Tokyo pendeln müssen. Deswegen entschied ich mich, erst einmal hierzubleiben. Und wer weiß, was danach noch alles kommt. Vielleicht drehe ich dann noch weiter, vielleicht fliege ich dann aber auch wieder zurück nach Japan. Ich lasse mich überraschen, aber für das nächste halbe Jahr werden mich die Menschen hier auf der Straße sehen.“

„Miss Vineyard, ich möchte gern auf Ihr Leben in Japan zurückkommen. Sie sind vor einigen Jahren dorthin gezogen. Bereuen Sie das? Und was war der Grund für Ihren Umzug?“

„Nein“, antwortete die Schauspielerin. „Schon als ich ein kleines Mädchen war, nahm mich meine Mutter oft nach Japan mit. Sie hatte dort viele Freunde und ich habe sehr schnell Anschluss gefunden. Nach dem sehr frühen Tod meines Mannes brauchte ich einen Neuanfang und meiner Tochter gefällt es dort auch. Eigentlich planten wir maximal ein Jahr dort zu bleiben, aber ich habe mich schnell in die Kultur und die Mentalität verliebt und deswegen lebe ich dort. Aufgrund ihrer und meiner Kontakte habe ich auch in Japan verschiedene Filme und Werbespots drehen können. Selbstverständlich habe ich auch einige Dreharbeiten in den Staaten angenommen und bin immer für kurze Zeit wiedergekommen. Sie alle haben davon erst etwas mitbekommen, als die Filme abgedreht und ausgestrahlt wurden.“

„Das heißt, Sie könnten sich einen anderen Lebensort nicht mehr vorstellen?“

„Ja und nein. Ich denke, ich bin in der Lage wieder woanders zu leben, aber warum sollte ich? Ich habe mir mein Leben in Japan aufgebaut und das ist mir auch wichtig. Aber sollte sich etwas anderes ergeben, könnte ich mir auch vorstellen wieder in New York zu leben. Ich habe hier immer noch ein paar Freunde und eine sehr gute Freundin wollte ich unbedingt besuchen.“

Die Reporterin nickte verstehend. „Wo wir gerade beim Thema Freunde sind, gibt es in Japan jemanden, der auf Sie wartet?“

„A secret makes a woman woman.“ Sharon schmunzelte. „Sie werden sicherlich verstehen, dass ich zu meinem Privatleben keine Auskunft geben möchte.“

„Ja…ja natürlich“, gab die Dame von sich und setzte das Interview fort.

Jodie saß schockiert auf dem Stuhl und blickte auf das Video. A secret makes a woman woman. Das hatte sie gesagt – die Mörderin ihrer Eltern. Sie schluckte. „Milena?“

„Mhm? Soll ich auf Pause drücken?“

Jodie blickte zu ihr, als hätte sie einen Geist gesehen.

„Jodie? Was ist denn los?“

„Diese Worte…“, wisperte die junge Frau. „Sie hat sie auch gesagt…die Frau, die meine Eltern…“

„Was? Jodie, was redest du da?“

„Ich glaube, Sharon Vineyard hat…hat meine Eltern…auf dem Gewissen. Sie sagte genau das gleiche.“

„Bist du dir sicher?“

Jodie nickte. „Ich habe ihre Worte damals wieder und wieder wiederholt. Ich bin…mir sicher.“

„Aber Sharon Vineyard ist…eine Person der Öffentlichkeit. Du kannst…sie nicht so einfach zur Rechenschaft ziehen.“

„Das…das…stimmt“, sagte Jodie leise.

„Was hast du jetzt denn vor?“

Jodie seufzte. „Ich…ich wollte immer Gerechtigkeit und…vielleicht gibt es doch Beweise und wenn…wenn ich dem FBI sage, was ich weiß, vielleicht finden sie was.“

„Das heißt, du möchtest dich mit den Agenten treffen?“

„Ich…ich glaube, das sollte ich…jetzt ist alles anders…“

Milena beobachtete sie. „Aber vorher solltest du mit Dad reden.“

Meet and Greet mit Sharon Vineyard

Agent Jackson saß in seinem Wagen und tippte mit den Fingern auf das Lenkrad. Er blickte zu seinem Partner und Mentor. „Was hältst du von der Sache?“

Agent Fallon – der in der Vergangenheit bereits öfters mit Black, Decker und Starling gearbeitet hatte – verschränkte die Arme vor der Brust. Während seiner langjährigen Tätigkeit beim FBI hatte er schon vieles gesehen. Viele Grausamkeiten und den Hass in den Augen der Menschen. Viel schlimmer waren allerdings jene Täter die keine Reue zeigten und von denen man wusste, dass sie weitermachen würden, würden sie auf freiem Fuß bleiben. Und dann gab es noch die, die ihre Tat gut durchdacht hatten und jeden Ermittler auf eine falsche Fährte führen wollten. In einigen Fällen klappte dies sogar - zunächst. Aber Menschen machten Fehler. Egal wie gut ein Plan war, es gab immer eine Schwachstelle. Man musste sie nur finden. Und wenn es nicht die Dienststelle in New York war, dann ein anderes Büro. „Mhm…ich kannte Agent Starling und sein Tod hat mir sehr zu denken gegeben. Zu der damaligen Zeit bin ich auch gerade Vater geworden und hatte mir nie um mein Ableben so große Gedanken gemacht. Die Sache hat aber dafür gesorgt, dass ich mich mehr damit auseinandergesetzt habe. Wenn wir jetzt eine Spur zu seinen Mördern – der Organisation - finden, dann sollten wir alles in der Machtstehende tun, um sie auch zur Rechenschaft zu führen. Und wenn Sharon Vineyard uns näher an diese heran bringt, dann werde ich alles tun, um die Wahrheit zu erfahren, selbst wenn wir sie erst einmal beschützen müssten.“

Jackson dachte nach und ballte die Hände zu Fäusten. „Ich…mir fällt es schwer zu wissen, dass sie mit dieser Organisation in Verbindung steht und einen unserer Agenten auf dem Gewissen hat, wir aber nichts tun können. Es gibt noch keine Beweise, dass sie es war…“

„Ich kann dich sehr gut verstehen. Auch mir geht das gegen den Strich. Aber unsere Anweisung ist klar definiert. Wir machen unsere Arbeit und sammeln Beweise. Nach 20 Jahren ist es gut möglich, dass sie sich in Widersprüche verstrickt. Im Laufe der Zeit vergisst man so einiges. Je mehr wir gegen sie in der Hand haben, desto eher können wir sie noch zu einem Deal überzeugen.“ Er seufzte. „Selbstverständlich könnten wir versuchen sie zu überführen, aber du weißt selbst, dass es am Wichtigsten ist, die Organisation dingfest zu machen. Mit der Schauspielerin hätten wir nur ein kleines Rädchen im Getriebe gefunden.“

„Alt und Weise…so kenn ich meinen Mentor.“

Agent Fallen verdrehte die Augen. „Dich wird das Alter auch bald einholen.“ Er atmete tief durch. „Lass uns gehen. Gehen wir in unserer Rolle als Fans auf.“

Jackson lachte. „Ich wünschte, ich könnte dich dabei filmen.“ Dann wurde er ernst und stieg aus dem Wagen.

Als Auftakt zum Dreh gab es eine kleine Veranstaltung bei der Fans die Stars treffen und sich Autogrammkarten holen konnte – natürlich unter Beachtung von zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen. Die beiden Agenten mussten ihre Dienstwaffe, Abhörgeräte und alles andere, was sie als FBI Agenten auswies, im Wagen lassen. Gefährliche Gegenstände durften auch nicht mitgenommen werden. Zusätzlich würden sie am Eingang abgetastet und in ihre Taschen, Jackentaschen, sogar Hosentaschen geschaut werden. Alles diente nur dem Schutz der Schauspieler, aber auch dem Personal. Für die Veranstaltung selbst brauchte man ein gültiges Ticket. Die Tickets wurden dem jeweiligen Schauspieler zugeordnet und konnten nur online gekauft werden. Entweder man hatte Glück und konnte zum Normalpreis eines ergattern oder man musste es sich über gängige Plattformen ersteigern – und dort wurde der Preis teilweise auf das dreifache hochgetrieben. Außerdem gab es auch ein Kontingent an personenunabhängigen Tickets, welche eine Rarität darstellten. Damit konnte man alle Schauspieler kennenlernen und nicht nur einen Bestimmten.

Um nicht aufzufallen, hatten sich die beiden Agenten getrennt und sich an unterschiedliche Eingänge positioniert. Ihre Tickets wurden kontrolliert, sie wurden abgetastet und bekamen dann ein Bändchen ums Handgelenk gelegt. Damit konnte man sich nicht nur in den einzelnen Bereichen ausweisen, sondern wurde auch als Gast identifiziert. Außerdem konnte jeder sehen, für welchen Schauspieler man ein Ticket erworben hatte. Mehrfarbige Bändchen gaben an, dass man ein Ticket gekauft hatte, welches personenunabhängig war.

Agent Jackson gesellte sich zu einer Gruppe weiterer Fans und lauschte ihren Gesprächen. Sollte er selbst von einem der Mitarbeiter, von den Schauspielern oder seinen Mitmenschen ausgefragt werden, würde er eine ähnliche Geschichte erzählen.

Schon bald kam ein Mann mittleren Alters zu der Gruppe bestehend aus etwa 100 Personen. „Wie ich sehe, haben Sie sich schon nach den Farben auf den Bändchen angeordnet. Das macht die Sache leichter. Sollten Sie allerdings kein mehrfarbiges Band besitzen oder eine andere Farbe als schwarz haben, möchte ich Sie bitten zu gehen. Wir werden noch etwa zehn Minuten auf die Nachzügler warten.“

Wie erwartet kamen innerhalb der Zeit noch einige Personen zu der Gruppe. „Gut, ich denke wir können anfangen. Ich freue mich, dass unser kleines Event so gut bei Ihnen allen angekommen ist. Mein Name ist Dave Jefferson und ich bin der Manager von Sharon Vineyard. Ich werde Sie während des gesamten Aufenthalts betreuen, scheuen Sie sich bitte nicht Fragen zu stellen. Jetzt möchte ich Ihnen erst einmal den Ablauf erklären. Zunächst einmal werden wir einen kleinen Rundgang durch das Studio machen. Sie können sich gerne die Requisiten anschauen und Fotos machen. Danach machen wir einen kleinen Ausflug zur Umkleidung von Sharon Vineyard. Am Ende haben Sie noch die Möglichkeit ein Autogramm zu erhalten und Ihrer Lieblingsschauspielerin Fragen zu stellen. Wir werden insgesamt drei bis vier Stunden benötigen. Jeder mit einem mehrfarbigen Bändchen kann zusätzlich den Drehtag erleben, der ab 15 Uhr beginnt. Haben Sie noch Fragen?“

Eine junge Frau meldete sich. „Haben wir jetzt noch die Möglichkeit uns auf ein mehrfarbiges Bändchen upzugraden?“

„Nein, das ist nicht mehr möglich. Sie können natürlich versuchen die Bändchen zu tauschen, aber in Anbetracht an die Menge der Tickets, glaube ich nicht, dass Sie jemanden finden werden. Weitere Fragen?“ Jefferson blickte in die Runde. „Gut, dann gehen wir mal.“

Wie angekündigt, zeigte er den Teilnehmern den Drehort und die Requisiten. Er erklärte wofür welcher Ort verwendet wurde und zeigte ihnen den Green Screen. Dieser war dazu gedacht, um in den Hintergrund ein bestimmtes Bild einzusetzen. Die Teilnehmer hatten sogar die Chance selbst vor dem Green Screen zu posieren und Fotos zu erhalten. Einige hatten sich für einen Hintergrund im Weltall, andere für ein Feuer, eine futuristische Stadt oder auch eine Unterwasserwelt entschieden. Im Anschluss inspizierten sie die Geraderobe von Sharon Vineyard. Sowohl Agent Fallon als auch Agent Jackson sahen sich die Räumlichkeiten der Schauspielerin besonders intensiv an. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, dass die Schauspielerin in ihrer Garderobe Beweise für ihre Taten oder die Organisation hatte, wollten sie nichts unversucht lassen. Beinahe hätten sie sogar die Haarbürste mitgenommen, da sie über eine DNA-Analyse ihre Anwesenheit im Haus der Starlings an jenem Tag möglicherweise belegen konnten. Doch sie hatten sich dagegen entschieden, da solche Beweise unzulässig waren und man sie dann möglicherweise von dem Fall abzog. Schon fast geknickt verließen die beiden Agenten die Garderobe und begaben sich in einen Raum, der an ein Konferenzzimmer erinnerte. Allerdings stand vorne nur ein Tisch mit zwei Stühlen, während auf der anderen Seite nur Stühle standen. Die Teilnehmer der Veranstaltung stürmten sofort zu den Plätzen und kämpften teilweise sogar um einen Sitzplatz in der vordersten Reihe. Jackson hatte glücklicherweise einen Platz in der vierten Reihe ergattert, anders als sein Partner, der in der vorletzten Reihe sitzen musste.

Nachdem sich die Situation beruhigt hatte, kam Sharon Vineyard in den Raum und stellte sich gemeinsam mit ihrem Manager hinter den Tisch. „Da nun alle da sind, fangen wir mit der Fragestunde an. Danach stellen Sie sich bitte in eine Reihe auf und holen sich Ihr Autogramm ab.“ Er blickte zu Sharon.

„Es ist mir eine Freude Sie alle hier zu sehen. Nachdem ich so lange nicht mehr in Amerika war, bin ich sehr gerührt, dass ich hier immer noch Fans habe. Das bedeutet mir so viel.“ Sie setzte sich auf ihren Platz. „Und jetzt stehe ich Ihnen für Fragen zur Verfügung. Ich möchte Sie aber bitten, dass Sie mein Privatleben außen vor lassen. Natürlich werde ich versuchen, alles so gut wie möglich zu beantworten, aber ich bitte Sie, die intimen Fragen sein zu lassen. Mein Manager wird die Runde ein wenig koordinieren.“

Jefferson nickte und schaute in die Runde. „Wer hat eine Frage?“

Sofort schnellten mehrere Hände nach oben.

„Gut, dann die Dame im der dritten Reihe mit dem roten Oberteil.“

Die ältere Frau stand auf. „Miss Vineyard, ich bin schon seit Jahren ein großer Fan von Ihnen. Als sie nach Japan gingen, war das ein Schock für mich. Sie sind von heute auf morgen verschwunden. Mich würde interessieren, warum Sie weggingen und warum Sie sich ausgerechnet für Japan entschieden haben.“

„Das ist eine wirklich gute Frage. Ich weiß, es war für viele ein Schock, aber um ehrlich zu sein, habe ich schon länger mit dem Gedanken gespielt und meinen Umzug vorbereitet. Schon als ich ein kleines Mädchen war, nahm mich meine Mutter oft nach Japan mit. Ich habe dort eine Vielzahl an Freunden kennengelernt, die ich nicht mehr missen möchte. Nach dem frühen Tod meines Mannes brauchte ich einen Neuanfang und habe zunächst eine Auszeit von einem Jahr geplant. Allerdings verliebten sich meine Tochter und ich in das Land und in die Mentalität der Menschen. Und so entschieden wir uns, noch länger zu bleiben.“

„Dann kommen wir jetzt zu dem Mann in der achten Reihe mit dem blauen Blazer.“

Der Mann stand auf. „Sie haben auch in Japan Filme und Werbespots gedreht, die man nur sehr schwer im Internet finden konnte. War es schwer die Sprache zu lernen?“

„Nein, gar nicht. Ich habe sie bereits vor mehr als 20 Jahren gelernt und meine Tochter hat die Sprache auch sehr schnell gelernt.“

„Jetzt der Mann in der zweiten Reihe im grünen Oberteil.“

„Wieso haben Sie aufgehört in Amerika zu drehen?“

Sharon lächelte. „Nun, nach meinem Umzug bin ich noch regelmäßig nach Amerika geflogen und hatte einige Drehtermine wahrgenommen. Das habe ich aber eingestellt, weil ich mich mehr auf Japan und auf meine Tochter konzentrieren wollte. Irgendwann habe ich mir einfach ein ruhigeres Leben gewünscht. So ruhig wie es als Schauspielerin nur sein kann. Es tut mir leid, dass Sie mich vermisst haben. Ich kann Ihnen aber auch versichern, dass die Angebote die ich damals bekam, nicht zu dem passten, was ich selbst verkörpern wollte. Diese neue Filmreihe hingegen hat mich sofort angesprochen, deswegen habe ich zugesagt. Und jetzt haben Sie mich wieder an der Backe, wie man sagen würde.“

„Nur deswegen?“, wollte der Mann wissen.

„Nun, selbstverständlich habe ich auch hier noch Freunde und auch eine sehr gute Freundin, die ich besuchen wollte“, antwortete Sharon.

„Bitte vergessen Sie nicht, keine intimen Fragen zum Privatleben. Dann nehmen wir jetzt den Mann in der vierten Reihe mit der gelben Jacke.“

Auch dieser Mann stand auf. „Mich würde interessieren, woher Sie ihr Handwerk gelernt haben.“

Sharon lächelte. „Nun, wie viele Schauspieler habe ich bereits in meiner Kindheit ein paar Werbespots gedreht und wurde von meiner Mutter gefördert. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass mir irgendwas fehlte und so habe ich einen Mentoren in Japan gefunden. Er war kein Schauspieler, wusste aber wie man sich in andere Rollen hineinversetzte und sie gut kopieren konnte. Ich ging bei ihm in die Lehre und das Ergebnis können Sie in meinen Filmen sehen“, erklärte sie.

Eine Frau meldete sich zu Wort. „Miss Vineyard, planen Sie irgendwann wieder nach New York zu ziehen?“

„Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Ich habe mir ein Leben in Japan aufgebaut und plane daher keinen Umzug. Sollte sich aber noch was anderes ergeben, würde ich nicht zögern.“

Es kamen noch weitere Fragen in ähnlicher Form. Nach etwas mehr als einer Stunde beendete der Manager die Fragestunde und rief dazu auf, sich für ein Autogramm anzustellen. Jackson und Fallon gingen zur Seite. „Sie hat weitergedreht. So als wäre nie irgendwas passiert“, murmelte er leise.

Fallon nickte.

„Und ihre Freunde sollten wir auch ausfindig machen. In den Unterlagen habe ich gelesen, dass eine gute Freundin von ihr in Amerika lebt. Wir sollten diese Yukiko Kudo auch aufsuchen. Sie ist Japanerin und vielleicht handelt es sich dabei um diese sehr gute Freundin.“

„Und da haben wir wieder den Bezug zu Japan“, warf Fallon ein. „Ob sie auch zu ihnen gehört?“

Jackson zuckte mit den Schultern. „Reine Spekulation. Komm, holen wir uns das Autogramm und schreiben dann unseren Zwischenbericht.“

Der Agent nickte und sie stellten sich in die Reihe. Wie versprochen bekamen auch die Agenten ihr Autogramm und verließen dann die Veranstaltung.

Jefferson räumte den Raum noch zurecht und sah zu der Schauspielerin. „Was sagst du?“

Sharon kramte in ihrer Handtasche herum und holte ein kleines Gerät heraus. Sie betätigte den Knopf, wodurch alle Abhörgeräte und Wanzen durch ein Störsignal ihre Arbeit nicht mehr tun würden. „Es waren zwei Agenten hier“, entgegnete sie. „Es war eine gute Idee, die Tickets zu personalisieren und alle Teilnehmer vorher zu überprüfen.“

Jefferson nickte. „Du hast mir immer noch nicht verraten, warum wir das hier alles gemacht haben? Der Regisseur fand die Idee zwar gut, aber du planst doch etwas.“

Sharon grinste. „Natürlich habe ich einen Plan. Ich habe immer einen Plan, aber ich bin auch gut im improvisieren.“ Sie sah sich um und versicherte sich, dass keiner zu hörte. „Bald wird mein Interview ausgestrahlt und ich werde dafür sorgen, dass das kleine Mädchen von damals, es auch sehen wird.“

„Du jagst ihr immer noch hinterher?“

„Sie hat mich gesehen und überlebt. Glaubst du wirklich, wir würden sie einfach so am Leben lassen? Der Boss wusste natürlich, dass eine Leiche zu wenig im Haus gefunden, aber es war zu gefährlich, sich sofort um sie zu kümmern. Aber es war klar, dass das FBI sie in Sicherheit bringt, also haben wir dafür gesorgt, dass wir sie nicht aus dem Auge lassen. Sie wird schon bald ihren nächsten Zug machen und dann...“ Sie schnalzte mit der Zunge.

„Typisch Vermouth.“

„Tja, du kennst mich. In spätestens sechs Monaten wird alles vorbei sein. Dann wird Sharon Vineyard offiziell sterben und der Weg steht frei für Chris Vineyard.“

Baldiges Wiedersehen

Als Detektiv hatte Ed schon viele Grausamkeiten gesehen. Mord, Ehebruch, Veruntreuung, Diebstahl, Lügen, Gaunereien…alles war dabei. Aber nun konnte er seinen eigenen Ohren nicht trauen. A secret makes a woman woman.

Er dachte an Jodie und daran, wie sie ihm vom Mord an ihren Eltern erzählte. Ihr einziger Anhaltspunkt war dieser eine Satz. Und Ed hatte alles in seiner Machtstehende getan, um die Frau zu finden. Aber es war ausweglos. Alle Spuren verliefen im Sande und er verstand, warum das FBI nicht weitergekommen war. Doch jetzt gab es nicht nur einen Hinweis auf die Mörderin, jetzt schien es auch so, als hätte sich diese vor laufender Kamera geoutet. Und es war ausgerechnet seine Lieblingsschauspielerin. Eine Frau, die in der Öffentlichkeit stand.

Ed runzelte die Stirn. Er hoffte inständig, dass Jodie dieses Interview nie zu Gesicht bekam. Aber ihm war auch klar, dass er der jungen Frau diese Erkenntnisse nicht auf Dauer verschweigen konnte. Doch zuvor musste er erst einmal die Fakten verifizieren. Nichts war schlimmer als jemanden Hoffnungen zu machen und diese dann zu zerstören.

Als es an der Tür klopfte, zuckte der Mann zusammen. Sofort schloss er das Browserfenster. „Herein.“

Jodie betrat das Büro. „Ed? Hast du einen Moment für mich?“

Er schluckte. „Natürlich. Setz dich.“

Jodie nahm Platz. „Du…du hast dir doch eben auch das Interview mit Sharon Vineyard angesehen, nicht wahr?“

Er schluckte abermals und wusste genau, worauf sie hinaus wollte.

„Sie…sie hat es erwähnt“, murmelte Jodie. „…während des Interviews…hat sie es erwähnt. A secret makes a woman woman, das waren ihre Worte. Das hat…sie auch damals gesagt. Ich weiß es genau. Sie…sie war es…sie muss es gewesen sein. Sonst kennt niemand diesen Satz.“

„Jodie, beruhig dich bitte. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Aber wir sollten jetzt nichts überstürzen.“

„Wusstest du es?“, wollte Jodie wissen. „Milena sagte, du…du bist ein Fan von ihr. Und ich hab dir von diesem Satz erzählt. Ed, bitte…“

Ed seufzte. „Ich weiß, du sagst das, weil dich die Situation überfordert und ich bin dir nicht böse“, begann er. „Nachdem du mir damals alles über den Mord an deinen Eltern erzählt hast, habe ich überall nach diesem Satz gesucht. Wir sind die Datenbanken auch zusammen durchgegangen und haben nichts gefunden. Ja, ich bin Fan von Sharon Vineyard, aber das heißt nicht, dass ich sie schützen würde. Ich kann dir versichern, dass Sharon Vineyard diesen Satz nie in einem Interview, einem Film oder während einer öffentlichen Veranstaltung gesagt hat. Es gab keine Hinweise auf sie als Täterin.“

„O…o…kay. Vielleicht…hat sie den Satz auch immer nur in Japan verwendet und…auf Japanisch.“

„Das wäre möglich. Wir haben den Satz damals nicht übersetzt und auch nicht außerhalb der Staaten gesucht.“

„Und…und was…willst du jetzt tun?“, kam es von der jungen Frau.

Das war die eine Frage vor der er sich fürchtete. Normalerweise konnte er sich schnell auf eine neue Situation einstellen, aber jetzt war er überfordert. Allerdings war er einer Klientin auch noch nie so nah gewesen, wie Jodie. Er räusperte sich. „Ich habe dir damals versprochen, dass ich dir helfen werde. Und an dieses Versprechen werde ich mich auch halten. Durch Zufall sind wir jetzt einen Schritt weiter, aber wir müssen erst einmal in Erfahrung bringen, ob sie es auch wirklich war. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fragen und Antworten von einer anderen Person geschrieben und nur einstudiert wurden.“

„Was? Du glaubst, das…“ Jodie wich einen Schritt nach hinten. „Ihre Statur passt auch zu der Person. Ich…ich bin mir…“

„Du bist dir sicher?“, wollte er wissen.

„Ich…Sie hat diesen Satz gesagt“, gab Jodie von sich.

Ed runzelte die Stirn. „Es gibt kein Muster. Ein ähnlicher Mord ist nie aufgetreten. Es ist 20 Jahre her und…dass sie diesen einen Satz gesagt hat, wird als Beweis nicht standhalten. Sie werden deine ganze Aussage in Frage stellen und versuchen, dir die Worte im Mund zu verdrehen. Das heißt nicht, dass ich dir nicht glaube, Jodie.“

„Sie hat Freunde…und eine Tochter…sie hat ein glückliches Leben“, warf sie ein. „Das…das ist nicht fair. Sie kann glücklich sein, aber…ich…“ Jodie wischte sich ihre aufkommenden Tränen weg. „Ich weiß nicht einmal, warum sie meine Eltern getötet hat. Was haben sie ihr getan? Ich möchte doch nur, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen wird.“

„Ich werde meine Suche nicht aufgeben. Ich werde Beweise suchen, aber es wird nicht einfach sein. Ich kann sie nicht im Rahmen meiner Ermittlungen aufsuchen. Wenn ich so mit ihr in Kontakt trete, könnte es sein, dass wir alles offenlegen müssen. Oder das wir die Medien darauf aufmerksam machen.“

„Das…hab ich mir schon gedacht. Sie ist eine Person der Öffentlichkeit. Es könnte ein Skandal werden.“ Jodie dachte nach. „Glaubst du, deswegen hat mir das FBI die Akten nicht gezeigt?“

„Wenn sie Sharon Vineyard für die Täterin gehalten hätten, hätten sie sicher Befragungen vorgenommen. Und das ist kein einziges Mal passiert. Vermutlich wissen sie auch nicht, dass der Satz im Interview gefallen ist und werden daher nichts machen.“

Jodie nickte. „Wir sollten das FBI darüber informieren. Ich…ich werde mich mit James treffen.“

Ed sah sie überrascht an. „Bist du dir sicher? Du musst das nicht machen. Ich kann für dich das FBI informieren.“

„Schon gut. Das ist was, was ich machen muss. Und…ich möchte es auch.“

„In Ordnung“, nickte der Ältere. „Soll ich ein Treffen für dich organisieren?“

„Nein, nicht nötig. Mein Vater hat bald Geburtstag. James wird sicherlich zum Friedhof fahren und sein Grab besuchen. Ich…werde dort einfach auf ihn warten.“

„Sei bitte vorsichtig. Wenn ich dich begleiten soll, kannst du auf mich zählen.“

„Danke, Ed. Für alles.“
 

James saß schockiert vor dem Bildschirm seines Computers. Selbstverständlich hatte auch er das Interview gesehen, aber nie zu träumen gewagt, dass sie sich als Täterin zu erkennen gab. Ungeduldig tippte der Agent mehrfach mit dem Fuß auf dem Boden. Er wollte endlich etwas tun und war froh, dass bald ihr wöchentliches Meeting begann. Black stand auf und begab sich in den Konferenzraum. Er war nicht der Erste und setzte sich auf einen freien Platz. Ein paar Minuten später kamen die restlichen Mitglieder ihres Teams.

Agent Decker überblickte die Runde. „Danke, dass Sie es alle einrichten konnten“, fing er an. „Gut, dann lassen Sie uns einmal besprechen, was Sie in der vergangenen Woche in Erfahrung bringen konnten. Agent Jackson, Agent Fallon, bitte fangen Sie an.“

Agent Fallon nickte. „Wir haben uns Karten für eine Veranstaltung mit Sharon Vineyard besorgt. Während einer Fragestunde hat sie einige Informationen Preisgegeben. Es ging primär allerdings um Japan, ihren Umzug, ein paar Freunde und die Filme. Private Fragen wurden nicht gerne gesehen, sie hat dennoch kurz über ihren Ehemann gesprochen. Selbstverständlich haben wir das nachgeprüft. Ihr Ehemann hatte vor 18 Jahren einen Verkehrsunfall und ist seinen Verletzungen erlegen. Wir wissen nicht, ob er ebenfalls für die Organisation tätig war. Über ihre Tochter konnten wir kaum etwas herausfinden. Sie ist ebenfalls Schauspielerin, aber nur in Japan tätig. Wie es scheint, ist sie ohne den Medienrummel aufgewachsen. Sie hat von ihrer Mutter die Kunst der Imitation gelernt. Wie wir mittlerweile wissen, sind die beiden Frauen allerdings zerstritten. Wir sind aber an der Sache noch dran. Wir versuchen auch den Mann ausfindig zu machen, der Sharon Vineyard alles beibrachte. Dabei sind wir auch auf eine andere Schauspielerin aufmerksam geworden. Yukiko Kudo, ihr Pseudonym als Schauspielerin war früher Yukiko Fujimine. Sie ist Japanerin, lebt aber seit einigen Jahren mit ihrem Mann in New York. Wir nehmen sie noch weiter unter die Lupe.“

„Ich verstehe. Machen Sie weiter, aber wenn Sie mit der Freundin sprechen, denken Sie sich eine gute Geschichte aus. Ich möchte nicht, dass die Frau gewarnt ist.“

„Natürlich“, nickte Jackson.

„Montgomery, was ist mit Ihnen?“

„Ich habe die Flughäfen, die Bahnhöfe und die Mautstellen überprüft. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Sharon Vineyard offiziell in Amerika eingereist ist. Wir versuchen noch Informationen von den privaten Unternehmen zu erhalten. Eine Einreise über den Privatjet oder unter falscher Identität können wir noch nicht ausschließen. Camel hilft mir dabei.“ Er blickte zu dem Agenten.

„Ja“, sprach er sofort. „Ich habe ihre Rollennamen und die Rollennamen ihrer Tochter aufgeschlüsselt und nach Gemeinsamkeiten gesucht. Es wäre möglich, dass sie einen dieser Namen für die Einreise verwendet hat. Außerdem versuchen wir die Kombination der Namen.“

„Genau“, nickte Agent Fallon. „Was wir allerdings merkwürdig fanden, ist ihre Tochter. Sie müsste jetzt in etwa in dem Alter sein wie Jodie Starling. Das heißt, die beiden Mädchen waren auch damals im gleichen Alter. Deswegen verstehen wir auch nicht, warum sie eine Familie zerstört hat.“

James runzelte die Stirn. „Starling hat mir nie von einer Tochter erzählt, aber es würde zu Ihren Erzählungen passen, dass sie das Mädchen außerhalb des Medienrummels aufgezogen hat.“

„Verstehe“, murmelte Decker. „Camel, was haben Sie sonst noch getan?“

„Ich trage derzeit alle Informationen zusammen, die wir in der Vergangenheit vom MI6, dem BND, der CIA und von anderen Institutionen erhalten haben. Außerdem versuche ich die dortigen Angaben zu verifizieren.“

Decker nickte. „Gut Akai? Was ist mit Ihnen?“

„Ich suche weiterhin nach Jodie. Ich habe mehrere Bilder von ihr anfertigen lassen, die sich in ihren körperlichen Merkmalen unterscheiden. Die Gesichtserkennung ergab bisher keine Spur. Allerdings habe ich eine verlässliche Quelle gefunden, von der ich weiß, dass Jodie bis vor zwei Jahren in London, Ohio gelebt hat. Aber dann ist sie verschwunden. Es liegt kein Hinweis eines Verbrechens vor.“

„Moment? Sie haben Sie gefunden?“, kam es irritiert von James.

„Nicht wirklich. Ich hatte einen Anhaltspunkt, wo sie sein könnte. Ich möchte meine Quelle aber nicht offenlegen.“ Innerlich ärgerte es den Agenten schon, dass Roy Tripton noch nicht mit Black sprach. „Wie eben erwähnt, hat Jodie in London gewohnt und in einem kleinen Städtchen in der Nähe gearbeitet. Ich bin dorthin gefahren. Ihre Arbeitskollegen erzählten, dass sie von heute auf morgen nicht mehr zur Arbeit erschienen ist und gekündigt hat. Da das dort normal ist, haben sie es nicht hinterfragt. Ihr früherer Vermieter wurde vor zwei Jahren wegen Vergewaltigung und Nötigung verurteilt. Ich konnte nicht herausfinden, ob Jodie auch zu seinen Opfern gehörte. Ihre Wohnung ist bereits anderweitig vermietet. Dort wusste keiner, wo sie geblieben ist.“

James schluckte und malte sich sofort die schlimmsten Szenarien aus.

„Ich war auch beim Grab und in der alten Wohngegend. Keiner der Nachbarn hat sie gesehen. Sie melden sich aber, sollte Jodie dort auftauchen. Bald ist der Geburtstag ihres Vaters. Dann werde ich die beiden Orte nochmal aufsuchen. Vielleicht kommt sie dorthin.“

„Ich verstehe“, gab Agent Decker von sich. Er blickte zu James. „Und bei dir?“

„Ich…ich habe mir eben das Interview mit Sharon Vineyard in der Mediathek angesehen. Agent Fallon, Agent Jackson, Sie haben es nicht gesehen?“

„Nein, wir waren unten im Archiv. Es hat uns verwundert, dass wir an neue Erkenntnisse gekommen sind, aber diese nirgends in den Akten standen. Also haben wir uns alles noch einmal angesehen.“

„Sie vermuten, dass es einen Spitzel gibt?“, wollte Akai wissen.

Agent Jackson runzelte die Stirn. „Das ist zwar etwas hart ausgedrückt, aber ja, das war unsere Sorge. Wir konnten allerdings nichts feststellen, was auf eine Manipulation der Akten hinweist.“

„Das muss nichts heißen“, entgegnete der Japaner. „Wäre ich ein Spitzel, würde ich auch keine Spuren hinterlassen. Wir wissen bereits, dass die Organisation gefährlich ist und mit Sharon Vineyard haben sie eine Amerikanerin in ihren Reihen. Wer sagt, dass sie die Einzige ist?“

Die Agenten runzelten nachdenklich die Stirn. Sie starrten einander an, bis sich Agent Decker räusperte. „Wir sollten uns nicht gegenseitig verdächtigen. Aber…ich stimme Agent Akai zu. Die Möglichkeit besteht, auch wenn jeder Agent gewisse Tests regelmäßig über sich ergehen lässt. Aus diesem Grund werden wir den Fall auch streng geheim halten. Sollten Sie die Unterstützung von Kollegen benötigen, erzählen Sie nur das Nötigste. Und wenn Sie zum Stand der Ermittlungen befragt werden, geben Sie an, noch keinen Schritt weiter zu sein. Lassen Sie jeden in dem Glauben, dass alle Spuren im Sande verlaufen.“

„In Ordnung“, nickte Agent Fallen. „Können wir jetzt wieder auf das Interview zurückkommen? Agent Black, Sie wollten etwas dazu sagen.“

„Das Interview…“, murmelte James. „Sie hat viel gesagt, was wir schon wussten. Das gleiche, was auch Agent Jackson und Agent Fallon in Erfahrung gebracht hatten. Aber dann antwortete sie auf eine Frage mit „ A secret makes a woman woman“.“

Shuichi verengte die Augen.

„Entschuldigung?“, meldete sich Montgomery. „Könnten Sie uns bitte aufklären, was an diesem Satz so wichtig ist?“

„Als kleines Kind hat Jodie mit der Täterin gesprochen und…diese hat ihr genau diesen Satz gesagt.“

„Oh.“

„Das stützt natürlich die Annahme, dass Sharon Vineyard den Agenten und seine Frau auf dem Gewissen hat“, entgegnete Camel.

James nickte. „Jodie hat sie zwar nicht erkannt, aber dieser Satz war eindeutig. Und nun verhöhnt sie uns damit. Sie hat vor aller Welt diesen Satz gesagt. Trotzdem…“ Er biss sich auf die Unterlippe. „…konnten wir damals nichts dazu finden. Sie hat ihn nie wieder gesagt. Ich habe den Satz damals extra übersetzen lassen und versucht, die japanischen Medien zu durchforsten. Fehlanzeige.“

„Sie hat sich also absichtlich als Täterin offenbart, aber nur jenen, die davon wissen. Entweder sie will uns damit sagen, dass sie am längeren Hebel sitzt. Oder sie hofft, dass Jodie das Interview auch gesehen hat und will sie aus dem Konzept bringen“, gab Decker von sich.

„Oder Möglichkeit drei. Sie macht uns eine Kriegserklärung“, entgegnete Akai ruhig.

James nickte.

„Gut. Dann bereiten wir uns weiter vor und lassen nichts unversucht. Sie alle kennen Ihre Aufgaben. Wenn es keine weiteren Fragen gibt, treffen wir uns nächste Woche wieder hier.“

Die Geschichte von Sharon Vineyard

Vermouth saß auf dem Sofa in ihrem Hotelzimmer und nippte an einem Glas Wein. Ihr Zimmer war groß, beinahe schon eine Wohnung und ausgestattet mit einem Schlafzimmer, Wohnzimmer, einer kleinen Kochnische und ein Badezimmer mit Dusche und Wanne. Viele hätten gesagt, dass das Zimmer luxuriös eingerichtet wäre, aber für die Schauspielerin war ein solches Leben mittlerweile zum Standard geworden. Und sie konnte sich nicht vorstellen, diesen Standard je wieder zu verlieren.

Anders als ihre Kindheit. Damals hatte sie alles verloren. Die kleine Familie musste sehen, wie sie über die Runden kamen. Ihren Vater kannte sie nicht, doch ihre Mutter tat alles Erdenkliche um Sharon ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie stellte sogar ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, sparte und unterstützte ihre Tochter bei allem was sie tat. Als Sharon in der Schule das erste Mal auf einer Bühne stand, kamen ihre Talente zu Vorschein. Sharon konnte sich schnell einen Text merken und sich in eine andere Rolle hineinversetzen. Sie wusste, wie sie Gefühle spielen musste, wie sie welche Ausdrücke verwenden sollte und wann es notwendig war zu improvisieren. Sie wurde gelobt und sollte in weiteren Stücken auftreten. Auch ihre Mutter war von den Darbietungen ihrer Tochter begeistert und begann, sie zum Schauspielunterricht zu schicken.

Sharon fiel schon damals auf und wurde bereits in ihrer Jugend für Werbespots, Fotos und kleine Auftritte in Filmen gebucht. Die junge Frau tat alles, um möglichst viel Geld zu verdienen, damit sich die Rollen verschoben und sie ihre Mutter unterstützen konnte. Da Ruhm vergänglich war, lebte sie im Hier und Jetzt, denn sie wusste, dass die Rollen schlechter werden würden, je älter sie würde. Aus diesem Grund wollte sie sich immer etwas Eigenes aufbauen – etwas, das sie von den anderen Schauspielern unterschied. Aber so früh am Anfang ihrer Karriere fand sie es nicht und so war sie nur eine von vielen, die die Schauspielschule absolvierte. Durch die immer gleichen – kleinen Rollen – war Sharon schnell gefrustet und hatte das Gefühl, nur auf der Stelle zu treten. Die Rollen waren keine Herausforderung mehr und sie gab sich noch kaum Mühe. Dennoch war sie auf jedes Vorsprechen angewiesen, aber der große Durchbruch ließ auf sich warten.

Irgendwann fand sie einen Umschlag in ihrem Briefkasten. Er war von einem anonymen Unterstützer, der ihr nicht nur einen Flyer sondern auch zwei Karten für die Magie-Vorstellung von Toichi Kuroba schickte. Anfangs war sie aus dem Häuschen, doch wäre sie nicht zu der Vorstellung gegangen, wäre alles anders geworden.

Sharon erinnerte sich noch heute wie fasziniert sie von dem Illusionisten gewesen war. Kuroba bewegte sich elegant und geschmeidig wie eine Katze, während seiner Vorführung und schlüpfte andauernd in andere Rollen. Rollen der Gäste. Während der Vorstellung hatte er sie beobachtet und kurz darauf ihr Verhalten imitiert. Anfangs war Sharon davon ausgegangen, dass die Menschen mit dem Magier unter einer Decke steckten, aber dann wurde ihre Mutter nachgemacht. Beinahe perfekt.

Noch während des gesamten Heimwegs grübelte sie darüber wie es der Magier geschafft hatte. Zu Hause recherchierte sie über ihn, las Artikel und sah sich freizugängliche Videos an. Aus den Zeitungsausschnitten erfuhr sie von dem Hotel, welches er bewohnte und suchte ihn am nächsten Tag auf. Kuroba hatte gerade das Hotel verlassen und war auf dem Weg zum Flughafen. Ohne groß darüber nachzudenken, war sie einfach in das Taxi gestiegen und hatte mit dem Reden begonnen. Erst als sie damit fertig war, bemerkte sie die skeptischen Blicke des Taxifahrers und seines Gastes. Toichi lachte und reichte ihr seine Karte. Sie sollte sich bei ihm melden, wenn sie genau wusste was sie wollte. Nachdem Beide am Flughafen ausstiegen, verabschiedeten sie sich und Sharon starrte die Visitenkarte mit der Telefonnummer an. „Nutzen Sie die Chance.“

Sharon sah auf. Ein älterer Mann lächelte sie an und drückte ihr ein Flugticket nach Japan in die Hand. Sie sah ihn irritiert an. „Nutzen Sie die Chance“, wiederholte er und verschwand in der Menge.

Sharon starrte auf das Flugticket und runzelte die Stirn. Sie steckte das Ticket ein und fuhr nach Hause. Dort erzählte sie ihrer Mutter von der merkwürdigen Begegnung und wurde von dieser sogar noch darin bestärkt, das Angebot des Fremden anzunehmen. Und so war sie drei Tage später tatsächlich nach Japan geflogen.

Sie hatte sich das Land ganz anders vorgestellt und war verwundert, als sie Yukiko bei dem Zaubrer traf. Sie war seine Schülerin und schon bald zählte Sharon auch als diese. Sharon und Yukiko ergänzten sich gut. Während Sharon anfing ein paar Brocken japanisch zu lernen, verbesserte Yukiko ihr Schulenglisch. Und Toichi unterrichtete die beiden Frauen zweisprachig.

Nach einem halben Jahr kehrte Sharon wieder nach Hause zurück. Am Flughafen wurde sie von der Zollabfertigung in ein kleines Zimmer gebracht. Sharon versuchte sich ihre Nervosität und Irritation nicht anzumerken, aber die beiden Männer machten es ihr nicht einfach. Sie hatten sich die erste halbe Stunde angeschwiegen, aber dann durchbrach die junge Schauspielerin die Stille und wollte wissen, was die Männer mit ihr vor hatten. Sie waren sofort zum Punkt gekommen und boten ihr an, für ihre Organisation zu arbeiten. Selbstverständlich hatte Sharon dieses Angebot abgelehnt, doch damit ließen sie sie nicht durchkommen. Sie hatten sie gefördert – auch wenn die junge Frau nichts davon wusste – und nun forderten sie ihren Preis. Sharon lehnte das Angebot ein weiteres Mal ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Dort verstand sie erst das gesamte Ausmaß der vergangenen Monate. Vier Stunden nachdem sie die Wohnung betrat, wurde sie von der Polizei besucht, die ihr berichteten, dass ihre Mutter Opfer eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht wurde. Sie war noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben und hinterließ ihre Tochter – die nur noch ein Häufchen Elend war. Nachdem die Polizei weg war, rief sie eine unbekannte Nummer auf dem Handy an. Als Sharon ran ging, stockte ihr der Atem. Es war jener Mann vom Flughafen, der wissen wollte, ob sie nun zu einer anderen Entscheidung gekommen war. Und das war sie. Sie hatte keine andere Wahl, denn ansonsten würden weitere Menschen in ihrer Umgebung sterben. Das hatte sie nun verstanden.

Und damit hatte sich ihr Leben endgültig verändert. Seit jenem Tag gehörte sie zur Organisation und musste viele fürchterliche Dinge tun. Damals hatte sie noch an einem Ausstiegsplan gearbeitet und sich unter verschiedenen Pseudonymen ein neues Leben aufgebaut. Sie hatte sogar Informationen über ihren Boss gesammelt und sicher verwahrt. Aber wann auch immer sie endlich aussteigen wollte, ließen sie ihr ein eindeutiges Zeichen zu kommen. Die Organisation wusste alles und sie ließen sich nicht in die Karten schauen. Nur deswegen hatte Sharon weiter für sie gearbeitet, sich hochgearbeitet, einen Codenamen bekommen und mutierte irgendwann zum Liebling des Bosses. Er würde sie nie gehen lassen, dafür hatte er viel zu viel in sie investiert. Sie baute ihre japanisch Kenntnisse aus, bekam Unterrichtseinheiten zu Medizin, Jura, Kriminalistik und zu anderen Themen. Außerdem bekam sie Sportunterricht, um ihre körperlichen Fähigkeiten auszubauen und natürlich auch ein Schießtraining. Besonders in der Anfangszeit wurde sie oft getestet. Es ging so lange, bis sie in vielen Disziplinen nahezu perfekt war. Und deswegen wusste sie, dass sie nur noch eine Wahl hatte: sich ihrem Schicksal fügen. Wenigstens war sie seitdem nur noch für die Informationsbeschaffung und Aufklärung zuständig und musste sich nur selten die Hände schmutzig machen. Und trotzdem wurde sie nicht von allen Mitgliedern der Organisation gemocht. Es gab zwar einige, die gern mit ihr arbeiteten, aber andere… Sie warfen ihr immer Alleingänge vor, aber so war es schon immer. Sie agierte eben oftmals alleine und war letztlich doch nur auf sich gestellt. Wem konnte sie denn schon vertrauen? Aber das war nicht schlimm. Mittlerweile hatte sie sich in der Organisation auch einen gewissen Ruf aufgebaut und keiner wagte es, ihr jetzt noch Befehle erteilen zu wollen. Und was war mit ihren Freunden? Eigentlich gab es nur noch Yukiko, aber mit dieser konnte sie sich kaum treffen. Yukiko war Mutter geworden und sie wollte nicht schon wieder ein Kind in Gefahr bringen. Da die Organisation auch weiterhin ihre Schritte überwachte, nahm sie zu Yukiko Abstand. Wenn sie herausfanden, dass es noch jemanden gab, der ihr etwas bedeutete, würde es nicht gut enden.

Nicht einmal der Freitod half ihr, weil das Gift, das innerhalb der Organisation entwickelt wurde, seine Wirkung gänzlich anders entfaltete. Statt zu sterben, hatte es ihr Leben auf eine andere Art und Weise verlängert. Sie war wieder jung. Jung und schön. Chris Vineyard – ihre Tochter war an jenem Tag geboren und bekam eine Hintergrundgeschichte fernab des Medienrummels. Aber mit Make-up alleine konnte sie Niemanden täuschen. Sich alt schminken war eine Sache, sich alt zu benehmen eine andere. Es war anstrengend, aber auch diese Rolle hatte sie mit Bravour gemeistert und meisterte sie noch immer.

Aber nun musste Sharon sterben und wer war dafür am besten geeignet, wenn nicht das Mädchen von damals? Vermouth hatte sie all die Jahre über beobachtet und immer gewusst, wo sie sich befand. Das Mädchen sollte ihre Karte in die Freiheit sein – auch dann wenn ihr das FBI auf die Schliche kam. Die Schauspielerin leckte sich über die Lippen. Sie hatte noch genügend Trümpfe auf der Hand und kam es zum Äußeren, würde sie diese auch nutzen. Durch die Organisation hatte sie sich komplett verändert. Sie würde alle Chancen nutzen, die sich ihr ergaben, sogar Risiken, wenn sie ihren Zielen dienten. Und ihr Selbstvertrauen war mittlerweile groß, anderen Personen gegenüber sogar noch größer. Selbst wenn die Situation ausarten würde, aufgrund ihrer Schauspielkunst würde sie sich schnell auf die neuen Begebenheiten einstellen und versuchen einen Vorteil aus der Sache zu ziehen. Ihr scharfer Verstand wurde glücklicherweise jahrelang von der Organisation trainiert und erlaubte es ihr, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Nicht zu vergessen, die weibliche Intuition. Sie hatte ihr schon oft das Leben gerettet.

Vermouth stellte das Glas auf den Tisch und schlug die Beine übereinander. Die Schauspielerin klappte ihren Laptop auf, startete ihn und tippte ihr Passwort ein. Anschließend wählte sie ein Programm aus und steckte sich einen Kopfhörer in das Ohr. Sie war in ihrer neuen Rolle als Milena Sherman – der Tochter des Privatermittlers Edward Sherman mal wieder aufgegangen. Nicht nur, dass der Mann ausgerechnet Jodie unter seine Fittiche nahm, seine Detektei war überhaupt nicht gesichert. Vermouth konnte ganz einfach rein und in den Räumen Abhörgeräte anbringen, ohne dass diese ein Störgeräusch zur Folge hatten. Sie hatte sich sofort Zugang zu den wichtigsten Akten – hauptsächlich zu Jodie – verschafft und studiert. Nun kannte sie vieles in der Beziehung von Jodie zu den Angestellten der Detektei und konnte bei der jungen Frau noch viel einfacher die richtigen Knöpfe drücken. Und als Milena hatte sie selbst dafür gesorgt, dass Jodie nicht nur von ihrer Anwesenheit in New York wusste, sondern auch, dass sie es war, die in jener Nacht im Haus war. Der Plan war damals zwar schief gegangen, aber sie hatte das Beste aus der Situation gemacht und das Ergebnis ließ sich sehen. Jetzt bekam die Schauspielerin sogar in Echtzeit mit, was die junge Frau tat und sie würde ihr auf jeden Fall auf den Friedhof folgen.

Die Schauspielerin lächelte. „The show must go on“, sagte sie zu sich selbst. Sie nahm den Kopfhörer aus dem Ohr und legte ihn auf den Tisch. Anschließend beendete sie das Abhörprogramm und rief eine andere Datei auf. Sie überflog die Daten und schmunzelte. Nun war es Zeit für die nächsten Schritte. Sie musste ihren Plan in die Tat umsetzen, ehe sie Jodie nicht mehr in eine ganz bestimmte Richtung drängen konnte. Und sie wusste schon, wer sie dabei unterstützen konnte. Außerdem musste sie jenen Mann für sein Schweigen tadeln. Ein Grinsen legte sich auf ihr Gesicht. Sie würde ihm Angst machen und ihn an seine Loyalität erinnern.

Vermouth nahm ihr Handy und rief das Telefonbuch auf. Alle Einträge waren codiert und sie suchte jenen raus, den sie brauchte. Sie tippte auf das Wählen-Symbol und wartete. Es klingelte, bis er den Anruf entgegen nahm. Vermutlich wusste er, dass sie es war. Aber das war okay. Er sollte wissen, mit wem er es zu tun bekam.

„Tri…pton.“ Seine Stimme zitterte.

„Hallo Roy, ich bins“, antwortete sie ruhig. „Hast du mich vermisst?“

Auf Abwegen

„Hallo Roy, ich bins.“ Er hatte die Stimme sofort erkannt. Sie klang vertraut, aber auch gefährlich. „Hast du mich vermisst?“

Roy schluckte. Die Stimme gehörte zu seiner Vergangenheit – seiner bitteren Vergangenheit. Immer wenn er dachte, dass sie ihn endlich in Ruhe ließen, meldeten sie sich wieder. Es war nicht immer der gleiche Mann. Manchmal war es ein anderer. Manchmal riefen ihn auch mehrere Männer an und trieben ihn in die Ecke. Er hatte sogar seine Telefonnummer gewechselt – mehrfach – aber sie hatten es immer wieder geschafft, mit ihm in Kontakt zu treten. Gerne benutzten sie auch verschiedene Telefonnummern. Kaum dass er eine blockiert hatte, rief eine andere an. Und wenn sie nicht anriefen, kamen sie zu seiner Wohnung oder Arbeitsstelle. Nur mit Mühe und Not konnte der Agent seine Probleme seinen Kollegen verheimlich. Das gesamte Ausmaß hatte er noch nicht verstanden.

Roy hatte den Mann noch vor seiner Ausbildung in Quantico kennen gelernt. Sie saßen gemeinsam an einer Bar, redeten und am Ende hatte der Alkohol dafür gesorgt, dass er mit seinen Fähigkeiten als Hacker angab. Natürlich wollte der Mann etwas sehen und Roy war noch so grün hinter den Ohren, dass er die Herausforderung nur allzu gern annahm. Nachdem der Kater am nächsten Tag endlich abgeklungen war, bereute er seine Eskapaden. Zum Glück war der Mann verschwunden und so hatte Roy diese Episode in seinem Leben für einige Wochen vergessen. Dann hatten sie einander wieder getroffen und nicht nur das. Er wurde erpresst. Obwohl er es hätte besser wissen müssen, hatte er das alles vor seinen Kollegen verschwiegen und sich auf die dubiosen Machenschaften des Mannes eingelassen. Sie hatten alles dokumentiert und zeigten ihm regelmäßig wer die Hosen an hatte. Mittlerweile kam er nicht mehr aus der Situation heraus. Jedes Mal hatte er sich über sich selbst geärgert. Als FBI Agent hätte er die Gefahr nicht unterschätzen dürfen und trotzdem war ihm dieser Fehler unterlaufen.

„Was…was wollen Sie von mir?“, wollte der Agent wissen. Es war zwei Jahre her, seit er das letzte Mal mit dem Mann sprach. Er hatte sogar zu hoffen gewagt, dass es nun endgültig vorbei war.

„Ach mein lieber, Roy“, begann Vermouth mit verstellter Stimme. Sie liebte es, mit ihren Opfern zu spielen und sie in die Irre zu führen. Aufgrund ihrer Fähigkeiten war es einfach. Sie konnte sogar so tun, als wären mehrere Männer am Hörer. Es brauchte nur eine gute Koordination. „Ich dachte, wir sind beim letzten Mal dabei verblieben, dass du mich informierst, wenn es was Neues zu deiner Freundin gibt.“

Roy wurde blass. Er hatte Jodie vor mehr als vier Jahren kennengelernt und ihr nur etwas Trost spenden wollen. Dann waren sie einander näher gekommen und er hatte sich verliebt. Und dann tauchte der Mann wieder in seinem Leben auf und empfand die junge Blonde als eine Gefahr. Er bedrohte ihr Leben. Würde Roy nicht weitere – kleinere – Aufträge übernehmen, würden sie sich an Jodie austoben. Mittlerweile war sich Roy sicher, dass sie auch bei Jodies Kommilitonen die Finger im Spiel hatten. Allerdings wusste er nicht, welchen Plan sie damals damit verfolgten. Ihre gemeinsame Flucht war der einzige Ausweg, den er noch hatte. Doch auch dieses Mal waren ihm der Fremde und seine Kumpane einen Schritt voraus. Schließlich hatte er sich entschieden, Jodie erst einmal allein ziehen zu lassen. Dennoch wollte er ihr folgen, wenn alle seine Probleme gelöst gewesen wären. Da Jodie vorher verschwand, kam es nie dazu. Selbstverständlich war Roy skeptisch und hatte jenen Mann in Verdacht, Schuld an Jodies Verschwinden zu sein. Aber er wurde überrascht, als er die Forderung des Mannes hörte. Er sollte sich melden, wenn Jodie wieder auf der Bildfläche auftauchte oder wenn es Neuigkeiten gab. Sofort wurde ihm bewusst, dass auch dieser nicht wusste, wo Jodie war.

„Es…es gibt nichts Neues“, antwortete Roy. Wusste der Mann etwa, dass eine neue Suche nach Jodie gestartet wurde? Aber woher? „Sie ist weiterhin verschwunden.“

„Ach Roy, was soll ich nur mit dir machen?“ Die Schauspielerin lächelte. „Ich hab dir doch ganz gezielte Anweisungen gegeben. Oder möchtest du, dass ich mich mal mit deinem Chef unterhalte?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, warf der Agent ein.

„Bist du dir sicher? Ich habe da was ganz anderes gehört.“ Vermouth lehnte sich nach hinten. „Soll ich dir davon erzählen? Mein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass nach der kleinen Jodie wieder gesucht wird. Oh, pardon, so klein ist sie ja nicht mehr. Sie ist ja eine erwachsene Frau…mit gewissen Vorzügen.“

Der FBI Agent rang nach Luft. Wie sollte er Jodie beschützen, wenn er nicht einmal wusste, wo sie war? „Ich habe da nur so ein Gerücht gehört“, begann Roy. Er versuchte seinen Atem wieder zu kontrollieren, damit die Person am anderen Ende seine Anspannung nicht mitbekam. „Es ist noch nicht verifiziert.“

„Was für ein Gerücht?“ Vermouth kannte bereits die Wahrheit, wollte sie aber aus seinem Mund hören.

„Sie soll wieder gesucht werden“, antwortete er. „Bevor ich Ihnen davon erzähle, wollte ich das Gerücht erst einmal prüfen. Sie liegt einigen Agenten am Herzen und deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass diese nochmal alles dran setzen, sie zu finden. Aber wie gesagt, ich wollte…erst sichergehen. Es wäre auch möglich, dass das einfach nur so gesagt wurde.“

„Ist das so?“ Die Schauspielerin leckte sich über die Lippen. Es lief alles nach ihrem Plan. Vor 20 Jahren hatte es Probleme gegeben, aber diese hatte sie überwunden. Sie hatte alles für die Organisation getan, jeden Befehl befolgt und ihre eigenen Prinzipien schon lange über Bord geworfen. Anfangs hatte sie sogar Skrupel, wenn es um Kinder ging, aber dies war der Organisation egal. Und so hatte sie das kleine Mädchen von damals zu ihrer Feindin gemacht – zumindest während des Auftrages. Ihr Pokerface half ihr, aber sie hatte Pech. Jodie überlebte. Und ihr Boss hatte sie sofort zur Schnecke gemacht. Es war ihr Fehler. Auch wenn die Sache wasserdicht zu sein schien, hätte sie sich vergewissern müssen, dass Jodie tatsächlich noch im Haus war. Eigentlich sollte sie die Sache so schnell wie möglich bereinigen, aber das war viel zu gefährlich. Jodie würde vom FBI nicht mehr so einfach aus den Augen gelassen werden. Außerdem würde ihr früher Tod Fragen aufwerfen und auch die Öffentlichkeit hätte gewusst, dass der Brand kein Unfall war. Nichtsdestotrotz blieb die Organisation weiterhin auf der Hut. Sie beobachtete nicht nur das FBI, sondern auch Jodie. Sie hatten das Mädchen auf all ihren Lebenswegen begleitet, vielleicht sogar beschützt und viel über ihren Tagesablauf gelernt. Aber dennoch hatten sie den richtigen Zeitpunkt zum Handeln verpasst. Zumindest bis Jodie auf der Studentenfeier war und den kleinen Disput hatte. Eigentlich ging es ihm nach dem Sturz gut, doch dann hatte ihn die Organisation bearbeitet. Es war eine Kleinigkeit, denn sie hatten schon zuvor immer wieder dafür gesorgt, dass Jodie an die Vergangenheit erinnert wurde oder dass ihr Steine in den Weg gelegt worden sind. Manchmal war es eben besser, wenn man taktisch vorging und seinen Gegner langsam zermürbte.

Und Jodie hatte ihnen ihr weiteres Vorgehen so leicht gemacht. Sie kam regelmäßig zum Büro und versuchte an die Akten ihres Vaters zu kommen. Es war beinahe ein Kinderspiel Roy auf sie anzusetzen, ohne dass dieser irgendwas bemerkt hatte. Vermouth war sich sogar sicher, dass der Agent immer noch nicht wusste, dass alles von Anfang so geplant war. Mittlerweile kannte sie Jodie und Roy. Beide konnten manipuliert werden und tanzten nach ihrer Pfeife. Selbst ihre Liebe war der Organisation zu verdanken. „Und? Was hast du rausgefunden?“ Sie tat, als hätte sie selbst keine Ahnung. Aber wenn es ging, würde sie die Bombe platzen lassen.

„Die Suche ist nicht offiziell“, entgegnete Roy. „Eher ein Zufall, weil Agent Black nicht ganz auf der Höhe ist. Er will…ihm helfen und hat deswegen ein paar Nachforschungen angestellt. Aber…sie ist verschwunden. Ich konnte sie auch nicht finden.“

Vermouth lächelte. „Du liebst sie immer noch.“

Roy schluckte. „Das tut hier nichts zur Sache. Sie ist vor zwei Jahren verschwunden und…hat mich verlassen.“

„Hast du mit dem Agenten gesprochen?“

Roy spielte mit dem Gedanken aufzulegen. Aber so einfach würde es nicht werden. „Er hat mich überrumpelt. Ich habe ihm die Wahrheit über meine Beziehung zu ihr erzählt und…das ich sie nach London, Ohio schickte. Mehr weiß er nicht. Ich schwöre.“

„Mhm…“

„Bitte…ich hab…wirklich nicht mehr gesagt.“

„Mach dir nicht ins Hemd, Roy“, entgegnete die Schauspielerin. „Du kannst natürlich nichts sagen, wenn du selbst nichts weiß. Sie hat dich verlassen, du solltest sie vergessen.“

„Sie…“, wisperte er leise.

„Lass gut sein, Roy“, sprach Vermouth. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du uns lieber nicht verraten solltest. Du weißt, dass wir viel gegen dich in der Hand haben. Wer hätte das gedacht, ein Fehler und er zerstört dein Leben. Aber sieh es positiv: Du hattest doch auch schöne Tage.“

„Bitte…“, murmelte er leise. „Ich …ich will nicht mehr…“

Vermouth seufzte theatralisch. „Ich mach dir ein Angebot, weil ich dich so mag“, fing sie an. „Du hältst für mich weiter die Augen und Ohren offen und wenn deine Jodie auftaucht, sagst du mir Bescheid. In Ordnung?“

„Was habt ihr mit ihr vor?“, wollte der Agent wissen.

Für einen Augenblick hatte Vermouth mit dem Gedanken gespielt, ihm einen Teil der Wahrheit zu erzählen und zu sehen, wie er daran zerbrach. Denn auch wenn er es nicht wollte, er hatte einer Mörderin geholfen – der Frau, die für Jodies Leid verantwortlich war. „Denkst du wirklich, ich würde dir jetzt alles erzählen?“

Er schwieg, aber die Schauspielerin konnte seinen schnellen Atem hören. „Weil du es bist, verrate ich dir noch eine Kleinigkeit.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Ich werde ihr die Wahrheit über den Tod ihrer Eltern sagen und danach wird sie die Wahrheit über dich erfahren.“

Roy runzelte die Stirn.

„Du fragst dich sicher, welche Wahrheit ich meine. Sagen wir es mal so, es gibt da noch etwas, was sie nicht weiß. Etwas, das ihr den Boden unter den Füßen wegziehen wird. Und wenn sie am Boden liegt, wird sie erfahren, was du für uns getan hast und dass du nur mit ihr weggehen wolltest, um deine eigene Haut zu retten.“

Er wusste zwar nicht, was der Mann mit seiner ersten Aussage meinte, aber es war gefährlich. „Bitte nicht…das würde…das würde Jodie zerstören.“

„Keine Sorge, mein Lieber. Du kannst sie gern trösten. Falls sie es überlebt.“

„Falls sie…ihr wollt…“

„Sie umbringen? Vielleicht, aber vielleicht bringt sie sich auch selbst um. Wer weiß das schon“, gab sie von sich. „Sie hat ihr Ablaufdatum sowieso schon überschritten.“

„Was?“

„Weißt du, wir wollten sie schon aus dem Weg räumen, als sie New York verlassen hat, aber dann ist sie einfach so verschwunden.“ Jetzt sprudelte es nur so aus ihr heraus. Aber auch das war ein gezielter Schachzug. mit einem Mal war Roy erleichtert. Der Mann und seine Leute wussten nicht, wo Jodie war. Sie hatte eine Chance. „Aber damit sind wir klar gekommen. Es hat nicht lange gedauert, bis wir sie wiedergefunden haben und wir wissen ganz genau, wo sie sich befindet.“ Vermouth lachte. „Du armer, dummer Junge. Wir wussten all die Zeit, wo sie ist. Du wirst überrascht sein, wenn du die Wahrheit erfährst. Und wir haben bereits die ersten Schritte eingeleitet. Sei vorsichtig, bald machen wir unseren Zug.“

Roy wurde wieder blass. Er zitterte am ganzen Körper. „Bitte…tut…tut ihr nichts. Sie ist…sie…ich werde…ich…“

„Ach Roy“, fing sie an. „Ich spiel doch nur mit dir, damit du weißt, wer hier am längeren Hebel sitzt. Mach dir nicht in die Hose. Solange wir dich noch brauchen, wird euch nichts passieren. Ich dachte, du kennst mich mittlerweile.“

Er schluckte. Immer wenn er mit dem Mann sprach, wusste er nicht was Wahrheit und was Lüge war. Aber er wusste, was von ihm erwartet wurde. „Was…was soll ich tun?“

„So ist es brav. Wie vorhin erwähnt, beobachte einfach alles und melde dich bei uns, wenn sie wieder auftaucht. Wenn wir dich brauchen, melden wir uns bei dir.“

„Aber…“

Doch Vermouth hatte bereits aufgelegt. Sie lachte. Es machte Spaß ihren Worten einen Hauch von Wahrheit zu verleihen. Da der Agent keine Gefahr darstellte, hätte sie ihm sogar den ganzen Plan erzählen können. Die Schauspielerin lehnte sich nach hinten und schloss die Augen.

Sie sah Jodie vor sich. Ihren geschockten Blick, als die bekannte Sharon Vineyard jenen Satz gesagt hatte. Sie hatte die junge Frau beobachtet und mit ihr gespielt. Manchmal war es so einfach, sich in eine andere Rolle hineinzuversetzen. Und es war wie eine Fügung des Schicksals, dass Milena am Tag der Ausstrahlung in der Mediathek einen Außeneinsatz hatte. So konnte sie ganz einfach den Platz der jungen Frau einnehmen.

Trotzdem war die Gefahr noch nicht gebahnt. Das FBI war ihr immer noch auf den Fersen und sie musste auf der Hut sein. Sie durfte nicht wieder versagen und deswegen musste sie noch schneller agieren als ihr Feind...

Begegnung

Jodie beobachtete den Haupteingang des Friedhofs. Von James fehlte bislang jede Spur, aber vielleicht war er auch schon dort. Vielleicht hatte er auch einen der anderen Ein- und Ausgänge genommen. Vielleicht würde er auch gar nicht kommen. Es gab viele Möglichkeiten und je länger Jodie die Begegnung hinauszögerte, desto wahrscheinlicher war es, dass sie James gar nicht erst antraf. Dabei war es das zweite Mal, dass sie an diesem Tag am Friedhof war.

Die ganze Nacht über hatte sie nicht schlafen können. Andauernd wälzte sich die junge Frau von einer Seite auf die andere. In ihrem Kopf lief dauernd ein Film mit verschiedenen Szenarien, was passieren würde. Es begann ganz harmonisch, James schloss sie in seine Arme und freute sich, dass sie wieder da war. Sie sprachen über Sharon Vineyard und begannen gemeinsam zu recherchieren. Am Ende brachten sie die Schauspielerin sogar hinter Gittern. Doch dann änderte sich ihr Traum schlagartig. James Blick wurde finster, als er sie sah. Statt sie zu umarmen und sich zu freuen, stieß er sie von sich weg, beschimpfte sie und war wütend. Dann brüllte er sie an und sie erkannte die Verachtung in seinen Blicken. Und dann wiederholte sich dieses Szenario. Immer und immer wieder, bis Jodie schließlich aufstand und sich fertig machte. Da sie davon ausging, dass James am frühen Morgen den Friedhof aufsuchen würde, hatte sie dort gewartet. Zwei ganze Stunden. Aber von James gab es keine Spur. Jodie mutmaßte, dass er an einem dringenden Fall arbeiten musste. Und so war sie schließlich wieder gegangen und hatte sich in der Detektei verschanzt. Ein Fehler. Sie hatte sowohl Zeit zum Nachdenken als auch die Möglichkeiten eine detaillierte Suche durchzuführen. Und genau das tat Jodie.

Nach all den Jahren hatte die junge Frau endlich ein Bild vor Augen, wenn sie an die Mörderin ihrer Eltern dachte. Trotzdem fühlte es sich komisch an. 20 Jahre waren eine lange Zeit. Die fremde Frau war nun keine gesichtslose Hülle mehr. Ihre Identität war bekannt. Aber sie war weiterhin auf freiem Fuß und lebte ein glückliches Leben. Was sollte Jodie auch tun? Es gab nur die Aussage eines kleinen Mädchens, verängstigt, traurig und auf sich allein gestellt. Wer sollte ihr glauben? Welche Beweise hatte sie schon? Nur der Satz allein würde nie und nimmer vor einem Gericht standhalten. Die Beweislage war dünn, fast gar nicht vorhanden. Dass Ed ihr überhaupt glaubte, war ein großer Vertrauensbeweis. Doch konnte sie James und das FBI auch so einfach überzeugen? Alleine hatten sie und Ed keine Chance, Sharon Vineyard zu überführen. Zu groß waren die Möglichkeiten der Schauspielerin. Deswegen musste sie selbst mit James sprechen. Zuerst James und dann Roy. Nach all den Jahren des Versteckens musste sie endlich das Richtige tun. Dazu gehörte es, die Menschen denen sie etwas bedeutete, nicht weiter zu verletzen. Sie hatte James schon mehrfach zufällig getroffen, sich aber immer wieder versteckt und ihn dann beobachtet. Auch wenn sie nicht miteinander redeten, spürte sie seinen Schmerz. Es war für keinen von Beiden einfach. Zu viel war geschehen. Und wenn Jodie ehrlich zu sich selbst war, verfluchte sie sich mittlerweile für ihre damalige Entscheidung. Könnte sie sie rückgängig machen, sie würde die Chance nutzen. Leider konnte sie nicht einmal behaupten, dass es eine Kurzschlussreaktion war, dafür hatten sie und Roy das ganze viel zu gut geplant und sich abgesichert. Und als sie mit Ed wieder nach New York zurückkam, hatte sie sich gegen die weitere Lüge nicht widersetzt. Ganz im Gegenteil. Tag für Tag lebte sie sie und hatte sich mit ihrem neuen Leben angefreundet – stellenweise sogar genossen. Trotzdem war es Zeit dem ganzen endlich ein Ende zu setzen. Sie würde sich mit James treffen und hoffen, dass sich ihr Traum nicht bewahrheitete.

Jodie recherchierte über Sharon Vineyard. Sie setzte sich mit dem Leben der Schauspielerin auseinander, sah sich Videos und alte Interviews an und versuchte hinter das Geheimnis ihres Talentes zu kommen. Ihre Verkleidungskunst war nicht ohne und Jodie bezweifelte, dass sie die Frau überhaupt erkennen würde. Sie hatte sich sogar gefragt, ob Sharon nicht auch häufiger in ihrem Leben auftauchte und sich anschaute, was aus ihr wurde. Allein bei dem Gedanken bekam Jodie eine Gänsehaut. Leider hatte sie seitdem auch das Gefühl, dass sie andauernd beobachtet wurde. Deswegen sah sie sich außerhalb ihrer Wohnung und der Detektei besonders aufmerksam um. Trotzdem musste Jodie mit der Situation irgendwie klar kommen.

Ihre Beine zitterten, als sie den Haupteingang durchquerte und zum Grab ihrer Eltern ging. Immer wieder ließ sie ihren Blick in der Umgebung herum schweifen, beobachtete die Menschen und ging in ihrem Kopf die Worte durch, die sie James sagen wollte. Aus Angst das falsche zu sagen oder zu schweigen, hatte sie alles genauestens einstudiert. Als sie dem Grab näher kam, fühlte sich ihr Kopf leer an. Sie hatte das Gefühl, nichts mehr zu wissen, aber ihre Beine bewegten sich wie von selbst.

Es war noch hell, aber für die meisten Menschen hatte der Feierabend bereits bekommen. Jodie sah auf den Grabstein und las die Aufschrift. „Mom…Dad…“, murmelte sie leise. „Ich bin wieder da.“ Sie versuchte zu lächeln, aber an ihrem Gesichtsausdruck änderte sich nichts. „Happy Birthday, Daddy. Ihr wundert euch sicher, weil ich heute Morgen schon da war. Es tut mir leid, dass ich nichts sagen konnte, aber…es fällt mir immer noch schwer.“ Jodie wischte sich die aufkommenden Tränen weg. „Ich habe…einen Hinweis darauf, wer euch getötet hat. Ich…ich kann sie…zur Rechenschaft ziehen. Es wird…alles wieder gut. Ich bin…mir sicher…aber dafür brauch ich…die Hilfe von James. Ich bin…mir sicher, dass…euer Tod nicht umsonst gewesen sein wird…“, fügte sie leise hinzu. „Ich vermisse euch. Ich vermisse euch so sehr…manchmal stelle ich mir auch vor, wie mein Leben gewesen wäre, wenn ihr nicht gestorben wärt. Das wünsche ich mir…so sehr…aber ich…komme klar. Irgendwie krieg ich das schon hin. Macht euch…um mich keine Sorgen.“

Ein Stück Holz knarzte. Sofort sah sich Jodie um. Ein Eihörnchen lief über mehrere Gräber und kletterte anschließend an einem Baumstamm hoch. Die junge Frau atmete erleichtert auf und schüttelte dann den Kopf. Doch es knarzte erneut. Auch wenn sie annahm, sich wieder lächerlich zu machen, drehte sie sich um. Und dann sah sie ihn. Nicht James. Es war……ein Japaner, schoss es Jodie durch den Kopf. Sie blickte in seine tiefgrünen, kalten Augen. Jodie schluckte. Ein Japaner! Dann drehten sich auch schon die Räder in ihrem Kopf. Sharon Vineyard lebte in Japan, sie hatte dort Freunde und möglicherweise auch Verbündete. Vielleicht gab sie sich auch selbst als Japaner aus. Vielleicht hatte Sharon aber auch jemanden auf sie angesetzt. Vielleicht sollte er jetzt das tun, was Sharon damals nicht geschafft hatte.

Jodie machte einen Schritt nach hinten. Das war eine Falle, sagte sie zu sich selbst. Sie war sich sicher und in diesem Augenblick konnte sie keinen anderen Gedanken fassen. Die Flucht war nun die einzige Möglichkeit. Aber die Angst überkam sie.

„Jodie“, hörte sie ihren Namen. Doch es war zu spät. Die junge Frau lief los.

„Warte! Jodie!“, vernahm sie noch. Aber sie blieb nicht stehen. Sie wollte nur noch weg. Zu James. Zu Ed. Nach Hause. Hauptsache nicht in seiner Nähe.

Shuichi seufzte. Er war ebenfalls am frühen Morgen am Friedhof, hatte Jodie aber knapp verpasst. Danach war er bei ihrem alten Haus und wartete dort. Anschließend hatte er wieder das Grab aufgesucht und in seinem Wagen gewartet. Als er eine Frau sah, die auf Jodies Beschreibung passte, war er ausgestiegen und ihr gefolgt. Der Agent versuchte so behutsam wie möglich zu sein und ließ ihr erst einmal einen Augenblick mit ihren Eltern. Wenn Akai ehrlich war, hatte er sich das Aufeinandertreffen mit Jodie viel leichter vorgestellt. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Jodie vor ihm Angst hatte. Er wollte sie aufhalten, als sie die ersten Anstalten machte, wegzulaufen, aber er hatte zu spät reagiert. Auch wenn nur wenige Sekunden vergangen waren, ehe er ihr folgte, hatte er sie noch nicht eingeholt.

Jodie lief und lief. Sie war schon häufiger am Friedhof und kannte die Wege auch besser als er. Trotzdem blickte sie sich andauernd um und versuchte den Abstand zum Japaner auszubauen. Zudem hoffte sie, dass er über einen Ast oder auf dem unebenen Boden stolpern würde. Irgendwas, Hauptsache er folgte ihr nicht mehr.

Aber Shuichi gab nicht auf. Bei seinem ersten Besuch auf dem Friedhof hatte er sich den Plan nicht nur angesehen, sondern auch eingeprägt. Er kannte sämtliche Ein- und Ausgänge, die Wege und Abkürzungen. Shuichi nutzte sie und holte auf. Gerade als er glaubte, schon nach ihr greifen zu können, vergrößerte Jodie den Abstand zwischen ihnen.

Immer wieder rief er ihren Namen. Rief, dass er ihr nichts tun wollte. Rief, dass er ihr helfen wollte. Rief, dass er nicht der Feind war. Aber vergebens. Entweder Jodie hatte ihn nicht gehört, wollte ihn nicht hören oder sie glaubte seinen Worten einfach nicht. Als sie einen der Ausgänge passierte, wusste Akai, dass er sie im schlimmsten Fall gänzlich aus den Augen verlor. Dann würde er sich erneut auf die Lauer legen müssen. Und Jodies Reaktion nach zu urteilen, würde sie akribisch drauf achten, nicht gefunden zu werden.

Shuichi lief weiter. „Bitte warte“, versuchte er es erneut. „Ich tu dir nichts.“

Aber es war zu spät. Jodie lief über die Straße, bog in eine andere Straße ein, wechselte wieder die Straßenseite, bog wieder ab, lief und lief und als er die Strecke ebenfalls absolvierte, war sie verschwunden. Es gab eine Weggabelung und der Agent konnte nicht sagen, welche Richtung Jodie einschlug.

Für einen Augenblick blieb er stehen. Selbst wenn er jetzt wieder zurück lief und seinen Wagen holte, er hatte sie verloren. Und jetzt hatte sie auch noch die Gunst der Stunde genutzt und verschiedene Möglichkeiten um zu entkommen. Shuichi ballte die Faust. „Verdammt“, murmelte er. Er hatte es verbockt. Er hatte Jodie gefunden und wieder verloren. Und jetzt war es zu spät. Wie sollte er das nur James erklären?

Akai seufzte. Trotzdem sah er sich beide Wege an und mit einem Mal fiel es ihm wie die Schuppen von den Augen. Er kannte die Gegend. Er war bereits dort gewesen und hatte versucht mit dem Privatermittler Edward Sherman zu sprechen – jenem Mann, der von James damit beauftragt wurde, Jodie zu finden. Er hatte sich nicht nur den Standort der Detektei angesehen, er war sogar dort gewesen und versuchte an die Akten zu kommen. Allerdings wurde er von der Tochter des Detektivs in seine Schranken gewiesen und weggeschickt. Ohne die schriftliche Bestätigung des Auftraggebers würde man ihm keine Auskunft geben. Mit so viel Hartnäckigkeit hatte der Agent nicht gerechnet, es aber akzeptiert. Vorerst. Von James lag bereits die schriftliche Bestätigung vor, aber Shuichi musste zuerst andere Dinge erledigen. Dass ausgerechnet das Büro des Privatermittlers in der Nähe lag, konnte kein Zufall sein. Und als FBI Agent glaubte er schon lange nicht mehr an Zufälle.

Akai lächelte. Es war noch nicht vorbei und er hatte immer noch die Chance Jodie zu treffen und mit ihr zu reden. Der Agent zog eine Schachtel mit Zigaretten heraus und zündete eine an. Er rauchte und ging zum Büro des Detektivs. Mittlerweile war sich Shuichi sicher, dass Edward Sherman etwas mit Jodie zu tun hatte. Vielleicht deckte er ihr Verschwinden. Vielleicht half er ihr auch. Vielleicht wohnte sie sogar bei ihm. Was es auch war, er war involviert und er hatte Black belogen.

Shuichi war schon gespannt, welche Geschichte ihm der Privatermittler erzählen wollte. Als er vor dem Gebäude stand, entsorgte er seine Zigarette und blickte auf das Schild. Die Detektei war bis 19 Uhr geöffnet, Termine außerhalb der Öffnungszeiten konnten nach Absprache vereinbart werden. Akai sah nach oben. Es brannte Licht, weswegen er zu dem Schluss kam, dass mindestens eine Person in der Detektei war. Shuichi drückte die Tür auf und ging die Treppen nach oben. Vor der Bürotür betätigte er die Klingel und der Summer ertönte. Auch diese Tür drückte er auf. Milena Sherman kam in den Flur und beäugte den Agenten kritisch. „Guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich möchte mit Ed Sherman sprechen“, sagte Shuichi.

„Haben Sie einen Termin?“

„Nein“, antwortete Akai. „Aber er wird mich sicher empfangen wollen. Es geht um Jodie Starling.“

Erkenntnisse

Shuichi ahnte, dass irgendwas nicht stimmte. Die Art und Weise, wie er von Milena angesprochen wurde, passte nicht zu der Frau, die er vor einigen Tagen selbst kennenlernte. Sie schien nicht mehr zu wissen, dass er bereits einmal in der Detektei war. Oder hatte sie es vergessen, weil er kein Klient und der Auftrag von James abgeschlossen war? Der Agent beschloss, dies im Hinterkopf zu behalten und zu einem späteren Zeitpunkt zu überprüfen.

„Stimmt etwas nicht?“, wollte Akai wissen.

„Nein“, begann Milena. „Ich habe mich nur gewundert, warum Sie wegen einem alten Fall hier sind.“

Akai verengte die Augen. Jetzt war er sich sicher, dass irgendwas nicht stimmte. Er zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn Milena vor das Gesicht. „Ich bin vom FBI und im Auftrag von James Black hier. Er hat die Detektei vor drei Jahren mit der Suche nach Jodie Starling beauftragt. Ich rolle die Suche wieder auf und benötige von Ihrem Vater einige Informationen. Er hat damals nach Jodie gesucht.“

„Ja, das hat er“, murmelte die junge Frau. „Mein Vater hat derzeit keinen Termin. Ich bringe Sie zu ihm. Bitte folgen Sie mir.“ Milena ging zum Büro ihres Vaters. Am liebsten hätte sie ihn oder Jodie irgendwie informiert. Doch dies hätte der Agent sicher mitbekommen und wäre misstrauisch geworden. Als sie beim Büro ankamen, klopfte sie an die Tür. Anschließend trat sie ein. „Dad? Ein FBI Agent möchte dich sprechen. Es geht um den Fall von vor einigen Jahren…Jodie Starling.“

Ed runzelte die Stirn und nickte. „Schick ihn bitte rein.“

Milena blickte zu Shuichi. „Bitte, gehen Sie rein. Kann ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten?“

„Danke, ich benötige nichts.“ Er trat ein und ging auf den Schreibtisch zu. Milena hingegen schloss die Tür und machte sich auf den Weg zu ihrem Büro. „Danke, dass Sie mich empfangen. Ich bin Special Agent Shuichi Akai“, stellte er sich vor und hielt ihm nun auch seinen Ausweis hin. Danach setzte er sich auf den freien Platz vor dem Schreibtisch. „Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über Jodie Starling sprechen möchte. Sie haben vor etwa zweieinhalb Jahren einen Auftrag von James Black erhalten und sollten nach der jungen Frau suchen. Ihre Suche ging etwa ein dreiviertel Jahr, danach teilten Sie ihm mit, dass Sie Jodie nicht finden konnten.“

„Ich erinnere mich an den Fall“, nickte Ed. Bevor er dem Agenten zu viel verriet, musste er erst mit Jodie sprechen. Sie hatte sich noch nicht gemeldet und Ed wusste nicht, wie das Gespräch mit James lief. Zudem kam es ihm merkwürdig vor, dass ein FBI Agent in der Detektei auftauchte, während Jodie mit seinem Kollegen sprach. Und bei dem, was er mittlerweile über Sharon Vineyard wusste, bestand die Möglichkeit, dass sie ihm in Verkleidung eines Agenten Informationen entlocken wollte. „Ich kannte Jodies Vater, daher habe ich den Auftrag selbst übernommen und keinen meiner Mitarbeiter geschickt. Allerdings kann ich Ihnen keine Informationen über den Auftrag geben, da Sie nicht der Auftraggeber sind.“

„Ich weiß“, gab der Agent von sich. Er steckte seinen Dienstausweis wieder ein und zog ein Stück Papier heraus. „Die Vollmacht von Agent Black, dass ich die Akten einsehen darf. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ihn ebenfalls kontaktieren.“

Ed runzelte die Stirn und sah kritisch auf das Stück Papier. „Ich werde mir die Freigabe von Agent Black bestätigen und Ihnen dann die Akten raussuchen lassen.“

„Wie lange wird das dauern?“

„Kommen Sie morgen Vormittag wieder vorbei“, antwortete der Detektiv. „Am besten bringen Sie Agent Black mit, dann hört er nicht alles aus zweiter Hand.“

Shuichi nickte. „Allerdings bin ich heute wegen etwas Anderem hier. Sie können sich sicher vorstellen, dass ich natürlich nicht untätig gewesen bin und meine eigenen Ermittlungen angestellt habe. Ich weiß, dass Jodie vor zwei Jahren in London, Ohio gelebt hat. Sie hat in einem Diner in der Nähe gearbeitet und ist dann von heute auf morgen verschwunden. Es wurde nicht hinterfragt, weil so was dort häufig vorgekommen ist. Ich weiß auch, dass ihr früherer Vermieter wegen Vergewaltigung und Nötigung verurteilt wurde. Die Hinweise bekam die Polizei von einem Privatermittler, der anonym bleiben wollte.“ Akai lehnte sich zurück und lächelte. „Sie waren der Privatermittler, nicht wahr?“

Ed schwieg.

„Sie haben auf Ihrer Website ein Bild von sich. Als ich es einer Kellnerin im Diner zeigte, konnte sie sich noch gut an Sie erinnern. Sie haben damals Fragen nach Jodie gestellt, die kurz darauf verschwunden ist. Natürlich kann man denken, dass Jodie einfach Angst bekommen hat, weil man nach ihr fragte und deswegen wieder untergetaucht ist. Das habe ich auch zunächst angenommen.“

„Natürlich habe ich nach Jodie gesucht und nichts unversucht gelassen. Dazu gehört auch, dass ich mit den Menschen spreche. Ich bin jeder Spur nachgegangen und so ihrem Vermieter auf die Schliche gekommen. Natürlich hätte ich auf Anonymität nicht bestehen müssen, aber für meine Suche war es einfach das Beste.“

Akai verschränkte die Arme von der Brust. „Wie Sie meinen. Wissen Sie, was ich interessant finden?“

„Mhm…?“

„Beim ersten Mal hatte Jodie Hilfe von ihrem Freund und konnte ein Jahr nicht gefunden werden. Daher bin ich mir sicher, dass sie beim zweiten Mal ebenfalls Hilfe hatte.“

„Vielleicht die gleiche Person wie damals“, warf Ed ein.

„Das ist ausgeschlossen“, begann Shuichi. „Wussten Sie, dass heute der Geburtstag von Jodies Vater ist?“

„Ist das so?“

„Ja, das ist so. Ich war heute am Friedhof und habe eine Frau gesehen, die Jodie Starling sehr ähnlich sieht. Als ich mich ihr näherte, ist sie weggelaufen. Ich konnte ihr eine ganze Weile folgen und bin schließlich in der Nähe Ihrer Detektei gelandet.“ Shuichi sah ihn an. „Als FBI Agent glaube ich nicht an Zufälle. Und das alles ist schon ein sehr großer Zufall, finden Sie nicht auch?“

„Ich weiß, wie es für Sie aussehen muss“, gab Ed von sich. Er biss sich auf die Unterlippe.

„Soll ich Ihnen einmal erzählen, was ich denke?“

Der Detektiv nickte. „Bitte.“

„Ich glaube, Sie haben den Aufenthaltsort von Jodie herausgefunden und wollten sie wieder nach New York bringen. Aber es ist irgendwas passiert, weswegen sie sie weiter versteckt hielten. Jodie und Ihre Tochter sind in einem ähnlichen Alter. Es ist möglich, dass sie der jungen Frau deswegen geholfen haben. Vielleicht haben Sie ihr aber auch versprochen, ihr bei der Suche nach der Frau zu helfen, die ihre Eltern auf dem Gewissen hat. Wie mach ich mich mit meinen Schlussfolgerungen?“

Der Detektiv ballte die Faust. „Agent Akai“, sprach er. „Was möchten Sie von mir hören?“

„Die Wahrheit. Es wird für Sie keine negativen Konsequenzen haben. Es geht uns lediglich darum, Jodie zu finden und sie zu beschützen.“

„Beschützen?“ Ed sah ihn fragend an.

„Sie wissen doch, dass die Täterin immer noch auf freiem Fuß ist. Irgendwann wird sie zuschlagen und davor möchten wir Jodie schützen. Sie ist immerhin eine Zeugin.“

Ed beugte sich nach vorne. „Agent Akai, ich möchte Sie etwas fragen und ich bitte Sie, mir eine ehrliche Antwort darauf zu geben. Wissen Sie, wer Jodies Familie auf dem Gewissen hat?“

„Ja.“

„Sind Sie sicher?“, wollte Ed wissen.

A secret makes a woman woman. Das hat die Frau damals zu Jodie gesagt.“ Ed war definitiv in die ganze Sache involviert und wusste mehr, als er gerade zugab. Aus diesem Grund konnte ihm Akai auch etwas mehr erzählen. „Jodie konnte damals die Frau nicht beschreiben und ich bin mir sicher, sie würde sie nicht erkennen, wenn sie vor ihr stünde. Diese Frau ist derzeit in New York und könnte es in diesem Moment auf Jodie abgesehen haben.“

Ed atmete tief durch. „Sie meinen Sharon Vineyard, nicht wahr?“ Er nahm an, dass die Schauspielerin reagieren würde, wenn sie ihm gegenüber saß. „Es gab vor einigen Tagen ein Interview mit ihr. Sie hat diesen Satz gesagt.“

„Sie haben es also auch herausgefunden“, sprach er. „Das bekräftigt mich in der Meinung, dass Sie etwas mit Jodies Verschwinden zu tun hatten.“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Ed, der irritiert über den Themenwechsel war.

„Agent Black hat Ihnen die Hintergründe zum Tod der Familie Starling nie erzählt und er wurde in den Medien als Unfall deklariert. Als ich erwähnte, dass Sie Jodie helfen, die Mörderin ihrer Eltern zu finden und wir uns darüber unterhalten haben, haben Sie kein einziges Mal überrascht gewirkt oder mich etwas dazu gefragt. Stattdessen haben Sie mit mir ein Gespräch darüber geführt. Alleine das beweist, dass Sie in Kontakt mit Jodie waren und es Ihrem Auftraggeber verschwiegen haben. Sie vertraut Ihnen und hat Ihnen viel erzählt.“

Ed runzelte die Stirn. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Agent Akai. Ich bin noch nicht gänzlich davon überzeugt, dass Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein. Wir wissen Beide, dass Sharon Vineyard sehr gut in fremde Rollen schlüpfen kann und ich möchte sichergehen, dass ich ihr jetzt nicht gegenüber sitze.“

„Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.“ Ed stand auf und ging zu dem Agenten. Er legte seine Hände an dessen Gesicht und prüfte, ob er eine Maske trug. „Gut, keine Maske.“ Er seufzte. „Da habe ich wohl einen Fehler gemacht Sie haben Recht, ich habe Jodie damals gefunden und ich habe sie zurück nach New York gebracht. Ich wollte sie zu Agent Black bringen…aber wir haben geredet. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt und ihr Schmerz hat mich sehr bewegt. Deswegen habe ich mich entschlossen, ihr zu helfen. Jodie ist ein Wrack, sie lebt sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Sie hatte andauernd Pech und…wollte sich ein neues Leben aufbauen. Ich konnte ihre Beweggründe verstehen und als sie mir von ihrer Familie erzählte, wollte ich ihr unbedingt helfen. Ich weiß, dass es falsch war, sie zu verstecken. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es zwei Jahre dauert. Glauben Sie mir, wenn es gegangen wäre, hätte ich es schon viel eher beendet. Es ging mir die ganze Zeit nur um Jodies Wohl.“

„Mhm…“, gab Akai von sich. „Was hat Jodie in den zwei Jahren gemacht?“

„Sie hat sich hier um allgemeine Sachen gekümmert und ihr Studium wieder aufgenommen. Wir haben uns darum gekümmert, dass sie sich selbstverteidigen kann und sie hat für uns die Recherchetätigkeiten übernommen. Mit der Zeit sollte sie uns immer mehr unterstützen. Nach ihrem Studium wollten wir sie als Ermittlerin einsetzen.“

„Ich verstehe. Ich würde gern mit Jodie sprechen.“

Er seufzte. „Sie hat also nicht mit Agent Black gesprochen.“

„Mhm?“, kam es von dem Agenten.

„Jodie hat…das Interview mit Sharon Vineyard auch gesehen und sie war sich sicher, dass das FBI davon keine Ahnung hat. Deswegen hat sie sich entschlossen, mit Agent Black zu sprechen. Sie wollte es heute machen, wenn sie ihn auf dem Friedhof trifft.“

„Black war heute recht früh dort. Er hätte mir Bescheid gegeben, wenn er mit Jodie gesprochen hätte.“ Akai dachte nach. „Ich habe mir das Interview von Sharon Vineyard auch in der Mediathek angesehen. Jetzt da ich weiß, das Jodie es auch sah, ist es verständlich, dass sie vorhin vor mir weggelaufen ist. Sharon war jahrelang in Japan und hat mehrere Freunde dort. Als Japaner habe ich Jodie direkt Angst gemacht. Sie muss angenommen haben, dass ich auf sie angesetzt wurde.“

Ed nickte verstehend. „Ich werde sie informieren, dass Sie keine Gefahr für sie darstellen.“

„Danke“, gab Akai von sich. „Bevor Sie das tun, hätte ich noch eine Frage.“

„Die da wäre?“

„Es geht um Ihre Tochter. Hat sie Ihnen erzählt, dass ich vor einigen Tagen schon mal hier war und nach den Akten gefragt habe?“

„Ja, natürlich. Wieso sollte sie nicht?“

„Weil es mir vorhin komisch vorkam, dass sie mich nicht erkannte. Ich habe mich damals schon als FBI Agent ausgewiesen. Aber vorhin schien es, als hätte sie mich das erste Mal gesehen.“

„Mhm…“, murmelte Ed. „Vielleicht hat sie gedacht, es wäre besser, Ihnen etwas vorzuspielen.“

„Oder…“

„Oder?“, kam es von Ed. Dann wurde er blass. „Das damals war Sharon Vineyard“, wisperte er.

„Oder sie ist es jetzt.“

Ed stand auf und lief aus dem Büro. Auf dem Flur drückte er augenblicklich die Tür zum Büro von Milena auf. „Milena.“

„Dad?“

Shuichi war ihm gefolgt. Ed ging auf seine Tochter zu und legte seine Hände an ihr Gesicht. Dann überprüfte er, ob sie eine Maske trug. „Gott sei Dank, du bist du…“

„Dad? Du machst mir Angst. Was ist los?“

Ed seufzte. „Milena, sag mir bitte, wie oft du Agent Akai bisher hier gesprochen hast.“

Die junge Frau sah zu diesem. „Heute war das erste Mal.“

Ed schluckte und blickte zu Akai. „Es war der Tag, an dem das Interview veröffentlicht wurde…Oh nein…nein…nein…nein…“

„Dad? Was ist los?“

Er sah zu seiner Tochter. „Wir…wir haben herausgefunden, wer Jodies Eltern auf dem Gewissen hat. Sharon Vineyard gab ein Interview, bei dem sie…diesen einen Satz sagte. Jodie und ich beschlossen, dass wir das FBI informieren, aber…dich zu deiner eigenen Sicherheit nicht weiter involvieren. Es war…für dich schon gefährlich genug, weil du das Interview auch gesehen hast und…mit Jodie darüber gesprochen hast.“

„Dad, ich hab keine Ahnung wovon du redest. Ich hab kein Interview mit Jodie gesehen. Ich hör das mit Sharon Vineyard gerade zum ersten Mal.“

Ed wurde blass. „Sie war hier…sie hat dafür gesorgt, dass Jodie…es sieht…und von ihr weiß…“

Milena sah ihn verwirrt an. „Dad? Was hat das zu bedeuten? Sag mir nicht, das…“

Einen Schritt weiter

Shuichi beobachtete Vater und Tochter. Langsam ergaben die Puzzleteile einen Sinn und er setzte sie zusammen. Allerdings waren noch nicht alle Fragen geklärt. Er wusste nicht, warum die Organisation knapp 20 Jahre später wieder in den Staaten auftauchte, warum sie es ausgerechnet jetzt auf Jodie abgesehen hatten oder welche Pläne sie schmiedeten. Es waren weitere Fragen offen: Was war ihr Ziel? Was wollten sie? Warum taten die Mitglieder alles was man ihnen sagte? Wer zog die Strippen? Und…und…und.

Vielleicht würden sie das alles noch in Erfahrung bringen, wenn sie Jodie in Sicherheit brachten und das FBI den Auftrag ausweiten würde. Die Frage war nur, wie es danach weiterging. Würde er dabei sein? Oder würde man ihn abziehen? Aber wie auch immer es weiterging, er würde sich erst später darüber Gedanken machen. Erst einmal ging es um das Hier und Jetzt.

Akai verengte die Augen. Sharon Vineyard hatte nicht nur ihre Rückkehr nach Amerika in den Medien groß angekündigt, sie hatte sich auch im Interview indirekt als Mörderin der Familie Starling bekannt und nun war sie auch noch in das Leben von Jodie getreten. Und das in Verkleidung einer ihrer Freundinnen, einer Person, der die junge Frau vertraute. Sharon Vineyard hatte ihren Zug von langer Hand geplant. Da war sich der Agent mittlerweile sicher. Das Leben einer anderen Person zu kopieren und darauf zu achten, dass man nicht zeitgleich mit ihr an einem Ort war, setzte voraus, dass man sich ausgiebig mit der Situation auseinandergesetzt hatte. Und das hieß, dass ihnen die Schauspielerin schon lange einen Schritt voraus war. Wie sie allerdings Jodies Aufenthaltsort in Erfahrung bringen konnte, wusste er nicht. Sie war gefährlich. Daher war es am besten, wenn sie nichts überstürzten. Außerdem war es am wichtigsten, dass die Organisation nichts von ihren Ermittlungen mitbekam. Selbstverständlich musste er auch für das weitere Vorgehen mit Jodie erst einmal mit seinen Vorgesetzten sprechen. Shuichi zog sein Handy aus der Tasche heraus und tippte eine Nachricht.

„Dad?“ Milena sah ihren Vater besorgt an. „Sag doch was…bitte…“, wisperte sie.

„Mr. Sherman? Wir sollten erst einmal meinen Vorgesetzten kontaktieren“, begann Akai und hielt ihm sein Handy hin.

Es könnte sein, dass der Raum verwanzt ist. Bitte achten Sie darauf, was Sie sagen und prüfen die Räume!

Der Privatermittler las die Nachricht. Er nickte. „Sie haben Recht. Wir besprechen alles weitere in meinem Büro. Milena? Bitte entschuldige, dass ich dir Angst gemacht habe. Wir reden später.“

„Dad, ich…du….“ Dann bekam sie die Nachricht auch zu sehen. Sie verstand sofort. „Soll ich dir zur Beruhigung einen Tee kochen?“

„Ja, koch uns doch bitte eine Kanne.“ Ed sah zu Shuichi. „Lassen Sie uns wieder in mein Büro gehen.“

Shuichi steckte sein Handy ein und folgte dem Ermittler in dessen Büro. Sofort blickte er sich um. Dann fuhr er mit den Fingerspitzen über den Türrahmen. Zwar gab es dort keine Wanze, aber eine Menge Staub.

Ed trat an seinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Anschließend zog er ein kleines Gerät heraus. Es war rechteckig, hatte eine Antenne, einen integrierten Lautsprecher sowie mehrere Signaldetektoren, die die Entfernung anzeigten. Er schaltete das Gerät an. Es schlug sofort aus. Zwei der drei Lampen des Detektors leuchteten. Es gab mindestens eine Wanze im Raum.

Der Privatermittler schluckte. Er bewegte sich auf die andere Seite im Raum zu. Auch dort schlug der Detektor wieder aus. Das Ergebnis war eindeutig: Das Büro war verwanzt.

Akai holte sein Handy wieder hervor und tippte eine weitere Nachricht. Haben Sie ein Störgerät? Wenn ja, aktivieren Sie es. „Gut, Mr. Sherman, bevor wir weiter machen, brauche ich alle Unterlagen, die Sie zu Jodie angelegt haben. Ich will auch das Lesen, was Sie zusammengestellt haben, nachdem Jodie wieder hier war. Sie waren doch sicher nicht untätig.“

„Da haben Sie recht.“ Ed ging wieder zum Tisch. „Setzen Sie sich doch bitte wieder. Ich suche Ihnen die Unterlagen heraus. Den Großteil habe ich auf dem Computer. Es könnte nur eine Weile dauern.“

„Lassen Sie sich nur Zeit dabei. Ich kann warten.“

Der Detektiv öffnete eine andere Schreibtischschublade und zog ein weiteres, kleines Gerät heraus. Er aktivierte es und legte es auf den Tisch. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. „Wir sind jetzt sicher.“

Shuichi nickte und steckte sein Handy weg. „Prüfen Sie bitte auch Ihre Kleidung. Jacke und die Schuhe sind gern genutzte Verstecke. Und vergessen Sie die anderen Räume nicht. Da Sharon Vineyard hier war, müssen wir vorsichtig sein. Wir wissen nicht, was sie vorhat. Außerdem…“ Akai überlegte, wie viel er dem Ermittler sagen konnte. „…scheint das alles länge geplant gewesen zu sein.“

„J…ja…das habe ich mir auch schon gedacht. Sie war…hier…in meinem Büro. Sie hat sich als meine Tochter ausgegeben und mit Jodie interagiert. Sie hat sogar…mit mir gesprochen. Ich als Vater habe nicht erkannt, dass mir eine Fremde gegenüberstand.“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, begann Shuichi ruhig. „Sie haben es nicht gewusst und konnten auch nicht ahnen, dass das passieren würde. Ihrer Tochter und Jodie geht es gut. Sie dürfen jetzt nicht in Panik verfallen und sollten auch nichts Unüberlegtes tun. Es ist wichtig, dass wir jetzt Schadensbegrenzung betreiben.“

„Schadens…begrenzung…“, wisperte der Privatermittler. „Und…wie stellen Sie sich das vor?“

„Es ist nicht nur wichtig, dass wir alle Wanzen ausfindig machen, wir müssen auch unsere nächsten Schritte sorgfältig planen. Unser Hauptproblem besteht darin, dass wir nicht wissen, ob Sharon uns vorhin zugehört hat. Wenn ja, dann ist es egal, was wir tun. Denn dann ist sie uns bereits auf die Schliche gekommen. Wenn sie es noch nicht getan hat, haben wir ein kleines Zeitfenster. Allerdings wird sie die heutigen Aufnahmen früher oder später abhören“, erklärte der FBI Agent. „Das heißt, wir müssen diejenigen sein, die ihr einen Schritt voraus sind. Ich werde meinen Vorgesetzten informieren und auch mit ihm die weiteren Schritte absprechen. Dennoch müssen wir uns nun vermehrt auf Jodie fokussieren. Ich kann nicht ausschließen, dass Sharon in Gestalt Ihrer Tochter bei ihr war. Das heißt, es wäre auch möglich, dass bei Jodie Wanzen angebracht sind. Um diese müssen wir uns auch kümmern.“

Ed runzelte die Stirn. Die ganze Geschichte begann ihm über den Kopf zu wachsen. Aber er hatte sich darauf eingelassen und musste es nun zu Ende bringen. „Ich versteh das alles nicht. Sharon Vineyard hat Jodies Eltern getötet. Jodie hat überlebt und wuchs zu einer jungen Frau heran. Nach 20 Jahren gibt es eine Spur zu der Täterin und alle drehen durch. Sharon verkleidet sich als Milena und verwanzt das Büro. Sie nimmt als Milena Kontakt zu Jodie auf und führt sie zu dem Interview, wo sie Jodie den Hinweis gibt, dass sie ihre Eltern umgebracht hat. Warum so? Was geht da vor sich?“

Akai hatte bereits damit gerechnet, dass früher oder später diese Fragen fallen würden. Allerdings konnte und durfte er nichts offenlegen, was vom FBI nicht genehmigt wurde. Zwar hatte er gewisse Befugnisse, aber die ganze Geschichte um die Organisation war streng geheim. „Nachdem ich von den Verwicklungen der Schauspielerin gehört habe, habe ich natürlich meinerseits auch einige Recherchen durchgeführt. Sharon Vineyard ist dafür bekannt, dass sie perfekt in andere Rollen springen kann. Auf diversen Veranstaltungen ist sie bereits früher in anderer Gestalt erschienen, um zu schauen, ob sie auch reale Personen kopieren kann. Ich kann nur mutmaßen, dass sie es jetzt aus den gleichen Gründen getan hat“, log der Agent. „Vielleicht hat sie auch erfahren, dass Jodie immer noch in New York ist und mit dem Kapitel nicht abgeschlossen hat. Möglicherweise war es ihr Ziel, in Erfahrung zu bringen, was Jodie noch weiß und was die anderen Personen aus ihrem Umfeld wissen. Ich gehe lediglich davon aus, dass die Wanzen ebenfalls von Sharon hier versteckt wurden. Es ist allerdings auch denkbar, dass diese von einem Ihrer anderen Klienten stammen. Haben Sie Feinde?“

„Ich bin Privatermittler“, gab Ed von sich. „Natürlich gibt es Menschen, die mich nicht mögen. Wenn die Wanzen von Sharon Vineyard sind…dann weiß sie, dass Jodie immer noch nach ihr sucht und sie zur Rechenschaft ziehen wird. Was…was wird sie mit Jodie anstellen, wenn sie weiß, dass man ihr auf der Schliche ist?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, gab Akai von sich. „Es ist vieles denkbar. Vielleicht will sie sich mit Jodie aussprechen oder ihre Tat rechtfertigen. Vielleicht will sie das beenden, was sie vor 20 Jahren anfing.“

Ed schluckte. „Das kann doch nicht sein…Jodie war damals ein unschuldiges Kind. Sie hat nichts getan. Egal was auch in der Zwischenzeit passiert ist, sie hat es nicht verdient, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass jemand wie Sharon Vineyard… Vielleicht damals, aber warum jetzt? Sie ist eine gestandene Frau. Sie könnte doch einfach Jodie aufsuchen und versuchen, alles zu erk]lären. Das alles ergibt keinen Sinn. Agent Akai, was übersehen ich?“

„Ich spekuliere ungern, aber wir werden die Wahrheit herausfinden“, begann Shuichi. Er wusste, dass es nicht so einfach werden würde. Und er wusste, dass Sharon Vineyard nicht einfach so aufgab. „Es wird das Beste sein, wenn Sie mir Jodies Adresse geben. Ich werde sie besuchen und mit ihr die Situation durchsprechen. Ich werde sie auch in Obhut des FBIs nehmen. Wir können sie besser beschützen.“

„Wollen Sie sie als Lockvogel benutzen?“, wollte Ed wissen. Auch Ed arbeitete hin und wieder mit einem Lockvogel zusammen. Dabei handelte es sich allerdings um Mitarbeiter einer externen Firma, welche im Umgang mit potentiellen Verbrechern geschult waren. Seine Klienten hingegen setzte Ed nicht als Lockvogel ein, da es zu gefährlich war. Aber nicht jeder dachte so und gerade Bundesbehörden hatten manchmal keine andere Wahl, als Unschuldige zu involvieren. So wie er Jodie einschätzte, würde diese einem Lockvogel-Einsatz zustimmen. Er wollte sich aber nicht ausmalen, was ein solcher Einsatz mit der jungen Frau machen würde.

„Nein“, antwortete Akai ehrlich. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich gebe Ihnen mein Versprechen, dass das FBI Jodie so weit wie möglich aus der Sache heraushalten wird. Wir werden sie beschützen. Und das können wir nicht aus der Ferne. Ich nehme den Detektor mit und prüfe, ob sich bei Jodie auch Wanzen befinden. Das Störgerät brauch ich nicht. Wenn sie tatsächlich abgehört wird, kann die Gegenseite von meiner Existenz wissen und erfahren, dass ich Jodie zu Agent Black bringe.“

Der Ermittler nickte. „Ich sollte sie zu Jodie begleiten. Jodie hält sie immer noch für eine Gefahr. Wenn Sie an ihre Haustür klopfen, wird sie Ihnen nicht öffnen. Sie wird Ihnen nicht zuhören, auch dann nicht, wenn Sie ihr Versprechen, dass Sie der Gute sind, ihr helfen wollen, von Black geschickt wurden und…und…und… Stattdessen wird sie entweder etwas Unüberlegtes tun oder…“ Er wurde blass.

„Oder was?“, wollte Akai wissen.

„Oder sie würde mich informieren.“ Ed holte sein Handy hervor und prüfte sowohl die Anrufe und Nachrichten. Nichts. Sie hatte nicht versucht ihn zu erreichen.

„Was haben Sie?“

„Als Jodie Sie am Friedhof getroffen hat, ist sie weggelaufen. Sie hatte die Wahl zwischen ihrem zu Hause und der Detektei. Da sie nicht hier ist, wird sie zu Hause sein“, begann er. „Sie hätte mich nach Ihrem Zusammentreffen auf jeden Fall informiert, aber ich habe weder einen Anruf noch eine Nachricht von ihr bekommen.“

Shuichi runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht hat sie ihr Handy auf dem Friedhof verloren oder sie hat sich auf den Weg zu Agent Black gemacht und spricht gerade mit diesem.“

Der Ermittler schüttelte den Kopf. „Sie hätte sich trotzdem bei mir gemeldet. Auch wenn es nur eine Nachricht geworden wäre. Glauben Sie mir, Agent Akai, ich kenne Jodie mittlerweile sehr gut. Es ist nicht typisch für sie, dass sie sich nicht meldet. Ich rufe sie an.“ Ed atmete tief durch. Er hatte Angst vor dem Anruf, tätigte ihn aber dennoch. Nach einer Weile wurde er auf Jodies Mailbox weitergeleitet. Deswegen versuchte er es erneut. Aber auch beim zweiten Mal nahm sie den Anruf nicht entgegen. „Da ist was passiert…“

Augenblicklich klopfte es an der Tür und Milena kam mit einer Kanne Tee und zwei Tassen herein. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich bekam noch einen wichtigen Anruf. Ich bring euch den Tee“, sagte sie und ging zum Schreibtisch. Sie stellte die beiden Tassen und die Kanne auf den Tisch. „Kann ich sonst noch etwas tun?“

„Danke“, lächelte Ed. „Hat sich Jodie bei dir gemeldet?“

„Nein“, gab Milena von sich. „Ist was passiert?“

„Das wissen wir nicht“, antwortete Ed. „Wir fahren gleich zu ihr. Bitte bleib hier und halte die Stellung. Wenn dir etwas komisch vorkommt, ruf mich sofort an. Wenn du es für notwendig hältst, schließe die Detektei für den Rest des Tages.“ Ed stand auf und verließ das Büro. Akai nahm den Wanzendetektor und folgte dem Ermittler.

Milena ging ihnen nach. „Pass auf dich auf, Dad.“

„Mach ich, Liebes, mach ich.“ Er lächelte und nahm sie in den Arm. „Es wird alles wieder gut.“ Dann sah er zu Shuichi. „Können wir?“

Akai nickte. Als die Tür zu einem weiteren Büro aufging, blickte der Agent sofort dorthin. Daniel – der andere Ermittler – kam hinaus. Er blickte verwundert in die Runde. „Das nenn ich mal Feierabendkomitee“, scherzte er. „Oh, Milena, du bist wieder zurück? Wie geht es der Katze?“ Die Katze war ihr Codewort für Jodie und ihre Möglichkeit auch in Anwesenheit von Klienten, Zeugen oder anderen Personen über die junge Frau zu sprechen.

„Daniel, du kannst offen reden“, sagte Ed. „Was weißt du über Jodie?“

Daniel blickte irritiert zu Shuichi. Dann sah er zwischen Ed und Milena hin und her. „Naja…sie kam vorhin recht aufgelöst zur Detektei und wollte mit dir sprechen, Ed. Milena war dabei und versprach sich um Jodie zu kümmern. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich heute hier noch seh.“

„Milena?“ Ed sah zu seiner Tochter.

„Ich war die ganze Zeit hier oben.“

„Daniel, weißt du, wo die Beiden hinwollten?“

„Ich nehme an, zu Jodies Wohnung.“

Ed und Shuichi sahen sich an. Dann liefen beide Männer aus der Detektei.

Showdown

Calvados seufzte. Auf Wunsch von Vermouth war er mit nach Amerika gekommen und hoffte, auf ein paar gemütliche Stunden zu zweit. Aber es war alles anders gekommen. Tag für Tag legte sie ein Make-up auf, welches sie um 25 Jahre altern ließ. Dann verschwand sie zu ihren Dreharbeiten oder nahm eine andere Identität an. Die Abende verbrachten sie getrennt, außer sie wollte mit ihm über seine neue Tätigkeit als Babysitter sprechen.

Er war Scharfschütze, zählte sogar zu den Besten, auch wenn seine Fähigkeiten im Verborgenen blieben und er sich ganz seinem Leben bei der Organisation hingab. Doch seit er in New York war durfte er Jodie Starling andauernd durch sein Zielfernrohr beobachten und seiner Angebeteten Bericht erstatten. Er hatte sich so oft gewünscht, endlich zum Zug zu kommen, aber sein Befehl war klar: Ruhe bewahren und abwarten.

Genau wie jetzt auch. Er hatte sich in einem Gebäude gegenüber vom Friedhof verschanzt und durch das Zielfernrohr geschaut. Vermouth wollte ihren Plan heute zu einem Ende bringen, aber dafür mussten sie ganz genau wissen, wo sich Jodie befand und mit wem sie sprach. Nicht nur in ihrer Wohnung und der Detektei, sondern auch am Grab hatten sie Wanzen versteckt. Aufgrund der Witterungsverhältnisse musste er die Wanze am Grab regelmäßig austauschen. Aber das stellte kein Problem dar, denn so kam er auch mal aus seinem Versteck.

Am liebsten hätte er schon am frühen Morgen damit begonnen ihren Plan in die Tat umzusetzen, doch Vermouth musste ihrer Arbeit als Schauspielerin nachgehen. Danach hatte sie dafür gesorgt, dass Milena – die Tochter des Privatermittlers – die ganze Zeit im Büro aufgehalten wurde. Wäre Jodie allerdings in der Detektei gewesen, hätten sie Milena herausgelockt. Anschließend sprang Vermouth wieder in die Rolle des braven Mädchen.

Calvados war fasziniert von ihrem Geschick als Schauspielerin. Sie konnte sein, wer sie wollte. Es hatte zahlreiche Vorteile, denn so konnten sie Jodie ganz langsam in die Falle locken. Doch durch die Anwesenheit einer weiteren Person wurden sie bei ihrem Plan gestört. Es war nicht James Black, da Jodie nicht weggelaufen wäre. Sofort hatte Calvados Vermouth informiert und sich auf den Weg zur Wohnung von Jodie gemacht. Die Beweise gegen die junge Frau waren bereits vorbereitet und mussten nur noch ausgelegt werden. Er schmunzelte und steckte sich den Kopfhörer der Freisprechanlage in das Ohr. „An der Wohnung ist alles still“, sprach er.

Vermouth hatte Daniel abgefangen und draußen in ein Gespräch verwickelt, als Jodie aufgelöst dazu kam. Sie wollte zu Ed, aber die Schauspielerin hatte dafür gesorgt, dass sie sich um die junge Frau kümmern konnte. Jodie hatte keine Ahnung, wen sie mit in ihre Wohnung nahm. Sie vertraute Milena und das machte sich die Schauspielerin zu Nutze. Als sie in der Wohnung ankam, lehnte Sharon die Tür nur an.

„Soll ich dir einen Tee kochen?“, wollte sie von Jodie wissen.

Jodie rang mit den Tränen und mit sich selbst. Sie und Ed hatten vereinbart, dass Milena nicht in die Sache involviert werden sollte. Aber was sollte Jodie ihrer Freundin nun erzählen? „Ich…“ Sie schüttelte den Kopf. „…tut mir leid. Ich war…am Grab und…ich bin jetzt ein wenig durcheinander…“

„Was ist passiert?“

Jodie schüttelte den Kopf.

„Du weißt, du kannst über alles mit mir reden“, begann die Schauspielerin mit verstellter Stimme. „Ich bin für dich da.“

Jodie schluckte. „Ich habe…ich habe nur überreagiert. Ich habe am Friedhof…einen Japaner gesehen und gedacht, dass sie mich verfolgt. Das war…ziemlich dumm.“

Beeil dich! Der Kerl gehört zum FBI und spricht mit dem Schnüffler, hörte sie die Stimme von Calvados durch den kleinen Kopfhörer in ihrem Ohr. Vermouth mochte es nicht, wenn sie einen Plan beschleunigen musste. Dennoch hatte sie nicht vor irgendwas zu ändern. „Nein, das war es nicht“, antwortete Sharon. „Um ehrlich zu sein, bist du tatsächlich beobachtet worden.“

„Was?“ Jodie sah sie überrascht an. „Hast du etwas an der Detektei bemerkt?“

„Nein, ich selbst habe dafür gesorgt.“ Noch immer benutzte sie die fremde Stimme.

Jodie war verwirrt. „Milena, was redest du denn da?“

„Ach, Jodie“, sagte sie und entfernte ihre Maske. Zu Vorschein kam das Gesicht von Sharon Vineyard. Dieses Mal hatte sie sich selbst übertroffen und Make-up verwendet, welches auch einer Maske standhielt.

„Sha…Sharon…Vin…Vineyard…“, wisperte Jodie. Sie wich einen Schritt nach hinten. „Wa…wa…“

„Was mache ich hier? Was ist mit der richtigen Milena? Will ich dich umbringen? Möchtest du das von mir wissen?“ Die Schauspielerin schmunzelte. „Deiner Freundin geht es gut. Noch habe ich keinen Grund ihr irgendwas zu tun. Aber wenn du nicht brav bist, werde ich meine Meinung noch ändern.“

Jodie suchte nach einem Ausweg. Aber es gab keinen. „Was…wollen Sie von mir?“

„Was glaubst du denn? Du bist wirklich groß geworden.“

Die junge Frau schluckte. „Sie…sie waren es, nicht wahr? Damals vor…20 Jahren…sie haben meine Eltern…auf dem Gewissen.“ Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Hör auf mit den Spielchen. Es ist nicht das erste Mal, dass du darüber sprichst. Wir wissen doch beide, dass du nach mir suchst. Und als du das Interview gesehen hast, hast du mich erkannt.“ Vermouth griff in ihre Jackentasche und zog schwarze Handschuhe an. „Ich kann dich verstehen. Rache ist ein ganz natürlicher Trieb.“

„Ich will keine…Ra…che…“

„Da habe ich was anderes gehört. Du willst mich doch ins Gefängnis bringen.“ Nun öffnete sie ihre Handtasche und holte eine Waffe heraus.

Jodie schluckte und machte ein paar Schritte nach hinten. „Ich…ich verrate Sie nicht…ich werde…alles vergessen…“

„Hast du Angst vor mir?“ Die Schauspielerin lächelte. „Wir wissen beide, dass du das nie vergessen wirst. Außerdem hast du doch schon mit dem Schnüffler gesprochen. Glaubst du wirklich, er würde alles ruhen lassen? Und was ist mit deinem Freund beim FBI? Er wird auch nie lockerlassen. Aber ich verrate dir jetzt zwei Sachen. Erstens ich werde es jetzt zu Ende bringen und zweitens, ich habe deinen Vater nicht erschossen.“

Jodies Augen weiteten sich. „Sie…Sie waren…da…“, flüsterte sie. „Sie waren…die einzige Person im Haus…“

„War ich das? Denk doch einmal in Ruhe darüber nach“, entgegnete Vermouth. „Wer war sonst noch da?“

„Sie…Sie wollen mich…doch nur verunsichern…“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht“, sagte Sharon und machte weitere Schritte auf Jodie zu. Jodie wich weiter nach hinten und stieß gegen die Balkontür. Mit der Hand tastete sie nach dem Griff und drückte ihn nach unten. Die Tür öffnete sich. Aber was dann? Sollte sie springen? Vielleicht würde sie Glück haben und sich nur ein paar Knochen brechen. Vielleicht kam sie aber auch unglücklich auf und würde sterben. Doch wie sollte es dann weiter gehen? Hatte sie überhaupt eine Chance? „Bitte…lassen Sie mich…in Ruhe…Bitte…“ Jodie schluchzte.

Die Schauspielerin wechselte die Position der Waffe. Sie nahm die Mündung in die Hand und hielt Jodie die andere Seite hin. „Bring es zu Ende“, sprach sie. „Das willst du doch.“

Jodie schüttelte den Kopf. „Nein…“

Vermouth kam näher. Sie drückte ihr die Waffe in der Hand und umklammerte ihre Hände. „Halt sie fest.“

„Nein…bitte…bitte nicht…“ Jodie merkte, wie ihre Beine anfingen zu zittern. In ihrem Magen drehte sich alles und sie versuchte die Waffe wieder loszulassen. Doch die Schauspielerin ließ es nicht zu.

„Tu es endlich.“

„Nein.“ Jodie wimmerte.

„Tu es!“

„Nein.“

„Tu es!“ Vermouth drückte gegen ihren Finger. Ein Schuss löste sich und die Schauspielerin ließ Jodies Hände los. Sie bewegte sich ein paar Schritte nach hinten und sah dann auf ihre Bluse. Ein roter Fleck bildete sich. Sie fiel nach hinten.

Jodie ließ schockiert die Waffe fallen. Ein weiterer Schuss löste sich. Jodie taumelte und stürzte ebenfalls zu Boden. Die rote Flüssigkeit verteilte sich auf dem Boden.

Sie haben gerade herausgefunden, dass du dich als Milena Sherman ausgegeben hast. Verschwindet! Vermouth lächelte und setzte sich auf. Sie knöpfte ihre Bluse auf und verteilte das Blut aus dem Blutbeutel. Sie hatte sich täglich ein paar Milliliter abgezweigt und gesammelt, damit der Blutverlust echt aussah. Anschließend nahm sie ihre Maske und entfernte dann die Wanzen in der Wohnung. Sie schaute zu Jodie. Die junge Frau konnte ihr leidtun. An sich war sie nur ein Kollateralschaden und sie empfand weder Freude noch Reue, weil sie ihren Fehler von damals begradigte.

„Wie lange willst du sie noch anstarren?“ Ein Mann hatte die Tür geöffnet und stand im Raum. Er beobachtete die beiden Frauen.

„Sei still und kümmre dich um die Beweise, Irish.“

Der Mann lächelte. Er trug Handschuhe und drapierte ein Notizbuch auf dem Tisch.

„Mhm…ng…n…“

Irish blickte zu Jodie. Sie drückte ihre Hände an die Wunde und kämpfte mit der Bewusstlosigkeit. Nur verschwommen nahm sie die Konturen der beiden Personen wahr.

Vermouth schmunzelte. Sie sammelte eine Patronenhülse ein und tauschte sie aus. Weder das FBI noch das NYPD – das New York Police Department – sollten darauf kommen, dass der erste Platz in der Trommel durch eine Platzpatrone belegt war.

„Hast du alles?“, wollte Irish wissen.

Die Schauspielerin sah sich noch einmal im Raum um. In ihrem Kopf ging sie den gesamten Plan durch. „Ja. Ich hoffe, du hast den Notruf abgesetzt.“

„Natürlich“, nickte er. „Das NYPD wird in spätestens 21 Minuten hier sein, der Krankenwagen in 11 Minuten. Unser Krankenwagen steht bereits draußen und wartet auf uns.“

„Auf dich ist immer verlass“, entgegnete Vermouth und verließ mit ihm die Wohnung. Ihnen begegnete ein Mann. Er nickte und positionierte sich in der Wohnung von Jodie. „Sehr gut. Unsere Geschichte darf keine Fehler aufweisen.“

„Das wird sie nicht“, antwortete Irish. „Dafür ist sie gut durchdacht und beinhaltet allerlei Eventualitäten. Unser Sanitäter ist oben bei der Frau und wartet auf seine Kollegen. Außer mir war kein Nachbar in dem Gebäude und Calvados kümmert sich um den Rest.“

Sie verließen das Gebäude und gingen zu dem vorbereiteten Krankenwagen. Gemeinsam stiegen sie hinten ein. Drei weitere Organisationsmitglieder begrüßten sie. Vermouth setzte sich und schlug das rechte Bein über das linke. „Fahren wir“, sagte sie und der Wagen setzte sich in Bewegung.

„Hat alles funktioniert?“, wollte einer der Männer wissen.

„Natürlich“, nickte die Schauspielerin. „Wer auch immer zuerst bei ihr ankommt, wird entweder eine Leiche oder ein gebrochenes Mädchen vorfinden.“

„Und ihr Geständnis“, warf Irish ein.

„Ist es wasserdicht?“

„Was denkt du von mir?“, wollte der Mann wissen und setzte sich ebenfalls. „Ihre Schrift wurde perfekt kopiert und die Tagebucheinträge im Notizbuch zeigen, dass sie labil war. So einen perfiden Plan hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Die Schauspielerin schmunzelte und entfernte die Blutbeutel. Dann trocknete sie sich ab und zog sich um. Wenn sie in der neuen Wohnung sein würde, würde sie sich ein heißes Bad genehmigen und ihren Triumph vollends auskosten. „Mir kann egal sein, ob sie stirbt oder nicht. Sie wird so oder so die Schuld an Sharon Vineyards Tod tragen. Und wenn es das FBI vertuschen will, kenn ich bereits einen anderen Sündenbock. Und wenn sie überlebt, wird sie das alles fertig machen und ich habe noch etwas länger meinen Spaß mit ihr.“

Sie sind jetzt bei der Wohnung angekommen!

„Danke, Calvados. Zieh dich zurück. Und sei vorsichtig. Wenn sie dich sehen, könnten sie darauf kommen, dass etwas nicht stimmt.“ Die Schauspielerin lehnte sich nach hinten. „Wir kennen diesen FBI Agenten nicht. Er könnte uns noch gefährlich werden.“

Verstanden.

„Was ist mit den anderen Wanzen?“, wollte Irish wissen.

„Calvados kümmert sich um die Wanze am Friedhof, die aus der Wohnung habe ich mitgenommen und die Wanzen in der Detektei sind egal. Sie sind nicht rückverfolgbar und jeder hätte sie dort verteilen können. Ein Detektiv hat viele Feinde. Außerdem werden alle, die involviert sind, schweigen.“

„Durchtrieben wie eh und je“, entgegnete der Mann und entfernte nun auch seine Maske. Der richtige Nachbar hatte eine zweiwöchige Urlaubsreise gewonnen, sodass Irish in seine Rolle schlüpfen und Jodie von zu Hause aus beobachten konnte. „Sie war ganz schön naiv, obwohl sie von deinen Fähigkeiten wusste. Trotzdem vertraute sie weiterhin ihren Freunden und Bekannten.“

Die Schauspielerin zuckte mit den Schultern. „Menschen sind alle gleich. Sie wollen glauben, was man ihnen erzählt. So wird es auch mit meinen Fans sein. Einige werden an meinem Tod zweifeln und sich Hoffnungen machen. Aber für Sharon Vineyard gibt es keine Hoffnung mehr.“ Sie sah auf ihre Uhr am Handgelenk. „In einer Stunde soll der Arzt den Tod von Sharon Vineyard bescheinigen und Chris informieren. Danach lassen wir die Information langsam durchsickern und präparieren die Leiche. Das FBI wird sich in der Leichenhalle umschauen. Sorgt dafür, dass sie keine Spur zu uns finden. Wenn genügend Gras über die Sache gewachsen ist, erledigt die unliebsamen Mitwisser.“

„Und wenn das FBI die Wahrheit herausfindet?“, wollte einer der Männer wissen.

„Sollen Sie doch. Sie werden es nicht wagen, irgendwas öffentlich zu machen. Ansonsten werden wir die Wahrheit über Jodie Starling veröffentlichen und darüber, welche Fehler das FBI vor Jahren begangen hat. Sie werden die Loyalität der Menschen verlieren und wir werden gewinnen. Das kommt davon, wenn man sich in die Angelegenheiten der Organisation einmischt.“ Vermouth lächelte. Ab heute würde sie als Chris Vineyard unter den Menschen leben und ein neues Kapitel aufschlagen.

Erste Hilfe

Der Sanitäter betrat die Wohnung. Wie bei einem normalen Einsatz ließ er die Wohnungstür offen. Als er zu Jodie ins Wohnzimmer kam, seufzte er. Eigentlich wollte er Arzt werden, so wie sein Vater. Um aber auch während des Studiums Erfahrungen zu sammeln, arbeitete er als Sanitäter. Und das alles auch noch in einem anderen Bundesstaat. Bis vor einigen Wochen war sein Leben nahezu perfekt. Familie, Freundin, gute Noten, nette Kollegen.

Leider hatte er dann erfahren, dass ein paar zwielichtige Männer seine Familie im Visier hatten und sein Vater ihnen etwas schuldete. Nun forderten sie jenen Gefallen – so nannten sie es – ein und sie Beide mussten nach New York kommen. Er als Sanitäter und sein Vater als Arzt. Vieles hatten sie für die Beiden organisiert. Falsche Identitäten und angepasste Dienstpläne. Wenigstens konnte man sie dadurch nicht so schnell identifiziert, sollte das alles auffliegen.

Er stellte die Tasche mit den wichtigsten Utensilien auf den Boden und holte eine Schere sowie Verbandsmaterial heraus. Es war nicht nur wichtig die Blutung zu stillen, sondern auch eine Wirbelsäulenverletzung auszuschließen. Er überprüfte Jodies Vitalwerte sowie die Beweglichkeit ihrer Arme und Beine. Da er nicht wusste, was alles zwischen der Frau und den anderen Personen stattgefunden hatte, legte er ihr sicherheitshalber eine Halskrause an. Langsam drehte er Jodie auf die Seite.

„…mh…n…g…h…“, stöhnte Jodie vor Schmerzen.

„Ich bin Matt“, murmelte er. „Ich kümmere mich um dich. Du musst…keine Angst haben“, fügte er hinzu und schob ihr Oberteil nach oben. Er drückte ein paar Kompressen gegen die Wunde am Rücken und fixierte sie. Dann drehte er Jodie wieder auf den Rücken.

Sie tat ihm leid, aber er hatte genaue Anweisungen. Auch wenn er die ganze Situation nicht verstand, sollte er sich nicht verdächtig verhalten und alles tun, um die junge Frau am Leben zu halten. Außer das Schicksal meinte es anders mit ihr. Langsam schnitt er ihr Oberteil auf und drückte dann eine Kompresse gegen die Wunde am Bauch. Es war nicht das erste Mal, dass er eine Schussverletzung versorgen musste, weswegen er in seinem Kopf den Text durchging, den man ihm in einem Script mitteilte. Wer auch immer für all das verantwortlich war, er hatte es bis ins kleinste Detail geplant. Es gab sogar Alternativen, wenn die Gespräche in eine andere Richtung gingen. Außerdem wollte man sichergehen, dass er nicht das Falsche sagte, wenn die Polizei oder das andere Rettungsteam kam. Normalerweise vergingen die Minuten in Windeseile, aber jetzt geschah genau das Gegenteil. Alles lief in Zeitlupe ab, so als wäre er ein Angehöriger. Matt atmete tief durch. Er hoffte, dass der Krankenwagen – von dem sie behauptete, ihn gerufen zu haben – tatsächlich auf dem Weg war. Andernfalls hätte sie wirklich keine Chance. Nie hatte er sich so sehr gewünscht, dass einer seiner Patienten überlebte, auch wenn sie vermutlich auf ewig eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen würde. Außer es sollte ihr eine Warnung sein.

„…ng…“

Er wechselte die Kompresse und drückte diese weiter auf ihre Verletzung. „Ich weiß, es tut weh, aber es wird bald besser. Halte…bitte…durch…“ Als er Schritte hörte, spiegelte sich Erleichterung in ihm wider. Aber dann fiel ihm auf, dass die Schritte zu einem Rettungsteam nicht passten. Er hoffte, dass es nicht seine Auftraggeber waren, sondern neugierige Nachbarn. Mit denen konnte er besser umgehen, auch wenn sie die Privatsphäre der Patienten nicht respektierten und die Wege blockierten oder versuchten Informationen zu bekommen. Reporter waren am schlimmsten.

„…hm…ng…“

„Ich weiß, ich weiß“, wisperte er leise. „Du schaffst das…“ Er wechselte erneut die Kompresse und drückte eine andere auf ihre Wunde. Die Verletzung machte es ihm nicht leicht. Würde die Kugel in ihrem Körper stecken, hätte er es bei weitem einfacher. Aber es handelte sich um einen Durchschuss und das Blut trat auch auf der anderen Seite der Wunde aus.

Zwei Männer kamen in die Wohnung gestürmt. Als Ed Jodie blutend am Boden liegen sah, wurde er bleich. Während seiner gesamten Laufbahn hatte er schon vieles gesehen. Mord und Tod gehörten dazu. Aber jetzt hatte es eine Person getroffen, die er kannte und die einen Platz in seinem Herzen hatte. Eine Person, die wie eine Tochter für ihn war. Seine Beine wurden weich und er glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren. Von einem Moment auf den Nächsten war er um Jahre gealtert. Er fühlte sich schuldig, aber was viel schlimmer war, in seinem Kopf herrschte Leere. Absolute Leere. Normalerweise hätte er gewusst, was zu tun war, wie er hätte helfen können, aber es war nichts mehr da. Nichts. Schwärze. Er hätte nicht einmal seinen Namen gewusst, wenn man ihn in diesem Moment danach gefragt hätte.

Ed machte einige Schritte nach hinten und stieß gegen die Wand. Shuichi hingegen reagierte anders. Er hatte sich binnen weniger Sekunden mit dem Raum vertraut gemacht. Dennoch konnte er nicht abschätzen, ob nicht doch irgendwo Angreifer in der Nähe waren. Aber das war egal. Jodie war in diesem Augenblick wichtiger. Der Agent blickte zum fremden Mann und kniete sich zu den Beiden.

„Der Rettungswagen ist auf dem Weg“, sagte Matt leise. „Ich bin Sanitäter und…kümmere mich um sie. Meine Kollegen haben im anderen Rettungswagen das andere Opfer mitgenommen.“

Akai verengte die Augen. „Wie heißen Sie?“

„Matt…Matt Browning.“ Eine Lüge. Aber er hatte sich mittlerweile an den Namen gewöhnt und sogar geübt, auf ihn zu reagieren.

Shuichi nickte. Er würde sich den Namen merken und später überprüfen. „Was ist hier passiert?“

„Ich weiß es nicht. Wir wurden gerufen, weil es zwei Opfer mit Schussverletzungen gab. Ich saß im ersten Krankenwagen. Als wir hier ankamen, waren beide Frauen kaum ansprechbar. Es sah so aus, als wäre die andere Frau schwerer verletzt, deswegen wurde sie sofort in den Rettungswagen und ins Krankenhaus gebracht. Ich bin hiergeblieben und kümmere mich um das andere Opfer. Es hat sich allerdings gezeigt, dass ihre Verletzungen auch ziemlich schwerwiegend sind. Anfangs gingen wir noch davon aus, dass die Kugel in ihrem Körper steckt. Das hätte uns die Arbeit erleichtert und ihr mehr geholfen.“

„Aber das ist nicht der Fall?“, wollte Akai wissen.

„Durch den Durchschuss tritt auf beiden Seiten ziemlich viel Blut aus und ich versuche seit einer Weile die Blutung zu stoppen. Der zweite Krankenwagen müsste auch gleich hier sein. Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.“

Shuichi sah zu den Blutspuren am Boden und folgte ihnen mit seinem Blick. „Wieso wurden Sie hiergelassen und nicht der Arzt?“

Der Sanitäter schluckte. „Wie gesagt…die erste Prüfung hat ergeben, dass ihre Verletzungen nicht so schlimm sind, wie bei der anderen Frau. Ich habe schon einiges an Erfahrung und weiß, wie ich mit Patienten umgehen soll, die angeschossen wurden. Gehören Sie zur Polizei?“

„FBI“, antwortete Shuichi und zog sein Handy heraus. Er würde sich auch die Uhrzeit merken und versuchen die Tat zu rekonstruieren.

„Lassen Sie mich…meine Arbeit machen. Die nächsten Minuten werden entscheidend sein, ansonsten…“

„Ansonsten?“, wollte Akai wissen.

Ed hingegen verstand sofort und ließ sich auf den Boden heruntergleiten. Er kämpfte mit den Tränen. „Oh, Gott, Jodie…“

Shuichi blickte zu Ed. „Geht’s? Brauchen Sie auch einen Arzt?“

„Geht…schon…“, murmelte der Ermittler. „Ich…komm klar…“

„Dann kommen Sie her und reden Jodie gut zu. Sie muss wissen, dass Sie nicht allein ist. Eine vertraute Stimme kann helfen, nicht wahr?“

Der Sanitäter nickte. „Ja, das ist eine gute Idee.“

Ed versuchte sich langsam aufzurichten, schaffte es aber nicht. Deswegen kroch er schließlich auf allen vieren zu Jodie. „Jodie…“, murmelte er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Haut war grau. „Halte durch…bitte…du darfst nicht…sterben.“

Akai stand auf und machte mit dem Handy Bilder vom Tatort. Außerdem sah er sich die Beweisstücke an, ohne sie zu berühren. Er fand zwei Patronenhülsen und eine Kugel. In seinem Kopf lief bereits die Szene ab, aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass irgendwas nicht zusammenpasste. Der Agent sah zum Tisch. Neben den beiden japanisch Lernbüchern, fand er ein Notizbuch. Er runzelte die Stirn und gerade als er ein paar Handschuhe aus der Jacke ziehen wollte, kamen das Rettungsteam und zwei Polizisten.

Der Mediziner und die Sanitäter eilten sofort zu Jodie. „Was ist passiert?“, wollte der Arzt wissen und kniete sich zu Jodie hin.

„Ihre Vitalwerte sind so weit stabil“, erklärte Matt ruhig. „Bewegung scheint nicht eingeschränkt zu sein, dennoch habe ich ihr sicherheitshalber eine Halskrause angelegt. Verletzungen an der Wirbelsäule kann ich nicht ausschließen. Es handelt sich allerdings um einen Durchschuss. Ich habe Probleme, die Blutung zu stoppen und musste bereits mehrfach die Kompressen wechseln. Sie verliert weiterhin viel Blut. Im Krankenhaus sollte ein Bluttransfusion für sie bereitstehen. Das zweite Opfer wurde bereits im Krankenwagen wegtransportiert.“

Der Arzt runzelte die Stirn. Es war ungewöhnlich, dass man ein Opfer mit diesen Verletzungen zurückließ und nur einen Sanitäter dafür abstellte. „Informieren Sie das Presbyterian. Kennen wir Ihre Blutgruppe?“

Matt schaute zu den beiden Männern. Sie schüttelten den Kopf. „Nein.“

„Gut, sorgen Sie dafür, dass im Krankenhaus 0 negativ vorbereitet ist.“ Die Blutgruppe 0 negativ bezeichnete man auch als Universalspender. War eine Blutgruppe nicht bekannt und hatte man keine Zeit für einen entsprechenden Test, gab man einem Patienten Blut dieser Gruppe.

„Sie schafft das…“, murmelte Matt. Anschließend tauschten sie weitere fachliche Ausdrücke aus und behandelten Jodies Wunde. Ganz langsam wurde sie auf eine Trage gehievt und für den Transport runter zum Rettungswagen vorbereitet.

„…ng…ng…“, gab sie erneut schmerzerfüllt von sich.

In der Zwischenzeit hatten die Polizisten damit begonnen, die Beweismittel zu sichern und ebenfalls Fotos zu machen. Sie sahen zu, wie Jodie auf der Trage aus der Wohnung geschoben wurde und als Ed Anstalten machte, ihnen zu folgen, stellten sie sich ihm in den Weg. „Sir? Bitte warten Sie. Wir müssen erst einmal Ihre Aussage aufnehmen oder sind Sie mit dem Opfer verwandt?“

Shuichi schob sich dazwischen. „FBI! Special Agent Shuichi Akai.“ Als er ihre Aufmerksamkeit hatte und sich sicher war, dass sie ihre Waffe nicht gegen ihn zücken würden, zog er seinen Dienstausweis heraus. Beide Polizisten schienen nicht erfreut zu sein. Das war auch kein Wunder, immerhin konnte ihnen das FBI jeden Fall aus den Händen reißen. So wie jetzt. „Ed, Sie fahren im Krankenwagen mit. Ich komme nach. Ihre Aussage machen Sie später. Jodie ist wichtiger, sie sollte jetzt nicht allein sein.“

Ed nickte und ging an den beiden Polizisten vorbei. Er würde Jodie nicht von der Seite weichen, höchstens dann, wenn sie in den OP geschoben wurde. „Bitte warten Sie, ich fahre mit“, rief er und folgte dem Rettungsteam.

Als sie unten ankamen, wurde Jodie in den Rettungswagen verfrachtet. Der Mediziner und die Sanitäter stiegen ebenfalls ein. Ed nahm auf einem Sitz platz und musste sich anschnallen. Matt hingegen ging nach vorne und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er war froh, dass alles so lief, wie in dem Script beschrieben. Jetzt mussten sie nur noch am Krankenhaus ankommen und dann konnte er verschwinden. Matt lehnte sich nach hinten und hoffte, dass er nun wieder seinem ruhigen Leben nachgehen konnte. Er hatte seine Pflicht getan.

Shuichi sah die Polizisten an und reichte ihnen seine Visitenkarte. „Die Frau ist Zeugin in einem unserer Fälle. Wir übernehmen die weiteren Ermittlungen. Selbstverständlich halten wir Sie über alles auf dem Laufenden. Bitte übergeben Sie mir all Ihre Beweismittel und senden mir alles, was Ihnen ansonsten noch bekannt ist.“

Der Polizist – Pearson war sein Name – runzelte die Stirn und nahm die Karte entgegen. „Sie wollen…alles, was uns noch bekannt ist?“

„Damit meine ich die Angabe über den Eingang des Notrufs, wann Sie rausrückten, wann der Krankenwagen rausrückte und…und…und… Natürlich brauche ich auch die Informationen über das andere Opfer.“ Das war wichtig. War es tatsächlich Sharon Vineyard, wie er vermutete, oder vielleicht doch eine andere Person? Vielleicht ein Mitglied der Organisation? Und nur weil überall Blut in der Wohnung war, hieß es nicht, dass das andere Opfer auch verletzt war.

Pearson nickte. „Natürlich. Wir stellen Ihnen alles zusammen.“ Er reichte Akai das Notizbuch, welches sich bereits in einer Tüte befand. „Das wollen Sie bestimmt auch.“

Der Agent nickte. „Danke.“

„Die Fotos schicke ich Ihnen nachher. Vermutlich wurde das andere Opfer ebenfalls in das Presbyterian gebracht. Das können wir aber auch gerne überprüfen.“

„Ich bitte darum“, entgegnete Shuichi. Er sah sich erneut in der Wohnung und ballte die Faust. Sie waren nur um wenige Minuten zu spät gekommen. Er verfluchte sich selbst dafür. Es wäre nicht passiert, wenn er den Privatermittler sofort auf Jodies Adresse festgenagelt hätte. Und jetzt war er hier und musste die Scherben aufsammeln. Außerdem musste er noch seinen Wagen vom Friedhof holen. „Sichern Sie die Wohnung. Ich möchte nicht, dass Nachbarn oder Reporter hereingestürmt kommen. Und behandeln Sie das alles hier streng vertraulich. Keiner Interviews. Sprechen Sie mit niemanden, außer mit mir.“

Die beiden Polizisten sahen einander an und nickten.

„Danke“, entgegnete Shuichi leise. Er ging in Richtung des Balkons und sah nachdenklich aus dem Fenster. Hier stimmte eindeutig etwas nicht und er würde herausfinden, was ihn so sehr störte. Aber erst hatte er einen anderen schweren Weg vor sich. Akai blickte auf sein Handy und wählte die Nummer von James Black.

Alte Hindernisse

James saß in seinem Büro und starrte seit Stunden auf seinem Bildschirm. Eigentlich sollte er sich nach all den Jahren nicht mehr so gehen lassen, doch die neuerlichen Ereignisse – die Rückkehr von Sharon Vineyard nach Amerika sowie eine Spur zu Jodie – hatten ihn aus der Bahn geworfen. Er fühlte sich nutzlos. Nun noch mehr als früher. Es war Jahre her, seit sie wieder eine Spur zur Organisation hatten – zumindest in Amerika. Für alle anderen Länder hatten sie keine Befugnisse und das war sehr frustrierend. Selbst die anderen Bundesbehörden hatten keine neuen Informationen oder wollten diese nicht teilen.

Sogar Jodie waren sie einen Schritt nähergekommen, auch wenn die junge Frau seit zwei Jahren irgendwo im Unbekannten lebte. Aber heute – am Geburtstag seines Partners und Freundes – schien es, als wäre all seine Kraft aus ihm gewichen. Die ganze Zeit über hatte er gehofft, sie zufällig zu treffen. Da er nicht glaubte, dass sie eine Frühaufsteherin war oder von wo auch immer kommen würde, war er erst später zum Friedhof gefahren. Aber sie kam nicht und so fuhr er wieder zurück ins Büro. Er wusste nicht, dass er Jodie verpasst hatte und überließ daher Shuichi wieder das Feld. Ein Teil von ihm war glücklich, dass der Agent eine Spur zu Jodie finden konnte, und er sagte sich, dass es daran lag, weil er den Blick von außen hatte. Ein anderer Teil hingegen, empfang es als komisch, dass er die Hinweise so schnell fand und nicht erklärte, woher er alles wusste.

James seufzte und schüttelte den Kopf. Er entschied, vorerst keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wie Akai die junge Frau fand und sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Der Agent stand auf und ging zum Büro von Agent Decker. Er klopfte an und betrat kurz darauf den Raum. „Hast du Zeit für mich?“

„Natürlich. Komm rein und setz dich“, entgegnete der andere Agent. „Was führt dich zu mir.“

James schloss die Tür und ging zum Schreibtisch. Er setzte sich. „Ich weiß, heute ist nicht unsere regelmäßige Besprechung, aber ich möchte dich Fragen, wie es weiter gehen wird.“

„Was meinst du?“

„Irgendwann sind die Dreharbeiten von Sharon zu Ende. Wenn wir keine Beweise gegen sie haben, taucht sie wieder unter oder geht nach Japan zurück. Und dann…wir verlieren dann auch die Spur zur Organisation.“

Agent Decker beobachtete ihn. „Mir ist bewusst, dass wir nur ein kleines Zeitfenster haben. Wir können Sharon Vineyard nicht ohne triftigen Grund festsetzen. Sie ist eine Person des öffentlichen Lebens und alles, was passiert, wird durch die Medien festgehalten. Wenn sie ins Ausland geht, wars das für uns. Wir haben keine Befugnisse.“

Black seufzte. „Das habe ich mir bereits gedacht. Also müssen wir unbedingt etwas finden.“

Gerade als sein Gegenüber etwas erwidern wollte, klopfte es abermals and er Tür. „Entschuldige, bitte. Herein“, rief Decker.

Agent Fallon öffnete die Tür. „Sir? Hätten Sie einen Augenblick?“

Agent Decker blickte zu James. „Wir waren fertig?“

„Ja“, gab James von sich und stand auf.

„Oh, Agent Black! Entschuldigung, wir wollten Sie nicht stören.“

James ging zur Tür. „Machen Sie sich keine Vorwürfe“, sprach er und verließ das Büro.

Agent Fallon trat ein, gefolgt von Agent Jackson. Die beiden Agenten nahmen sofort auf den Stühlen vor dem Schreibtisch Platz.

„Meine Herren, worum geht es?“

„Nun…die Sache ist etwas heikel“, begann Agent Jackson. „Wir wissen, dass heute nicht unsere regelmäßige Besprechung ist, allerdings möchten wir erst einmal nur mit Ihnen darüber sprechen. In Ruhe und unter sechs Augen.“

„In Ordnung“, gab Decker von sich. „Worum geht es?“

Agent Fallon atmete tief durch. „Wie Sie wissen, haben wir uns in den letzten Tagen mit verschiedenen Themen rund um Sharon Vineyard beschäftigt. Der Mann, der ihr alles beibrachte – Toichi Kuroba – ist bereits verstorben und ihre Freundin – Yukiko Kudo – befindet sich derzeit mit ihrer Familie in Japan. Wir konnten also mit niemanden sprechen.“

Decker nickte verstehend.

„Deswegen haben wir uns mit einem anderen Thema beschäftigt, welches beim letzten Mal angesprochen wurde. Der mögliche Spitzel. Sir, wir wissen, dass wir uns nicht gegenseitig verdächtigen sollen, aber… Aber es gibt ein paar Dinge, die uns komisch vorkommen…gerade bei Agent Akai.“

„Gut, sprechen Sie weiter.“

„Jodie Starling ist seit etwa drei Jahren verschwunden. Agent Black hat versucht sie zu finden, ist aber daran gescheitert und Agent Akai findet problemlos eine Spur zu ihr. Das kam uns ein wenig Merkwürdig vor. Außerdem hat er in unserem Meeting selbst erwähnt, dass er als Spitzel auch keine Spuren hinterlassen würde. Was…,wenn er tatsächlich für die Organisation arbeitet? Sharon Vineyard war lange Zeit in Japan und Akai…ist Japaner. Wir haben etwas rumgefragt und in Erfahrung gebracht, dass er vor etwa zehn Jahren nach Amerika kam. Selbstverständlich kann das auch alles ein Zufall sein. Aber wer sagt, dass er nicht Kontakt zur Organisation hatte und uns…jetzt behindern soll?“

„Wie ich bereits vor einigen Tagen sagte, wir sollten uns nicht gegenseitig verdächtigen. Besonders unser Team nicht.“ Agent Decker runzelte die Stirn. „Ich kann verstehen, wieso Sie ihn verdächtigen, allerdings fehlen Ihnen wichtige Informationen zum Werdegang Ihres Kollegen. Er ist der Sohn zweiter MI6-Agenten und stammt ursprünglich aus England. Sein Vater verschwand in Amerika. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Organisation dahintersteckt. Agent Akai hat dazu keine offizielle Information, aber ich vermute, dass er das ahnt. Natürlich könnte er mit der Organisation einen Deal gemacht haben, um Informationen über seinen Vater zu bekommen, aber das glaube ich nicht. Schauen Sie sich gerne seine Fallakten an. Er hat eine hohe Aufklärungsquote. Wenn er etwas anpackt, führt er es auch zu Ende und fokussiert sich darauf. Deswegen hat er vermutlich auch die Spur zu Jodie Starling so schnell finden können.“

„Oh…“, murmelte Agent Jackson. „Bitte entschuldigen. Das haben wir tatsächlich nicht gewusst. Wir…hatten nur Sorge, dass…“

„Ich weiß“, nickte Decker. „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Es war gut, dass Sie zuerst zu mir gekommen sind. Ich möchte keine Unstimmigkeiten unter meinen Team-Mitgliedern und schon gar nicht möchte ich, dass Gerüchte die Runde machen.“
 

Als James an seinem Büro ankam, stand ein junger Agent vor seiner Tür. „Kann ich Ihnen helfen, Agent Tripton?“

Der Agent drehte sich um. „Ich möchte…mit Ihnen reden. Es geht um…Jodie…“

James sah ihn fragend an, nickte aber. Er öffnete die Tür zu seinem Büro und die beiden Männer traten ein. James setzte sich und auch Roy nahm Platz. „Was möchten Sie mir über Jodie erzählen, was Sie mir damals nicht erzählt haben?“

Roy schluckte. „Wir…wir waren ein Paar…vor einigen Jahren.“

„Was?“ James blickte ihn schockiert an.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen das damals nicht schon gesagt habe. Jodie kam früher regelmäßig her, um die Akten über den Tod ihrer Eltern einzusehen. So sind wir auch in Kontakt gekommen.“

Black nickte. „Den Teil kenne ich bereits.“

„Ich weiß. Allerdings habe ich einige Sachen dabei unterschlagen. Ich habe Jodie öfters im Büro getroffen und…ich selbst war damals auch noch nicht lange im Dienst. Ich fühlte mich verpflichtet, ihr zu helfen. Aber mir wurde verboten, irgendwas über ihre Eltern in Erfahrung zu bringen oder es weiterzugeben. Deswegen habe ich ihr immer Trost gespendet. Und so kamen wir uns näher.“ Er lächelte. „Aber dann ist das mit ihrem Kommilitonen passiert und Jodie war am Boden zerstört. Ich war es…der ihr vorschlug, ein neues Leben anzufangen. Allerdings wusste sie, dass Sie damit Schwierigkeiten hätten und deswegen…habe ich dafür gesorgt, dass Jodie von heute auf morgen verschwand.“

„Sie? Sie haben dafür gesorgt, dass Jodie weggeht? Wissen Sie eigentlich, was Sie damit angerichtet haben?“

„Es tut mir leid, Sir. Ich wollte, dass Jodie die Vergangenheit ruhen lässt und…das konnte sie nicht, solange sie Sie regelmäßig sieht. Jodie wurde immer an den Tod ihrer Eltern erinnert und daher…habe ich alles für sie organisiert und ihr erklärt, wie sie unbemerkt aus der Stadt kommt.“

James schluckte. Er versuchte ruhig zu bleiben, ballte aber die Fäuste. „Sie haben sie nach London in Ohio geschickt… Agent Akai hat…es herausgefunden und…“

„Es tut mir wirklich leid, Sir. Ich hielt es damals für das Beste für Jodie. Aber…“

„Aber?“, wollte James wissen. Er atmete tief durch. „Bitte verschweigen Sie mir nichts mehr.“

„Wir wollten etwas Gras über die Sache wachsen lassen und dann…woanders hin. Verstehen Sie?“

„Ehrlich gesagt nein. Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe nicht, warum Jodie diesem Plan zugestimmt hat. Und auch nicht, warum Sie dafür gesorgt haben, dass sich Jodie von allen Menschen entfernt. Wo ist sie jetzt?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Roy ruhig. „Sie war ein Jahr dort und ist dann…verschwunden…“

James schluckte. „Verschwunden…“, wiederholte er leise. Das hatte auch Akai erzählt.

„Sie hat…ihre Wohnung und ihre Arbeit gekündigt. Es gab nur einen Brief, in dem sie sich bei mir entschuldigt hat. Seitdem…habe ich sie nicht mehr gesehen oder gesprochen. Ich konnte…sie nicht finden. Und ich hoffe, dass…Agent Akai sie findet…denn ich möchte auch gerne mit ihr reden.“

Black verengte die Augen. „Wieso sagen Sie mir das alles?“

„Agent Akai wollte mir…die Möglichkeit geben, dass ich…selbst mit Ihnen darüber spreche“, gab Roy von sich. „Und ich habe lange versucht, das Gespräch zu umgehen, aber jetzt…ich… Da gibt es noch etwas, das ich Ihnen erzählen muss. Und das…fällt mir wirklich nicht leicht…“

„Agent Tripton, was ist los?“ Wenn James ehrlich zu sich selbst war, wollte er eigentlich nicht hören, was sein Gegenüber zu sagen hatte. Er war wütend und brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten. Aber wenn jetzt noch weitere Hiobsbotschaften dazu kamen, wusste er nicht, ob er wirklich ruhig bleiben konnte.

„Ich habe vor einigen Jahren einen Fehler gemacht. Einen enormen Fehler“, begann Roy. „In meiner Jugend habe ich ein paar Hacker-Fähigkeiten erlernt und…bevor ich die Ausbildung begonnen habe, damit angegeben. Ich habe…diese Fähigkeiten demonstriert und…“

James seufzte. „Sie werden erpresst.“

Tripton nickte. „Sie haben mich lange in Ruhe gelassen, aber als ich in die Niederlassung in New York kam, ging die Erpressung los. Es war nicht nur eine Person und ich weiß, ich hätte…anders handeln sollen, aber ich ließ mich darauf ein. Und dann kam ich nicht mehr aus der Sache raus. Sie haben Jodies Leben bedroht, wenn ich nicht weiter für sie Sachen mache. Das war der eigentliche Grund, warum ich Jodie den Neuanfang ermöglichen wollte. Weil sie…aber von meinen Plänen Wind bekommen haben, habe ich Jodie allein weggeschickt. Ich wollte nachkommen, aber dann war Jodie weg. Ich dachte, dass sie ihre Finger im Spiel hatten…aber…“ Er schüttelte den Kopf. „…sie waren es nicht. Sie verlangten von mir, dass ich mich melde, wenn Jodie wieder auftaucht, egal wo. Sie ließen mich zwei Jahre in Ruhe, aber…vor einigen Tagen haben sie sich wieder gemeldet. Sie wussten, dass Jodie wieder gesucht wird, und wollten die Hintergründe dazu wissen. Ich habe nur erzählt, dass die erneute Suche nach Jodie ein Zufall sei. Ich glaube, sie haben es geglaubt, aber…sie haben mir gleich wieder gedroht. Ich weiß nicht warum, aber…sie haben irgendwas mit ihr vor. Der Mann hat gesagt, dass er ihr…die Wahrheit über den Tod ihrer Eltern sagen wird. Er hat mir nicht gesagt, worum es genau geht, aber es soll Jodie den Boden unter den Füßen wegziehen. Und dann…wollte er ihr die Wahrheit über mich sagen. Ich möchte Jodie nicht in Gefahr bringen, das müssen Sie mir glauben. Ich empfinde immer noch sehr viel für Jodie und deswegen…bin ich zu Ihnen gekommen. Jodie ist in Gefahr, egal wo sie ist. Der Mann hat am Ende auch noch erwähnt, dass sie ihr Ablaufdatum überschritten hat und dass sie Jodie schon die ganze Zeit umbringen wollten. Ich weiß nicht, ob es der Wahrheit entspricht, aber er sagte, dass er wisse, wo sich Jodie derzeit aufhält.“

James rang nach Luft. „Sie sprechen von einem Mann…dann von mehreren Personen. Woher wissen Sie, dass es…mehrere Personen sind?“

„Ich habe nicht immer die gleiche Person getroffen und…die Anrufe stammten auch von verschiedenen Männern. Außerdem sprach der Mann auch immer von wir.“

„Nur Männer oder war auch eine Frau darunter?“

„Nur Männer“, antwortete Roy. „Ich weiß nicht, wie sie Jodie gefunden haben.“ Roy schluckte. „Am Ende meinte der Mann , dass sie bereits weitere Schritte eingeleitet haben und kurz darauf, dass es nur ein Scherz war und ihr nichts passiert, solange ich weiter mitmache. Sie spielen dauernd mit mir in dieser Art und Weise. Aber ich habe…zugestimmt. Seitdem hat sich keiner mehr bei mir gemeldet.“

„Sie haben Tage gewartet, bis Sie zu mir gekommen sind“, gab James von sich. „Wir hätten viel früher was tun können. Wir können Ihr Handy abhören. Wir können andere Schritte einleiten. Agent Tripton, ich denke nicht, dass ich es sagen muss, aber Ihr Handeln wird Konsequenzen für Sie haben.“

„Ich weiß“, nickte der Agent. „Ich habe…damals Ihre Ermittlungen behindert, auch wenn diese nicht offiziell waren und…ich habe Verbrechern geholfen und mich selbst schuldig gemacht. Aber jetzt bedrohen sie wieder Jodies Leben und ich habe das Gefühl, dass sie es dieses Mal ernst meinen. Ich hatte gehofft, dass ich in der Zwischenzeit selbst auch etwas rausfinden könnte, aber wenn Sie sie wirklich gefunden haben…“

„Agent Akai ist auf der Suche nach Jodie“, kam es von James. „Wenigstens haben Sie jetzt die Wahrheit gesagt und…wir können weitere Schritte einleiten.“ James seufzte. Er ahnte, dass die Organisation dahintersteckte.

„Kann ich…Ihnen dabei helfen? Ich könnte Agent Akai…bei der Suche unterstützen.“

„Nein!“ Er schrie das Wort beinahe.

„Entschuldigung“, wisperte Tripton. „Natürlich müssen Sie glauben, dass ich das nur tue, um den Forderungen des Mannes zu entsprechen. Aber ich schwöre Ihnen, dass ich nichts über Jodies Aufenthaltsort oder Ihre Ermittlungen weitergebe.“

„Lassen Sie es gut sein, Agent Tripton. Ich kann Sie damit nicht betrauen.“ Sein Handy klingelte. James wies das Gespräch ab. „Entschuldigung.“

„Schon gut.“

Das Handy klingelte abermals.

„Gehen Sie ruhig ran. Ich sollte jetzt auch gehen.“ Roy stand auf und ging zur Tür.

„Danke, Agent Tripton. Danke, dass Sie jetzt die Wahrheit gesagt haben.“

Der jüngere Agent blickte sich um und nickte, als James das Gespräch entgegennahm. „Black.“

„Hier Akai“, sagte der Japaner. „Ich habe Jodie gefunden. Sie wurde angeschossen und wird ins Presbyterian in New York gebracht. Fahren Sie so schnell wie möglich dorthin. Ich erkläre Ihnen dort alles weitere.“

James ließ das Handy fallen. Er wurde blass. Angeschossen. Sofort ging er im Kopf alle Möglichkeiten durch. Seine Gedanken rasten.

Roy hatte bereits die Tür geöffnet, blickte sich aber bei dem Geräusch des Handys auf dem Boden um. „Agent Black? Alles in Ordnung?“

James schluckte. Er nahm Roy gar nicht wahr, beugte sich nach unten und hob das Handy auf. Er hielt es wieder an sein Ohr. „Ich bin…auf dem Weg.“

Alles auf Anfang

Shuichi seufzte. Er wusste, dass das Gespräch mit Agent Black nicht einfach werden würde. Allerdings hatte sich James ganz anders verhalten, als erwartet. Er blieb ruhig. Zu ruhig. Aber wenigstens würde er Jodie nicht allein lassen. Außerdem war Ed auf den Weg ins Krankenhaus. Sie hatte den bestmöglichen Schutz. Aber nicht von ihm, denn er musste sich um etwas Anderes kümmern. Shuichi wählte die Nummer von Agent Decker.

„Decker?“

„Hier Akai“, begann Shuichi. „Ich habe Jodie gefunden. Sie war die letzten beiden Jahre bei einem Privatermittler angestellt und bezog in der Nähe seiner Detektei eine Wohnung. Sharon Vineyard hat das ebenfalls herausgefunden, war uns aber einen Schritt voraus. Sie hat Jodie heute abgefangen… Es tut mir leid, ich kam zu spät. Jodie wurde angeschossen und wird gerade ins Presbyterian Hospital gebracht.“

Agent Decker runzelte die Stirn. „Wie ist ihr Zustand?“

„Es sah nicht so gut aus“, antwortete Shuichi. „Ich war so frei und habe Agent Black informiert. Er ist auf dem Weg. Egal wie es ausgeht, er sollte bei ihr sein.“ Shuichi wurde ernster. „Als ich in der Wohnung ankam, war ein Sanitäter bereits bei ihr. Er gehörte zum ersten Rettungsteam. Das andere Opfer wurde ebenfalls ins Krankenhaus gebracht.“

„Ebenfalls das Presbyterian?“

„Vermutlich. Es ist in der Nähe und als Schauspielerin bekäme sie die beste Versorgung. Allerdings…war sie scheinbar als Milena Sherman verkleidet.“

„Ich werde Fallon und Jackson darauf ansetzen. Sie bleiben in der Wohnung und sichern die Beweise. Wurde das NYPD schon informiert?“

Shuichi blickte zu den beiden Männern. „Ja, es wurde ein Notruf abgesetzt, aber ich weiß noch nicht von wem. Ich habe den beiden Männern bereits mitgeteilt, dass das FBI den Fall übernimmt. Sie werden mir sämtliche Beweise, die sie sichergestellt haben, übergeben. Außerdem habe ich alles angefordert, was mit dem Notruf in Verbindung steht. Der Sanitäter kam mir auch ein wenig komisch vor. Ich möchte ihn auch überprüfen.“

„Wie heißt er?“, wollte Decker wissen.

„Matt Browning.“

„Sehen Sie die Überprüfung als erledigt an“, entgegnete der Ältere.

„Danke.“ Shuichi sah sich dann wieder in der Wohnung um. „Momentan bin ich hier allein. Das beeinträchtigt mich in den weiteren Ermittlungen.“

„Ich schicke Ihnen Agent Camel und Montgomery“, sagte Decker. „Senden Sie mir eine Nachricht mit der Adresse und ich leite alles weiter.“

„Danke, Sir. Wenn es sich tatsächlich um Sharon Vineyard gehandelt hat, sollten wir auf der Hut sein. Vielleicht war alles auch nur ein Ablenkungsmanöver.“

„Die Wahrscheinlichkeit ist groß“, antwortete der Ältere. „Seien Sie vorsichtig, Agent Akai.“

„Natürlich. Machen Sie sich um mich keine Sorgen.“

„Gut. Ich zähl auf Sie.“ Decker legte auf und seufzte. Die Katastrophe war auf sie hereingebrochen, wie eine Flut.

Shuichi zog nun ein Paar Handschuhe aus seiner Jacke und streifte sich diese über. Er öffnete die Tüte mit dem Notizbuch und holte dieses heraus. Shuichi überflog die Einträge und dachte nach. Sie hörten sich nicht gut an und sie zeigten, dass Jodie ernsthafte Probleme mit der Schauspielerin hatte.

„Agent Akai?“

Der Agent sah zu Pearson. „Ja?“

„Können wir Ihnen helfen? Wir haben bereits angefangen die Wohnung zu sichern. Wir könnten weitermachen und Ihnen zuarbeiten.“

„Gut“, entgegnete Shuichi ruhig. „Einer von Ihnen stellt mir jetzt die Daten zusammen, die ich gefordert hab und ein anderer von Ihnen dokumentiert alles, was hier am Tatort zu sehen ist.“

Der Polizist nickte und ging zur Seite.

Shuichi sah sich wiederholt in der Wohnung um. Er brauchte einen anderen Blickwinkel, weswegen er zur Tür ging. Für einen kurzen Augenblick schloss er seine Augen und atmete tief durch. Mit frischer Energie drehte er sich wieder um und schaute sich den Raum an. Er stellte sich die Situation vor. Jodie war durch den Wind, als sie mit der vermeintlichen Milena nach Hause kam. Auf dem Tisch standen keine Getränke und die Zeit reichte nicht, um in der Küche gemütlich etwas zu trinken. Der Sanitäter hatte zwar Sharon Vineyard mit keinem Wort erwähnt, was nicht hieß, dass sie eine Maske trug. Wenn er die Schauspielerin nicht kannte, konnte er sie unmöglich identifizieren. So gab es zwei Möglichkeiten. Entweder Sharon offenbarte sich oder sie ließ Jodie in dem Glauben, dass eine ihrer Freundinnen sie umbringen wollte.

Shuichi kniete sich auf den Boden und schaltete die Taschenlampe an seinem Handy ein. Hatte Sharon die Maske abgenommen, bestand die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Boden berührte. Dadurch konnte er vielleicht Partikel finden und sichern. Akai suchte den Boden bis zu der Stelle, wo die Opfer lagen, ab, fand aber nichts Verdächtiges. Zusätzlich überprüfte er die Stellen, an denen die Patronenhülsen gefunden wurden. Auch diese waren nicht auffällig. Shuichi ging alle möglichen Schusswinkel durch und glich diese mit den Blutspuren ab. Es passte - schon fast zu gut. Aber eines konnte er sich nicht erklären. Woher hatte Jodie die Waffe?

Ihre Handtasche lag im Flur, kein Schrank war geöffnet und es sah nicht so aus, als hätte Jodie ein Holster getragen. Shuichi stand wieder auf. Er ging zur Tatwaffe und sah sie sich an. Er brauchte unbedingt Jodies Fingerabdrücke und eine Untersuchung auf Schmauchspuren an ihren Händen. Er griff nach dem Lauf der Waffe. Die Waffe wurde definitiv abgefeuert. Shuichi fotografierte die Seriennummer ab. Diese würde er auch noch überprüfen.

Der Agent runzelte die Stirn. Er ging wieder zum Fenster und sah sich die Balkontür an. Es war gut möglich, dass Jodie frische Luft brauchte. Allerdings war es windig und keiner konnte sagen, wie weit die Tür geöffnet gewesen war. Dennoch leuchtete der Agent mit der Taschenlampe seines Handys auf die Tür. Auf und ab. Ab und auf. Er erkannte eine kleine Schramme und die Absplitterung von weißem Kunststoff. Die Stelle war klein. Akai kniete sich wieder hin und leuchtete mit dem Handy auf den Boden. Er fand das Stück. „Pearson?“, sprach er. „Ich brauch eine Beweismitteltüte und eine Pinzette.“

„Agent?“

„Tüte und eine Pinzette, sofort!“

„Ich hole eine“, gab der Polizist von sich und verließ den Tatort. Er kam nach wenigen Minuten zurück und reichte Shuichi die Utensilien.

Akai öffnete die Tüte und nahm den weißen Partikel mit der Pinzette auf. Er betrachtete ihn und schob ihn dann in die Tüte, die er verschloss. Shuichi legte die Tüte auf den Tisch und ging wieder zu den Fenstern. Er trat auf den Balkon und sah nach draußen. „Durchschuss…“, murmelte Shuichi. Er tippte eine Nachricht und schickte sie an James. Lassen Sie im Krankenhaus die Wundränder der Schussverletzung untersuchen. Wir brauchen eine Einschätzung darüber, was die Eintrittswunde ist. Akai

Shuichi ging wieder rein. Camel und Montgomery betraten die Wohnung.

„Wir sind so schnell wie möglich gekommen“, entgegnete Camel. „Wie können wir helfen?“

„Das NYPD hat den Tatort gesichert“, erklärte er. „Ich habe mich auch ein wenig umgesehen. Sammelt alle Beweise ein und lasst euch von den Polizisten alle Daten geben, besonders die vom Notruf.“

Camel nickte. „Und was machst du?“

„Ich geh nach nebenan. Ich muss was überprüfen“, sprach Shuichi und lief an den beiden Agenten raus.

„Was war denn das?“, wollte Montgomery wissen.

„Shuichi Akai.“
 

Weiß. Nur Weiß. Ein unendlicher Raum. Und es war kalt. Eiskalt. Jodie überkam ein beklommenes Gefühl. Sie trug ein weißes Nachthemd und war barfuß. Bei jedem Schritt, den sie nach vorne machte, wollte sie zwei Schritte zurück gehen.

„Ich habe deinen Vater nicht erschossen.“

Jodie sank auf die Knie. Sie legte ihre Hände auf ihre Ohren, wollte nichts mehr hören, aber die Stimme wurde immer lauter. Und sie wiederholte es.

„Ich habe deinen Vater nicht erschossen.“

Jodie schüttelte den Kopf.

„Wer war sonst noch da?“

Erneut schüttelte die junge Frau den Kopf. „Sei still, sei still…“

Es fiel ein Schuss. Jodie zuckte zusammen. Der Raum veränderte sich. Jodie erkannte den Boden und sah auf. Sie war in ihrem alten zu Hause. Langsam nahm sie die Hände von ihren Ohren und stand auf. Ihre Beine zitterten.

Sie erkannte sich selbst. Sie war noch ein kleines Mädchen und lauschte an der Wohnzimmertür. Ihren Teddy hatte sie eng an sich gedrückt. „Hast du das gehört, Teddy? Mama und Papa kommen gleich nach oben.“

Das kleine Mädchen lief nach oben und versteckte sich hinter dem Treppengelände. Ihre Mutter kam zusammen mit Sharon Vineyard aus dem Wohnzimmer. Sharon war in schwarz gekleidet und jung. Ihre schwarze Kappe sollte den Großteil ihres Gesichtes verdecken. Die erwachsene Jodie schluckte. „Mom“, wisperte sie leise.

Ihre Mutter stolperte und fiel auf den Boden.

„Was soll das?“

Schockiert schaute Jodie zu der Schauspielerin. Es war die Stimme ihres Vaters.

„Ich bin gestolpert“, log Angela.

„Dann steh wieder auf.“

„Hören Sie auf mit der Stimme meines Mannes zu sprechen.“

„Mom…“, kam es wieder von der erwachsenen Jodie. Ihre Mutter setzte sich langsam auf und öffnete dabei ihre Handtasche. Sie zog ihre Waffe heraus, aber es war bereits zu spät. Der erste Schuss fiel. „Mom“, schrie die erwachsene Jodie und kniete sich zu ihrer Mutter. Sie wollte ihr helfen, griff aber durch ihren Körper hindurch. „Mom, bitte…“

„Es tut...mir so leid...Jodie...“ Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mutter sie ansah, mit ihr sprach. Die erwachsene Frau schluckte. Tränen rannten ihr über die Wange. „Mom…Mama…“ Ihre Mutter lud die Waffe. „Tu das nicht…bitte…tu…das nicht…“ Dann fiel der zweite Schuss und es war vorbei.

Die Schauspielerin lächelte nur und ging nach oben.

„Mom…“ Jodie weinte.

Dann kam die kleine Jodie nach unten. Sie ging zu ihrer Mutter, rüttelte diese und flehte sie an, die Augen wieder zu öffnen. „Ich hab Angst.“

Die erwachsene Jodie erinnerte sich noch gut an das Gefühl von damals. Allerdings hatte sie diesen Teil des Abends nicht mehr in Erinnerung.

„Es wird bald passieren“, sagte das kleine Mädchen.

Jodie sah sie an. Sprach sie etwa mit ihr? „Was…was meinst du?“

„Es wird bald passieren“, wisperte sie erneut. „Du kannst es nicht verhindern. Du kannst es nicht für immer verdrängen.“

Die Erwachsene schluckte. „Das…ich versteh nicht…“

„Du wirst schon bald verstehen. Sehr bald. Es wird bald passieren.“

„Jodie?“

Sie hörte die Stimme ihres Vater. Die erwachsene Jodie sah nach oben und hörte Schritte. Das kleine Mädchen hingegen nahm die Waffe ihrer Mutter und lief ins Wohnzimmer. „Warte…was hast du…vor?“ Jodie folgte ihr. Sie blickte sich im Wohnzimmer um. Ihr Vater war nicht dort. Die Täterin war nicht dort. „So war das nicht. So war das nicht“, wiederholte sie.

Das kleine Mädchen versteckte sich hinter dem Sofa. Sie hatte Angst.

„Jodie?“

Die erwachsene Jodie sah nach hinten. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie damals verspürte. Daran, dass die fremde Frau mit der Stimme ihres Vaters gesprochen hatte und…, dass sie glaubte, dass diese nun nach ihr suchte.

„Jodie?“

„Jodie? Wo bist du?“

„Dad“, murmelte die erwachsene Jodie, als sie ihren Vater sah. Ihr rollten Tränen über die Wangen. Er war noch am Leben. „Daddy…du musst…aufpassen. Sie…sie kommt gleich…du musst…dich umdrehen…bitte…Daddy…“

Aber der Agent hörte sie nicht.

„Jodie, ich bins, Daddy. Hab keine Angst. Es wird alles gut.

„Dad, ich bin…hier…“ Jodie lief zum Sofa und sah ihr kleineres Ich an. „Hier bin ich, Dad. Bitte…du darfst nicht…“

„Es wird bald passieren.“ Das Mädchen sprach wieder zu ihr.

Die Augen der Erwachsenen weiteten sich. Ihr jüngeres Ich hielt die Waffe vor sich und ihre Zeigefinger lagen auf dem Lauf. Ihre Augen waren nun geschlossen, sie zitterte. Die Schritte ihres Vaters kamen näher. Als das kleine Mädchen ihre Augen öffnete, zuckte sie zusammen und ein Schuss löste sich.

„Jo…die…“

Ihr Vater sackte zusammen. Er war augenblicklich tot.

Die erwachsene Jodie machte einige Schritte nach hinten. Sie spürte Blut an ihren nackten Füßen. „Nein…nein…nein…“

„Papa...bitte...Papa...sag doch was...Papa...“ Das kleine Mädchen rüttelte an ihrem Vater. „Papa...bitte...es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.“

Jodie schluchzte. „Es…tut…mir…leid…“ Sie machte wieder ein paar Schritte zurück. „So..so war das nicht…“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“

Das junge Mädchen blickte zu ihr hoch. „Du hast es verdrängt. “

Jodie schluckte. „Aber…sie war…hier…sie hat…Daddy…“

Und dann stand Sharon Vineyard im Wohnzimmer. Sie kam immer näher und schließlich sah sie zu dem kleinen Mädchen.

„Wer…wer sind Sie?“

„Das ist ein großes Geheimnis. Ich kann es dir leider nicht verraten, aber merke dir eines: A secret makes a woman woman.“

„Das ist die Brille von meinem Daddy.“

„Oh, Entschuldige“, entgegnete die Schauspielerin und reichte ihr die Brille. „Nimm sie.“

„Was ist mit meinem Papa?“, fragte das Mädchen. „Ist er eingeschlafen?“ Mit einem

Mal wurde ihre Stimme traurig. „Dabei hat er mir doch eine Gute-Nacht-Geschichte

versprochen.“

„Wenn du möchtest, kannst du an seiner Seite warten.“

„Ja.“

Die Schauspielerin verließ den Raum. „Warte…nein…warte. Was hast du getan? Was hast du getan?“ Jodie wollte ihr nachlaufen, aber sie stieß gegen eine Art unsichtbarer Wand an der Wohnzimmertür. „Nein…so…so war das nicht…das…das war ganz anders.“ Jodie schluchzte. „Bitte…nicht…“

Das kleine Mädchen sah zu ihr. „Das ist die Wahrheit. Wir haben unseren Vater getötet. Wir haben das nicht gewollt. Wir hatten Angst. Wir standen unter Schock und deswegen haben wir das alles verdrängt. Wir haben uns nur noch daran erinnert, dass wir im Wohnzimmer waren und die Frau mit uns gesprochen hat. Wir sind schuld an seinem Tod.“

Jodie drehte sich um. „Das kann…nicht sein“, murmelte sie. „Ich habe…“ Sie sank auf die Knie. In ihrem Kopf herrschte Leere. „Ich habe…meinen Vater umgebracht.“

Ihre Umgebung wurde wieder weiß.

Nachbesprechung

Shuichi war nicht der einzige Agent, der die Nacht durchgearbeitet hatte. Es machte ihm aber auch nichts aus, was daran lag, dass er schon häufiger nachts seine Informationen kontaktieren musste oder ihn ein Fall nicht mehr losließ. Das Verbrechen schlief nicht und er passte sich seinem Rhythmus an.

Akai betrat den kleinen Besprechungsraum im Krankenhaus, den Agent Decker für die kleine Gruppe gemietet hatte. Sie hatten sich nahezu in der Nacht dort eingenistet, um die Ermittlungen fortzuführen. Nun hatten sie sich zu einer außerordentlichen Besprechung versammelt – Agent Camel, Montgomery, Fallon, Jackson, Black und Decker. Shuichi blickte in die Runde und nickte zur Begrüßung. Er setzte sich auf einen freien Stuhl und holte sein Notizbuch heraus. Nicht dass er es brauchte, aber es war bei den Vorgesetzten und den Anwälten gern gesehen, dass man sich Notizen machte und seine Erkenntnisse oder andere wichtige Fragestellungen aufschrieb. Die Notizbücher zu den Fällen wurden zusätzlich archiviert und konnten bei Rechtstreitigkeiten verwendet werden. Außerdem halfen sie als Gedankenstütze, wenn man seinen Bericht schrieb. Ein leeres Notizbuch hieß nicht, dass man sich weniger Mühe bei der Arbeit gab, aber einige Parteien empfanden es trotzdem so.

Agent Decker schaute zu seinen Kollegen. „Danke, dass Sie es alle heute früh eingerichtet haben. Ich weiß, es war für Sie alle gestern Abend nicht einfach und Sie mussten ihre eigentlichen Pläne auf Eis legen. Mittlerweile ist uns allen klar, dass sich die Ereignisse überschlagen haben, und wir müssen uns darauf wappnen, dass die Organisation ein weiteres Mal zuschlagen wird. Ihren ersten Schritt haben Sie bereits getan.“ Er sah zu James. „James, beginnst du zu berichten?“

Der Agent nickte. Er wirkte niedergeschlagen und um Jahre gealtert. Die gesamte Situation setzte ihm zu und er war die ganze Nacht bei Jodie. „Agent Akai hat uns gestern über einen Anschlag auf Jodie Starling informiert. Sie wurde angeschossen und liegt jetzt auf der Intensivstation. Während der Operation erlitt sie einen Herzstillstand und musste wiederbelebt werden. Sie hat viel Blut verloren und ihr Körper ist schwach. Die Ärzte sind aber guter Hoffnung. Ed Sherman – ein Privatermittler, den ich damals mit der Suche nach Jodie betraut habe - ist bei ihr. Zusätzlich haben wir einen Agenten vor ihrer Tür positioniert. Das Krankenhauspersonal hat die Anweisung nur bestimmte Personen zu ihr zu lassen. Noch ist sie nicht zu Bewusstsein gekommen, aber wenn es soweit ist, wird sie nicht alleine sein.“

Agent Fallon runzelte die Stirn. „Ich habe bereits gestern Abend mitbekommen, dass die Frau gefunden wurde, aber die Information wurde noch nicht bestätigt. Und ehrlich gesagt wundert mich ihr Erscheinen.“

„Ich bestätige es jetzt“, entgegnete James.

„Gestern war der Geburtstag ihres Vaters“, begann Shuichi. „Aus diesem Grund war ich auf dem Friedhof und habe gewartet, dass sie dort erscheint. Die Chancen standen sehr gering, aber schließlich habe ich sie dort gefunden. Sie ist vor mir weggelaufen und ich bin ihr gefolgt, bis ich in der Nähe der Detektei von Mr. Sherman war. Ich hatte schon früher versucht Informationen über den damaligen Suchauftrag zu erhalten, aber ohne die Einwilligung von Agent Black war dies nicht möglich. Da mir Jodie gestern entkommen ist, suchte ich die Detektei ein weiteres Mal auf. Sherman gestand schließlich, dass er Jodie seinerzeit gefunden und nach New York gebracht hatte. Er bekam Mitleid mit ihr und dem, was ihrer Familie passiert war. Aus diesem Grund wollte er ihr helfen und hat sie versteckt. Zwei Jahre waren nicht geplant, der Rest hatte sich ergeben. Wie wir mittlerweile wissen, wurde die Detektei verwanzt. In Jodies Wohnung habe ich allerdings keine Wanzen gefunden.“

„Das stimmt“, gab James von sich. „Sherman hat mir das Gleiche erzählt. Sie hat bei ihm gearbeitet und ihr Studium aufgenommen.“

„Sie war also die ganze Zeit über in New York und keiner hat davon erfahren?“

„Jodie wurde nie offiziell als Verschwunden gemeldet“, warf Akai ein. „Sie kann sich überall frei bewegen.“

„So ist es. Sie war in der Nähe und ich hab es nicht bemerkt. Ihr wurde genau eingebläut, wie sie sich zu verhalten hat und sich am besten versteckt“, murmelte James, so als wäre es eine Kritik an ihm selbst.

„Was ist mit der Schusswunde?“, wollte Shuichi wissen.

„Es war ein Durschuss. Nach den Ärzten ist das Projektil in ihren Rücken eingedrungen und vorne ausgetreten.“

„Verstehe“, murmelte der Agent. „Die Patronenhülsen am Tatort sprechen eine andere Sprache. Wenn man danach geht, war die Eintrittspforte der Bauch. Allerdings habe ich bemerkt, dass die Balkontür offenstand. Und es gab eine Absplitterung an der Tür, sehr frisch. Den Partikel habe ich eingesammelt. Es wäre möglich, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Schütze positioniert hat. Er hat seine Spuren allerdings verwischt. Ich konnte auf dem Dach keine Hinweise finden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich in einer der Wohnungen befand, zu der ich keinen Zutritt habe. Vermutlich hat ihr die Balkontür das Leben gerettet. Wenn meine Theorie stimmt, hat die Kugel die Balkontür um wenige Millimeter berührt und dadurch einen kleinen Wechsel im Kurs erfahren.“

Black schluckte. „Es war also ein gezielter Anschlag auf sie.“

„Ja“, nickte Shuichi.

„Ich habe…gestern Nachmittag mit Roy Tripton gesprochen. Er hat mir erzählt, dass er und Jodie ein Paar waren und er ihr bei der Flucht aus New York geholfen hat.“ James sah zu Akai. „Ihnen hat er das gleiche erzählt, nicht wahr?“

Akai nickte erneut. „Ich habe ihm gesagt, dass er Ihnen selbst die Wahrheit erzählen muss.“

„Das hat er auch gesagt“, sprach James. „Er hat mir noch mehr erzählt. Bevor er zum FBI kam, hat er einen Mann getroffen und…ein wenig geprallt. Seitdem wird er erpresst. Er wollte Jodie damals in Sicherheit wissen und hat ihr deswegen dazu geraten, ein neues Leben anzufangen. Dann ist Jodie aber ohne sein Wissen verschwunden und er wurde wieder kontaktiert. Tripton gibt an, dass es nicht immer die gleiche Person war. Aber es handelte sich immer um Männer. Jedenfalls wollten sie, dass er sich meldet, wenn Jodie wieder auftaucht. Vor einigen Tagen haben sie sich wieder bei ihm gemeldet und ihm mitgeteilt, dass sie wüssten, wo sich Jodie befindet und…dass sie…“

„Das sie sie umbringen wollen?“, kam es von Decker.

„Ja…scheinbar spielen sie mit Tripton. Ich vermute, dass es sich dabei um die Organisation handelt.“

Shuichi kniff die Augen zusammen. Er hatte nicht alles von Roy erfahren und das ärgerte ihn. Hätte er damals nur noch weiter gefragt. „Wenn ich das gewusst hätte…“

„Das war nicht Ihre Schuld. Er hat es sehr gut verschleiert.“ James seufzte.

Camel hob die Hand. „Wo wir bei Agent Tripton wären…“

Die Blicke richteten sich auf ihn.

„Ich sollte mich zusammen mit Agent Montgomery um die Sicherung der Beweise in der Wohnung und dem Notruf kümmern. Als erstes haben wir uns mit der Tatwaffe auseinandergesetzt und die Seriennummer überprüft. Die Waffe gehört Roy Tripton.“

„Was?“

„Wir haben die Daten sicherheitshalber doppelt überprüft“, antwortete Montgomery. „Und es gibt auch Fingerabdrücke, die von ihm sind. Allerdings…haben wir von Jodie Starling Fingerabdrücke auf dem Abzug gefunden. Und ein drittes Paar…vermutlich Sharon Vineyard. Ihre Fingerabdrücke sind nicht bei uns im System, daher ist das nur eine Mutmaßung.“

„Wir sind alle möglichen Szenarien durchgegangen, aber…vermutlich hat Jodie tatsächlich geschossen“, fügte Camel hinzu. „Es wurden insgesamt zwei Schüsse aus der Waffe abgegeben. Die Patronenhülsen stimmen mit den Kugeln, die verwendet wurden, überein.“

„Das kann nicht sein“, entgegnete James. „Laut Sherman hat Jodie mit Waffen ein Problem. Sie kriegt Panikattacken und kann sie nicht einmal in der Hand halten. Es ist unmöglich, dass sie die Waffe angefasst hat.“

„Die Beweise sind eindeutig“, murmelte Decker. „Was haben Sie noch, Agent Camel.“

„Der Notruf wurde von einem Nachbarn abgesetzt. Wir konnten ihn noch nicht befragen, weil er bislang nicht in der Wohnung war. Wir haben die Originaldatei des Notrufs erhalten und uns angehört. Sie klingt plausibel. Nachdem der Notruf einging, wurden zwei Rettungswagen losgeschickt. Der erste Rettungswagen kam um 18:05 Uhr an und hat sich um Sharon Vineyard gekümmert. Laut erstem Bericht waren ihre Verletzungen gravierender. Ein Sanitäter blieb zurück und sollte auf den zweiten Rettungswagen warten. Dieser kam um 18:18 Uhr.“

„Das stimmt“, sagte Shuichi. „Der Sanitäter hieß Matt Browning und hat versucht die Blutung zu stoppen. Auch er gab an, dass Jodies Verletzung auf den ersten Blick nicht so schlimm aussah.“

Agent Decker nickte verstehend. „Ich habe Matt Browning überprüft. Es gibt ihn wirklich und er hatte auch heute Abend Dienst. Allerdings habe ich die Information erhalten, dass er zu jenem Zeitpunkt bei einem anderen Notfall war…und in einem anderen Krankenhaus. Es gibt Videomaterial vom Außengebäude des anderen Krankenhauses.“

„Das war geplant…“

„Vermutlich. Ich habe mir das Videomaterial vom Außengebäude der Notaufnahme angesehen. Als er aus dem Krankenwagen stieg, hielt er den Kopf nach unten gesenkt. Er wusste, dass die Kameras ihn aufnehmen und wollte nicht identifiziert werden. Danach ist er verschwunden.“

„Verdammt“, entgegnete James.

„Wir lassen nicht locker und werden seine Identität noch herausfinden.“

„Alles sehr verworren“, murmelte Agent Montgomery. „Und es wird noch schlimmer. Es gibt auch ein Notizbuch.“

„Mhm?“

„Es lag auf dem Tisch“, entgegnete Camel. „Jodie scheint derzeit japanisch zu lernen, was uns doch verwundert hat.“

„Nicht wirklich“, unterbrach Akai. „Jodie hat das Interview mit Sharon Vineyard gesehen. Sie wusste, dass die Schauspielerin die letzten Jahre in Japan war und dort viele Freunde hatte. Ich vermute, sie wollte zumindest ein wenig die Sprache können. Das passt auch dazu, dass Jodie am Friedhof vor mir geflohen ist. Sie muss mich für einen Verbündeten von Sharon Vineyard gehalten haben.“

„Oh…“

„Ich habe das Notizbuch in der Wohnung nur durchgeblättert. Was stand dort drin?“

„Es war eine Art Tagebuch“, fing Camel an. „Jodie hat sich viele Notizen gemacht. Es beginnt mit ihrem Leben in New York und zu dem Tag, als sie das Interview mit Sharon Vineyard gesehen hat. An der Stelle werden ihre Einträge verwirrend, so als wäre sie sich selbst nicht sicher. Wie es aussieht, hat Jodie die Schauspielerin in den letzten Tagen beobachtet. Es stand viel zu den Drehabläufen darin oder wann sie ins Hotel kam. Außerdem viele Wünsche…Gedanken und…scheinbar hat sie sich auch mit Roy Tripton getroffen.“

„Was? Das kann nicht sein. Tripton hat davon nichts gesagt.“

„So steht es in dem Notizbuch. Sie hat…scheinbar ihre Rache an Sharon Vineyard geplant und sie in ihre Wohnung gelockt, in dem sie ihr gedroht hat. Tripton wollte helfen. Das wirft allerdings die Frage auf, warum er nicht auch in der Wohnung war.“

„Er war zu diesem Zeitpunkt bei mir.“ James seufzte. „Das würde Jodie nie tun. Sie…sie hat die Einträge sicher nicht geschrieben.“

„Wir haben uns in der Wohnung nach anderen Unterlagen von ihr umgesehen. Auch wenn wir keine Experten in Handschriften sind…die Einträge sehen nach Jodies Handschrift aus.“

Black schluckte. „Nein…“

„Wir können von Glück reden, dass wir den Fall übernommen haben.“ Shuichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wollen sie fertig machen. Jodie soll in den Fokus der Ermittlungen geraten. Vielleicht dient es auch der PR für den neuen Film, aber auch wenn nicht... Jodie soll als Täterin denunziert werden.“

„Als Mörderin“, entgegnete Agent Jackson.

Nun richteten sich die Augenpaare auf ihn. „Was soll das heißen?“

„Fallon und ich waren im Krankenhaus und haben mit dem Arzt gesprochen. Sharon Vineyard ist auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Wir haben uns den Bericht des Arztes genauer angesehen. Der Todeszeitpunkt war 18:20 Uhr. Sie hat viel Blut verloren und einige innere Organe waren schwer verletzt. Sie hatte keine Chance, die Schusswunde war tödlich. Wir sind nachher im Leichenschauhaus und sehen uns die Leiche an. Allerdings…“

„Allerdings?“

„Es ist bereits in die Medien durchgesickert. Die Zeitungen schreiben davon.“

„Verdammt…“

Shuichi biss sich auf die Unterlippe. „Das NYPD war vor Ort. Sie haben zwar nur Jodie vorgefunden, werden aber bestimmt auch eigene Ermittlungen anstellen. Und wenn sie eins und eins zusammenzählen, müssen wir uns darauf gefasst machen, dass sie uns Nachlässigkeit vorwerfen. Wie ich die Organisation einschätze, werden sie dem NYPD einen Tipp geben.“

„Ich werde mit meinen Vorgesetzten sprechen“, sagte Agent Decker. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Jodies Name durchsickert. Wenn sie die ganze Welt für eine Mörderin hält, wird ihr Leben zerstört sein.“

„Wie ist unser weiteres Vorgehen?“, wollte Camel wissen.

„Fallon und Jackson werden sich im Leichenschauhaus vergewissern, dass es sich bei der Toten tatsächlich um Sharon Vineyard handelt. Camel und Montgomery kümmern sich um das NYPD. Bieten Sie ihnen an, dass wir Informationen teilen, aber verraten Sie nicht alles. Akai und Black kümmern sich weiterhin um Jodie. Außerdem sollten sie mit Tripton sprechen. Wir brauchen Aussagen. Ich kümmre mich um das Krankenhaus und die Medien. Haben alle Ihre Aufgaben verstanden?“

Die Runde nickte.

Wiedersehen

Vermouth saß in einem Hotelzimmer und sah Jefferson zu. Ihr Manager – ehemaliger Manager – sichtete sämtliche Meldungen, die im Internet kursierten. Er lächelte. Es lief alles genau nach Plan, auch wenn sie diesen um einige Monate vorziehen mussten. Aber wer kam auch auf die Idee, dass das FBI innerhalb von wenigen Wochen eine Spur zu Jodie fand. Vorher hatten sie es auch nicht geschafft und waren blind.

Änderungen waren nicht immer gut. Sie hatten Auswirkungen auf alle Beteiligte und man musste sich ihnen anpassen. Einige konnten es, andere wiederrum nicht. Vermouth gehörte zu Ersteren. Sie hatte ihren Plan sofort geändert, aber das FBI war weiterhin gefährlich. In den letzten Jahren war es ruhig um die Agenten geworden, aber ihre Rückkehr nach New York hatte sie wie wilde Hühner aufgescheucht. Auch das gehörte zu ihrem Plan. Sie wollte Katz und Maus mit ihnen spielen. Aber mit einem Agenten wie Shuichi Akai hatten sie nicht gerechnet. Er war gefährlich und kam ihnen nahe, auch wenn er das ganze Ausmaß noch nicht bemerkt hatte. Doch erst einmal würde das FBI ihre Rolle als Bundesbehörde spielen und die Schauspielerin konnte in Ruhe alles weitere vorbereiten.

Vermouth hatte die letzten 24 Stunden genossen. Sie hatte keinerlei Verpflichtungen – weder als Schauspielerin noch als Mitglied der Organisation. Sie konnte endlich wieder mal entspannen. Entspannen und ausruhen. Durch ihre zahlreichen Verkleidungen stand sogar einem Ausflug nach draußen nichts im Wege. Selbstverständlich konnte sie es nicht sein lassen und fuhr ins Presbyterian, um das Ergebnis ihres Treffens mit Jodie zu begutachten. Im Krankenhaus wimmelte es nur von FBI Agenten, aber sie konnte trotzdem etwas zu Jodies Zustand in Erfahrung bringen. Die Frau lebte, aber damit hatte Vermouth kein Problem, schließlich hatte sie dafür gesorgt, dass Jodies psychische Verfassung Grund zur Sorge brachte. Früher oder später zumindest.

„Gute Nachrichten?“, wollte sie von Jefferson wissen.

„Irish hat sich um den Sanitäter gekümmert.“ Gekümmert hieß, dass er nicht mehr am Leben war. „Selbst wenn man ihn unter Wasser fände, niemand kann Rückschlüsse zu uns ziehen. Der Arzt, der deinen Tod bestätigt hat, befindet sich in unserer Obhut. Wenn er nicht mehr gebraucht wird, erledigen wir ihn auch. In der Zwischenzeit hat Irish seinen Platz eingenommen, falls ihm das FBI auf die Pelle rückt. Alles läuft nach Plan. Wir haben deinen Tod bei seriösen Zeitungen langsam durchsickern lassen.“

Vermouth lächelte. „Und?“

„Was glaubst du wohl? Sämtliche Medien schreiben darüber. Die Story ist überall das Top-Thema. Und schau dir mal Social Media an. Du hast ein Lauffeuer entzündet.“

„Wir“, gab sie von sich. „Was ist mit der Leiche? Hat das FBI schon Nachforschungen angestellt?“

„Haben sie. Natürlich agieren sie jetzt mit Eile, weil sie nicht möchten, dass irgendwelche Beweise zerstört werden. Zwei Agenten waren im Leichenschauhaus. Sie haben die Leiche überprüft. Selbst wenn sie Fingerabdrücke vergleichen wollten, wir haben die Sachen in deiner Garderobe und in deinem anderen Hotelzimmer ausgetauscht.“

„Was ist mit dem NYPD?“

„Das FBI hat sich den Fall geschnappt. Sie haben alle Beweise geordert. Das NYPD wird die Füße stillhalten und sich den Anordnungen nicht widersetzen. Außer wir geben ihnen einen triftigen Grund selbst zu ermitteln.“

„Mhm…“ Vermouth verschränkte die Arme vor der Brust. „Auf die war sowieso kein Verlass. Ich werde der Staatsanwaltschaft einen kleinen Tipp geben, dass das FBI in dem Fall nicht mehr objektiv agiert und den möglichen Täter deckt. Danach werde ich als Chris Vineyard den Tod meiner Mutter betrauern.“

Jefferson schmunzelte. „Du bist ein böses Mädchen.“

„Das hast du aber spät bemerkt.“ Sie legte sich aufs Bett. „So oder so, es wird einen Sündenbock geben. Entweder ist es Jodie selbst oder der gute Roy. Wir lassen niemanden übrig.“
 

Jodie lag in ihrem Krankenzimmer und hörte dem monotonen Piepen der Geräte zu. Sie war an einen Herzmonitor angeschlossen und hatte an ihrem rechten Handrücken einen Zugang für eine Infusion oder zur Blutabnahme. Es dauerte mehrere Stunden, ehe Jodie nach der Operation aufwachte. Instinktiv hatte sie sich die Elektroden runtergerissen, was allerdings dazu führte, dass sich binnen weniger Minuten, zahlreiche Menschen in ihrem Zimmer tummelten. Ärzte, Krankenschwestern und dann noch das FBI. Sofort wurden die Geräte und ihre Vitalwerte überprüft und Jodie danach zu einer weiteren Untersuchung in einen anderen Raum gebracht. Ein FBI Agent war immer in ihrer Nähe, aber sie hatte bis dahin nicht gewusst, wie seine Zugehörigkeit war. Jodie ließ sämtliche Untersuchungen über sich ergehen, nur um anschließend wieder in ihr Zimmer gebracht zu werden. Sie lag einfach nur so da. Auch dann, als sie Ed und James auf dem Krankenhausflur gesehen hatte. Noch konnte sie mit keinem von Beiden reden, aber früher oder später wäre die Zeit gekommen. Jodie wusste nur nicht, was sie ihnen sagen sollte oder konnte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fürchtete sie sich sogar vor dem Gespräch mit den Beiden und hoffte, dass sie es so weit wie möglich aufschieben konnte. Wahrscheinlich hatten sich die Männer bereits ausgetauscht und würden sie bald in ihrem Zimmer aufsuchen. Kaum dachte sie daran, klopfte es auch schon an ihrer Zimmertür. Sie sah zu dieser. Krankenschwestern und Ärzte klopften nicht. Also mussten es James oder Ed sein, vielleicht auch beide. Jetzt konnte sie sich wohl kaum vor einem Gespräch drücken. Wenigstens war sie im Krankenhaus in Sicherheit. Als die Tür aufging, kamen Ed und James hinein. Sie sagte kein Wort.

„Hey. Du bist wieder wach.“ Ed ging zu ihr und zog den Stuhl näher an ihr Bett. Er setzte sich. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wie geht’s dir?“

„Geht so…“, murmelte Jodie. Sie sah zu James. Sofort überkam sie ein schlechtes Gewissen. Auch er trat zu ihr heran.

„Jodie“, fing er an. „Es ist lange her. Ich bin froh, dass wir uns endlich wiedersehen und dass es dir…einigermaßen…gut geht.“

„James…“, wisperte Jodie. Ihr kamen die Tränen.

„Es ist alles gut. Weine nicht.“ Er legte seine Hand an ihre Wange und wischte ihr die Tränen weg. „Alles ist gut. Ich hab mit Ed gesprochen und er hat mir vieles erklärt. Und mit Roy Tripton habe ich ebenfalls geredet. Ich weiß jetzt, warum du das getan hast und…wie es dir all die Jahre ergangen sein muss. Ich kann verstehen, warum du den Kontakt zu mir abgebrochen hast und…ihn nicht wieder gesucht hast, als du hier warst.“

„Es…tut mir…leid…Es tut mir so…leid…“, schluchzte Jodie. „Ich dachte, ich hätte damals…keine andere Wahl. Mir war alles zu viel. Ich wollte einfach nur…ein normales, ruhiges Leben. Ich war jung…und dumm. Ich hätte wissen müssen, dass…es nicht so geht. Einen einfachen Weg gibt es nicht.“

Der Agent schüttelte den Kopf. „Schon gut. Alles ist gut. Ich bin dir nicht böse. Ich kann dich sogar verstehen, jetzt wo ich weiß, was passiert ist.“

„James…“, murmelte Jodie. Sie blickte zur Seite. „Was…was ist passiert?“

Ed beobachtete sie. „Du bist im Krankenhaus“, erklärte er. „Wir haben dich in deiner Wohnung gefunden. Du bist angeschossen worden, aber du hattest großes Glück. Die Ärzte haben dich mehrere Stunden operiert. Jetzt ist aber wieder alles in Ordnung. Du wirst wieder gesund. In ein paar Wochen wirst du wieder vollständig genesen sein.“

„Verstehe…“, gab Jodie leise von sich.

„Jodie?“, begann James. Nun zog auch er einen Stuhl zum Bett und setzte sich. „Ich muss dich das jetzt fragen. Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“

Jodie schloss ihre Augen. Sie fürchtete sich vor dieser Frage am meisten. Aber früher oder später musste sie sich den Geistern der Vergangenheit stellen. Ewig konnte sie nicht davonlaufen. Nicht mehr. Sie hatte es jahrelang unbewusst getan. „Ich war bei Dad…also bei seinem Grab und ich hatte gehofft, dass ich dich dort treffen würde. Aber…du warst nicht da. Ich wollte dir erzählen, wer…für den Tod meiner Eltern verantwortlich ist. Ich hab…ein Interview mit Sharon Vineyard gesehen. Sie hat…diesen Satz gesagt…“

„Ganz ruhig, Jodie. Du musst nichts überstürzen.“

„Du bist…nicht verwundert darüber. Hat…Ed es dir auch erzählt?“

„Ja, aber…auch wir vom FBI waren hinter Sharon Vineyard her. Es tut mir so leid, dass du all das durchmachen musstest. Hätten wir doch nur früher…“

Ihr liefen Tränen über die Wangen. „Auf dem Friedhof war…dieser Japaner. Er…er wurde von ihr geschickt, von Sharon. Ich bin weggelaufen…und wollte zu Ed.“

„Der Japaner heißt Shuichi Akai“, entgegnete James ruhig. „Er arbeitet für das FBI und wurde mit der Suche nach dir beauftragt. Er hat mir regelmäßig Bericht erstattet.“

Jodie öffnete ihre Augen.

„Das kann ich bestätigen“, meinte Ed ruhig. „Ich habe auch mit ihm gesprochen. Es gibt keinen Zweifel an seinen Absichten. Akai arbeitet für das FBI.“

„Oh“, murmelte Jodie. „Dann…dann hab ich das falsch verstanden. Ich dachte, er würde zu ihr gehören und…mir was tun.“

„So etwas passiert, Jodie. Mach dir keine Vorwürfe. Du bist jetzt in Sicherheit“, sagte James. „Kannst du…mir erzählen, was danach passiert ist?“

„Ich bin…zur Detektei gelaufen. Dort traf ich dann auf Daniel und…Milena. Sie hat…gesehen, wie aufgebracht ich war und hat mich nach Hause gebracht. Zu Hause hat sie…sie hat sich dann offenbart.“

„Offenbart?“

„Es war nicht…Milena. Es war…Sharon…Sharon Vineyard. Sie hat…ihre Identität angenommen und…mir erzählt, dass sie mich schon länger im Visier hat. Ich glaube, sie wusste die ganze…wo ich war…“

James schluckte. „Und…was ist dann passiert?“ Leider brauchte er alle Details, um Gegenmaßnahmen einzuleiten und Jodie vor dem Gefängnis zu bewahren.

„Wir haben…geredet…über Dad und was passiert ist. Sie zog eine Waffe und fragte mich…ob ich Rache an ihr üben will. Dann…kam sie zu mir und drückte mir die Waffe in die Hand. Ich wollte…nicht…aber sie hielt mich fest. Und dann hab ich geschossen…“

James wurde hellhörig. „Sie hat dir die Waffe in die Hand gedrückt und deine Hände festgehalten? Hat sie auch dafür gesorgt, dass du geschossen hast?“

Jodie nickte.

„Das ist doch gut. Jodie hat nichts getan.“

„Das mag sein“, entgegnete James. „Aber wir haben nur Jodies Aussage und die Beweise sprechen eine andere Sprache. Ihre Fingerabdrücke sind auf der Waffe. So sieht es aus, als wäre Jodie die Täterin. Momentan ist es uns nur möglich das alles als Notwehr oder Unfall aussehen zu lassen. Aber…“ Black runzelte die Stirn. Die anderen Beweise waren gravierender und belasteten Jodie. „Jodie? Hast du…Tagebuch geschrieben?“

„Nein.“

„Verstehe.“ James dachte nach. Er würde Jodies Handschrift durch einen Experten prüfen lassen. „Kannst du mir erzählen, was passiert ist, nachdem der Schuss fiel?“

„Die Waffe fiel auf den Boden und…danach lag ich selbst dort. Es tat…so weh…so fürchterlich weh.“

Er schluckte abermals. „Du bist angeschossen worden“, erklärte James. „Kannst du dich daran erinnern, ob sich der Schuss aus der Waffe gelöst hat, als sie zu Boden fiel? Oder hat Sharon geschossen?“

„Ich…ich weiß es nicht mehr“, gestand Jodie. „Es ging…alles so schnell. Ich erinnere mich nicht… Ich hab nur noch ein paar Umrisse wahrgenommen und dann…bin ich hier aufgemacht.“

„Ich verstehe“, sagte James. „Du bist jetzt in Sicherheit und musst keine Angst haben.“

„Nein…“, wisperte Jodie. „Ich bin…nicht in Sicherheit. Sie wird…mich weiter jagen.“

James sah zu Ed. Und Ed sah zu James. „Jodie“, kam es von Ed. „Sharon Vineyard wird dir nie wieder etwas antun.“

„Warum?“

„Sie ist…tot.“

Nun war es um Jodie geschehen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. „Ich hab…ich hab sie umgebracht.“

„Jodie, nein. So darfst du nicht denken. Sie hat es forciert. Sie hat deine Hände festgehalten und selbst dafür gesorgt, dass du schießen musstest. Dich trifft keine Schuld“, gab James von sich.

„Ich hab…wieder jemanden umgebracht…“

„Jodie, bitte…“, sprach Ed leise.

James fühlte sich überfordert. „Sag nicht so was…du hast niemanden umgebracht…nicht absichtlich“

„Ich hab zwei Menschen umgebracht…“, wisperte Jodie. „Sharon Vineyard und…und meinen Dad…“

„Was? Was meinst du?“, kam es von Ed. „Du hast deinen Vater nicht umgebracht.“

„Was redest du denn da, Jodie. Wenn sie dir das gesagt hat, lügt sie. Sie will dich nur verletzen.“

„Nein.“ Jodie schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich…wieder. Damals…ich hatte solche Angst…ich hab sie gesehen…wie sie Mom umgebracht hat. Sie hat mit Dads Stimme gesprochen. Ich…ich habe mich versteckt und…als Dad dann kam, dachte ich, dass sie…dass sie es ist… Ich hatte Moms Waffe…und ich hab…geschossen. Ich hab…meinen Dad erschossen…“ Jodie schluchzte und auch James kamen die Tränen.

„Ich war es…ich bin…eine Mörderin.“

„Das ist…Jahre her“, sprach Ed leise. „Und…du wolltest das nicht. Das war ein Unfall. Du warst noch ein Kind.“

James nickte. „Wir konnten dich damals nicht beschützen, aber…jetzt können wir das. Wir haben andere Möglichkeiten. Das FBI wird dir nicht von den Fersen weichen. Wir…haben deine Wohnung überprüft. Wenn du möchtest, kannst du…zurück oder…wir suchen dir eine andere Wohnung. Wir finden…einen Weg.“

Jodie weinte. „James…

„Es wird…alles gut…“ Er half ihr, sich aufzusetzen und nahm sie in seine Arme. Sachte strich er ihr über den Rücken. „Wir werden deine Aussage aufnehmen und…dir helfen. Wir schaffen das. Zusammen.

Hiobsbotschaften

Jodie starrte die Decke an. In ihrem Zimmer war es trostlos. Es gab zwar einen Fernseher, aber sie wollte nicht andauernd mit den Nachrichten und dem Tod von Sharon Vineyard konfrontiert werden. Das führte allerdings dazu, dass sie einfach nur da lag und wartete. Immer wieder kamen Ärzte und Krankenschwestern rein, ab und an sahen auch die FBI Agenten nach ihr. Und auch wenn die Ärzte der Meinung waren, dass es ihr besser ging, fühlte sie sich nicht so. Ihr Körper heilte zwar, aber ihre Seele hatte es viel schlimmer getroffen – vor allem jetzt, wo sie sich wieder erinnerte. Wann auch immer Jodie ihre Augen schloss, sah sie die Bilder der Vergangenheit. Abermals erlebte sie, wie sie ihren Vater erschossen hatte. Sie war eine Mörderin und dies würde ewig an ihr haften. Wie sollte sie damit nur weiterleben? Ein Leben war schon schlimm genug, aber nun hatte sie auch noch ein zweites Leben genommen. Auch wenn sie von Sharon Vineyard zum Schuss gezwungen wurde, fühlte sie sich schuldig. Letzen Endes war sie nicht stark genug, um sich gegen die Ältere zu wehren. Stattdessen konnte sich Jodie kaum bewegen und ließ es zu.

Alles James und Ed zu erzählen war schon nicht einfach. Wie sollte es dann sein, wenn sie eine offizielle Aussage machen musste oder sie sich Befragungen stellen musste. Egal wie es werden würde, sie würde jede Strafe akzeptierten. Mord verjährte nicht und sie konnte auch nach 20 Jahren dafür belangt werden. Allerdings war sie damals noch ein kleines Kind und in einer Ausnahmesituation. Sie hatte es nicht gewollt, große Angst und um ihr Leben gefürchtet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht bestraft wurde, war groß. Allerdings würde sie ihr Leben lang dafür büßen. Sie würde ihren Vater nie vergessen und auch nicht das, was sie ihm damals antat. Bei Sharon Vineyard war es schon anders. Auch wenn die Schauspielerin wollte, dass sie schoss, es war schwer zu beweisen. Und jetzt, wo Sharon tot war, gab es niemanden, der ihre Version bestätigen konnte.

Wenigstens hatte ihr James verziehen und bot seine Hilfe an. Es war mehr als das, was sie sich erhofft hatte. Aber danach fühlte sie sich müde. Unglaublich müde. Auch noch nach zwei Tagen.

In ihren Gedanken vertieft, hatte Jodie das Klopfen an der Tür nicht realisiert. Erst, die sich nähernden Schritte, nahm sie wahr. Jodie sah auf die Person. „Roy…“ Auch vor der Begegnung mit ihm, hatte sie sich gefürchtet. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch gehofft, dass diese erst später stattfinden würde.

Der FBI Agent warf einen verstohlenen Blick auf seine Ex-Freundin. „Hey…es ist…lange her. Wie geht es dir?“

„Das ist es“, murmelte Jodie. „Es geht…mir den Umständen entsprechend.“

Er zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich. „Ich habe gehört was passiert ist und wollte nach dir sehen. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich schon eher zu dir kommen, aber sie sagten, dass es keine gute Idee sei.“

„Ich verstehe. Ich wollte, auch mit dir sprechen. Aber…jetzt bin ich hier...“

Roy nickte. „Hätte ich später kommen sollen?“

Jodie schluckte. „Schon okay.“ Früher oder später hätten sie sowieso miteinander reden müssen. Was machte es da aus, wenn es jetzt war? „Es tut mir leid, Roy. Was damals passiert ist…“

Er schüttelte den Kopf. „Schon gut. Du musst mir nichts erzählen, was du nicht möchtest.“

„Doch das muss ich“, sagte sie und atmete tief durch. „Wir wollten damals zusammen ein neues Leben anfangen. Das wollte ich so sehr, aber dann hat mich Ed gefunden. Er ist Privatermittler und wurde von James beauftragt. Er brachte mich zurück nach New York und wir wollten eigentlich zu James, aber…dann entschied er sich, mir bei der Suche nach der Mörderin meiner Eltern…meiner Mutter zu helfen. Ich hatte das damals nicht geplant und…wir haben beide nicht gedacht, dass es zwei Jahren dauern würde. Wir dachten, dass er als Privatermittler bessere Chancen haben würde als ich. Es tut mir leid, was du wegen mir alles durchgemacht hast. Ich hätte mich melden müssen, aber…ich konnte nicht.“

„So etwas in der Art habe ich mir gedacht. Du hast getan, was du tun musstest. Es war das Richtige.“

„Dann…dann verzeihst du mir?“

„Was?“ Er sah sie perplex an, ehe ihm die Tränen kamen. „Natürlich verzeihe ich dir. Ich glaube sogar, dass es das Beste für uns gewesen ist.“

„Was meinst du?“

Roy seufzte. „Jodie, es gibt da noch etwas, das ich dir sagen muss.“

Sie schluckte. „Und…was?“

„Bevor ich zum FBI ging, habe ich einen Fehler gemacht und…dann wurde ich erpresst.“ Er atmete tief durch. „Ich hatte Angst, dass sie dir etwas tun würden und als das dann mit deinem Kommilitonen passierte, kam ich auf die Idee, dass wir außerhalb von New York ein neues Leben anfangen könnten. Ich habe dich zuerst weggeschickt, um hier alles zu regeln. Dann wollte ich nachkommen und…mit dir woanders hin. Mein Vorschlag war…also auch Eigennutz von mir. Aber als du dann…verschwunden bist, dachte ich, dass sie dir etwas angetan hätten. Stattdessen kontaktierten sie mich wieder und ich sollte Bescheid geben, wenn du wieder auftauchst. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht und…vor einigen Tagen kontaktierten sie mich wieder. Sie haben mitbekommen, dass nach dir gesucht wird und haben dein Leben bedroht.“

Jodie schluckte.

„Ich habe Agent Black davon erzählt, aber dann wurde er angerufen und wir erfuhren, dass du auf dem Weg hierher bist.“
 

James saß im Besprechungszimmer und ruhte sich aus – falls das überhaupt möglich war. Ihm schwirrte viel zu viel im Kopf herum. Zu viele Agenten waren mittlerweile in der Sache involviert und jeder hatte seine eigene Meinung. Natürlich halfen sie und taten ihr Bestes, um Jodie zu entlasten, aber Black hatte auch den Zweifel in ihren Augen erkannt. Es war ganz natürlich, schließlich kannten sie Jodie nicht und mussten objektiv sein.

Im Geiste entschuldigte er sich bei seinem toten Partner. Er sollte derjenige sein, der auf Jodie ein Auge hatte, auf sie aufpasste, aber es war alles außer Kontrolle geraten. Irgendwann würde auch das Krankenhauspersonal Fragen stellen, immerhin hatten sie sich dort eingenistet und eine provisorische Einsatzzentrale errichtet.

James schloss seine Augen. Das Karussell drehte sich immer schneller, hielt aber nicht an und der Agent hatte Angst, was sie noch in den nächsten Stunden oder Tagen finden würden. Wie viele Geheimnisse kämen noch ans Licht? „Es tut mir so leid“, wisperte er leise. Hätte er doch nur den perfiden Plan der Organisation früher erkannt.

Als es an der Tür klopfte, blickte er auf. „Herein.“

Akai und Decker betraten den Raum. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es für alle Beteiligte am besten war, wenn sie allein mit James sprachen. Sie hatten seine feuchten Augen gesehen, als er ihnen vom Mord an seinem Partner erzählte und dass sich Jodie als Täterin entpuppte. Sie war noch ein kleines Kind, verängstigt und würde dafür nicht belangt werden, aber der Schmerz würde bleiben. Bei Beiden.

James sah in ihre Gesichter. Er schluckte. Irgendwas stimmte nicht oder war schief gegangen. Oder sogar beides. „Was…was ist passiert?“, fragte er leise, unsicher, ob er es überhaupt erfahren wollte.

Shuichi schloss die Tür und lehnte sich gegen diese.

„Wir haben in den letzten beiden Tagen weitere Ermittlungen angestellt“, begann Decker.

„Ja, ich weiß.“

Agent Decker sah zu Akai. „Bitte, erzählen Sie.“

„Ich war noch einmal am Tatort. In Jodies Wohnung waren keine Wanzen versteckt und es gab auch keine Fingerabdrücke, die wir nicht erwartet hätten. Wir wissen, dass Jodie von hinten angeschossen wurde, aber dass Wie ist nicht beweisbar. Jodie erinnert sich nicht und Sharon Vineyard können wir nicht fragen. Und selbst wenn sie sich erinnern würde, jeder Anwalt würde ihre Aussage in Frage stellen. Man würde davon ausgehen, dass Jodie nach der Tat aufgebracht war und an die frische Luft wollte. Aber sie hatte nicht bemerkt, dass Sharon noch nicht tot war. Diese wiederum nutzte Jodies Unachtsamkeit und schoss sie an. Die Absplitterung vom Rahmen der Balkontür beweist leider gar nichts. Wer weiß, wie lange sie schon auf dem Boden lag. Der einzige Widerspruch sind die Patronenhülsen. Wenn der Schuss von draußen kam, dürfte es auch nur eine Patronenhülse geben. Allerdings…“

„Allerdings?“

„…allerdings könnte es sein, dass die Sanitäter oder die Ärzte die Patronenhülsen verschoben haben, als sie sich um Sharon und Jodie gekümmert haben. Der Arzt musste Jodies Zustand überprüfen, ehe er sich auf Sharon fokussierte. Und der Sanitäter tat alles, um die Blutung zu stoppen. Wir haben alle, die vor Ort waren, befragt, sie können nicht gänzlich ausschließen, dass sie in dieser Situation irgendwas versehentlich verändert haben. Normalerweise achten Ärzte und Sanitäter auf ihre Umgebung, gerade bei einem Schusswechsel, aber Menschen machen nun mal auch Fehler“, fügte Decker hinzu. „Und diesen falschen Sanitäter haben wir immer noch nicht finden können. Er könnte den Ausschlag geben.“

„Trotz Widerspruch könnte es so aussehen, dass keine Fremdeinwirkung vorlag und dass Jodie, dass sie…es geplant hat…“, wisperte James. „Was ist mit ihrer Angst vor Waffen?“

„Laut Tagebucheinträgen gehörte das auch zu ihrem Plan dazu“, entgegnete Akai. „Ich habe mir sämtliche Einträge durchgelesen. Agent Black, es sieht nicht gut für Jodie aus und das soll keine Wertung meinerseits sein. Ich kenne sie zwar nicht so gut wie Sie, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie ein unschuldiges Opfer ist.“

„Danke, Agent Akai.“

„Ich habe auch Jodies Aussage überprüft. Der Rechtsmediziner ist damals davon ausgegangen, dass Agent Starling gesessen haben muss, als er erschossen wurde. Das führte ihn zu dem Schluss, dass der Täter kniete. Nur so wäre der Winkel erklärbar. Nach Jodies Aussage wäre es aber denkbar, dass sie tatsächlich den tödlichen Schuss abgab.“

„Wieso erzählen Sie mir das?“, wollte Black wissen.

„Weil das Jodies Angst vor Waffen untermauern kann. Sie hat die Erinnerung tief verschlossen, aber das Trauma war zu jeder Zeit präsent. Deswegen kann sie keine Waffe halten, ohne in Tränen oder Panik auszubrechen. Ed stellt uns alle Akten zusammen, die er zu Jodie angefertigt hat. Er schaut auch nach Videos, die er vom gemeinsamen Training gemacht hat. Wenn wir Glück haben, kommt auch ein Experte zu dem Schluss, dass sie den Mord an Sharon nie geplant haben kann.“

„Im Widerspruch stehen die Einträge im Notizbuch. Unglücklicherweise sagen unsere Handschriftenexperten, dass Jodie die Einträge verfasst hat. Ich habe sicherheitshalber zwei unabhängige Gutachter eingesetzt“, erzählte Decker.

„Wir geben aber nicht auf. Die Organisation hat vermutlich ihre eigenen Experten und ihre Handschrift sehr gut kopiert. Wir tun alles in unserer Machtstehende, um Jodies Unschuld zu beweisen.“

Black sah die Beiden irritiert an. „Unschuld beweisen? Es war Notwehr und damit können wir den Fall intern doch schließen. Das NYPD stellt keine Ermittlungen an, weil wir diese übernommen haben.“

„Ich weiß“, stimmte Decker zu. „Normalerweise würden wir alles über interne Berichte laufen lassen, alle Beweise dokumentieren und den Fall mit einem Verweis zu den Organisations-Akten schließen. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft von der Sache Wind bekommen.“

„Was?“

„Wir wissen nicht, wie sie darauf gekommen sind, aber sie werfen uns vor, nicht objektiv zu handeln. Sie haben komplette Einsicht zu der Ermittlung gefordert.“

James schluckte. „Wir müssen kooperieren…“

„Das heißt aber auch, dass Sie nicht mehr Teil der Ermittlungen sind.“

„Agent Akai hat recht. Momentan bist du unsere einzige Schwachstelle diesbezüglich. Was wir dir heute gesagt haben, bleibt ein reiner Freundschaftsakt. Aber du musst dich aus allen weiteren Ermittlungen raushalten. Du darfst dich aber trotzdem mit Jodie treffen.“

„Ich…ich verstehe. Und…wie geht es weiter?“, wollte James leise wissen.

„Wir werden alle Vorschriften genauestens befolgen. Und das heißt, dass wir die Wahrheit finden müssen – egal wie sie auch aussieht.“

„Danke“, wisperte James. „So wie ihr ausseht, gibt es noch mehr Hiobsbotschaften.“

„Agent Fallon und Jackson haben die Leiche überprüft. Alle Ergebnisse bestätigen, dass es sich um Sharon Vineyard handelt. Sie ist tot und die Medien sind immer noch in Aufruhr. Fans haben sich vor ihrem Hotel und dem Leichenschauhaus versammelt. Sie legen Blumen und Teddybären ab, zünden Kerzen an und versammeln sind. Was auch immer die Organisation vor hatte, sie haben Sharon Vineyard dafür geopfert. Ganz bewusst“, entgegnete Decker. „Chris Vineyard ist bereits auf den Weg nach New York. Vielleicht erfahren wir, ob ihre Mutter krank war, weswegen sie bei dem Plan der Organisation mitmachte. Trotzdem mache ich mir wenig Hoffnung, auch weil wir Chris in ein paar Details einweihen müssen…“

„Oh nein…“

„Es ist noch nicht vollkommen verloren“, warf Akai ein. „Ich war in der Detektei und hab noch weiteren Wanzen gesucht. Es gab leider keine, aber ich hatte bereits an jenem Abend welche sichergestellt. Wir prüfen die Fingerabdrücke und vielleicht können wir diese mit Sharon in Verbindung bringen. Außerdem haben wir die Aussage von Daniel – einem der Ermittler. Er kann bezeugen, dass Jodie mit Milena zu sich nach Hause ging. In der Nähe der Detektei gibt es einen kleinen Supermarkt mit Videoüberwachung, auch vom Außengebiet. Wir haben die Beiden auf dem Video. Mit einem Zeitstrahl können wir nachweisen, dass Sharon Jodie in eine Falle lockte. Im Tagebuch stand nichts dazu, dass Jodie die Verkleidung durchschaute, das heißt, wir können den Tatbestand des Vorsatzes entkräften.“

„Das ist gut“, murmelte James.

„Allerdings heißt das nicht, dass Jodie die Schauspielerin nicht anders in ihre Wohnung gelockt hat. Sharon Vineyards Manager gab an, dass sie komische Briefe bekommen hat. Alle ohne Absender und nur mit dem Satz: Ich kriege dich. Sie haben die Sicherheitsmannschaft bei den Dreharbeiten verstärkt und Sharon nie allein ins Hotel fahren lassen. Die Polizei haben sie allerdings nicht eingeschaltet“, sagte Decker.

„Vermutlich, weil dann jeder ein Auge auf sie geworfen hätte.“

Der ältere Agent nickte. „Und weil sie sonst nicht ihren Plan hätten umsetzen können. Wir haben bereits Fingerabdrücke genommen und gleichen sie ab. Da Sharon eine Frau des öffentlichen Lebens war, irritiert es niemanden, dass das FBI den Fall untersucht. Noch wurde kein Zusammenhang zwischen Jodie und Sharon hergestellt. Und das soll auch so bleiben.“

„Natürlich“, nickte James. „Was ist mit Tripton? Wir haben doch seine Aussage, dass jemand Jodie bedroht hat.“

„Haben wir. Und als es passiert war, war er bei dir. Aber auch das könnte man als geplant ansehen, wenn man wollte. Die Vernehmung wegen der Waffe und seiner Mitschuld ist noch offen.“

„Immer noch?“

„Wir sind nicht davon ausgegangen, dass er untertaucht, und haben uns erst einmal auf andere Bereiche fokussiert.“ Sein Handy klingelte und Decker zog es aus der Hosentasche. Er las die eingehende Nachricht.

„Was ist?“

„Ich bat den Agenten vor Jodies Tür mir Bescheid zu geben, wenn Besuch kommt.“

James fürchtete sich davor zu fragen, wer bei Jodie war.

„Tripton ist bei ihr.“

Sofort riss Akai die Tür auf und alle drei Männer liefen los.

Inoffizielle Befragung

Die drei Männer liefen, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Als sie vor Jodies Krankenzimmer ankamen, schob Akai den Agenten zur Seite und riss die Tür auf. Sofort traten alle drei ein.

„Tripton! Sofort raus hier“, befahl Agent Decker.

Roy und Jodie tauschten Blicke aus. Sie verstanden nicht, was auf einmal passiert war. „Aber warum?“, wollte Roy wissen.

Akai ging zu Roy und zog ihn auf die Beine. „Mitkommen.“

Ehe er sich versah, stand er zusammen mit Shuichi außerhalb des Krankenzimmers.

„Bleib du bei ihr“, sagte Decker zu James und ging ebenfalls nach draußen.

James nickte und schloss die Tür. Er lehnte sich gegen diese und atmete tief ein und wieder aus. Er beobachtete Jodie. „Worüber habt ihr gesprochen?“

Verschreckt hatte Jodie die Bettdecke enger an sich gezogen. „Ich…habe mich bei ihm entschuldigt, weil…ich damals verschwunden bin“, begann sie. „Und…ich habe ihm erzählt, wie ich mit Ed wieder nach New York kam und…wer Ed ist. Roy hat…mir mein Verhalten verziehen. Dann hat er mir erzählt, dass er…erpresst wurde und…,dass man ihm gedroht hat, mir etwas anzutun. Er sagte, er hätte es dir auch erzählt…als ich mit Sharon in der Wohnung war…“

James nickte verstehend. „Und worüber habt ihr danach gesprochen?“

„Das wars. Danach seid ihr hier reingestürmt.“

James fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. „Gott sei Dank“, murmelte er. „Roy darf dich vorerst nicht besuchen. Du darfst mit keiner Person über die Geschehnisse von jenem Abend sprechen. Wenn du zum Tatabend befragt wirst, sagst du nichts ohne deinen Anwalt oder ohne mich.“

Sie sah ihn irritiert an. „James, was…was ist passiert? Du machst mir Angst.“

Er ging zu ihr und setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Bett. Der Agent blickte auf den Monitor. Ihr Herzschlag ging gleichmäßig und die Ärzte gaben ihr eine gute Prognose. Außerdem ging es der jungen Frau bereits deutlich besser. Dennoch haderte er mit sich selbst. Sollte er ihr tatsächlich die Wahrheit sagen oder eine Lüge auftischen? Andererseits wollte er ihr neuerliches Wiedersehen nicht mit einer Lüge aufbauen. „Es sieht so aus, als hätte man dich in eine Falle gelockt. Alles, was passiert ist, schien geplant gewesen zu sein.“

„W…wie meinst du das?“

„Damit du alles verstehst, muss ich am Anfang anfangen“, sprach er ruhig. „Das FBI ist schon seit einigen Jahren hinter Sharon Vineyard her. Um ehrlich zu sein, hat dein Vater bereits gegen sie ermittelt, was…ihm letzten Endes das Leben gekostet hat. Wir wussten schon damals, dass sie es war. Wir haben dir nichts gesagt, weil wir wollten, dass du ein normales Leben führst. Hättest du gewusst, wer sie ist, hätte es dich noch mehr zerstört. Du hättest versucht sie zu finden und…wer weiß, was dann passiert wäre…“

„Das ist nicht wahr.“ Jodie kämpfte gegen die Tränen. „Nicht zu wissen, wer sie war, hat meine Kindheit zerstört. Ich habe mich immer umgesehen und hatte Angst, dass sie wieder auftaucht, um mich umzubringen. Da war es auch egal, dass mich Agenten immer im Blick hatten, abholten und überall hingefahren haben. Es war eine furchtbare Zeit. Und wenn ich gewusst hätte, wer sie ist, hätte ich nicht so lange nach ihr gesucht. Ich bin regelmäßig zu euch ins Büro und ihr habt mich angelogen und ich habe mich zum Affen gemacht. Ich wäre doch nicht einfach so drauf losgestürmt.“

„Das weißt du nicht. Du bist seine Tochter. Du hättest möglicherweise irgendwas getan, was dich in Gefahr gebracht hätte. Vermutlich hättest du uns helfen wollen und…dich deswegen zur Zielscheibe gemacht. Damals waren wir uns sicher, dass sie dich nicht anrühren würde. Du warst in der Obhut des FBIs und…,wenn dir etwas passiert wäre, hätte es jeder in Frage gestellt. Es tut mir leid, Jodie, wir haben es damals für das Richtige gehalten. Ich wünschte, ich könnte es wiedergutmachen.“

„Das war es aber nicht“, wisperte sie. „Ich habe sie gesucht und es gab auch Tage, an denen ich große Angst hatte.“

„Es tut mir so leid.“ James sah auf den Boden. „Wir wussten allerdings schon damals, dass sie nicht allein arbeitet. Du hast von Tripton gehört, dass…er erpresst wurde. Wir vermuten, dass sie mit Sharon Vineyard zusammenarbeiten. Verstehst du? Es war nicht nur Sharon, die dich im Visier hatte.“

„Es war…also alles geplant…“ Nun kam auch Jodie zu diesem Schluss.

„Ja“, murmelte Black.

„Dann…dann lebt sie noch?“

James schüttelte den Kopf. „Das FBI hat die Leiche überprüft. Es gibt keinen Zweifel…sie ist es. Sie haben sie geopfert. Viel kann ich dir nicht sagen, denn ich bin von den Ermittlungen ausgeschlossen worden.“

„Was…warum?“

„Ich stehe dir viel zu Nahe“, antwortete James. „Aber wir kriegen das schon hin. Mir dürfen die Kollegen zwar nicht viel sagen, aber ich weiß, wo wir ansetzen können.“

„Und…was darfst du mir sagen?“

„Es gibt Beweise“, fing er an.

„Beweise?“ Jodie malte sich bereits das schlimmste aus. Welche Beweise gab es? Und was hieß es für sie?

„Hast du…ein Tagebuch geschrieben?“

„Naja…“, murmelte Jodie. „Ich habe…ein Notizbuch…und dort ein paar Einträge geschrieben…was ich alles herausgefunden habe, was ich fühle, wie es weiter gehen soll…und so was.“

„Mhm. Hast du auch reingeschrieben, was du mit Sharon Vineyard machen würdest, wenn du sie finden würdest?“

„Was? Nein, habe ich nicht. Warum sollte ich das machen?“

„Dann hast du auch nicht geschrieben, dass du sie…umbringen würdest?“

„Natürlich nicht“, gab Jodie von sich. „Ich weiß doch erst seit einigen Tagen von ihr und…warum sollte ich sie umbringen wollen? Ich will…ich wollte, dass sie hinter Gittern kommt. Wie kommst du darauf, dass ich sie umbringen wollen würde?“

„Wegen deinem Notizbuch. Es wurde auf dem Wohnzimmertisch gefunden und…die Einträge waren eindeutig.“

Jodie schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. So etwas habe ich nie geschrieben. Außerdem ist mein Notizbuch im Schlafzimmer in der Nachttischschublade. Ich hatte nie vorgehabt, sie umzubringen.“

„Das weiß ich“, entgegnete James. „Hast du…Roy schon früher getroffen?“

„Nein“, antwortete Jodie. „Wir haben uns heute das erste Mal nach Jahren wiedergesehen. Das musst du mir glauben.“

„Ich glaube dir ja. Aber ich muss das fragen.“ Er sah sie an. „Hast du…zu Hause eine Waffe?“

„Nein“, gab Jodie von sich. „Ed hat immer wieder Schießtraining mit mir machen wollen, aber ich konnte keine Waffe halten. Es ging einfach nicht. Ich habe immer wieder Panik bekommen oder bin in Tränen ausgebrochen. Und…als sie mir die Waffe in die Hand drückte, habe ich ähnlich reagiert.“

„Verstehe“, murmelte James. „Dann…hast du auch nichts mit Roy abgesprochen?“

„Nein, das sagte ich doch schon“, meinte sie. „Willst du mir etwa sagen, dass man mir vorwirft, dass ich alles geplant habe? Zusammen mit Roy? Das habe ich nicht. Wenn es Beweise gibt, wurden diese gefälscht.“

„Das dachte ich mir schon, allerdings…muss ich dir diese Fragen stellen. Und bei deiner Befragung werden ebenfalls diese Fragen gestellt. Wir müssen dich darauf vorbereiten. Allerdings wird es schwer werden die Beweise zu widerlegen.“

Jodie sah auf ihre Hände. „Als ich bei Ed war, habe ich auch ein paar Recherchen unternehmen dürfen. Ich kenne unser Rechtssystem und…,wenn du so mit mir sprichst, weiß ich, dass es nicht gut für mich aussieht. Vielleicht sollten wir separate Ermittler darauf ansetzen? Ed…kennt bestimmt gute Leute.“

James griff nach ihren Händen. „Wir kriegen das hin, Jodie. Du musst uns nur vertrauen. Die Beweislage ist zwar erdrückend, aber es gibt auch Widersprüche. Wir müssen den Tatabend rekonstruieren und die Fehler in ihrem Plan aufdecken. Das wird schon. Akai ist bereits dran.“

„Akai…“, murmelte Jodie. „Das ist…der Japaner vom Friedhof. Er…war vorhin auch im Raum.“

James nickte. „Ja, er ist ein fähiger Agent. Ich vertraue darauf, dass er die Wahrheit herausfindet.“

„Also…,wenn er mich was fragt, soll ich ihm alles sagen, was ich weiß?“ Sie hatte Angst vor dem ersten richtigen Treffen mit dem Agenten.

„Ja, er ist vertrauenswürdig. Und…“ James räusperte sich. „Wenn du offiziell befragt wirst, musst du die Wahrheit sagen. Denk dir nichts aus, denn das finden die Agenten heraus. Erzähl immer nur die Wahrheit oder…,wenn es dich selbst belastet, schweige. Wir werden alles mit dir durchgehen und ein wenig üben. Du musst keine Angst haben.“

„Danke…“

Zur gleichen Zeit stand Roy zusammen mit Akai und Decker vor dem Krankenzimmer. Der Agent war immer noch irritiert. „Was geht hier vor?“

Shuichi lehnte sich gegen die Tür und unterband damit, dass Roy in das Zimmer gehen konnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben es doch gehört. Sie dürfen erst einmal nicht mit Jodie sprechen.“

„Sie wurden zum Tathergang noch nicht befragt, Agent Tripton“, begann Decker. „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie sich für die Befragung jederzeit zur Verfügung stellen müssen. Außerdem ist Ihnen untersagt, mit Jodie Starling zu sprechen. Haben Sie das verstanden?“

„Äh…ja…“, gab er von sich. „Aber ich versteh nicht… Moment, Sie glauben, ich würde mich mit Jodie absprechen? Und worüber? Darüber was ihr passiert ist? Sagen Sie mir nicht, dass Sie denken, ich hätte versucht Jodie umzubringen. Das stimmt nicht. Ich liebe…ich liebte sie und sie ist mir immer noch wichtig. Und als das mit Jodie passiert ist, war ich bei Agent Black. Er kann Ihnen das bestätigen.“

„Agent Tripton, atmen Sie erst einmal tief durch. Ihnen möchte hier keiner etwas unterstellen. Wir möchten nur mit Ihnen reden. Dies ist keine offizielle Befragung. Sie können uns also die Wahrheit sagen, außer Sie belasten sich selbst“, entgegnete der Ältere.

„Sind Sie für unser Gespräch bereit?“

„Ja, das bin ich.“

„Agent Tripton als Jodie Starling angeschossen wurde, waren Sie bei Agent Black. War das, um ein Alibi zu haben?“

„Was? Nein, natürlich nicht“, sprach Roy. „Agent Akai hatte herausgefunden, dass ich Jodie geholfen habe. Er gab mir die Chance das selbst Agent Black zu sagen. Dann…bin ich angerufen worden und man hat…Jodies Leben bedroht. Ich war deswegen bei Agent Black, um ihn zu warnen. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wo sich Jodie aufhält. Das ist die Wahrheit.“

„Sie sagen also, dass Sie vorher keinen Kontakt mit Jodie hatten?“

„Ja, das sage ich“, sprach er. „Ich habe von Jodies Anwesenheit in New York erst durch Agent Black erfahren…als er angerufen wurde. Ich habe Jodie über zwei Jahre nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war in London, Ohio.“

„Gut“, nickte Decker. „Was ist mit Ihrer Waffe? Vermissen Sie sie?“

„Nein, ich trage sie während der Arbeit bei mir. Moment, ich hole sie raus.“ Er öffnete seine Jacke und zog die Waffe aus dem Holster hervor. „Hier, sehen Sie? Das ist meine Waffe.“

Decker zog sich Handschuhe über und nahm die Waffe entgegen. Er prüfte sie. „Die Seriennummer ist abgefeilt. Das ist definitiv nicht Ihre Waffe.“

„Was?“ Roy konnte es nicht glauben und trat vor. Er blickte an die Stelle, wo sich die Seriennummer befand. „Ab…gefeilt. Aber…das kann…nur heißen das…“

„Die Waffe möglicherweise in einem Verbrechen benutzt wurde“, fügte Akai hinzu.

„Wenn Sie die Waffe einstecken, prüfen Sie die Seriennummer?“, wollte Agent Decker wissen.

„Nein.“ Roy schluckte. „Das…mach ich nie. Ich stecke sie zu Hause in meinen Safe und nehme sie am nächsten Morgen wieder raus. Oh Gott, ich habe nicht bemerkt, dass sie ausgetauscht wurde.“

Decker runzelte die Stirn. „War jemand in den letzten Tagen in Ihrer Wohnung?“

„Nein…äh doch. Die Gasableser waren da, aber nicht nur bei mir. Das war…einen Tag bevor das mit Jodie passiert ist.“

„Mehrzahl? Es waren mehrere Personen?“

„Ja, zwei Männer“, antwortete Roy.

„Und Ihre Waffe war zu diesem Zeitpunkt im Safe?“

„Ja.“

„Haben Sie die Männer irgendwann allein gelassen?“

„Natürlich. Die Beiden haben sich getrennt, um schneller fertig zu werden. Ich hatte nicht geahnt, dass sie meine Waffe haben wollen. Aber sie war im Safe. Sie hätten…den Code kennen müssen.“

Decker sah zu Akai.

„Ich prüfe das“, nickte der Agent.

„Wissen Sie…wo meine Waffe jetzt ist?“

Agent Decker seufzte. „Ihre Waffe ist als Tatwaffe verwendet worden. Genauer gesagt wurde sie verwendet, um Jodie anzuschießen und…eine andere Frau zu erschießen. Die Fingerabdrücke sind eindeutig. Den Beweisen nach, sieht es so aus, als wäre Jodie die Täterin.“

„Und durch den Einsatz Ihrer Waffe, sind Sie jetzt zum Komplizen aufgestiegen“, entgegnete Akai ruhig.

„Oh Gott…Jodie war das nicht. Sie würde so etwas nicht tun. Das kann sie gar nicht. Sie hatte schon damals Probleme damit, eine Waffe zu halten. Das kann sich in zwei Jahren nicht geändert haben. Außerdem…ist sie so nicht. Sie ist lieb und möchte Menschen helfen.“

„Die Beweise sprechen leider gegen Sie zwei.“

Roy schluckte. „Und…was machen wir? Das FBI könnte doch…“

„Nein, wir können das nicht einfach so als Unfall abtun. Die Staatsanwaltschaft ist auch schon auf den Fall angesetzt. Wir ermitteln und müssen zunächst den Tathergang rekonstruieren. Wir werden herausfinden, was passiert ist.“

„Ich werde…alles tun, um zu helfen.“

„Gut, ich rufe jemanden zur Befragung her. Und Agent Tripton? Besorgen Sie sich sicherheitshalber einen Anwalt. Bleiben Sie aber bitte bei der Wahrheit. Es wird…schon gut ausgehen. Ich begleite Sie bei der Befragung. Sie sind nicht allein.“

„Ja, Sir.“

„Agent Akai? Sie halten hier die Stellung?“

„Natürlich.“

Ahnungslos

Sie waren nie allein im Zimmer. Anfangs war es nur ein Zufall, aber mit der Zeit achteten sowohl Jodie als auch Shuichi darauf, dass mindestens eine weitere Person im Raum war. Noch immer fürchtete sich Jodie vor dem Agenten, obwohl sie ihn gar nicht kannte. Er war weder gemein noch fies zu ihr, aber seine Anwesenheit reichte aus, damit sie sich unwohl fühlte. Glücklicherweise war Shuichi aufmerksam genug, um zu merken, dass es besser war, sie mit seiner Anwesenheit nicht zu überfordern. Er ahnte, dass es daran lag, dass er Japaner war und sie glaubte, dass einer von Sharon Vineyards Freunden hinter ihr her war. Sie vertraute ihm noch nicht so ganz, auch wenn sich James für ihn aussprach. Für Shuichi war ihr Verhalten nicht schlimm, schließlich würden sie sich bald nicht mehr wiedersehen. Sie gehörte zu seinem Auftrag und danach würden sich ihre Wege wieder trennen. Sie würde ihr Leben weiterleben, wie auch immer es aussah und er würde weitere Fälle vom FBI übernehmen, vielleicht würde er sogar weiter gegen die Organisation ermitteln.

Doch jetzt lag sein Fokus auf Jodie und dem Plan der Organisation. Nach allem, was er mittlerweile wusste, kam es ihm komisch vor, dass sie Sharon Vineyard einfach so geopfert hatten. Sie hatte besondere Fähigkeiten und zahlreiche Kontakte. Abermals war er sämtliche Unterlagen durchgegangen, Berichte von Kollegen, Berichte aus dem Krankenhaus, die Aussage des Managers, von Schauspielern und auch die Aussage von Jodie. Es gab nichts, was den Tod von Sharon Vineyard rechtfertigte oder widerlegte. Und trotzdem überkam den Agenten ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl, das ihm sagte, dass irgendwas nicht stimmte. Irgendwas hatte er übersehen. Er wusste nur nicht was.

Und dann war da noch die Staatsanwaltschaft, die ihnen im Nacken saß. Sie ermittelten ebenfalls im Fall des Todes von Sharon Vineyard. Zwar wurde dieser nach außen hin als Unfall getarnt, aber im Inneren drehten sich die Rädchen. Sie hatten allerdings Glück, dass sie eine gute Vertrauensbasis mit den Anwälten hatten und einander kannten. Bei den Ermittlungen und Anklagen der Täter standen sie bisher immer auf der gleichen Seite. Jetzt sah es anders aus, doch dieses Verhältnis würde ihnen die Chance einräumen einen Deal auszuarbeiten. Dafür musste noch einiges getan werden.

Noch im Krankenhaus hatte Jodie ihre offizielle Aussage gemacht und war bei der Wahrheit geblieben. Wie versprochen hatte James ihr eine gute Anwaltskanzlei vermittelt. Mittlerweile fanden mehrere Treffen zwischen ihnen statt, bei denen sie bislang allerdings nur die Beweislage gesichtet hatten. Die Besprechung von Jodies Möglichkeiten fand allerdings nun statt. Damit sie nicht nur das Krankenhaus sah, organisierte James den Transport ins Büro. Gemeinsam mit Black hatte Shuichi Jodie vom Krankenhaus abgeholt und für ihre Sicherheit gesorgt. Er half ihr außerdem aus dem Rollstuhl und wieder in diesen hinein – auch wenn sie es selbst machen wollte. Doch sie hatten genaue Anweisungen vom Krankenhaus und Jodie sollte sich weder überanstrengen noch aufregen. Letzteres war kaum einzuhalten, wenn man wusste, worum es in dem Gespräch gehen würde.

Nachdem Shuichi die Beiden in den Konferenzraum begleitet hatte – in welchem der Anwalt bereits wartete – zog er sich in sein eigenes Büro zurück. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und überprüfte seine E-Mails. Noch war nichts angekommen, doch es war nur eine Frage der Zeit. Er schloss die Augen und dachte an die Befragung von Chris Vineyard in den frühen Morgenstunden.
 

Sie war vor einigen Tagen nach New York gekommen und hatte sich um die Vorbereitungen für die Beerdigung ihrer Mutter gekümmert. Außerdem erledigte sie den Papierkram, der anfiel, gab Interviews und kontaktierte alte Bekannte. Sie war zwar in Japan eine Berühmtheit, aber die amerikanischen Fans waren auch nicht zu unterschätzen. Auch wenn viele nur wegen ihrer Mutter an ihr interessiert waren, blieb Chris dennoch professionell. Die Fans kreischten und beteuerten ihr Beileid am Flughafen. Einige folgten ihr sogar bis zum Hotel, aber die Leibwächter ihrer Mutter hielten jeden in Schach. Selbstverständlich hatte auch das FBI jemanden abgestellt, um die junge Frau zu beobachten. Sollte Chris wie ihre Mutter mit der Organisation in Verbindung stehen, mussten sie es früh wissen. Doch Chris gab ihnen keinen Anlass für diese Annahme. Sie verhielt sich – für eine Trauernde – normal. Einige Tage später wurde sie zur Befragung ins Büro gebeten. Sie lehnte ab und gab an, dass Fans und Medien jeden ihrer Schritte verfolgten und sie nicht wollte, dass der Tod ihrer Mutter mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht wurde. Stattdessen schlug sie vor, dass die Befragung an einem neutralen Ort stattfinden konnte.

Agent Decker hatte dem Vorschlag zugestimmt, denn er wollte nicht, dass eine Hexenjagd ausbrach. Hätten die Medien von der Verbindung des FBIs zur Verdächtigen erfahren, stünde die Integrität des FBIs in Frage und es wäre alles in einem Fiasko geendet. Um die Zügel in der Hand zu halten, hatte das FBI ein Zimmer im Hotel gebucht und dort alles für die Befragung vorbereitet. Shuichi und James – der trotz allem nicht ausgeschlossen werden wollte – hatten sich im Schlafzimmer verschanzt und die Befragung durch eine Kamera im Raum beobachtet. Sie konnten ihnen vor Gericht helfen und wurden mit Erlaubnis der Schauspielerin aufgenommen. Die Befragung selbst führte Agent Decker durch, während Chris durch den Manager ihrer Mutter betreut wurde. Außerhalb des Zimmers waren zwei Leibwächter von Sharon positioniert. Im Erdgeschoss des Hotels warteten Ed und die Agenten Fallon und Jackson.

Nachdem Agent Decker die Kamera anschaltete, aktivierte er auch das Diktiergerät. Er nannte das Datum und die Namen aller Anwesenden, sowie derer, die durch die Kamera zusehen. „Miss Vineyard, danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit uns zu sprechen. Das ist eine offizielle Befragung, da wir den Todesfall Ihrer Mutter untersuchen. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie das Recht haben zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen sie verwendet. Sie haben das Recht zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Verstehen Sie Ihre Rechte?“

Chris nickte.

„Sie müssen es bitte sagen, Miss Vineyard.“

„Ja, natürlich. Entschuldigung“, entgegnete sie. „Ja, ich verstehe meine Rechte.“

„Heute möchten wir mit Ihnen über den Tod Ihrer Mutter sprechen. Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit ihr?“

Chris überlegte. „Das müsste zwei Tage vor ihrem Tod gewesen sein. Wir haben telefoniert. Es ging ihr gut.“

„Hatte Ihre Mutter Feinde?“

Chris lachte, wurde dann aber traurig. „Sie ist Schauspielerin. Was denken Sie? Sie sollten das Wort Feind definieren. Natürlich gab es Menschen, die sie gehasst haben. Für ihren Ruhm, ihr Aussehen, ihre Fertigkeiten und einige andere Sachen. Sie hat auch Schauspielkollegen Rollen weggeschnappt. Das ist ganz normal in unserem Geschäft. Aber ob einer von denen Grund hatte, sie umzubringen, weiß ich nicht.“

„Hat Sie Ihnen je von einem Stalker erzählt oder dass sie komische Nachrichten bekommen hat?“, wollte Decker wissen.

„Nein. Aber das hat sie nie getan“, antwortete Chris. „Auch nicht in Japan. Sie hat immer versucht, so etwas von mir fernzusehen, damit ich mir keine Sorgen mache. Und ich habe genau das gleiche getan, wenn…es jemanden gab, der mir auf die Pelle rückte.“

„Verstehe. Sie sind vor einigen Jahren nach Japan gezogen. Kennen Sie die Gründe dafür?“

„Japan war ihre Zweitheimat. Sie war mit meiner Großmutter oft dort und es gibt viele, die meine Familie kennen. Als mein Vater gestorben ist, war ich noch ein kleines Mädchen. Meine Mutter brauchte einen Neuanfang und ich auch. Japan tat mir gut und ich konnte als Schauspielerin erblühen.“

„Gab es in Japan jemanden, der Ihrer Mutter den Tod wünschen würde?“

Chris seufzte. „Wie gesagt, als Schauspielerin hat man viele Personen, die einen hassen. Bevor Sie weiter fragen, nein, mir fällt keine Person ein, die es auf meine Mutter abgesehen haben könnte.“

Decker machte sich Notizen. „Warum kam Ihre Mutter wieder nach New York?“

„Sie hatte ein Angebot für eine Filmreihe bekommen und wollte unbedingt dort mitspielen. Das Projekt sollte ein halbes Jahr gehen. Wer hätte gedacht, dass sie schon nach nur wenigen Wochen…sterben würde…“

„Mein Beileid“, sprach Decker. „Gab es in New York jemanden, den Ihre Mutter besuchen wollte?“

„Sie hatte hier ein paar Freunde. Allerdings hat sie mir nicht erzählt, ob sie jemanden getroffen hat.“

„Ist Ihnen bekannt, ob Ihre Mutter in der Vergangenheit Probleme hier hatte?“

„Nein, mir ist nichts bekannt“, antwortete die Schauspielerin. „Es hieß, dass der Tod meiner Mutter ein Unfall war. Wenn Sie mir solche Fragen stellen, gehen Sie von einem…Mord aus?“

„Wir prüfen in alle Richtungen und führen mit mehreren Personen Befragungen durch, um uns ein besseres Bild zu machen. Wir informieren Sie natürlich, wenn unsere Ermittlungen ergeben sollten, dass es kein Unfall war.“

Chris zögerte. „Wenn…,wenn es kein Unfall war, müssen Sie den Mörder finden. Komme was wolle. Er muss seine gerechte Strafe bekommen. Ich bin bereit, Sie mit finanziellen Mitteln zu unterstützen.“

„Danke, Miss Vineyard, aber letzteres wird nicht nötig sein“, entgegnete Decker. „Sie sind sehr gefasst dafür, dass Ihre Mutter tot ist.“

„Fassade“, sprach sie. „Ich habe gelernt, wie ich mich geben muss und was von mir erwartet wird. Außerdem…möchte ich nicht vor Fremden zusammenbrechen. Deswegen gehe ich sachlich an die Sache heran.“

„Verstehe. Bitte erlauben Sie mir noch einige Fragen.“
 

Der Ton einer eingehenden E-Mail führt dazu, dass Shuichi seine Augen wieder öffnete. Er rief die Nachricht auf und las sich das Ergebnis der weiteren Untersuchung durch. „Ich wusste es“, murmelte er. Er druckte das Ergebnis aus, nahm den Zettel und verließ das Büro. Camel sah ihm nur irritiert nach.

Zur gleichen Zeit saßen James, Jodie und Dr. Hunter im Konferenzraum. Der Anwalt beobachtete Jodie und sah dann wieder zu seinen Akten. „Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Der Fall ist nicht einfach. Es gibt viele Beweise, die gegen Sie sprechen, Miss Starling. Wir haben zwar einige Widersprüche, die wir nutzen können, allerdings…“

„Allerdings?“, begann James.

„Allerdings sieht es nicht gut für Sie aus. Wenn der Fall vor Gericht geht, müssen Sie auf das Wohlwollen des Richters hoffen. Ehrlich gesagt, ist die Beweislast erdrückend und Sie sind die einzige Zeugin. Außerdem ermittelt auch die Staatsanwaltschaft gegen Sie. Daher haben Sie nur drei Optionen. Nummer eins: Sie bekennen sich schuldig.“

Jodie schluckte und rutschte in ihrem Rollstuhl hin und her.

„Was hätte das für Konsequenzen für Jodie?“, wollte James wissen.

„Auch als Ersttäterin würde sie zu einer Haftstrafe verurteilt werden. Mit Reue könnten wir die Dauer reduzieren und bei guter Führung ist eine frühzeitige Entlassung nicht ausgeschlossen. Alternativ könnten wir versuchen, sie für Unzurechnungsfähig zu erklären. Dann ist es zwar keine Haftstrafe, aber ein längerer Aufenthalt in einer Psychiatrie.“

„Über wie viele Jahre reden wir?“, fragte der Agent.

„Die Haftstrafe? Zwischen zwei und zwanzig Jahre. Der Aufenthalt in einer Psychiatrie kann genau so lange festgelegt werden. Vielleicht sogar auf lebenslänglich.“

James weitete die Augen. „Nein, dass…das dürfen wir nicht…“

„Die Chancen stehen gut, dass Miss Starling keine so lange Haftstrafe erhalten würde“, antwortete der Anwalt.

„Das war eine Option. Was sind die anderen?“, fragte James.

„Nun“, fing er an. „Unter gewissen Umständen wäre ein Deal mit der Staatsanwaltschaft möglich. Allerdings müssten Sie ihnen etwas Gutes anbieten. Und…ich weiß nicht, ob das in Ihrem Fall möglich ist. Andererseits scheint das FBI involviert zu sein und möchte Sie vor einer Haftstrafe bewahren. Das verschafft uns bessere Karten. Wenn Sie möchten, spreche ich mit dem Staatsanwalt.“

„Verstehe“, murmelte James. „Was ist die letzte Option?“

„Jemand anderes bekennt sich zu der Tat und nimmt die Schuld auf sich. Was das angeht, hat Agent Tripton bereits mit meinem Kollegen Hendriks gesprochen.“

Jodie wurde blass. „Was…wollen Sie mir sagen?“

„Agent Tripton wird sich zu der Tat bekennen. Seine Fingerabdrücke sind auf der Tatwaffe sichergestellt worden. Keiner wird etwas hinterfragen. Sie werden lediglich als Kollateralschaden aufgeführt. Er hat allerdings gefordert, dass wir die Sache mit Ihnen besprechen. Erst mit Ihrer Zustimmung werden wir die genauen Aussagen ausarbeiten.“

„Nein, dass…darf er…nicht“, wisperte Jodie. „Er hat…nicht…er hat…nicht…“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde…nicht lügen…“

„Jodie“, sagte James lese und griff nach ihrer Hand. „Ich verstehe dich ja und mir ist auch nicht wohl dabei. Aber du hast Dr. Hunter gehört, wenn du verurteilt wirst, musst du ins Gefängnis. Außerdem…kannst du danach einige Berufe nicht mehr ergreifen und wirst es schwer im Leben haben. Deswegen…“ Er brach ab, denn er wusste nicht, was die richtigen Worte waren.

„Nein!“

Ehe James etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür und ein Agent kam rein. „Agent Black? Bitte entschuldigen Sie die Störung. Agent Decker möchte Sie so schnell wie möglich in seinem Büro sehen. Wenn es geht, soll ich Sie direkt mitbringen.“

James blickte zu den Anwesenden.

„Miss Starling, Sie haben Ihre Optionen gehört. Ich tendiere zu Option drei in Kombination mit Option zwei. Das ist der Wunsch von Agent Tripton. Denken Sie darüber nach. Wir können uns auch gern gemeinsam Treffen und über das weitere Vorgehen sprechen.“ Er lächelte leicht. „Agent Black, melden Sie sich doch mit einem neuen Terminvorschlag bei meiner Kanzlei.“

„Danke“, nickte der Agent und sah zu Jodie. „Ich bringe dich in mein Büro. Bitte warte dort auf mich, ich komme so schnell wie möglich zurück.“

„Okay“, murmelte Jodie und sah nach unten. Konnte Sie damit Leben, dass Roy sein Leben zerstörte, indem er die Schuld auf sich nahm?

Fingerabdrücke

Nachdem er Jodie in sein Büro gebracht und ihr ein Lehrbuch zum Lesen hingestellt hatte, begab sich James auf den Weg in das Büro von Agent Decker. Er klopfte an die Tür und trat ein. „Du wolltest mich sprechen“, wandte er sich an seinen Kollegen und war gleichzeitig überrascht, Akai im Raum zu sehen.

Decker nickte. „Entschuldige, dass ich dich aus eurem Treffen holen ließ. Setz dich doch und erzähl uns, wie das Gespräch bisher lief.“

James schloss die Tür und ging zum zweiten freien Platz vor dem Schreibtisch. Er setzte sich. „Naja…eigentlich lief es so, wie ich es erwartet hatte. Die Beweise sprechen gegen Jodie, auch wenn es Widersprüche gibt. Und Jodies Optionen sind…ziemlich ernüchternd. Wenn der Fall vor Gericht verhandelt wird, muss sie auf die Gunst des Richters hoffen. Als Tochter eines FBI Agenten – auch wenn dieser bereits seit Jahren tot ist – könnte es passieren, dass man an ihr ein Exempel statuieren möchte. Natürlich gilt die Unschuldsvermutung, allerdings ist Jodie die einzige Zeugin und der Großteil der Beweise spricht gegen sie. Sie könnte…sich schuldig bekennen“, murmelte James.

„Aber?“

Der Agent blickte runter zu seinen Händen. „Ihr würde eine Haftstrafe von mindestens zwei Jahren drohen. Vielleicht wird sie auf Bewährung ausgesetzt, aber…die Chance ist gering. Sie könnte auch früher entlassen werden, aber vielleicht auch nicht. Und…wir kennen die anderen Insassen nicht. Vielleicht…tun sie ihr irgendwas an. Das alles möchte ich mir nicht ausmalen. Nicht zu vergessen, dass sie nach dieser Erfahrung wohl nicht mehr in ihr Leben zurückfinden würde. Sie hätte ihre…Berufschancen verspielt und…vielleicht rutscht sie dann ab und…“ Er brach ab.

„Ganz ruhig, James“, begann Agent Decker. „Noch ist es nicht dazu gekommen. Wir tun alles, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Sich schuldig zu bekennen, wird doch nicht ihre einzige Möglichkeit sein, nicht wahr?“

„Nein. Es wäre auch ein Deal mit der Staatsanwaltschaft möglich. Allerdings hat Jodie nichts, was sie ihnen anbieten könnte. Es bestünde allerdings die Chance, dass wir als FBI den Deal mitaushandeln. Vielleicht spielen die Kollegen mit. Und…ihre letzte Option wäre, wenn jemand anderes die Tat auf sich nimmt.“

Akai verengte die Augen. „Der Anwalt geht nicht davon aus, dass sich alles aufklären wird?“

„Nein, wie auch. Die Beweislast spricht eine andere Sprache. Wie sollte man dann noch die Wahrheit belegen können.“

„Und wenn wir davon sprechen, dass sich jemand anderes zu der Tat bekennt, ist Agent Tripton damit gemeint?“, wollte Decker wissen.

„Ja“, murmelte James. „Er wird von Hendriks betreut und…wie es scheint, haben sie schon darüber gesprochen, dass er sich zu der Tat bekennt. Er hat allerdings die Bedingung gestellt, dass Jodie dem zustimmen soll.“

„Lass mich raten, sie stimmt dem nicht zu?“, kam es von Decker. „Agent Tripton hat uns eine Liste erstellt mit allen Vergehen die er, durch die Erpressung, begangen hat. Er wird nie wieder als FBI Agent arbeiten. Solange ihn das FBI nicht anklagt, kommt er um eine Haftstrafe herum. Wenn es sein Wunsch ist, sich der Tat zu bekennen, sollten wir das respektieren. Es wird allerdings sein Leben zerstören.“

Black nickte. „Aber wir können Jodie nicht einfach so übergehen. Wenn sie es nicht will…“

„Was hast du jetzt vor?“

„Wir werden darüber reden müssen. Ich halte es auch für unsere beste Option. Seine Fingerabdrücke sind auch auf der Tatwaffe. Allerdings war er zum Zeitpunkt als alles passiert ist, bei mir. Das heißt zeitlich gesehen, kann er es nicht gewesen sein.“

Decker überlegte. „Das könne zu einem Problem werden. Wenn er – als Agent – zum Schluss kommt, zu lügen, ist das seine Entscheidung. Wenn wir uns dafür entscheiden, die Wahrheit zu verschleiern, sind wir nicht besser als die, die wir jagen. Und ich bin nicht bereit, dass wir diesen Weg gehen.“

Akai war erleichtert, dass sein Vorgesetzter diese Ansicht vertrat. Er selbst wusste nicht, was er getan hätte, wenn das FBI von ihm verlangt hätte, Beweise zu unterschlagen oder zu lügen.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Agent Decker, um die Stille zu unterbrechen.

„Jodie soll noch einmal über alles nachdenken. Wir können auch ein Treffen mit Tripton und seinem Anwalt vereinbaren und über alles sprechen. Das hilft ihr bestimmt weiter.“

„Wo ist sie jetzt?“, fragte Akai.

„Sie wartet in meinem Büro. Ich möchte sie nachher zurück ins Krankenhaus bringen.“

„Sie lassen sie alleine in Ihrem Büro?“ Im Vergleich zu den jüngeren Agenten hatte James das Glück, ein Einzelbüro zu haben.

„Machen Sie sich darum keine Sorgen. Sie wird nicht schnüffeln und wenn…sie würde nichts finden. Außerdem kennt sie die Rechtslage durch ihre Arbeit bei Sherman. Wenn sie beim Durchsuchen des Büros erwischt wird, hat sie ein Problem. Außerdem habe ich ihr ein Lehrbuch dagelassen.“

„Gut“, entgegnete Decker.

James räusperte sich. „Du hast mich aber sicherlich nicht deswegen aus dem Treffen herausgeholt.“ Er sah zu Akai. Seine Anwesenheit musste etwas zu bedeuten haben. „Was ist passiert?“

Decker blickte zu Shuichi. „Agent Akai? Würden Sie Agent Black das erzählen, was Sie mir vorhin erzählt haben?“

„Natürlich“, sagte Shuichi ruhig.

Mit einem Mal war sich James nicht mehr so sicher, ob er die Informationen tatsächlich erhalten wollte.

„Mir kam das Verhalten von Chris Vineyard bei der Befragung sehr seltsam vor. Sie wollte nicht zu uns ins Büro kommen“, begann Akai.

„Weil sie nicht wollte, dass der Tod ihrer Mutter mit einem Verbrechen in Zusammenhang gebracht wird“, entgegnete James. „Was bei ihr vermutlich heißt, dass sie keine negative Presse möchte.“

„Außer es war nur eine Ausrede. Wir haben ihre Schauspielkunst selbst gesehen. Sie hat kaum getrauert und nachdem, was ich über sie gelesen habe, hat sie das Talent ihrer Mutter geerbt. Sie soll sogar noch besser sein als sie. Daher habe ich mir die Frage gestellt, ob sie nicht schon viel eher nach New York kam. Für sie müsste es ein leichtes sein, eine andere Identität anzunehmen.“

James verschränkte die Arme vor der Brust. „Mhm…der Gedanke ist mir bisher noch nicht gekommen. Sie müsste dafür Dokumente gefälscht haben oder sie anderweitig besorgt haben.“ Er stockte. „Sie hätte die Möglichkeiten, wenn sie auch für die Organisation arbeitet…sie könnte auch ein Mitglied sein…“

„Das wäre möglich. Der erste Abgleich aller Passagierlisten hat keine Informationen gebracht. Wir werden den Abgleich wiederholen und dafür auch Namen prüfen, die mit Chris und ihren Rollen in Zusammenhang stehen“, gab Decker von sich. „Sie könnte alles mit ihrer Mutter geplant haben. Wir hatten doch sowieso angenommen, dass sie das alles nicht alleine gemacht hat.“

„Wir sollten überlegen, ob wir Jodie nicht noch einmal befragen. Der Schuss traf sie in den Rücken. Ich bin zwar davon ausgegangen, dass sich der Schütze außerhalb, auf dem gegenüberliegenden Gebäude, befindet, aber vielleicht war er auch in der Wohnung“, entgegnete Shuichi.

„Sie glauben, dass Chris Vineyard der Schütze war und…sich in Jodies Wohnung…“ James schluckte.

„Ja“, stimmte Shuichi zu. „Es gebe zahlreiche Möglichkeit, wie sie in die Wohnung gekommen ist. Vielleicht hat sie sich auf dem Balkon versteckt, vielleicht kam sie rein, nachdem die falsche Milena und Jodie in der Wohnung waren. Vielleicht hat Sharon den Schlüssel nachmachen lassen, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Alles nur Vermutungen. Agent Black, ich möchte Ihnen nicht zu Nahe treten, aber möglicherweise erinnert sich Jodie nicht so genau an jenen Abend.“

James sah ihn an. „Schon gut. Ich weiß, was Sie meinen. Jodie stand vor über 20 Jahren unter Schock und hat sich nicht mehr daran erinnert, dass sie ihren Vater… In ihrem Kopf hat sich die Situation daraufhin ganz anders abgespielt. Es könnte jetzt auch so gewesen sein.“

Decker nickte. „Deswegen müssen wir sehr behutsam mit ihr sein. Wenn es tatsächlich Erinnerungen gibt, die sie verdrängt, müssen wir diese hervorholen.“

„Therapie wäre eine Möglichkeit, allerdings dauert es, bis dadurch die Wahrheit an die Oberfläche kommt“, sprach James. „Hypnose wäre eine Alternative, aber ich kenne niemanden, dem ich was das angeht, vertrauen würde.“

„Mhm…“, murmelte Decker. „Ich auch nicht. Wir könnten die Kollegen fragen.“

„Das sollten wir schleunigst machen. Es gibt zahlreiche Methoden, was passiert sein könnte. Und wir müssen sie alle untersuchen“, sprach Shuichi.

„Im ersten Schritt werden wir noch einmal alle Nachbarn befragen. Ich setzte Camel darauf an. Parallel lasse ich von Montgomery alle Passagierlisten überprüfen. Wir brauchen den Abgleich mit allen Rollen, die Chris Vineyard je gespielt hat.“

„Trotzdem haben wir nichts gegen sie in der Hand“, warf James ein.

„Das stimmt so nicht ganz. Wir haben Beweise gegen Chris Vineyard“, gestand Shuichi.

„Was? Und das sagen Sie mir erst jetzt?“

„James, beruhige dich. Wir haben dich hergerufen, um dir das alles zu erzählen. Agent Akai, erzählen Sie weiter.“

Der Agent nickte. „Wie ich bereits sagte, kam mir das Verhalten von Chris bei der Befragung komisch vor. Ich habe ihr Glas mitgenommen und einen Abgleich ihrer Fingerabdrücke initiiert. Es gibt einen Treffer. Ihre Fingerabdrücke sind auf der Tatwaffe. Sie gehören nicht zu der Leiche von Sharon Vineyard.“

„Was?“, fragte James schockiert. „Aber das…“

„Das ist noch kein endgültiger Beweis. Chris könnte aus anderen Gründen die Waffe in der Hand gehabt haben. Es ist nur ein erstes Indiz“, sagte Decker.

„Und…was wollen wir jetzt machen?“, fragte Black.

„Wenn wir sie hierher einladen, wird sie sicherlich Ausflüchte finden“, entgegnete Akai. „Und wir machen sie darauf aufmerksam, dass wir gegen sie agieren.“

„Was dazu führt, dass sie sich vorbereitet, wenn sie es nicht eh schon tut. Wenn sie zur Organisation gehört, wird sie sowieso darauf warten, dass wir kommen. Allerdings können wir noch versuchen das Überraschungsmoment auszunutzen“, fing Agent Decker an. „Außer sie hat auch hier Wanzen versteckt.“

„Hat sie nicht“, gab Akai von sich. „Ich habe mein Büro und den Konferenzraum überprüft. Außerdem trage ich ein kleines Störgerät bei mir. Selbst wenn sie hier Wanzen versteckt hätte, sie könnte uns nicht abhören.“

„Sehr gut. Danke, Agent Akai“, lächelte Decker. „Kommen wir wieder zu den Fingerabdrücken. Da wir sie unautorisiert genommen haben, können wir Sie vor Gericht nicht nutzen. Wir müssen sie also offiziell nehmen. Und erst dann können wir die Ergebnisse nutzen. Haben Sie die Ergebnisse gespeichert?“

„Natürlich und ausgedruckt“, antwortete Shuichi. „Sollte das zweite vom ersten Ergebnis abweichen, werden wir weitere Maßnahmen einleiten.“

„Gut.“

„Das Einzige, was wir jetzt tun können, ist es, sie mit den Beweisen zu konfrontieren“, sagte Akai.

„Und dann? Bieten wir ihr einen Deal an?“

„Nur wenn sie uns Informationen gegen die Organisation liefern kann“, gab Decker von sich. „Wir spielen allerdings nach den Regeln und schauen, wie sie darauf reagiert. Ein weiteres Team wird sich draußen bereithalten und ihre Bewegungen beobachten. Vielleicht führt sie uns irgendwo hin.“

James nickte verstehend. Es würde hart für ihn werden, wenn sie tatsächlich einen Deal mit ihr aushandeln würden, aber das große Ganze hatte oberste Priorität. „Mir gefällt das nicht“, gestand er. „Aber ich werde mich der Entscheidung beugen. Ich möchte trotzdem dabei sein, wenn wir mit ihr reden. Ich weiß, ich bin vom Fall abgezogen, aber…“

„Nein“, antwortete Decker bestimmend. „Du hast es bereits gesagt. Du ermittelst nicht mehr in diesem Fall. Wir geben dir diese Informationen aufgrund unserer jahrelanger Freundschaft. Bitte missbrauche mein Vertrauen nicht. Du wirst nicht bei dem Gespräch mit Chris Vineyard dabei sein. Wir lassen dich maximal in der Nähe ihres Hotel warten, aber ansonsten hältst du dich raus. Wenn sie uns noch mehr Befangenheit andichten, war es das. Dann können wir auch für Jodie nichts mehr tun. Und das willst du doch nicht.“

„Nein, das will ich nicht“, murmelte James. „Hat dieser Albtraum nie ein Ende…“

„Wir sind so weit gekommen“, fing Agent Decker an. „Durch die Suche nach Jodie sind wir der Organisation wieder einen Schritt nähergekommen. Das dürfen wir nicht vergessen. Hast du schon mit dem Privatermittler gesprochen und in Erfahrung gebracht, ob er in Jodies Fall weiter ermitteln wird?“

„Er würde gerne“, erwiderte James. „Aber ich habe ihm klar gemacht, dass das FBI diesen Fall übernimmt und es nichts gibt, was er jetzt tun kann. Er war nicht begeistert, denn er hatte Jodie versprochen ihr zu helfen. Kein Wunder, dass er die Sache jetzt auch aufklären will. Aber er wird die Füße stillhalten und ich hoffe, dass er sich an das Versprechen hält. Allerdings steht er bereit, wenn wir seine Hilfe brauchen.“

„Gut“, lächelte Decker.

James stand auf. „Dann bringe ich Jodie zurück ins Krankenhaus. Agent Akai, würden Sie mir dabei helfen?“

„Natürlich“, nickte der Agent.

„James?“ Agent Decker blickte ihn an. „Ich weiß, ich muss es dir nicht extra sagen. Aber ich tue es trotzdem: Kein Wort zu Jodie über das, was wir besprochen haben.“

„Du kannst dich auf mich verlassen.

Deal

Chris saß zusammen mit Jefferson im Hotelzimmer und tätigte die letzten Vorbereitungen, ehe sie abreisen würde. Selbstverständlich nutzte die Organisation ihre Anwesenheit in New York aus. Nachdem die Beerdigung der falschen Sharon Vineyard geplant und vollzogen wurde, traf sie sich mit alten Bekannten und Freunden. Sie schrieb Dankeskarten und sprach mit Regisseuren, Produzenten, Kameramännern und Schauspielern. Jeder erzählte ihr, wie toll Sharon doch war und welche Lücke sie im Leben aller Personen hinterließ. Es war das typische Verhalten der Menschen. Keiner würde in dieser Zeit sagen, was er wirklich dachte. Sie alle waren verlogen. Doch Chris war es ebenfalls, daher war es auch in Ordnung.

Dennoch freute sie sich, wenn sie wieder zurück nach Japan konnte. Dort fühlte sie sich geborgen, zu Hause und sicherer. Auch wenn sie häufig in Verkleidung nach New York reiste, war es nur noch ihr Geburtsort, aber nicht mehr ihr zu Hause. Sie hatte zu viel verloren und ihr altes Leben aufgegeben – und alles nur wegen der Organisation. Obwohl sie dort einen guten Status besaß und nur die wenigen Mitglieder von ihrer Doppelidentität wussten, war sie auch nur ein Mittel zum Zweck. Der Boss konnte es wohl nicht abwarten, sie irgendwann loszuwerden. Jeder Fehler wurde bestraft und sie war sich sicher, dass einige Mitglieder nur darauf warteten. Und wenn es möglich war, legten sie ihr Steine in den Weg. Aber das gleiche tat sie auch. Sie beobachtete ihre Mitstreiter, suchte nach ihren Fehlern und war immer dazu bereit, sie ans Messer zu liefern oder zu benutzen. Mit der Zeit hatte sie gelernt, dass man auch innerhalb der Organisation dazu bereit sein musste, seine Grenzen zu überschreiten.

„Chris?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. Sie verbannte ihre Gedanken und blickte zu Jefferson. Sie musste sich auf ihre Arbeit in New York fokussieren, ansonsten würde sie nicht so schnell zurück nach Tokyo dürfen. „Was ist?“

„Hast du mir zugehört?“

„Natürlich“, gab die Schauspielerin von sich. „Sag, was hältst du vom FBI und den Agenten?“

Jefferson sah sie erstaunt an. Sie fragte selten nach seiner Meinung, aber sie tat es nie ohne Hintergedanken. Er musste aufpassen, was er sagte, denn ansonsten würde sie es gegen ihn verwenden. „Sie haben sich darauf eingelassen, die Befragung im Hotelzimmer durchzuführen. Das habe ich nicht erwartet. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Es wäre möglich, dass sie keine Ahnung haben, in welcher Beziehung du tatsächlich zu Sharon stehst. Andererseits waren ihre Fragen sehr gezielt und ich hatte das Gefühl, dass sie dir etwas unterstellen wollten.“

„Das hätten sie so oder so getan“, sprach Chris ruhig. „Egal wie ich mich verhalten hätte, welche Reaktion sie von mir gesehen hätten, sie hätten sich darauf eingeschossen. Hätte ich auf die Tränendrüse gedrückt, würden sie vermutlich meine schauspielerische Leistung loben. Deswegen habe ich mich dazu entschieden, ihnen eine ruhige Art zu zeigen.“

Er nickte verstehend. „Du musst dich mir gegenüber nicht erklären.“

„Ich weiß, aber du wirst doch alles an die Organisation weitertragen“, entgegnete die Schauspielerin. „Keine Sorge, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich genau so handeln.“ Sie schlug die Beine übereinander. „Ich muss sagen, ich bin nun doch vom FBI überrascht.“

Jefferson runzelte die Stirn. „Seit wann vertrittst du diese Meinung? Vor einigen Tagen hast du dich noch sehr abfällig über das FBI geäußert.“

Chris schmunzelte. „Sie werden früher oder später noch einmal herkommen. Und sie werden Fragen stellen. Ich hoffe, es wird später sein, weswegen wir die Sache hier so schnell wie möglich über die Bühnen bringen müssen.“ Allerdings hatte sie einen Plan, von dem ihr Manager nichts wusste.

Der Manager nickte.

„Allerdings muss ich zugeben, dass sie mich überrascht haben. Sie scheinen fähigere Leute zu haben als damals…zumindest jene, die nun an der Sache mitarbeiten. Sie denken mit und nutzen ein Störgerät während ihrer Unterhaltungen. Wir können sie nicht mehr abhören, was auch dazu führt, dass wir ihnen nicht mehr einen Schritt voraus sein können.“

„Du könntest doch wieder das machen, was du schon vor ein paar Wochen gemacht hast und einzelnen Agenten eine Wanze in die Jackentasche stecken.“

„Mhm…ich glaube nicht, dass es ein weiteres Mal funktioniert. Sie wissen nun, worauf sie achten müssen. Bei Roy war es ganz einfach. Ich musste nur in seine Wohnung und Wanzen in seine Kleidung einnähen. Anderen Agenten konnte ich ein Stück zerknülltes Papier mit der Wanze in die Jackentasche stecken. Vermutlich prüfen sie das aber jetzt auch am Eingang. Und diese beiden Agenten vom Meet and Greet abzuhören, hat ihr übriges getan. Sie wissen von der Organisation.“

„Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie uns auf die Schliche kamen.“

„In der Detektei haben sie die Wanzen auch schon bemerkt. Sie beäugen jede fremde Person sehr kritisch. Vermutlich prüfen sie nun auch vermehrt die Fingerabdrücke. Deswegen müssen wir auch verhindern, dass sie mich offiziell dorthin bestellen. Ich habe zwar immer aufgepasst und Handschuhe getragen, aber man kann nie sicher genug sein. Wenn sie doch Fingerabdrücke von mir haben, die sie nicht zuordnen können, will ich sie auf keine Übereinstimmung stoßen. Vor zwanzig Jahren habe ich einen Fehler gemacht, weil ich zu sicher war. Wenn sie von damals Beweise haben, könnten sie mich mit der Tat in Verbindung bringen. Allerdings können sie nur schwer erklären, was ein Kind dort machte. Ich könnte behaupten, dass mich meine Mutter mit in das Haus nahm und ich dort gewartet oder sogar mit Jodie gespielt habe. Den Zeitpunkt meiner Anwesenheit können sie ja schlecht überprüfen. Und auch wenn Jodie verneint, sie ist keine gute Zeugin. Jeder Anwalt kann dafür sorgen, dass sie unglaubwürdig ist.“

Jefferson nickte abermals. „Wir haben immer noch die Wanzen von Tripton. Wenn er nicht gerade mit den anderen Agenten im Gespräch ist, können wir ihn immer noch abhören.“

Chris schmunzelte. „Stimmt. Dadurch wissen wir, dass er die Schuld für den Tod von Sharon auf seine Kappe nehmen will. Ich bin gespannt, wie das FBI diesbezüglich weiter agiert. Tripton hat ein Alibi und wenn Black eine Aussage machen muss, wird er sicher nicht lügen. Ehrlich gesagt, habe ich kein Problem damit, das der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Sie haben schon meinen anderen Tipp genutzt, um das FBI unter Druck zu setzen. Andererseits soll es mir recht sein, wenn Tripton die Schuld auf sich nimmt. Dann sind wir ihn los und müssen uns nicht um ihn kümmern. Jodie stellt ebenfalls keine Gefahr für uns dar. Sie hat zwar wieder überlebt, aber jetzt hat sie zwei Menschen auf dem Gewissen. Das wird sie auf ewig verfolgen. Sie wird sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen und wenn doch, kümmern wir uns um sie.“

Jefferson lächelte. „Du hast immer einen Plan B parat.“

„Nicht nur einen Plan B. ich habe meistens auch noch C und D in petto. Und improvisieren ist auch meine Stärke. Wenn sich irgendwas ändert, kann ich mich darauf einstellen. Hauptsache, der Ausgang stimmt.“ Und sie wusste genau, was sie wollte.

Es klopfte an der Tür. „Erwartest du jemanden?“

„Nein.“

Der Manager stand auf und ging zur Tür. Dann blickte er zu ihr. „Bereit?“

Chris nickte und er öffnete. Als er Agent Decker und Agent Akai sah, runzelte er die Stirn. Er grüßte die beiden Männer. „Was verschafft uns das Vergnügen?“

„Guten Tag. Ich hoffe, wir stören nicht“, begann Decker. „Wir haben unser Gespräch von gestern Morgen ausgewertet und müssten noch einmal mit Miss Vineyard sprechen. Hätte sie für uns Zeit?“

Chris blickte zur Tür und stand auf. Das Gespräch kam zu früh. Sie konnte sich nicht vorbereiten, aber das FBI wegzuschicken war auch keine Option. Wenigstens konnte sie auf ihre Schauspielkunst zurückgreifen. Und sie war nicht alleine. Im Notfall würde sie die gesamte Schuld auf den Manager ihrer Mutter schieben oder gleich auf ihre Mutter. Sharon war ein guter Sündenbock. Sie war eine Person des öffentlichen Lebens und im Nachgang kamen solche Nachrichten bei den Fans nicht gut aus. Außerdem müsste das FBI die Zusammenhänge zwischen Sharon und der Organisation andeuten, weswegen sie lieber schweigen würden.

„Nun, eigentlich müssen wir noch ein paar Dinge erledigen“, begann Jefferson.

„Aber ein paar Minuten haben wir doch, nicht wahr?“, kam es von Chris.

Er blickte überrascht zur Schauspielerin. „Natürlich. Kommen Sie doch bitte rein. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Decker und Akai betraten das Hotelzimmer. „Danke, wir brauchen nichts.“

Jefferson schloss die Tür und sah zu den Männern. „Setzen Sie sich doch.“ Er hatte keine Ahnung, was Chris vorhatte. Und das bereitete ihm die meiste Sorge.

„Danke.“ Agent Decker nahm Platz. Akai hingegen blieb stehen und beobachtete den Raum. „Miss Vineyard, ich möchte Sie erneut darauf hinweisen, dass Sie jederzeit einen Anwalt dazu holen können. Sie müssen nichts sagen, was Sie selbst belastet.“

Chris setzte sich wieder und runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich denke, Sie sollten mir sagen, was Sie zu sagen haben. Wenn ich Ihre Fragen nicht beantworten möchte, werde ich schweigen. Und wenn Sie doch eine Antwort haben wollen, müssen Sie mich offiziell vorladen.“

„Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht“, warf Akai ein.

„Auch wenn ich in Japan lebe, kenne ich mich mit dem amerikanischen Rechtssystem aus. Ich habe das Recht eine Aussage zu verweigern, allerdings handelt es sich hier um keine offizielle Befragung. Deswegen kann ich auch nur zuhören. Selbst wenn ich irgendwas sage, dürfen Sie es nicht verwenden, außer ich bekenne mich zu einer Straftat.“

„Wenn das so ist, sollten wir ehrlich zu Ihnen sein. Agent Akai beginnen Sie bitte?“

Der Agent nickte. „Ich habe gestern Ihr Glas gegen ein anderes getauscht und mitgenommen.“

Chris warf Jefferson einen Blick zu. Das würde noch ein Nachspiel haben. Der Manager war schließlich dafür zuständig, dass so etwas nicht passierte. Aber scheinbar war das FBI schneller als gedacht. „Aja? Und was kam dabei raus?“, wollte sie überrascht wissen. „Bin ich eine Schwerverbrecherin?“

„Es gab tatsächlich einen Treffer“, begann Akai. „Ihre Fingerabdrücke stimmen mit den Fingerabdrücken überein, die auf der Tatwaffe waren, mit der Ihre Mutter erschossen wurde.“

„Und jetzt möchten Sie wissen, wie das sein kann?“, kam es von Chris. Sie hatte tatsächlich eine Erklärung dafür, denn es gehörte zu ihrem Plan. Sie wollte das FBI sogar auf ihre Fährte lenken.

Agent Decker beobachtete sie. „Bitte erzählen Sie uns, was an jenem Abend passiert ist.“

Chris verschränkte die Arme vor der Brust. „Tja, Sie haben meine Fingerabdrücke rechtswidrig entnommen. Das Ergebnis ist anfechtbar.“

Akai verengte die Augen. „Dann überlassen Sie uns Ihre Fingerabdrücke offiziell und wir wiederholen die Abfrage.“

„Was passiert, wenn das gleiche Ergebnis dabei herauskommt?“, wollte Jefferson wissen.

„Dann raten wir Ihnen, einen Anwalt zu kontaktieren.“

Chris lachte.

„Chris!“, mahnte Jefferson.

Sie beruhigte sich wieder. „Entschuldigung, das war nur lustig.“

„Miss Vineyard, ich glaube nicht, dass Sie das Ausmaß von dem verstanden haben, was hier vorgeht.“

Chris schlug die Beine übereinander. „Ich verstehe sehr wohl. Ich weiß viel mehr, als sie denken.“ Ihr Tonfall hatte sich verändert.

Shuichis Hand glitt in seine Jackentasche zu seiner Dienstwaffe. Er würde bereit sein.

„Ich weiß, zum Beispiel, dass Sie Agent Tripton als Sündenbock benutzen wollen. Aber ob die Staatsanwaltschaft da mitspielen wird? Und da ist doch noch Jodie Starling, die ebenfalls in der Wohnung war. Ich weiß, was sie getan hat, damals wie auch jetzt.“

„Chris!“, kam es erneut von Jefferson.

„Was denn? Wenn sie meine Fingerabdrücke nehmen, werden sie doch eh darauf kommen“, sprach die Schauspielerin und wandte sich wieder an Decker. „Ich weiß, dass ich nicht Ihr eigentliches Ziel bin. Sie wollen mehr und Sie wollen nicht, dass Jodies Leben zerstört wird.“

„Was soll das heißen?“

„Chris!“

„Ich habe ein paar Beweise gegen die kleine Starling. Lassen Sie mich in Ruhe, lasse ich sie in Ruhe. Wie ist das? Haben wir einen Deal?“

„Sie wollen einen Deal?“ Agent Decker blickte kurz zu Shuichi. „Dann müssen Sie uns mehr anbieten.“

„Sie wollen mehr?“ Chris schmunzelte. „Und was?“

Decker beugte sich nach vorne. „Wir wissen, dass Ihre Mutter für jemanden gearbeitet hat, und wir möchten an diese Männer kommen. Und wenn Sie auch für sie arbeiten…“

„Ich verstehe. Sie möchten von mir Informationen.“

„Chris!“

„Sei still“, zischte die Schauspielerin. Dann wandte sie sich wieder an die Agenten. „Ich möchte ein offizielles Schreiben. Das FBI lässt mich hier und in Japan in Ruhe - auf Lebzeiten. Im Austausch lasse ich Jodie in Ruhe und übergebe Ihnen Informationen, die meine Mutter gesammelt hat.“

Jefferson biss sich auf die Unterlippe. Dafür würde Chris büßen.

„Einverstanden.“ Agent Decker hatte sich im Vorfeld die Befugnis für eine Verhandlung mit Chris von der Staatsanwaltschaft geholt. Er wusste, wie weit er gehen durfte und was das Limit war.

Chris sah auf die Uhr. „Mein Angebot gilt eine Stunde. Wenn Sie mir bis dahin kein Schreiben vorlegen, steht der Deal nicht mehr.“

Agent Decker stand auf. „Agent Akai, Sie bleiben hier.“

Shuichi nickte.

„Was haben Sie vor?“, wollte Jefferson wissen.

„Agent Akai bleibt hier und passt auf. Sie können auch gerne auf japanisch sprechen. Das stellt kein Problem dar.“ Er lächelte. „Ich begebe mich nach unten und werde mit einem Kollegen von der Staatsanwaltschaft das Schreiben für den Deal aufsetzen. In spätestens 55 Minuten bin ich wieder da.“

Chris lächelte. „Beeilen Sie sich. Die Uhr läuft. Tick. Tack.“

Es lief alles nach Plan. Für beide Seite.

Finale

Chris wartete im Hotelzimmer. Ihr Plan hatte funktioniert und jetzt bekam sie das, was sie die ganze Zeit über gewollt hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Jefferson. Er war nicht erfreut. Kein Wunder, schließlich hatte sie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht und vor vollendete Tatsachen gestellt. Es war sogar ein klein wenig amüsant zu sehen, wie er in den letzten Minuten immer lauter wurde. Sie konnte sogar eine kleine Ader auf seiner Stirn sehen, die immer mehr pulsierte, je mehr sie redete. Seine Reaktion war viel authentischer als erwartet. Das konnte keiner spielen, außer er war gut in seinem Job.

Chris wusste auch, wie sie die FBI Agenten um ihren kleinen Finger wickeln konnte, wodurch sie das bekam, was sie wollte. Es reichte aus, wenn sie Jodie erwähnte und eine kleine Drohung gegen ihr Leben ausstieß. Einerseits wollte sie die Agenten ein wenig vorführen, andererseits war Jodie auch nur das Mittel zum Zweck. Es wäre nicht das erste Mal und ihr Überleben sollte schließlich auch zu etwas gut sein. Selbstverständlich wusste sie auch, dass das FBI gegen die Organisation ermittelte. Sie hatten nur noch nicht die genauen Zusammenhänge verstanden. Man konnte ihnen keine Vorwürfe machen, wer käme auch schon auf die Idee, dass sie und Sharon Vineyard die gleiche Person waren.

Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Sie hatte ihnen nur ein kurzes Zeitfenster für den Deal gegeben. Es war Absicht, denn es sollte für niemanden so aussehen, als hätte sie das alles gewollt. Sie war allerdings tatsächlich überrascht, dass das FBI jemanden von der Staatsanwaltschaft mitgebracht hatte und dass der Deal so schnell wie möglich schriftlich aufgesetzt wurde. Eigentlich ging sie davon aus, dass es zwar schon ein Schriftstück gab, dieses allerdings handschriftlich ergänzt werden musste. Dass das FBI ebenfalls die ganze Zeit diesen Ausgang wollte, kam nun nicht mehr überraschend. Doch es war gut, denn es hätte auch anders enden können.

Sie sah wieder zu Jefferson. Es gefiel ihm nicht, dass er nur warten konnte. Er war alles andere als glücklich mit der Reaktion der Schauspielerin. Er hatte mehrfach versucht, sie aufzuhalten, aber das FBI hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eines ihrer Probleme war Shuichi Akai, der der japanischen Sprache mächtig war. So konnte er nicht einfach nur die Sprache wechseln.

Der Manager wusste ganz genau, dass die Organisation von diesem Ausgang nicht erfreut sein würde, eher im Gegenteil. Sie würden ihm die Schuld geben. Er war schließlich dafür verantwortlich, dass Chris wieder wohlbehalten nach Japan zurückkam und niemand einen Anhaltspunkt auf die Organisation fand. Und jetzt stand alles auf dem Spiel. Aber er plante, der Organisation die Wahrheit über sie zu sagen. Sie sollten wissen, dass er nichts tun konnte, um sie aufzuhalten. Dass es ihr Plan gewesen war und sie diejenige war, die den Deal ausgehandelt hatte. Sie und nur sie war es gewesen.

Jefferson ballte die Hände zu Fäusten. Er war zu langsam. Wenn er wirklich gewollt hätte, hätte er einen Weg gefunden, um sie aufzuhalten. Er hätte einfach die Sprache wechseln sollen oder er hätte den Agenten niederschlagen müssen. Vielleicht hätte er sogar Chris niederschlagen müssen. Was auch immer, er hätte mehr tun müssen. Warten war keine Option. Und dann gab es noch Irish und Calvados. Sie waren immer noch in der Nähe und warteten auf weitere Anweisungen. Er hätte sie informieren müssen. Gemeinsam wäre ihnen eine Lösung eingefallen. Im Zweifelsfall hätten sie sich den Weg freischießen müssen.

In seinem Kopf ging er abermals alle Möglichkeiten durch und simulierte ihren Ausgang. Er musste den Deal irgendwie unterbinden. Irgendwie. Sie hatten nur geredet und das Gespräch nicht aufgezeichnet. Er konnte immer noch sagen, dass sie irgendwas falsch verstanden hatten. Es würde Aussage gegen Aussage stehen. Wäre da nicht Chris. Erneut sah er zu ihr. Seit ihr Zeitlimit lief, war sie ruhig, sagte kein Wort und beobachtete. Dann wandte er seinen Blick zu dem FBI Agenten. Er stand immer noch an der Wand. Auch er beobachtete. Keiner sagte ein Wort. Selbst das Blickduell mit Chris scheute er nicht. Anders als viele andere, wandte er den Blick nicht ab. Er war mutig und traute sich viel. Bei jeder Bewegung reagiert er. Jefferson war sich sicher, hätte er das Handy herausgeholt – auch nur um eine Nachricht zu lesen oder zu schreiben – der Agent stünde hinter ihm, um zu beobachten. Es würde schwer werden, ihn auszuschalten.

Es klopfte an der Tür und Agent Decker kam mit einem weiteren Mann in den Raum. „Bitte entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.“

Chris sah auf die Uhr. „3 Minuten übrig“, sagte sie schmunzelnd. „Sie sind innerhalb des Zeitlimits. Haben Sie den Deal aufgesetzt?“

Decker sah nach rechts zu dem anderen Mann.

„Ich möchte mich kurz vorstellen“, begann er. „Ich bin Toby Rivers, von der Staatsanwaltschaft.“ Er ging zu den freien Stühlen und setzte sich. Anschließend schob er ein Stück Papier über den Tisch. „Das ist der Deal, in zweifacher Ausführung. Lesen Sie ihn sich in Ruhe durch. Sie haben zudem das Recht, einen Anwalt dazu zu holen. Sie müssen nicht sofort entscheiden.“

Chris nahm das Schriftstück. „Ich brauche keinen Anwalt und ich sagte doch, dass ich dem Deal nur zustimme, wenn er binnen einer Stunde aufgesetzt wird“, sagte sie ruhig und las sich das Dokument durch.

„Chris“, begann Jefferson. „Wir sollten einen Anwalt einschalten.“

„Nein“, gab die Schauspielerin von sich. „Hier steht alles drin, was ich wollte. Ich lasse Jodie Starling in Ruhe und werde im Austausch dafür auch in Ruhe gelassen, sowohl national als auch international. Straffreiheit für das, was ich in der Vergangenheit getan habe und in Zukunft tun werde. Zudem erhalten Sie alle Informationen, die ich von meiner Mutter erhalten habe.“

„Chris, ich bitte dich, lass uns vorher in Ruhe darüber reden. Deine Mutter ist tot, du kannst nicht abschätzen, was das für Konsequenzen hat.“

Chris sah zu Rivers. „Haben Sie einen Stift?“

Der Anwalt griff in die Innentasche seines Jackett und reichte ihr einen Kugelschreiber.

„Chris!“

„Ich weiß, was ich tue. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden, hier und in Japan.“

„Das FBI hat im Ausland keine Ermittlungsbefugnis“, warf Rivers ein.

„Ich sichere mich trotzdem lieber schwarz auf weiß ab. Vielleicht ändert sich in ein paar Jahren das Arbeitsgebiet des FBIs und dann möchte ich nicht ganz oben auf der Liste stehen.“ Sie unterschrieb.

„Vergessen Sie das zweite Exemplar nicht.“

Die Schauspielerin schob das erste Exemplar über den Tisch und fing an, das zweite Schriftstück zu lesen.

„Es steht genau das gleiche drin“, warf Decker ein.

„Davon überzeuge ich mich lieber selbst“, sagte Chris.

Jefferson seufzte. „Chris, bitte…“

„Lass gut sein. Meine Fingerabdrücke waren auf der Tatwaffe. Ich habe jetzt doch keine andere Wahl.“

Jefferson durchschaute sie. Sie schauspielerte und drückte auf die Tränendrüse. Chris unterschrieb auch das zweite Exemplar und schob es über den Tisch.

Agent Decker unterschrieb im Namen des FBIs und Rivers im Namen der Staatsanwaltschaft. „Gut“, begann Decker. „Der Deal ist unterzeichnet. Möchten Sie uns jetzt sagen, warum Ihre Fingerabdrücke auf der Waffe waren, mit der Ihre Mutter erschossen wurde?“

Chris lehnte sich nach hinten. „Ich bin ein paar Tage vor dem Tod meiner Mutter nach New York gekommen. Sie wollte mir das Set zeigen und mich hier einem Produzenten vorstellen. Sie können es gerne überprüfen. Sein Name lautet Ezra Fields.“

„Das werden wir“, nickte Decker. „Bitte erzählen Sie weiter.“

„Ich weiß nicht, was für Probleme meine Mutter mit dieser Frau hatte. Das war ihre Sache. Ich sollte nur in die Wohnung von diesem Tripton kommen und die Waffe aus seinem Safe besorgen. Das habe ich getan. Ich gab ihr die Waffe und da meine Angelegenheiten hier geklärt waren, bin ich wieder zurück nach Tokyo geflogen. Dann riefen Sie an und ich bin wieder hergekommen.“

Agent Decker runzelte die Stirn. „Sie werden verstehen, dass wir das Überprüfen werden.“

„Natürlich“, gab die Schauspielerin von sich. „Sie kann Ihnen jetzt leider nicht mehr sagen, was an dem Abend wirklich passiert ist.“

„Gut…“, murmelte der Agent. „Dann kommen wir jetzt zu den Informationen Ihrer Mutter. Überreichen Sie uns bitte alles, was Sie haben.“

Chris beugte sich nach vorne. „Allzu viel habe ich nicht. Ich weiß, dass meine Mutter mit einer Agentur zusammenarbeitet. Mr. Jefferson ist ebenfalls für diese tätig und organisiert in Amerika alles für meine Mutter. In Japan sind andere Leute dafür zuständig.“ Sie stand auf. „Sie sagte, wenn ihr irgendwas zustoßen sollte, sollte ich die Akte der Polizei übergeben. Das FBI ist ja so was wie die Polizei…“

„Wir stehen über der Polizei“, entgegnete Decker und sah ihr zu.

Chris ging zu ihrem Koffer, öffnete ein Fach und zog eine dünne Akte hervor. „Das ist alles, was ich von meiner Mutter bekommen habe.“ Sie legte die Akte auf den Tisch.

Decker zog diese zu sich. Er blätterte sie durch. Die Informationen waren mager. „Miss Vineyard…“

„Agent Decker, ich denke, es wäre nun das Beste, wenn Sie gehen würden. Der Deal ist ausgehandelt worden und Sie haben die Informationen, die ich von meiner Mutter bekommen habe. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.“

Decker, Akai und Rivers tauschten Blicke miteinander aus. „Miss Vineyard“, begann Agent Decker ein weiteres Mal. „Sie können sich vorstellen, dass wir uns natürlich mehr erhofft haben als diese dünne Akte.“

Die Schauspielerin zuckte mit den Schultern. „Ich habe nie behauptet, dass es viel wäre. Und es ist auch nicht meine Schuld, dass Sie auf den Deal eingegangen sind, ohne den Umfang der Dokumente zu kennen.“

Jefferson stand auf. „Ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen. Ansonsten werden wir rechtliche Schritte gegen Sie einleiten. Sie haben bekommen, was Sie wollten.“

Rivers stand auf. „Agent Decker, Agent Akai? Wir sollten jetzt gehen.“ Er blickte zur Schauspielerin. „Wir werden die Dokumente prüfen. Ihnen sollte bewusst sein, dass der Deal hinfällig ist, sollten Sie irgendwas unterschlagen.“

Chris lächelte. „Das sollten Sie sich zweimal überlegen. Denken Sie an Miss Starling. Ich könnte den Mord an meiner Mutter wieder aufrollen lassen.“

„Sie spielen ein gefährliches Spiel, Miss Vineyard“, kam es von Agent Decker. „Wie Mr. Rivers gesagt hat, werden wir Ihre Unterlagen überprüfen. Halten Sie sich für weitere Fragen bereit.“

„Selbstverständlich.“

„Meine Herren, ich bringe Sie nach draußen.“ Jefferson ging zur Tür und öffnete diese. Die beiden Agenten und der Anwalt verließen das Zimmer. Er schloss die Zimmertür und lehnte sich gegen diese. Wenn Blicke töten könnten, wäre Chris auf der Stelle umgefallen. Er seufzte, öffnete dann die Tür erneut und spähte nach draußen. Danach schloss er die Tür. „Sie sind weg. Wir sind wieder allein.“

Die Schauspielerin kramte in ihrer Handtasche. Sie blickte auf das kleine rechteckige Gerät. Ein Störsender. Es war während des gesamten Gesprächs aktiviert und funktionierte immer noch. Sie zog eine kleine Dose hervor und hielt sie in der Hand.

„Chris! Verdammt noch mal! Was hast du dir dabei gedacht?“

Sie sah zu Jefferson. „Reg dich nicht auf. Sie haben nicht viel bekommen.“

„Du hast mit Ihnen einen Deal gemacht. Herrgott nochmal. Bist du wahnsinnig? Das war nicht abgesprochen“, warf er ein. „Was steht in diesen Akten?“

„Die Wahrheit“, antwortete sie ruhig. „Das FBI hat nun Informationen darüber, wie Sharon mit der Schauspielerei anfing und wie sie mit der Organisation in Kontakt kam. Es steht alles über den Tod ihrer Mutter darin und ein paar kleine Aufträge, die sie für die Organisation erledigen musste. Es stehen auch ein paar Sachen zu Agent Starling drin. Nichts, was sie nicht schon geahnt haben.“

„Chris! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du eigentlich, was das für Konsequenzen haben wird? Ich bin der Manager, sie werden mich dann ebenfalls im Visier haben.“

Sie öffnete die kleine Dose und steckte sich eine Pille in den Mund. Anschließend nahm sie eine Wasserflasche vom Tisch in die Hand.

„Das werde ich der Organisation melden. Der Boss wird nicht erfreut darüber sein.“ Er zog sein Handy aus der Hosentasche und ließ es fallen, als Chris ihn gegen die Wand drückte. „Chri…“ Er kam nicht dazu, noch mehr zu sagen. Sie küsste ihn. Aber dem Kuss fehlte die Leidenschaft und als sie ihn löste, hustete er. Jefferson fasste sich an den Hals. „Was hast du getan?“

Sie schmunzelte und reichte ihm die Wasserflasche. „Trink oder trink nicht. Es ist egal. Du hast gerade das neue Gift der Organisation zu dir genommen. APTX 4869. Es tötet innerhalb von wenigen Minuten und ist im Blut nicht nachweisbar.“

Er sah sie entgeistert an. „Chris…du…“

„Mach dir keine Sorgen. Die Organisation wird von deinem Verrat erfahren. Immerhin hast du den Deal mit dem FBI ausgehandelt und ich armes Ding konnte nichts dagegen tun.“ Sie schmunzelte. „Die Wanzen, die du hier installiert hast, habe ich durch einen Störsender deaktiviert. Und jetzt stirb endlich. Ich kann keine weiteren Mitwisser gebrauchen.“

Jefferson sackte auf den Boden zusammen. „Du Mist…stück…“ Sein Körper fühlte sich heiß an, die Krämpfe und sein Todeskampf begannen. Er versuchte aus dem Zimmer zukommen, doch sein Körper reagierte nicht. Das Mittel wirkte und er sackte vollständig in sich zusammen.

Vermouth stupste ihn mit dem Fuß an. Er regte sich nicht mehr. Sie ging zurück zu ihrer Tasche und zog das Handy heraus. Sie wählte die Nummer von Irish.

„Ja?“

„Ich bins. Wir haben ein Problem. Jefferson hat einen Deal mit dem FBI ausgehandelt. Das FBI lässt mich in Ruhe, wenn ich Ihnen Informationen von Sharon zur Organisation gebe. Er hat mich unter Druck gesetzt und ich habe unterschrieben. Aber keine Sorge, ich habe nicht gesagt, dass sie untergetaucht ist. Die Informationen, die ich ihnen auf die schnelle geben konnte, sind nicht verwerflich. Ich musste mich um Jefferson kümmern.“ Sie sah zu dem Mann. „Ihr müsst die Leiche wegschaffen.“

„Verstanden.“

Blick in die Zukunft

Einige Tage später versammelten sich die Agenten – Decker, Black, Akai, Montgomery, Fallon, Camel und Jackson – erneut in einem der Konferenzräume. Decker blickte in die Runde. „Danke für euer erscheinen. Ich möchte unsere Besprechung gerne so kurz wie möglich halten. Es wird vermutlich auch unsere letzte Besprechung zu diesem Fall sein.“

Es war vorbei. Der Grund, warum alle vor mehreren Wochen zusammengerufen wurden, existierte nicht mehr. Zumindest nicht mehr in dieser Art und Weise. „In den letzten Wochen, nein, in den letzten Tagen ist so einiges passiert. Sharon Vineyard kündigte ihre Rückkehr nach Amerika an, Jodie Starling wurde nach drei Jahren endlich gefunden und leider entpuppte sich unser Kollege Roy Tripton als nicht vertrauenswürdig. Wir konnten es zwar noch nicht bestätigen, aber vermutlich wurde er mehrere jahrelang von der Organisation erpresst. Sie haben den Kontakt zu ihm noch vor Beginn seiner Ausbildung gesucht und durch eine unbedachte Handlung etwas gegen ihn in der Hand gehabt. Wie dem auch sei, er wird nicht mehr für das FBI tätig werden. Seine Taten werden ihn für immer verfolgen. Möglicherweise wird er wieder Fuß in seinem alten Job fassen, aber wenn seine Akte angefordert wird, hat er ein Problem.“

„Gibt es keine Möglichkeit, um das der Organisation nachzuweisen?“, wollte Montgomery wissen.

„Nein. Triptons Erinnerungen an den Abend von vor vielen Jahren sind sehr vage. Er könnte den Mann von damals nicht mehr beschreiben. Außerdem sind mehrere Jahre vergangen, die Person kann mittlerweile ganz anders aussehen oder nicht mehr am Leben sein. Die Anrufe, die er bekam, haben immer verschiedene Personen getätigt. Das hilft uns leider auch nicht weiter.“

„Verstehe“, murmelte der andere Agent.

„Es tut mir auch leid, was mit Tripton passiert, allerdings muss jeder für sein Handeln die Konsequenzen tragen.“ Er räusperte sich. „Was die Organisation angeht, müssen wir auch den Verlust von Sharon Vineyard beklagen. Mit ihrem Tod haben wir uns einen Schritt weiter von der Organisation entfernt. Was den Tathergang angeht…es ist uns leider nicht gelungen ihn zu rekonstruieren. Die Beweislage ist sehr…interessant und hat mehrere Schlüsse zugelassen. Es sind regelmäßig neue Beweise und Informationen aufgekommen.“

„Es sind erneut neue Beweise und Informationen aufgetreten?“, fragte Fallon.

„Ja“, nickte Decker. „Wir wissen, dass Jodie von hinten angeschossen wurde, was die Anwesenheit einer zweiten Person im Zimmer Nahe legt oder wie zunächst vermutet, auf dem gegenüberliegenden Gebäude. Das würde allerdings bedeuten, dass es ein gezielter Anschlag war und nicht mehr Notwehr. Im Vergleich dazu steht das Tagebuch, dessen Echtheit unsere Gutachter belegt haben. Darin beschreibt Jodie, wie sie sich an Sharon rächen möchte. Und dann haben wir noch Jodies offizielle Aussage. Sie ist die einzige Zeugin und – James, entschuldige bitte – leider nicht glaubwürdig. Wir nehmen an, dass sie immer noch traumatisiert ist. Unter diesen Umständen könnte sie Begebenheiten verdrängt oder anders wahrgenommen haben.“

James schluckte. „Ist…das nicht…ein wenig hart?“ Aber er wusste, dass es die Wahrheit war.

„Nein. Wir brauchen eine realistische Einschätzung. Es ist kein Vorwurf, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch ausgesagt hat, dass sie vor 20 Jahren ihren Vater erschossen hat. Nach Rücksprache mit unseren Forensikern würde der Schusswinkel passen. Damals hat man diese Theorie nie in Erwägung gezogen, aber jetzt müssen wir uns ihr stellen. Die Therapeuten, die wir dazu konsultiert haben, haben alle bestätigt, dass die Ereignisse ein Trauma bei ihr hervorgerufen haben. Dadurch hat sie das erlebte verdrängt und durch andere Erinnerung ersetzt. Das ist ein ganz normaler Schutzmechanismus. Sie wird nicht angeklagt, auch wenn Mord nicht verjährt, aber alle sind sich einig, dass es ein Unfall war. Sie hatte Angst und wollte sich nur selbst schützen. Aber das alles hat dazu geführt, dass sie als Zeugin für den Tod von Sharon unbrauchbar und zu labil ist. Eine Anklage würde ihr nicht helfen, aber das hören wir ja nicht das erste Mal.“

„Das heißt, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Jodie fallen lässt?“

„Ja und auch Tripton muss den Mord nicht auf seine Kappe nehmen. Jodie muss allerdings eine Therapie machen und die Vergangenheit aufarbeiten. Wir haben auch mit den Kollegen von der Staatsanwaltschaft gesprochen und haben einen Deal ausgehandelt. Wir müssen sie jetzt über all unsere Schritte informieren, die wir gegen die Organisation anstreben. Nun…das ist das kleinste Übel und wir können damit leben.“

„Verstehe“, gab James von sich.

„Es gibt aber auch eine Neuigkeit, die wir euch mitteilen wollen. Dank Agent Akai konnten wir die dritten Fingerabdrücke auf der Waffe identifizieren. Und genau das macht diesen Fall auch noch komplizierter.“

„Gehörten die nicht zu Sharon?“, wollte Jackson wissen.

„Nein. Sie gehören zu Chris Vineyard.“

„Was?“

„Ich weiß, wir nahmen an, dass sie erst nach dem Tod ihrer Mutter herkam“, sprach Decker. „Aber die Beweise sind eindeutig. Das führt uns wieder zurück zum Anfang, das eine weitere Person in der Wohnung war. Allerdings hat Jodie nichts davon erwähnt und die Fingerabdrücke können wir nicht verwenden, weil wir sie rechtswidrig entnommen haben. Dennoch haben wir sie mit dem Ergebnis des Tests konfrontiert. Sie wollte sofort einen Deal.“

„Einen Deal? Sind wir darauf eingegangen?“, fragte Camel.

Decker verschränkte die Arme vor der Brust. „Da uns bekannt war, dass ihre Mutter zur Organisation gehört, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Chris ebenfalls dazu gehört. Dieses Wissen haben wir genutzt und bereits im Vorfeld mit der Staatsanwaltschaft alles besprochen. So konnten wir den Deal sehr zeitnah aushandeln und sie konnte es sich nicht noch einmal anders überlegen.“

„Und worum ging es in diesem Deal?“ Normalerweise bot man Verbrechern nur dann einen Deal an, wenn man ihn oder seine Informationen nutzen wollte, um noch größere Fische hinter Gittern zu bringen. Meistens brauchte man mehr dazu als einen Verdacht.

„Sie lässt Jodie in Ruhe und will ebenfalls in Ruhe gelassen werden, sowohl national als auch international.“

„International?“ Camel runzelte die Stirn. „Das FBI hat doch international keine Befugnisse.“

Decker nickte. „Haben wir nicht. Sie hat allerdings die Sorge geäußert, dass sich in einigen Jahren das Rechtssystem ändern könnte und damit auch möglicherweise unser Aufgabengebiet. Es ist ein sehr interessanter Gedanke. Und sie ist in mehrfacher Hinsicht abgesichert.“

„Allerdings können wir immer noch mit der CIA kooperieren. Sie können gegen Chris ermitteln“, warf Akai ein.

„Das stimmt“, kam es von Decker.

„Eine Frage“, meldete sich Montgomery zu Wort. „Wir sind wirklich auf so einen Deal eingegangen? Agent Black, verstehen Sie mich nicht falsch, aber wir machen wegen einer jungen Frau so einen Deal, nur damit sie in Frieden leben kann?“

„Wir machen das nicht nur wegen ihr. Der Deal beinhaltet auch, dass sie uns alle Informationen gibt, die ihre Mutter über die Hintermänner gesammelt hat. “

„Also der Organisation…“, murmelte Fallon.

„Das hat sie so nicht gesagt. Aber es ist davon auszugehen. Chris hat kein Wort über die Organisation verloren“, sprach Decker. „So wichtig es auch ist, jedes einzelne Mitglied zur Rechenschaft zu ziehen, so ist es noch wichtiger, die gesamte Organisation mit einem Schlag auszuschalten. Deswegen haben wir diesem Deal zugestimmt. Wir müssen das große Ganze betrachten.“

„Hat es uns bereits etwas gebracht?“

„Durch ihre Straffreiheit hat Chris gestanden, dass sie bereits vor dem Tod ihrer Mutter in Amerika war. Sie sollte das Set sehen und mit einem Produzenten sprechen. Das habe ich mittlerweile überprüft und kann es bestätigen. Ihre Mutter bat sie dann, die Waffe aus der Wohnung von Tripton zu holen. Sie hat es ohne zu Fragen getan. Danach flog sie zurück nach Japan und kam nach unserem Anruf wieder zurück.“

„Ihre Namen standen auf den Passagierlisten“, entgegnete Camel. „Sie hat die Flüge also tatsächlich angetreten.“

„Oder jemand, der aussah wie sie. Menschen ändern im Laufe ihres Lebens ihr Aussehen. Am Flughafen wird der Reisepass nur sehr kurz kontrolliert und wenn man will, findet man Mittel und Wege…“, warf Akai ein. „Besonders, wenn man zur Organisation gehört.“

„Was wir leider immer noch nicht sicher wissen. Kommen wir zurück zum eigentlichen Punkt. Sie hat uns die Unterlagen ihrer Mutter augenblicklich übergeben. Es war eine dünne Akte und sie hatte die Anweisungen, diese der Polizei zu geben, sollte ihrer Mutter etwas passieren. Die Akte war sehr dünn und die Informationen sehr dürftig. Auf einer Seite fanden wir eine eingeklebte microSD-Karte. Wir haben die Daten geprüft. Sharon hat viele Informationen gesammelt, seitdem sie Mitglied der Organisation wurde. Sie hat einige Taten zugegeben und Namen genannt. Leider sind alle Personen, die ihr geholfen haben, bereits verstorben und da Sharon selbst auch tot ist, können wir ihr nichts anlasten.“

„Verdammt“, gab Jackson von sich.

„Ihr Manager gehörte ebenfalls zur Organisation. Er war zwar oft in Japan, hat aber im Wesentlichen hier in Amerika die Stellung gehalten. Er war die ganze Zeit über das Bindeglied zwischen den Mitgliedern dort und hier. Wir haben aber keine Namen und wollten ihn für eine Befragung zu uns bitten.“

„Ich vermute, dass noch ein Aber kommt“, entgegnete James.

„Ja.“ Decker seufzte. „Er hat Selbstmord begangen. Während wir den Deal ausgehandelt haben, hat er dauernd versucht, Chris davon abzuhalten. Er muss gewusst haben, dass sein Name in den Unterlagen steht. Wir haben daraufhin einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung und sein Büro angefordert. Es war alles leergeräumt. Wahrscheinlich hat er alles vernichtet, was ihn mit der Organisation in Verbindung gebracht hat.“

„Dann stehen wir wieder bei null…“, murmelte Camel.

„Wir haben gewonnen nur um zu verlieren…“, gab Fallon von sich.

„Nun…wir schließen den Fall um Sharon Vineyard und werden unsere Bemühungen verstärken. Es muss einen Nachfolger für den Manager geben. Und diesen müssen wir finden. Außerdem…“

„Außerdem?“, fragte James.

„Wir wissen nun, dass die Organisation hauptsächlich in Japan tätig ist. Deswegen werden wir uns mehr mit Japan auseinandersetzen. Unsere Befugnisse liegen zwar in Amerika, aber das heißt nicht, dass wir nicht doch etwas ausrichten können. Das CIA ist nicht unsere einzige Möglichkeit. Wir werden den Kontakt zu andere Bundesbehörden suchen. Ich denke da besonders an das MI6. Agent Akai?“

„Ja?“

„Ihre Eltern waren für das MI6 tätig. Sie würden uns sehr helfen, wenn Sie den Kontakt herstellen könnten. Wir können selbstverständlich über die Leiter gehen, aber Sie wissen, wie es dann läuft.“

Shuichi nickte. „Meine Mutter arbeitet immer noch für das MI6. Ich werde Ihnen ihre Kontaktinformationen geben. Wenn Sie möchten, bin ich bei dem Telefonat dabei. Sie kann manchmal sehr hitzköpfig sein…“

„Danke.“ Decker lächelte. „Und dann möchten wir auch noch unseren letzten Trumpf gegen die Organisation ausspielen.“

Das Team starrte ihn an.

„Soweit ich weiß, gibt es in Japan auch zwei Behörden, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, wie wir. Das Büro für Öffentliche Sicherheit und das Büro für Sicherheit der Nationalen Polizeibehörde, kurz die Sicherheitspolizei. Wir planen, auch mit ihnen in Kontakt zu treten und sie um eine Kooperation zu bitten.“

James verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist ein interessanter Gedanke. Wir könnten ihnen unsere Informationen geben und von ihnen regelmäßig auf den neusten Stand gebracht werden.“

Agent Decker schmunzelte. „Ich denke da etwas weiter. Chris Vineyard hat vor uns nichts zu befürchten, allerdings kann sie immer noch von den anderen Behörden verhaftet werden. Der Deal mit ihr besagt nicht, dass wir den anderen nicht helfen können.“ Er blickte zu Akai. „Möchten Sie weiterhin gegen die Organisation arbeiten?“

„Natürlich“, kam es sofort von dem jungen Mann.

„Auf diese Antwort habe ich gehofft. Wenn wir mit der Sicherheitspolizei ins Gespräch gehen, möchten wir, dass Sie uns ebenfalls zur Verfügung stehen, sowohl für die Übersetzung als auch für die spätere Ermittlung.“

„Was ist dein Plan?“, fragte James.

„Wenn alles gut geht, möchten wir ein paar Agenten an die Sicherheitspolizei ausleihen. Mit einem offiziellen Vertrag läge die Zugehörigkeit nicht mehr beim FBI und so können wir, nein, so könnten Sie gegen Chris ermitteln. Die Lorbeeren würden dann aber die japanischen Kollegen einheimsen“, erklärte er. „Agent Akai, Sie wären einer dieser Agenten, die wir nach Japan schicken wollen.“

Shuichi nickte. „Sehr gerne.“

Decker sah wieder in die Runde. „Es steht Ihnen allen frei, sich gegen die weitere Ermittlung zu entscheiden. Wenn wir alles ausgearbeitet haben, werden wir zur Besprechung einladen. Allerdings müssen wir erst einmal Gras über die aktuelle Situation wachsen lassen. Wenn wir jetzt jemanden nach Japan schicken, sind sie gewarnt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie unsere Schritte im Auge behalten. Gehen Sie lieber davon aus, dass wir erst in ein oder zwei Jahren starten werden. Vielleicht auch später. Die Mission wird nicht innerhalb von einigen Wochen abgeschlossen sein, wir sind ihnen bereits seit Jahren auf den Fersen. Bis alles so weit ist, werden wir uns gut vorbereiten.“

„Die Agenten, die nach Japan kommen, sollten japanisch lernen.“

„Darum kümmern wir uns und werden die entsprechenden Kurse organisieren“, entgegnete Decker. „Gibt es sonst Fragen?“

Das Team schüttelte den Kopf.

„Falls doch, Sie wissen, wo Sie mich finden.“ Er lächelte. „Dann erkläre ich die Besprechung für beendet.“

Eine neue Bitte

Nachdem sie wieder zurück im Büro waren, ließ sich Camel auf seinen Stuhl sinken. Als er für diese Mission ausgewählt wurde, war es ein Hoffnungsschimmer. Er wollte sich unbedingt beweisen und seine Sache gut machen. Aber es lief nicht so wie geplant. Mit purer Recherchetätigkeit machte man sich keinen Namen innerhalb des FBIs. Man musste mehr von sich zeigen. Deswegen war er Akai um so dankbarer, als er zur Beweissicherung in die Wohnung von Jodie geholt wurde. Er hatte sich ins Zeug gelegt, Überstunden geschoben und die Beweise mehrfach überprüft. Doch am Ende war es sein Kollege, der bei den anderen Eindruck gemacht hatte, der gelobt und für die weiteren Missionen dieser Art gebraucht wurde.

Camel beneidete ihn. Er wollte so sein wie Akai. Doch Menschen waren unterschiedlich und hatten verschiedene Charaktere. Selbst wenn er versuchen würde sich zu ändern, es wäre ein langer Weg. Blieb er sich selbst nicht trau, konnte es auch schlimm enden. Außerdem wollte er sich nicht andauernd verstellen müssen. Er wollte nichts tun, zu dem er nicht bereit gewesen war. Trotzdem wusste er, dass es so nicht weiter ging.

Er blickte zu Akai. „Ich wusste gar nicht, dass deine Eltern für das MI6 arbeiten. Wieso bist du denn nicht in ihre Fußstapfen getreten?“ Erst jetzt realisierte Camel, dass sie nie über ihr Privatleben gesprochen hatten. Er wusste nichts über die Familie des Agenten, über seine Vorlieben oder über seinen Frauengeschmack. Umgekehrt war es aber auch so. Sie redeten nie wirklich lange miteinander und wenn, ging es um die Arbeit.

„Ich habe viel von meinen Eltern und von anderen MI6 Agenten gelernt. Ich bin mit der Arbeit meiner Eltern aufgewachsen. Allerdings war es nie mein Berufswunsch dort zu arbeiten.“

Camel sah ihn überrascht an. „Und…warum hast du dich dann entschieden, zum FBI zu gehen?“

„Mein Vater verschwand vor vielen Jahren in Amerika. Er hatte einen Auftrag und kam nie wieder nach Hause. Das MI6 hat ihn als Tod erklärt. Deswegen habe ich mich entschieden, in Amerika zu studieren und beim FBI anzufangen. Anfangs ging es mir nur darum sein Verschwinden aufzuklären, aber mir liegt die Arbeit, die Deduktion und die Aufklärung.“ Akai verschränkte die Arme vor der Brust. Er würde Fragen beantworten, die relevant für die Zusammenarbeit mit Camel waren, mehr aber auch nicht. „Agent Decker weiß davon und er weiß, dass ich das Verschwinden meines Vaters aufklären will. Das war einer seiner Beweggründe, warum ich ins Team geholt wurde. Ich gebe nicht auf, egal wie heikel die Situation ist. Mittlerweile hat sich auch meine Vermutung bestätigt, dass die Organisation in sein Verschwinden involviert ist. Möglicherweise hat mir das FBI eine Chance gegeben, meinem Ziel einen Schritt näher zu kommen.“

Der andere Agent schluckte. Noch nie war Akai ihm gegenüber so offen. „Ich…ich werde keinem etwas davon erzählen.“

„Das kannst du ruhig. Meine Beweggründe sind kein Geheimnis“, sprach Shuichi ruhig. „Geheimnisse führen nur dazu, dass Misstrauen gesät wird. Während einer unserer Besprechungen habe ich das bemerkt. Sie misstrauten mir, weil ich Japaner bin und sie meine Vorgeschichte nicht kannten. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Kollegen meine Anwesenheit beim FBI hinterfragen.“

„Das habe ich nie“, kam es sofort von Camel. Er war aufgestanden.

„Ich weiß“, nickte Akai. „Es war auch kein Vorwurf dir gegenüber.“

Camel setzte sich wieder. „Du bist aber noch keinen Schritt weiter gekommen bei der Suche nach deinem Vater, oder?“

„Ja und nein“, antwortete der Agent. „Ich weiß jetzt, dass die Organisation ihre Hände im Spiel haben könnte. Deswegen muss ich unbedingt in Japan gegen sie ermitteln. Dort könnte ich neue Spuren finden. Und wenn wir mit dem MI6 reden, könnte ich eine Freigabe für die Akten meines Vaters bekommen.“

Camel beobachtete seinen Kollegen. „Dann ist die neue Mission wie auf dich zugeschnitten…“

„Ja“, entgegnete Shuichi. „Wobei es nicht einfach werden wird mit meiner Mutter in Kontakt zu treten und mit ihr über die laufenden Ermittlungen zu sprechen. Sie wird nicht erfreut sein. Dazu kommt unsere Kooperation mit der japanischen Sicherheitspolizei.“ Er lächelte. „Das wird interessant werden.“

Camel wusste noch nicht, was er davon halten sollte. „Aber es dauert noch, bis die Zusammenarbeit beginnt. Wenn sie überhaupt beginnt.“

Shuichi schmunzelte. „Wir werden die japanische Sicherheitspolizei schon dazu bekommen, dass sie mit uns kooperieren. Sie wären dumm, wenn sie auf das Angebot nicht eingehen würden. Wir wissen allerdings nicht, ob sie ebenfalls eine Spur zur Organisation haben. Ermitteln sie auch gegen sie, könnten die Verhandlungen nicht einfach werden. Allerdings hatten wir direkten Kontakt mit ihren Mitgliedern. Und wir haben Informationen bekommen. Sie werden Sie werden die Sicherheit der Bürger und des Landes als oberste Priorität sehen. Wenn sie dann noch erfahren, dass ich als Japaner zu ihnen stoße, werden sie sicherlich keine Probleme machen.“

Camel schluckte. „Das klingt bei dir immer so einfach. Aber ich…“

„Nein, es ist nicht einfach“, fing Akai an. „Aber es bringt nichts, wenn ich direkt schwarzsehe. Ich kann nicht immer nur die negativen Aspekte im Auge behalten, denken, dass es nicht funktioniert. Ich muss zuversichtlich sein, sonst bin ich hier falsch. Möchtest du nicht weiter machen?“

„Ich…ich weiß es nicht“, gestand der Agent. „Ich mag meine Arbeit beim FBI, allerdings konnte ich kaum etwas tun und…,wenn ich mir ansehe, was ihr anderen alles geleistet habt…ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Mehrwert für euch habe. Vielleicht bin ich nicht zum Agenten geschaffen…“

Akai beobachtete seinen Kollegen. „Das musst du selbst entscheiden“, begann er. „Wenn ich dir einen Rat geben darf, gib nicht auf, wenn es noch gar nicht angefangen hat. Ich habe es dir schon einmal gesagt: Mach dir nicht zu viele Gedanken. Die Mission beginnt voraussichtlich in ein oder zwei Jahren. Nutze die Zeit und trainiere, verbessere deine Fähigkeiten, mach was aus dir. Zeig den Kollegen, dass du etwas kannst, versuche bei so vielen Fällen wie möglich mitzuarbeiten. Auch wenn du nur für die Unterstützung zuständig bist. Früher oder später werden deine Bemühungen Früchte tragen. Lerne japanisch, damit du auch bei der Mission dabei sein kannst, auch wenn du dich am Ende dagegen entscheidest. Wenn du meinst, dass du ungeeignet bist, werde ich dich nicht aufhalten. Aber gib nicht auf, ehe es begonnen hat. Versuch deine eigenen Grenzen zu überwinden.“

„D…danke…für deine Worte“, murmelte Camel. „Ich werde mich…mehr damit auseinandersetzen. Kannst du mir nicht japanisch beibringen?“

„Nein. Ein paar Phrasen wären kein Problem, aber eine ganze Sprache…dafür braucht es einen professionellen Lehrer und Kurs. Melde dich bei Decker und nutze die Chance.“, entgegnete Shuichi.

Camel nickte. „D…danke…“, kam es erneut von ihm. Das machte ihm Mut.

Shuichi blickte zur Tür, als es klopfte. „Herein.“

Agent Black öffnete und trat in das Büro ein. „Agent Akai, Agent Camel, bitte entschuldigen Sie die Störung.“

„Agent Black“, gab Camel überrascht von sich. „Sie stören nicht. Wie können wir Ihnen helfen?“

James lächelte. „Ich wollte mit Agent Akai sprechen.“

„Oh… Soll ich den Raum verlassen?“

„Nein, das wird nicht nötig sein. Was ich zu sagen habe, können Sie ruhig hören. Außer ich halte Sie von Ihrer Arbeit ab.“

„Tun Sie nicht.“

„Bitte, setzen Sie sich doch.“ Shuichi wies auf einen der freien Stühle im Büro.

„Danke, allerdings wird es nicht lange dauern.“ James ging auf den Schreibtisch von Akai zu und blieb davor stehen. „Ich möchte mich bei Ihnen aufrichtig bedanken. Ohne Ihre Hilfe hätten wir Jodie nicht gefunden. Sie wissen ja nicht, wie viel es mir bedeutet, dass sie wieder da ist. Außerdem waren sie an jenem Abend in der Detektei und haben sich sofort auf den Weg zu ihrer Wohnung gemacht. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn…alles anders gekommen wäre. Dann hätte…mich Sherman über…über Jodies Tod informieren müssen. Wir vermuten mittlerweile, dass die Organisation gewusst haben muss, dass wir ermitteln und ihnen auf den Fersen sind. Deswegen haben sie früher zum finalen Schlag ausgeholt.“ James schluckte. Der Gedanke von Jodies Tod war ihm schon lange gekommen, aber es war etwas Anderes ihn auch laut auszusprechen.

„Das war mein Job“, antwortete Akai. Er sollte sie suchen und auf sie aufpassen. Allerdings war er zu spät bekommen. Dennoch hatte Jodie überlebt.

„Das mag sein. Trotzdem wollte ich Ihnen danken. Ich bin so froh, dass ich sie wiedersehen konnte und dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht.“

Shuichi nickte. „Ein Teil meines Auftrages bestand darin, dass ich auch auf Jodie aufpasse, solange wir gegen Sharon und die Organisation ermitteln. Sharon ist zwar tot, aber die Organisation existiert immer noch. Besteht dieser Auftrag weiterhin?“ Sollte er tatsächlich babysitten müssen?

„Nein“, gab James von sich. „Aber es steht Ihnen frei, Jodie zu besuchen. Sie wurde gestern aus dem Krankenhaus entlassen. Allerdings wollte sie nicht zurück in ihre Wohnung, was für mich sehr verständlich ist. Sherman wollte sie bei sich aufnehmen, aber ich habe darauf bestanden, dass sie zu mir kommt. Sie hat dort auch ein eigenes Zimmer. Oh je, jetzt wo ich mich selbst reden höre, habe ich das Gefühl, ich hätte mich ihr aufgedrängt.“

Akai wusste nicht, warum er das alles erzählt bekam. Wenn sein Auftrag nun tatsächlich vorbei war, würde er nichts mehr mit Jodie zu tun haben. Und das war auch besser so, denn die junge Frau fürchtete sich noch immer vor ihm.

„Nun ja, egal. Ich habe vorhin mit Jodie telefoniert“, führte James weiter an. „Wir sind so froh, dass keine Anklage erhoben wird und dass die Staatsanwaltschaft den Fall schließt. Ich weiß nicht, was Jodie getan hätte, wenn sie ins Gefängnis gemusst hätte…oder wenn Tripton die Schuld für den Tod von Sharon auf sich genommen hätte.“

„Hat sie wieder Kontakt zu ihm?“

„Nicht wirklich. Sie haben kurz miteinander gesprochen und sie hat ihm auch seine Beweggründe verziehen, warum er sie aus New York gebracht hat. Aber ich glaube nicht, dass sie wieder zusammenkommen.“

Shuichi nickte. „Weiß sie schon von der Therapie die sie machen soll?“

„Nein“, gab James von sich. „Das werde ich ihr persönlich sagen, wenn ich heute Abend nach Hause komme.“ Er räusperte sich. „Um ehrlich zu sein, bin ich nicht nur zu Ihnen gekommen, um mich zu bedanken oder Ihnen das zu erzählen.“

Er hatte es geahnt. „Worum geht es?“

Auch Camel wurde hellhörig, schwieg aber.

„Jodie möchte sich mit Chris Vineyard treffen.“

„Was?“, kam es zeitgleich von den anderen beiden Agenten.

„Ich konnte es ihr nicht ausreden.“ James seufzte. „Sie muss heute Vormittag den Entschluss dazu gefasst haben. Auch wenn es ein Unfall war, möchte sie, dass Chris weiß, dass es nicht ihre Absicht gewesen ist. Sie möchte ihr nicht die ganze Wahrheit über den Abend sagen, aber…sie möchte mit ihr reden. Und…Jodie weiß nichts von dem Deal, den wir abgeschlossen haben. Aber…,wenn sie wirklich mit Chris Vineyard reden möchte, weiß ich nicht, ob ich ihr im Weg stehen kann. Und wenn ich ihr diesen Wunsch abschlage…ich weiß, sie würde es trotzdem tun. Dann würde…Sherman sie begleiten.“

Akai nickte verstehend. Natürlich würde der Detektiv sofort zur Stelle sein. „Und was erwarten Sie von mir?“

„Nun“, murmelte Black. „Sie weiß, dass Chris in Japan lebt und möchte sich daher auch in der japanischen Sprache entschuldigen und ihr Beileid bekunden.“

Akai verdrehte die Augen.

„Sie hat bereits im Internet geschaut und auch eine App dazu befragt, aber Sie wissen ja, wie das ist, wenn man eine fremde Sprache lernt. Und in ihren Büchern hat Jodie bisher nur die Grundlagen gefunden. Zudem lernt sie, ohne Kurs und ohne Lehrer und kann niemanden fragen.“

„Sie hat Angst vor mir“, warf er ein.

„Dann haben Sie die Chance ihr das Gegenteil zu beweisen.“

Shuichi fragte sich, ob James das gerade wirklich ernst meinte. Oder klammerte er sich nur an jeden Strohhalm, damit Jodie nicht wieder verschwand? Vielleicht steckte aber auch mehr dahinter. Akai entschied auf sein Bauchgefühl zu hören. „Agent Black, worum geht es hier wirklich?“

James seufzte leise. „Natürlich haben Sie mich durchschaut. Ja, ich hatte ein paar Hintergedanken. Zunächst einmal fände ich es wirklich gut, wenn Sie Jodie ein paar Sätze beibringen würden. Aber…, wenn sie mit Chris in Kontakt tritt, würde ich mir wünschen, dass Sie an ihrer Seite sind. Auch wenn wir mit der Schauspielerin einen Deal haben, wissen wir nicht wie sie auf die Begegnung mit Jodie reagiert. Der Deal beinhaltet nur, dass Chris sie in Ruhe lässt. Sollte aber ein anderes Mitglied der Organisation in der Nähe sein, könnte es für Jodie gefährlich werden. Und die Gefahr steigt, wenn beide Personen in japanischer Sprache reden und wir nicht wissen, was sie planen. Sie könnte ihrem Partner die Anweisung geben, Jodie etwas anzutun und wir würden es nie erfahren.“

Akai verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie hätten tatsächlich zahlreiche Möglichkeiten.“ Er lächelte. „Außerdem können wir bei einer Konfrontation zwischen den Beiden feststellen, ob eine der Theorien die Wahrheit war. Wenn Jodie sich an Chris in der Wohnung erinnert , haben wir einen Anhaltspunkt. Oder falls Chris sich an Jodie erinnert, können wir den Rückschluss ziehen, dass auch sie in den Plan von Sharon eingeweiht war. Chris können wir zwar für das alles nicht mehr zur Rechenschaft ziehen, aber wir erhalten Informationen, die wir möglicherweise anderweitig verwenden können.“

James nickte. „Vielleicht verplappert sie sich. Zudem können wir sie zu dem Selbstmord von Jefferson befragen.“

„Falls es Selbstmord war“, korrigierte Akai. Natürlich hatte auch er sich seine Gedanken gemacht. „Ist sicher, dass Chris noch in Amerika ist?“

„Ja, sie hat das Land bisher nicht verlassen Wir beobachten sie und ihre Kontaktpersonen im Geheimen weiter. Außerdem fragen wir regelmäßig die Passagierlisten ab. Sollte sie Amerika verlassen, erfahren wir es.“

„Ich verstehe.“ Der Fall war eben noch nicht zu Ende und in dem Agenten loderte es. „Wann soll es losgehen?“

„Wir treffen uns morgen früh bei mir.“

Japanisch für Angefangene

Auch wenn Jodie nur ein paar Wörter auf Japanisch lernen wollte, hatte sich Shuichi zu Hause gut auf das Treffen vorbereitet. Er sprach fließend die Sprache und hatte irgendwann selbst alle Regeln und Zeitformen gelernt, sodass ihm all das ins Blut übergegangen war. Das hieß allerdings nicht, dass er auch in der Lage war, anderen bestimmte Sachen zu erklären oder ihnen die Sprache gänzlich beizubringen. Glücklicherweise gab es dafür auch Sprachkurse und zertifizierte Lehrer. Wenn es gewünscht war, würde er sogar einen heraussuchen. Und er hatte kein Problem damit, auf einen solchen Kurs zu verweisen – so wie bei Camel. Falls er allerdings doch etwas erklären musste, hatte er sich am Abend noch etwas in die Grundlagen und verschiedene Formen der Beileidsbekundungen eingelesen. Aber vielleicht würde sich Jodie nicht trauen, Fragen zu stellen und stattdessen still dasitzen.

Die Situation mit Jodie war noch immer heikel. James konnte seine Sorge nicht abschütteln, dass sie wieder ging und schien ihr daher jeden Wunsch erfüllen zu wollen. Außerdem war sie immer noch ein wichtiger Bestandteil des Deals mit Chris Vineyard.

Allerdings war sich Akai immer noch nicht ganz sicher, was Jodie mit ihrem Gespräch mit der Schauspielerin bezweckte. Wollte sie sich tatsächlich nur entschuldigen und ihr Beileid ausdrücken oder steckte noch mehr dahinter? Erhoffte sie sich Absolution, auch wenn sie das Opfer jenes Abends sein sollte? Und dann war da noch James Black. Shu konnte seine Gedankengänge sehr gut nachvollziehen. Keiner wusste, wie Chris reagieren würde, wenn sie Jodie sah oder ob die Organisation noch etwas mit ihr vorhatte. Egal was an dem Tag passieren würde, er wäre zur Stelle.

Shuichi stand vor dem Haus des älteren Agenten. Er wusste nichts über das Privatleben seines Vorgesetzten, aber das Haus ließ darauf schließen, dass er Familie hatte. Es konnte ein Vorteil sein, damit Jodie nicht allein blieb. Akai betätigte die Klingel und wartete.

Einen Augenblick später öffnete James die Tür. „Guten Morgen, Agent Akai.“

„Guten Morgen“, erwiderte Shuichi und trat ein. Er zog sich seine Schuhe und die Jacke aus. „Wie geht es ihr?“ Er hing seine Jacke an den Kleiderständer.

„Den Umständen entsprechend“, antwortete Black. „Sie gewöhnt sich langsam daran, nun hier zu sein. Ich habe gestern Abend mit ihr über das Thema Therapie gesprochen. Das fand sie zwar nicht so gut, aber sie hat verstanden, warum sie wichtig ist. Jodie muss ihr Trauma verarbeiten. Nur dann kann sie nach vorne sehen und mit der Vergangenheit abschließen. Es wird vermutlich dauern, aber…irgendwann wird es ihr wieder besser gehen.“

„Verstehe“, murmelte Shuichi. Bevor das Gespräch in die falsche Richtung driftete, musste er zurück zum eigentlichen Grund seines Besuchs kommen – was er eigentlich mit der Frage ausdrücken wollte. Scheinbar hatte James nicht verstanden. „Weiß Jodie, dass ich heute komme?“

„Ja“, antwortete James. „Machen Sie sich keine Sorgen, sie hat damit kein Problem. Hier entlang, bitte.“ James ging ins Wohnzimmer.

Jodie saß bereits auf dem Sofa. Vor ihr lagen ein Stift und ein Notizblock. Außerdem standen drei leere Tassen sowie eine Kanne mit Kaffee auf dem Tisch. Akai runzelte die Stirn. Es würde wohl doch noch ein langer Tag werden. Insgeheim hatte er sich darauf vorbereitet. Er beobachtete die junge Frau. Sie wirkte noch immer eingeschüchtert und hatte ihren Blick nach unten gesenkt. Man erkannte, dass sie sich mit seiner Anwesenheit schwer tat und sich unwohl fühlte.

„Jodie? Agent Akai ist hier“, sagte James.

Die Angesprochene sah auf. „Konnichiwa, Agent Akai“, gab sie leise von sich.

„Hallo Jodie.“ Er nahm auf dem Sofa Platz. „Ist es in Ordnung, wenn wir nicht so förmlich miteinander umgehen?“ Vielleicht konnte er damit die Distanz zwischen ihnen überbrücken und dafür sorgen, dass sie sich etwas wohler in seiner Gegenwart fühlte.

„Ja, das…das ist in Ordnung.“

„Wir haben uns schon mehrfach gesehen, aber bisher noch nicht viel miteinander geredet. Erinnerst du dich noch daran?“

Jodies Wangen begannen zu glühen. Wie konnte sie ihn überhaupt vergessen? „Ja, im Krankenhaus…da haben meistens die anderen Agenten…mit mir gesprochen. Aber du warst auch immer da und…hast aufgepasst.“

„Und auf dem Friedhof war ich auch“, gab Akai von sich. „Erinnerst du dich noch daran?“

Sie nickte zaghaft. „Das…weiß ich. Ich habe…dich gesehen und…bin weggelaufen, weil ich…Angst vor dir hatte.“ Möglicherweise wäre an jenem Abend alles anders gewesen, wenn sie nicht vor dem Agenten geflüchtet wäre. Vielleicht würde Sharon Vineyard sogar noch Leben. „Ich…bin weggelaufen…“, wiederholte Jodie leise.

„Das war dein gutes Recht“, sprach Shuichi. „Ich weiß, dass du das Interview mit Sharon gesehen hast. Es war nur natürlich, dass du mich für einen Feind gehalten hast. Ich hätte ahnen sollen, dass du die Sendung gesehen hast und behutsamer Vorgehen müssen. Kein Wunder, dass du vor mir weggelaufen bist. Du bist ganz schön schnell und hast eine gute Kondition.“ Vielleicht konnte er damit die Situation auflockern.

Jodie fühlte sich trotzdem wieder unwohler. Er nahm die Schuld auf sich, dabei war sie es, die damals keinen klaren Gedanken fassen konnte. „Wir haben einen kleinen Hobbyraum in der Detektei, dort steht auch…ein Laufband und...ich arbeite an meiner Kondition. Wenn ich nicht weiter weiß, nutze ich auch das Laufband oder…,wenn ich abschalten will.“

Er nickte verstehend. „Sport kann den Stress senken.“

„Tut…tut mir leid, dass ich angenommen habe, dass du mir etwas Tun wolltest.“

„Schon gut“, entgegnete er. „Lass uns einfach von vorne anfangen, okay?“

Jodie lächelte. Sie taute auf. Dieses Mal hatte sie kein Problem, ihm in die Augen zu schauen. „Äh…ich bin Jodie…“

„Shuichi. Du kannst mich Shuichi nennen.“ Er beobachtete sie. „Ich habe gehört, dass du gern ein paar Wörter auf Japanisch lernen willst.“

„Das war mein Stichwort“, kam es von James. „Ich lass euch mal allein“, fügte er hinzu und verließ das Wohnzimmer.

Jodie sah ihm nach und blickte dann wieder zu Shuichi. „Ich möchte mich bei Chris Vineyard entschuldigen und…ihr mein Beileid zum Verlust aussprechen. Wegen mir ist…ihre Mutter tot.“

„Du musst keine Schuldgefühle haben“, sagte er. „Mehr möchtest du ihr nicht sagen?“, wollte der Agent wissen.

„Ich…ähm…ich weiß es nicht. Ich wollte ihr nicht sagen, was an dem Abend wirklich passiert ist. Sie würde mir vermutlich nicht glauben. Die Beweise sind ja auch sehr…uneindeutig. Und wenn sie erfährt, dass nicht gegen mich ermittelt wird, könnte sie…das nicht verstehen. Andererseits weiß ich nicht, was ich antworten soll, falls sie danach fragt.“

Shuichi dachte nach. „Am besten du erzählst ihr nicht zu viel. Du schuldest ihr keine Rechenschaft. Wenn du dir unsicher bist, schau zu mir und ich übernehme das Gespräch.“

„Du…du bist dabei?“

„Agent Black hält es für eine gute Idee. Wenn sie mit dir auf Japanisch sprechen sollte, kann ich übersetzen. Außerdem kann ich dir helfen, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.“

„Ach so…ja…das macht Sinn“, nickte sie. „Danke.“

„Gut. Bevor wir anfangen, möchte ich dir erst einmal einen guten Rat geben. Ich habe gesehen, dass du dich zu Hause bereits mit der japanischen Sprache auseinander gesetzt hast.“

Jodie nickte. „Ja, nachdem ich gehört habe, dass Sharon die ganze Zeit in Japan war, dachte ich, dass es eine gute Idee wäre, wenn ich mich mit der Sprache vertraut mache. Sollte ich auf einen Japaner treffen, der mit ihr arbeitet, wollte ich verstehen was gesagt wird…falls sie mich umbringen wollen. Vermutlich war das eine dumme Idee, denn wenn man jemanden wirklich umbringen will, wird man vorher nicht mit ihm reden. Aber soweit habe ich nicht gedacht. Ich habe mir daher im Internet ein Lehrbuch und ein Übungsbuch bestellt. Außerdem habe ich eine App auf dem Handy.“

Shuichi seufzte leise. „Das solltest du gleich alles vergessen. Deine Ambitionen in allen Ehren, aber eine Sprache im Selbststudium zu lernen und dann noch zu beherrschen ist utopisch. Gerade bei einer Sprache wie japanisch kommt es ganz besonders auf die Aussprache an. Diese lernst du nicht auf dem Papier, selbst dann nicht, wenn alles in Lautschrift geschrieben steht. Eine App kann keinen Lehrer ersetzen. Du kannst dich mit niemanden austauschen, keine Fragen stellen und keine Sprachübungen machen. Wenn du etwas falsch machst, korrigiert dich in der Regel keiner.“

„Das weiß ich“, kam es sofort von Jodie. „Ich hätte auch gerne in einem Kurs gelernt, aber das kam damals für mich nicht in Frage. Ich wollte nicht, dass sie…mich über einen Kurs findet. Nur deswegen entschied ich mich für das Selbststudium…aber ich bin nicht weit gekommen. Ich habe nur ein paar Wörter gelernt…Begrüßungen und wie ich Sushi bestellen kann.“

Shuichi lachte über ihren letzten Kommentar.

„Können wir…jetzt mit den Wörtern beginnen, die ich lernen will?“

„Natürlich“, entgegnete der Agent. „Fangen wir mit der Entschuldigung an. Du hast in der japanischen Sprache mehrere Möglichkeiten, um dich bei anderen zu entschuldigen. Die häufigste und die am meisten gebrauchten Formen sind Sumimasen und Gomennasai. Wenn du etwas höflicher klingen möchtest, kannst du auch das Wort deshita an Sumimasen dranhängen. Das heißt dann so etwas wie Ich entschuldige mich für das, was ich getan habe. Bei Gomennasai könntest du kudasai anhängen. Diese Form wird allerdings eher im Familien- und Bekanntenkreis verwendet. Mit Gomennasai implizierst du auch ein Eingeständnis von Schuld. Willst du beide Wörter mal ausprobieren?“

Jodie nickte. „Sunima…

Sumimasen“, korrigierte er augenblicklich.

Sunim…

„Fangen wir einfacher an. Sumi.“

Sumi“, wiederholte Jodie.

„Und jetzt masen.“

Masen.“

Sumimasen.“

Sumimasen“, wiederholte die junge Frau. Sofort freute sie sich, weil sie das Wort richtig aussprach.

„Und jetzt das andere.“

„Das ist einfach. Das kenn ich schon. Gomennasai.“

„Gut“, entgegnete der Agent. „Die weiteren Formen bringe ich dir nicht bei. Das würde dich nur viel zu sehr verwirren.“

„Okay, danke“, lächelte Jodie.

„Dann kommen wir jetzt zu dem Schwereren, der Beileidsbekundung. Auch hier gibt es in der japanischen Sprache verschiedene Möglichkeiten und Phrasen, die du verwenden könntest. Ich denke, für dich ist es einfacher, wenn du folgendes sagst: Kokoro kara okuyami moushiagemasu. Übersetzen kannst du es mit Mein herzlichstes Beileid zu Ihrem Verlust.“

„Das klingt schwer. Kokoro kara ist noch einfach, aber den Rest habe ich bereits vergessen. Gomennasai.“

Er schmunzelte. „Sprich mir einfach nach. Okuyami moushiagemasu.

Okuyami moushig…

„Das erste war korrekt. Dann sprich jetzt die ersten drei Worte aus.“

Kokoro kara okuyami.“

„Sehr gut“, sprach Akai. „Moushiagemasu.“

Mochi…Moshi…Moushi…

Moushiagemasu“, wiederholte er.

Moushiagemasu.“

„Und jetzt alles zusammen“, gab der Agent von sich.

Jodie überlegte. „Kokoro kara okuyami mochi….“

Moushiagemasu“, korrigierte er.

Moushiagemasu.“

„Nochmal, bitte.“

Moushiagemasu.“

„Und jetzt den Satz“, sagte Shuichi.

Kokoro kara okuyami moushiagemasu. Ich kanns.“

„Noch einmal.“

Kokoro kara okuyami moushiagemasu.

„Und noch einmal.“

Kokoro kara okuyami moushiagemasu.

„Verstehst du jetzt, warum es wichtig ist, dass du dich mit der Sprache nicht nur im Selbststudium auseinandersetzt?“

Jodie nickte. „Die Aussprache ist wichtig, aber auch die Korrektur und das Üben mit einem Lehrer.“

„Genau. Am besten du übst den Satz jede Stunde einmal. Wenn du willst, gebe ich dir meine Nummer und du schickst mir eine Sprachnachricht oder rufst mich an, wenn du übst.“

„Das wäre großartig“, entgegnete sie. „Das Angebot würde ich sehr gerne annehmen.“

James kam wieder zurück ins Wohnzimmer. „Und? Wie läuft es bei euch?“

Kokoro kara okuyami moushiagemasu.

Der ältere Agent sah sie irritiert an. „Entschuldigung angenommen.“

Jodie kicherte. „Ich habe dir gerade mein herzlichstes Beileid zu deinem Verlust ausgesprochen.“

„Oh…ah…“

„Sie hatten eine 50%-ige Chance. Nächstes Mal funktioniert es besser“, gab Akai von sich.

„Bestimmt“, nickte James. „Dann kann ich davon ausgehen, dass es gut bei euch läuft.“

„Ja“, antwortete Jodie. „Ich krieg das hin. Ich kann mich entschuldigen und ich kann mein Beileid ausdrücken. Das war genau das, was ich wollte.“

„Das freut mich sehr“, sprach er und blickte zu Akai. „Vielleicht könnten Sie ab und an mit Jodie üben…also japanisch…“

„Entschuldigung, Agent Black, aber ich hatte vorhin bereits erwähnt, dass es am besten ist, wenn sie einen Kurs besucht. Zumindest, wenn sie die Sprache weiterhin lernen will. Ich eigne mich nicht als Lehrer.“

„So war das auch nicht gemein“, gab der Ältere von sich. „Ich dachte eher daran, dass Sie ein guter Übungspartner wären, auch wenn der Kurs vorbei ist.“

Das wollte er nicht. Ganz und gar nicht, aber wie sollte er das seinem Vorgesetzten klar machen, ohne ihn gänzlich zu verprellen? „Agent Black…“, begann er.

„James, jetzt lass das doch“, fiel ihm Jodie ins Wort. „Ich habe noch gar nicht entschieden, dass ich weiter japanisch lernen will. Ich habe doch erst angefangen und die paar Wörter, die ich kann, sind doch nichts. Ich muss mir das gut überlegen, denn ich habe noch mein Studium. Und darauf möchte ich mich jetzt am meisten konzentrieren. Meine Abschlussarbeit wird bald fällig und ich muss mir auch überlegen, wie es beruflich bei mir weitergeht. Und solange ich nicht in Gefahr bin, muss ich mich nicht zwingen, eine Sprache zu lernen, die so schwer ist.“

Der Ältere runzelte die Stirn. Er konnte seine Lüge mit der Gefahr nur schlecht revidieren, denn er wusste nicht, wie Jodie darauf reagieren würde. Also würde er sie erst einmal durchziehen. Und vielleicht war Jodie tatsächlich nicht mehr in Gefahr. „Ja, du hast Recht“, sagte er. „Erst einmal das Studium, der Rest kommt dann von selbst.“

„Wann soll es eigentlich zu Chris Vineyard gehen?“, unterbrach Akai die angespannte Situation.

„Ach, genau, deswegen bin ich zurück gekommen. Ich habe vorhin mit Agent Decker gesprochen. Er hat mit dem Management von Sharon Vineyard telefoniert. Sie möchte morgen Mittag abreisen.“

„Sie will morgen Mittag abreisen?“, fragte Jodie ungläubig.

„Die Beerdigung ist bereits gewesen, sie hat sich um den Nachlass ihrer Mutter gekümmert und Beileidsbekundungen entgegen genommen. Außerdem hat sie alles mit dem Filmteam ihrer Mutter geklärt. Den Rest regelt sie über einen Anwalt, weswegen sie nichts mehr in New York hält“, erklärte James. „So wurde es Agent Decker gesagt.“

Jodie schluckte. „Und…wann kann ich…mit ihr reden, falls das überhaupt noch geht.“

James atmete tief durch. „Es wäre möglich, sich heute Abend mit ihr zu treffen. Sie ist in ihrem Hotelzimmer und würde dich…ich meine euch, erwarten. Aber nur, wenn du dazu bereit bist. Wenn es nicht geht, solltest du dich nicht dazu zwingen.“

Jodie schluckte abermals. „Ich…ehrlich gesagt, habe ich gedacht, dass ich noch ein paar Tage hätte, deswegen…bin ich eigentlich noch nicht bereit. Aber…ich möchte es tun. Ich möchte die Chance nutzen und mit ihr reden. Auch wenn es schwer sein wird.“ Jodie spürte, wie ihr Stresslevel anstieg. „Das wird schon…irgendwie.“

„Agent Akai?“

„Natürlich“, antwortete er. „Ich werde dabei sein.“

Jodie und Chris

Chris liebte das Spiel mit dem Feuer und den daraus resultierenden Nervenkitzel. Sollte sie jemals nicht mehr für die Organisation arbeiten – wobei die Gründe egal waren – würde sie das Vermissen. Ihr war klar, dass sie nicht für immer so weitermachen konnte. Irgendwann war auch ihre Zeit abgelaufen, weswegen sie alles in ihrer Machtstehende tun musste, um ein erfülltes Leben zu haben. Selbst wenn es hieß, dass sie sich ihrer eigenen Verbündeten entledigen musste. Denn die Wahrheit war, dass man auf viele Mitglieder der Organisation verzichten konnte. Selbst auf die, die man einst mochte. Und so musste auch Jefferson aus dem Weg geräumt werden. Er wurde zu ihrem Feind und wollte sie verraten. Anfangs tat es ihr zwar ein wenig leid, allerdings hatte er ihr keine andere Wahl gelassen. Er war selbst schuld, auch wenn sie ihn die ganze Zeit loswerden wollte. Doch es hätte auch andere Wege und Möglichkeiten gegeben.

Die Schauspieler blickte auf die Uhr an ihrem Handy. Sowohl Calvados als auch Irish hatten sie vor dem erneuten Treffen mit dem FBI und Jodie gewarnt. Da sie aber auf ihre Zusage bestand, hatte sich Irish weiterhin im Nachbarzimmer verschanzt und Calvados auf der gegenüberliegenden Seite des Hotels. Beide Männer waren zu allem bereit, wenn es dazu führen sollte, dass das FBI niemanden von ihnen verhaften würde. Zudem verstanden sie nicht, warum Chris so sehr auf das Treffen beharrte. Es war ein Spiel und sie wollte gewinnen. Außerdem war sie nicht nur neugierig auf die Begegnung mit Jodie, sondern auch darauf, ob man sie auf Jefferson ansprechen würde. Sie wollte wissen, was das FBI alles herausgefunden hatte und was sie glaubten.

Wie jedes Mal, hatte sie sich auch jetzt auf die verschiedensten Szenarien eingestellt und wusste genau, was sie sagen oder tun musste. Mittlerweile hatte sie sich von den FBI Agenten ein gutes Bild gemacht. Sie hatte recherchiert und kannte von Einigen sogar ihre Vorlieben und Abneigungen. Die Hausaufgaben zu machen, war das A und O in ihrem Job.

Chris leckte sich über die Lippen. Sie stand auf und ging an das Fenster. Ihren Blick ließ sie nach draußen schweifen. Sie hatte lange über ihre Abreise nachgedacht. Wann war der richtige Zeitpunkt? Dem FBI gegenüber genoss sie Straffreiheit, würde sie allerdings von der Polizei mit Mord an Jefferson in Verbindung gebracht, hatte sie ein Problem – vor allem dann, wenn das FBI ihnen einen Tipp gab. Mehr Tote konnte die Organisation in den Staaten nicht gebrauchen. Daher musste sie behutsam vorgehen, was nicht hieß, dass sie nicht mit Jodie ein wenig Spaß haben konnte. Allerdings kam es sehr stark darauf an, was das FBI und was Jodie selbst sagte oder tat. Vielleicht würde sie sogar nett zu der jungen Frau sein.

Chris erblickte die drei. Sie beobachtete wie sie das Hotel betraten und konnte sich genau vorstellen, wie sie durch die Lobby gingen, an den Fahrstühlen standen und nach oben fuhren. Als es schließlich an ihrer Zimmertür klopfte, zählte sie in Gedanken bis fünf, ehe sie zu dieser ging. Wahrscheinlich hatte sich nun auch Irish auf die Lauer gelegt und lauschte an seiner Tür. Vielleicht würde er sich nachher noch im Flur positionieren, wenn er bemerkte, dass die Wanzen im Zimmer durch ein Störgerät nicht mehr funktionierten. Sie glitt mit der Hand in ihre Hosentasche und aktivierte jenes Gerät. Sie konnte sich seinen Blick genau vorstellen und schmunzelte. Im Zweifelsfall würde sie dem FBI die Schuld geben. Die Schauspielerin atmete tief durch, fokussierte sich auf die Situation und öffnete die Tür. „Agent Black, Agent Akai“, grüßte sie die beiden Männer. „Wie schön Sie wiederzusehen.“

Black nickte. „Vielen Dank, dass Sie erneut mit uns reden, Miss Vineyard.“

„Aber natürlich“, entgegnete sie. „Allerdings muss ich sagen, dass ich über Ihre Anfrage überrascht gewesen bin. Entschuldigung, wo bleiben meine Manieren. Kommen Sie doch rein.“

„Danke“, sprach der Ältere und trat ein. „Um ehrlich zu sein, haben wir auch nicht damit gerechnet, dass wir Sie so schnell wiedersehen würden. Wir haben gehört, dass Sie morgen bereits abreisen wollen.“

Shuichi und Jodie folgten ihm. Der Agent schloss die Tür und lehnte sich gegen diese.

Chris nickte. „Ich möchte wieder zurück nach Tokyo. Das sollte für niemanden überraschend sein“, antwortete sie. „Meine Mutter wurde beerdigt und um den Nachlass wird sich gekümmert. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Das wird doch kein Problem sein oder sehen Sie das anders?“

„Nein, natürlich nicht“, gab Black von sich. Er räusperte sich und drehte sich zu Jodie um. „Das ist Miss Jodie Starling, sie wollte mit Ihnen sprechen.“

Die Schauspielerin sah zu Jodie. Sie war noch nicht zu ihrer alten Form zurückgekehrt, erschien müde und fertig. Genau das, was sie für sie geplant hatte.

„Sie wissen doch, wer die junge Frau ist.“

„Natürlich“, nickte Chris. „Wie könnte ich auch nicht?“

„Ich…“ Jodie schluckte. „Gomennasai.

„Mhm?“

Ko…kokoro kara oku…yami moushia…gemasu.“, stotterte sie.

„Vielen Dank“, entgegnete die Schauspielerin. „Wir können gerne wieder zu unserer beider Muttersprache zurückkehren.“

Jodie blickte verunsichert drein. „Ich…ich weiß nicht, ob…Sie wissen was ich…was ich…“

„Schon gut“, sagte Chris ruhig. „Ich habe gehört, was mit meiner Mutter passiert ist. Sie fühlte sich gestalkt und versuchte sich selbst zu schützen. Ich kann mir vorstellen, dass sie den Stalker mit der Sache konfrontieren wollte und dabei irgendwie auf Sie getroffen ist. Und dann haben sich im Laufe der Konfrontation mehrere Schüsse gelöst. Es…war ein Unfall.“ Ihre Stimme klang gebrochen und sie kämpfte mit den Tränen. Sie schauspielerte. „Ich bin froh, dass…dass Sie…überlebt haben, auch…wenn es meine Mutter nicht…geschafft hat.“

Jodie kamen die Tränen. „Ich habe das nicht gewollt.“

„Das weiß ich doch“, wisperte Chris. „Machen Sie…sich keine Vorwürfe. Es war…nicht Ihre Schuld.“

Jodie wischte sich das Gesicht trocken. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn und sie fühlte sich schlechter. „Ich…ich werde mir das nie verzeihen. Auch wenn Sie mir sagen, dass es nicht meine Schuld war, ich werde…immer daran denken und ich…ich werde dafür büßen und ich…“

Chris ging zu ihr und nahm ihre Hände. „So dürfen Sie nicht denken, Jodie. Sie müssen Ihr Leben weiterleben. Tun Sie Gutes…für meine Mutter. Sie schaffen das, daran müssen Sie immer denken, ja? Sie sind bestimmt eine großartige junge Frau, lassen Sie sich nicht Ihr Leben wegen eines Unfalls diktieren.“

Jodie nickte. „Miss Vineyard…“

„Es ist alles gut“, wisperte die Schauspielerin. Sie legte ihre Hand auf Jodies Wange und wischte ihr die nächsten Tränen weg. „Ich verzeihe Ihnen. Haben Sie gehört? Ich verzeihe Ihnen…“

„Ja. Ich…ich danke Ihnen…das bedeutet mir…viel. Ich werde…Sie nicht enttäuschen…“

„Braves Mädchen.“

„Agent Black?“

James nickte.

Shuichi legte seine Hand auf Jodies Schulter, während er Chris nicht aus den Augen ließ. „Ich sollte Jodie jetzt nach Hause bringen.“

„Falls Sie mal in Tokyo sind, kommen Sie mich gern besuchen, Jodie. Ich würde mich freuen, wenn wir wieder einmal reden können. Dann auch länger als jetzt.“

„Ja“, antwortete die junge Frau. „Ich…wünsche Ihnen alles Gute.“

„Ich Ihnen auch. Passen Sie auf sich auf. Ich hoffe, dass Sie Ihren Frieden finden werden.“

„Danke.“

Shuichi blickte zu James. „Ich warte unten auf Sie“, sprach er und schob Jodie langsam aus dem Hotelzimmer. Ihm behagte es nicht, welche Richtung das Gespräch einschlug.

James sah zu Chris. „Sie können das Schauspiel nun lassen.“

Chris wischte sich ihre unaufrichtigen Tränen weg und lächelte. „Sie haben mich durchschaut.“

„Da gab es nichts zu durchschauen. Ich war zwar nicht dabei, als der Deal ausgehandelt wurde, aber ich weiß, dass Sie von Jodie wissen. Sie wissen, was an jenem Abend passiert ist und welche Rolle Jodie dabei gespielt hat, auch wenn Sie nicht dabei waren.“

„Und ich dachte, Sie würden sich freuen, dass ich so auf sie reagiert habe. Natürlich hätte ich ihr auch Schuldgefühle machen können, aber wozu? Meine Mutter ist nicht mehr am Leben. Daran kann ich nichts ändern.“ Sie schmunzelte. „Jetzt wird sie keine Schuldgefühle mehr haben und kann ihr Leben wieder genießen. Sie müssen mir nicht danken.“

Black war unsicher was er davon halten sollte. Er runzelte die Stirn. Hatte sie vielleicht Hintergedanken?

„Außerdem gehört das zu unserem Deal. Ich habe doch versprochen, dass ich sie in Ruhe lasse und da kann ich ihr doch nicht ein schlechtes Gewissen machen oder ihr sonst was über meine Mutter erzählen.“

„Ich verstehe“, murmelte James. „Dafür danke ich Ihnen.“

„Agent Black, kommen wir doch jetzt dazu, warum Sie hier sind. Sie sind doch derjenige, der Hintergedanken hat.“

Black räusperte sich. Sie hatte ihn durchschaut. „Ich wollte Ihnen noch mein Beileid wegen Mister Jefferson aussprechen. Ich habe gehört, dass er sich das Leben nahm.“

Chris sah auf den Boden. „Das hat er“, entgegnete sie. „Vermutlich lag es an den Informationen, die meine Mutter gegen ihn gesammelt hat.“

„Sie wussten, dass er auch in den Unterlagen erwähnt wird?“

„Meine Mutter hat mich angefleht und mir das Versprechen abgenommen, dass ich mir die Unterlagen nie ansehe. Das war zwar schwer, aber ich habe mich daran gehalten. Nur weil ich blond bin, bin ich nicht dumm. Er hat vehement versucht, mich von dem Deal abzuhalten. Das hat mich darin bestärkt, dass er Dreck am Stecken hat. Vielleicht hat er meine Mutter sogar angestachelt. Aber wenn Sie mich auf seinen Selbstmord ansprechen, glauben Sie wohl nicht daran, dass er sich selbst das Leben nahm, nicht wahr?“

„Was ich glaube oder nicht, tut nichts zu Sache. Die Beweislage ist das, was zählt. Wir werden seinen Tod untersuchen“

„Nun gut“, entgegnete Chris. „Ich habe keine weiteren Informationen über Jefferson bekommen. Ich kann Ihnen leider nicht helfen.“

„Das bedauere ich wirklich sehr.“ James musterte sie und versuchte anhand ihrer Reaktion die Wahrheit zu erkennen.

„Stehe ich unter Verdacht irgendwas damit zu tun zu haben? Oder kann ich ruhigen Gewissens nach Japan fliegen?“

James hätte sie zu gerne in New York behalten, aber es gab keine Indizien für ein Fremdverschulden. „Sie können nach Hause fliegen. Auch ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft und möchte Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen. Vielen Dank, dass Sie sich für uns die Zeit genommen haben und Jodie gegenüber so reagiert haben.“

Die Schauspielerin lächelte. „Wie gesagt, das war Teil unseres Deals. Falls Sie doch noch weitere Fragen an mich haben sollten, können Sie mein Management gern wieder kontaktieren.“

James ging zur Tür. „Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise“, sprach er und ging.

Chris schloss die Tür und lehnte sich gegen diese. Sie kicherte. Sie hatte wieder einmal eine großartige Leistung erbracht. Ihrer Rückkehr stand nichts mehr im Wege. Und trotzdem war sie doch ein wenig traurig, denn so einfach würde sie nicht mehr nach Amerika zurückkehren – auch nicht in Verkleidung, was sie früher öfters tat. Dennoch war sie gespannt darauf, wohin sie ihr nächstes Abenteuer hinführen würde. Die Organisation hatte sicherlich schon weitere Pläne mit ihr.

Mit gemischten Gefühlen ging James zu dem Wagen, in dem Shuichi und Jodie warteten. Er stieg ein und blickte nach hinten zu der jungen Frau. „Geht’s dir gut?“

„Naja…wird schon“, murmelte Jodie. Man merkte, dass das Gespräch an ihrem Nervenkostüm gezerrt hatte. Sie war noch nicht bereit dafür, zwang sich aber trotzdem. Und auch wenn Chris nett gewesen war, fühlte sie sich nicht besser. „Sie weiß nicht, was wirklich passiert ist…“

„Jodie“, gab James leise von sich. „Sie kennt die Berichte.“

„Mag sein“, fing die Blonde an. „Aber…sie hat erzählt, dass ihre Mutter gestalkt wurde. Vielleicht hat…Sharon ihr das als Hintergrundgeschichte erzählt. Sie war…so aufrichtig zu mir und…weiß nicht, was ihre Mutter alles getan hat.“

„Das wissen wir nicht“, entgegnete Akai ruhig. „Vielleicht weiß sie es, vielleicht nicht. Die Chancen stehen 50:50. Aber ich muss ihr in einer Sache Recht geben. Du solltest dein Leben weiterleben und nicht der Vergangenheit nachhängen. Was passiert ist, kannst du nicht mehr rückgängig machen. Du musst jetzt nach vorne blicken.“

Jodie schluchzte und sah auf ihren Schoss. „Ich weiß. Und trotzdem…“

„Das braucht Zeit“, sprach James. „Die Therapie wird dir helfen.“

Sie nickte.

„Jodie? Ich weiß, dass dich meine Frage ein wenig irritieren wird, aber…kannst du dich erinnern, ob du Chris Vineyard schon mal gesehen hast? Bevor das mit ihrer Mutter passiert ist, meine ich.“ James beobachtete ihre Reaktion.

„Nein, habe ich nicht. Wir haben uns heute das erste Mal getroffen.“

Zwei Jahre später

Wie erwartet war die Kooperation der anderen Bundesbehörden sehr ausbaufähig. Sowohl das CIA als auch die Sicherheitspolizei in Japan hatten das Gespräch direkt beendet. Nur das MI6 zeigte sich kooperativ, was daran lag, dass Shuichi direkt mit seiner Mutter sprach.

Das Gespräch begann unverfänglich, zuerst redeten sie über Gott und die Welt, dann über sein Leben und zum Schluss über seine Geschwister. Gerade als Mary das Gespräch beenden wollte, nannte er ihr den wahren Grund für seinen Anruf. Sie war alles andere als begeistert und wusch ihrem Ältesten den Kopf. Doch nachdem sie sich endlich beruhigt hatte, konnte man wieder vernünftig mit ihr reden. Zu seinem Erstaunen war sogar seine Mutter in die Untersuchung gegen die Organisation involviert. Eigentlich hätte es keine Überraschung sein sollen.

Seit dem Verschwinden seines Vaters lebte Mary mit Shukichi und Masumi in Japan. Doch nachdem Shukichi Flügge geworden war und Masumi immer mehr Fragen über ihren Vater und das Leben in England stellte, kehrte Mary für einen Kurzurlaub dorthin zurück. Es dauerte nicht lange bis sie vom MI6 wieder angeworben wurde und in den aktiven Dienst zurückkehrte. Mittlerweile wusste man auch, dass Japan nicht so sicher war, wie Tsutomu annahm. Und so kehrte Mary in ihre Heimat zurück und nahm die Ermittlungen auf.

Im Vergleich zum FBI hatte das MI6 nur wenig konkrete Anhaltspunkte gesammelt, allerdings bekam Shuichi die Akten zum Verschwinden seines Vaters endlich zu Gesicht und konnte sich mit den genauen Geschehnissen auseinandersetzen – zumindest kurz.

Danach hatten er und Agent Decker es noch einmal bei der Sicherheitspolizei versucht. Die neuen Gespräche verliefen zäh und zogen sich immer in die Länge. Irgendwann stimmte das FBI einem fragwürdigen Deal zu, in dem sie ihre Daten zuerst offenlegten und darauf vertrauten, dass die Sicherheitspolizei nachzog. Obwohl Akai gar nicht mehr damit gerechnet hatte, segneten sie die Zusammenarbeit dann doch ab. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Bis alles in trockenen Tüchern war, verging mehr als ein Jahr, aber dann ging alles schnell.

Für alle Agenten, die nach Japan wollten, wurde ein Sprachkurs organisiert und jedem wurde freigestellt, ob er weiterhin gegen die Organisation ermitteln wollte. Ihre – bereits nicht so große - Gruppe wurde dadurch deutlich dezimiert. Aber damit konnten sie Leben, denn im ersten Schritt wurde nur Akai nach Japan geschickt. Einige Wochen später sollte James folgen und dann Camel. In der Zwischenzeit musste Shuichi monatliche dem FBI berichten. Er konnte sich schlimmeres vorstellen, aber vermutlich war das noch nicht alles. Was die Berichtspflicht an die Sicherheitspolizei anging, würde er erst an seinem ersten Arbeitstag erfahren.

Es juckte ihn bereits in den Händen wieder aktiv gegen die Organisation zu ermitteln. Der kurze Ausflug durch die Suche nach Jodie und die Begegnung mit Chris Vineyard hatten ihm nur einen kleinen Vorgeschmack gegeben. Wie gerne hätte er sich in ihren inneren Kreis geschlichen und die Organisation selbst infiltriert, allerdings bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sein Gesicht kannten. Dass Chris ein Mitglied der Organisation war, konnten sie mittlerweile mithilfe der Sicherheitspolizei verifizieren. Und so wie er die Schauspielerin einschätzte, würde sie nicht zögern und ihn verraten. Sie dachte eben immer nur an ihren eigenen Vorteil.

Shuichi dachte an die Worte seines Vorgesetzten – Agent Decker. Wenn es zu brenzlig wurde, sollte er abbrechen. Aber daran wollte er noch nicht denken, nicht bevor es begonnen hatte. Die Sicherheitspolizei hatte sich um eine Wohnung für ihn gekümmert und den Schlüssel in einem Schließfach am Flughafen deponiert. Am Tag seiner Abreise hatte Shuichi den Code für das Schließfach auf sein Handy geschickt bekommen. Die Miete für seine Wohnung in den Staaten und für seine neue Wohnung in Japan, trug das FBI und obwohl er für einen unbestimmten Zeitraum an die Sicherheitspolizei ausgeliehen wurde, zahlte das FBI auch weiterhin sein Gehalt. Für Außenstehende war es ein merkwürdiges Konstrukt, doch das störte Shuichi nicht. Hauptsache war, dass er sich nicht selbst darum kümmern musste. Parallel dazu hatte er alle wichtigen Unterlagen aus den Staaten mitgenommen und würde sie an einem sicheren Ort aufbewahren.

Selbst James Black hatte ihn noch einmal instruiert und gefragt, ob er sich auf die Sache wirklich einlassen wollte. Natürlich wollte er das, auch wenn er sein Leben in New York auf Eis legen musste. Nicht nur das, er würde auch zu Jodie keinen Kontakt mehr haben. In den zwei Jahren hatte sich ihr Verhältnis ziemlich verändert.

Shuichi war mitten in der Nacht aufgestanden und hatte sich im Badezimmer frisch gemacht. Anschließend ging er auf seinen Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über die Hochhäuser schweifen. Seinen Koffer hatte er am Vorabend bereits gepackt, allerdings konnte er Kleidung und andere wichtige Sachen auch in Japan kaufen. Als die Zeit voranschritt, verließ Shuichi mit gepacktem Koffer seine Wohnung und schloss die Tür. Er lief die Treppe nach unten und verließ das Wohnhaus. Sofort schlug ihm die kalte Luft entgegen.

Camel stieg aus dem Wagen und hob grüßend die Hand. „Hier bin ich“, sagte er, ärgerte sich aber im nächsten Moment über seine Aussage.

Akai ging zu ihm. „Danke, dass du mich zum Flughafen fährst.“

Camel lächelte und platzierte den Koffer im Kofferraum. Danach stiegen er und Akai ein. Camel startete den Motor und fuhr los. Die Straßen waren um diese Uhrzeit noch relativ leer, weswegen sie nicht lange zum Flughafen brauchten. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Nicht nötig. Halt dich am Riemen und komm in einigen Wochen hinterher.“ Shuichi stieg aus und holte seinen Koffer aus dem Kofferraum. Ohne eine weitere Verabschiedung betrat er den Flughafen. Er gab sein Gepäck auf und passierte die Sicherheitskontrolle. Vor dem Gate wartete er auf das Boarding. Doch es dauerte nicht lange, bis er das Flugzeug betreten konnte.

Mehrere Stunden später war er in Tokyo angekommen. Trotz allem war es ein komisches Gefühl gewesen, wieder in Japan zu sein. Beim letzten Mal machte er mit seiner Familie Urlaub am Strand. Dennoch würde er aufpassen, seinem Bruder nicht über den Weg zu laufen. Shukichi war nicht dumm und würde hinter den wahren Grund seiner Anwesenheit kommen. Aber er hatte vorgesorgt und sich bereits über den Stadtteil informiert, in dem sein Bruder lebte. Mit Glück konnte er die Begegnung umgehen.

Shuichi blickte in die Menschenmenge und beobachtete ihr Tun. Die Touristen liefen wie aufgeschreckte Hühner von einer Seite zur Anderen und wussten nicht, was sie tun sollten. Als sie danach von der Zollabfertigung herausgewinkt wurden, schienen sie überrascht zu seinen und fingen die Diskussion an. Akai holte seinen Wohnungsschlüssel aus dem Schließfach und lief zum Ausgang. Wie viele andere stellte er sich an die Bushaltestelle und wartete auf die nächste Linie. Während die Japaner zunächst die Insassen des Busses aussteigen ließen, versuchten sich die Touristen sofort in den Bus zu zwängen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass sie keinen Sitzplatz fanden oder nicht mitgenommen wurden. Shuichi stieg als letzter ein, zahlte sein Ticket und blieb im Gang stehen.

Nach rund 45 Minuten hatte er sein Ziel erreicht und stieg aus. Er blieb an der Bushaltestelle stehen. „Was wollen Sie?“

Der Mann, der ihm vom Flughafen gefolgt war, richtete seine Brille. „Selbstverständlich haben Sie meine Anwesenheit bemerkt. Mein Name ist Kazami, ich arbeite für die Sicherheitspolizei. Eigentlich wurde ich geschickt, um Sie abzuholen und herzubringen. Allerdings sind Sie am Flughafen an mir vorbei gelaufen. Ich wollte dennoch sichergehen, dass Sie problemlos hier ankommen.“

Shuichi nickte verstehend. „Danke, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich in Japan bin.“

„Selbstverständlich“, entgegnete Kazami. „Bitte Entschuldigen Sie. Nun da Sie hier sind, kann ich wieder gehen. Sollte noch etwas sein, können Sie mich natürlich erreichen.“ Er griff in seine Jackeninnentasche, zog die Geldbörse hervor und eine Visitenkarte heraus. Diese überreichte er seinem neuen Kollegen.

Akai blickte auf die Karte.

„Ruhen Sie sich aus, Jetlag ist nie angenehm. Wir erwarten Sie dann kommenden Montag bei uns im Büro. Die Adresse haben Sie?“

„Ja“, antwortete der Agent. „Bis Montag.“ Shuichi ging die Straße entlang, bis er das Wohnhaus fand. Er zog den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche heraus und öffnete die Tür. Danach ging er auf den Aufzug zu und betätigte den Knopf. Als die Tür aufging, stieg er ein und fuhr nach oben. In jeder Etage wohnten drei Parteien – die Wohnungen rechts und links waren größer und für Familien gedacht. Die mittlere Wohnung eignete sich gut für alleinstehende Personen. Akai schob den Schlüssel am Bund in das Schloss und betrat seine neuen vier Wände.

Die Wohnung war bereits möbliert und passte zu einem Mann seines Alters. Shuichi ließ seinen Koffer im Flur stehen und sah sich um. Auf der rechten Seite lag das Badezimmer. Es war klein, aber ausreichend und mit einer Dusche ausgestattet. Auf der linken Seite gab es einen Abstellraum mit Sicherungskasten. Akai schlüpfte aus seinen Schuhen und betrat den großen Wohnraum. Direkt zu seiner Linken fand er die Küche vor. Die Schränke und der Kühlschrank waren leer, sodass er in Gedanken bereits eine Einkaufsliste zusammenstellte. Er ging zurück in den Wohnraum. Auf der einen Seite standen ein Schreibtisch und ein Stuhl, auf der anderen Seite befand sich eine Wohnwand mit Sofaecke und Tisch. Von dort kam man direkt in das kleine Schlafzimmer. Es war mit einem Bett und einem Schrank ausgestattet. Ausreichend für den FBI Agenten. Vermutlich würde er den großen Teil der Zeit nicht einmal zu Hause sein.

Akai ließ sich auf das Sofa fallen. Er schloss die Augen und wollte nur einen Augenblick der Ruhe genießen. Solange er nicht einschlief, hatte er kein Problem. Es war ein ganz normales Phänomen: Jetlag. Er hatte ihn, denn egal wie sehr er sich auch vorbereitet hatte, der Jetlag kam trotzdem. Und auch wenn er in diesem Augenblick schlafen wollte, durfte er sich diesem Verlangen nicht hingeben. Denn ansonsten würde er auch noch die kommenden Tagen darunter leiden. Augenblicklich öffnete Shuichi seine Augen. Mit den falschen Gedanken würde er doch noch den Schlaf finden.

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und deaktivierte den Flugzeugmodus. Sofort erschienen die zahlreichen Nachrichten auf dem Display. Der Agent seufzte. Er sollte sich nach der Ankunft bei seinen Kollegen in Amerika melden, allerdings hieß es nicht, dass es sofort geschehen musste. Hätte er gewusst, dass sie sich nicht zurückhalten würden, hätte er sich schon am Flughafen gemeldet. Er sah vor seinem inneren Auge, wie Camel am Computer saß und die Seite der Fluggesellschaft mit dem Live-Ticker regelmäßig aktualisierte. Sie meinten es sicher nur gut, doch gerade jetzt brauchte er es nicht.

Nach und nach schrieb er jedem die Nachricht, dass er angekommen und sich in seiner neuen Wohnung befand. Das würde erst einmal reichen. Shuichi legte das Handy auf das Sofa neben sich. Kaum, dass er es nicht mehr in der Hand hielt, klingelte es. Er seufzte erneut. Statt auf die Anrufe von Black zu reagieren – die dieser während Akais Fluges tätigte - schrieb Shuichi ihm eine Nachricht. Scheinbar reichte es dem Älteren nicht. Oder es steckte mehr dahinter.

Shuichi griff wieder nach seinem Handy und nahm den Anruf entgegen. „Akai.“

„Black hier“, begann der Agent. „Wie ich gelesen habe, sind Sie gut in Japan angekommen. Hatten Sie einen angenehmen Flug?“

Shuichi war überrascht von dem Smalltalk, ging aber darauf ein. „Alles bestens. Mein Flug ging pünktlich und wir hatten keine Turbulenzen. Der Wohnungsschlüssel war im Schließfach deponiert und ich bin jetzt zu Hause. Jemand von der Sicherheitspolizei hat mich bereits aufgesucht und ich werde in drei Tagen zum Dienst erscheinen. Wie Sie sich sicherlich denken können, setzt bei mir der Jetlag ein und ich kämpfe gegen die Müdigkeit. Wenn ich nicht einschlafe, habe ich gute Chancen, dass ich nicht lange darunter leiden werde. Spätestens am Montag, meinem ersten Arbeitstag bei der Sicherheitspolizei werde ich voll einsatzfähig sein.“

„Ich verstehe“, fing James an. „Das FBI ist froh, dass Sie diesen Einsatz in Japan übernehmen und so viel für uns tun. Falls Sie unsere Unterstützung benötigen, scheuen Sie sich nicht zu Fragen.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich weiß, was ich tue oder tun muss“, entgegnete Shuichi. Er zögerte. „Agent Black?“

„Ja?“

„Das ist sicherlich nicht der einzige Grund, warum Sie angerufen haben. Wir haben bereits vor einigen Tagen darüber gesprochen und meine Nachricht haben Sie auch gelesen. Außerdem haben Sie es schon die ganze Zeit über versucht, sogar als ich noch in der Luft war und nicht rangehen konnte.“

Black schluckte. „Es geht um Jodie.“

Akai verengte die Augen. Jodie war immer noch ein heikles Thema. „Was ist passiert?“

„Sie hat es wieder getan.“

„Sie hat was getan?“

„Sie ist wieder verschwunden. Und sie hat schon wieder einen Abschiedsbrief hinterlassen.“

Ein neues Kapitel

Sie ist wieder verschwunden. Und sie hat schon wieder einen Abschiedsbrief hinterlassen.

Shuichi blickte schockiert drein. Eigentlich dachte er, dass sie über diesen Punkt hinaus wären. Ohne es damals wirklich zu wollen, hatte er doch viel Zeit mit Jodie verbracht. Nachdem sich ihre Wege eigentlich wieder trennten, hatte sie sich dazu entschlossen, einen Sprachkurs zu belegen und japanisch zu lernen. Immer wenn sie Fragen zu dem Unterrichtsstoff, den Hausaufgaben oder Hilfe beim Lernen brauchte, hatte sie sich an ihn gewandt. Aus ihrem zaghaften Neuanfang hatte sich eine ganz besondere Freundschaft entwickelt. Jodie vertraute sich ihm oft an – besonders dann, wenn ihr etwas auf dem Herzen lag. Er hingegen redete wenig, aber es passte gut zusammen.

Doch dann wurde es noch komischer. Wie ausgehandelt, hatte Jodie eine Therapie begonnen und alles, was geschehen war, aufgearbeitet. Nach und nach konnte sie mit der Situation leben, ohne in Tränen auszubrechen. Sie beendete ihr Studium, arbeitete für einige Wochen in Vollzeit in der Detektei von Edward Sherman und bewarb sich für eine Ausbildung zur FBI Agentin. Die Voraussetzungen dafür erfüllte sie auf jeden Fall. Von ihren Plänen hatte Akai sehr spät erfahren, eigentlich sogar erst dann, als alles in trockenen Tüchern war. Er war zwiegespalten, denn einerseits freute er sich, dass sie Pläne für ihr Leben hatte, aber andererseits wusste er nicht, ob es das Richtige für sie war.

James hingegen nahm es nicht so positiv auf. Statt Jodie zu unterstützen, versuchte er sie davon zu überzeugen, dass sie für das Leben einer Agentin nicht geschaffen war. Aber Jodie ignorierte seine Argumente und seine Versuche, denn sie hatte ein klares Ziel vor Augen: Die Organisation vernichten.

Nur durch einen Zufall kam Jodie dahinter, dass Sharon nicht allein gearbeitet hatte. Seitdem hatte sie ein neues Ziel in ihrem Leben und sich vehement in den Kopf gesetzt, die Hintermänner einzusperren und dafür zu sorgen, dass andere Familien nicht leiden sollten. Nicht so wie sie zu jener Zeit. Als sie dann noch Zugriff auf die Fallakten ihres Vaters erhielt, gab es für sie kein Halten mehr. Eigentlich waren diese streng vertraulich, aber als Familienangehörige hatte sie einen ganz anderen Stellwert. Anders als erwartet, blieb Jodie sogar ruhig, als sie die ganze Wahrheit langsam zusammensetzen konnte. Es hatte sich alles gefügt und das Rätsel gelöst, warum es Sharon auf ihren Vater abgesehen hatte. Es machte alles Sinn. Danach hatte sie sich in den Kopf gesetzt, das Team zu unterstützen, welches nach Japan geschickt wurde. Mit ihren Sprachkenntnissen hatte sie gute Chancen gehabt, doch letzten Endes fehlte ihr immer noch die Erfahrung, die die anderen Agenten besaßen. Zumindest war das die offizielle Begründung für die Ablehnung.

Zwei Tage bevor Akai abgereist war, hatte er sich von Jodie verabschiedet. Das Knistern zwischen ihnen bestand schon länger, entlud sich aber erst, als ihr Abschied bevor stand. So hatten sie die Nacht zusammenverbracht, waren aber dennoch kein Paar. Und wollten es auch nicht sein.

Shuichi hatte nicht daran geglaubt, dass er Jodie in den nächsten Jahren wiedersehen würde. Aber der Anruf verhieß etwas Anderes. Seine Gedanken rasten und er hatte eine leise Ahnung, was noch auf ihn zu kommen würde. Der Agent verengte die Augen. „Was soll das bedeuten? Sie ist wieder verschwunden…“

James seufzte leise auf. „Jodie hat mir eine Nachricht, nein, einen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie wollte nach Japan.“

„Sind Sie sicher, dass es ein Abschiedsbrief war?“

„Natürlich bin ich mir sicher“, antwortete James. „Sie hat mir damals auch einen Abschiedsbrief geschrieben.“

Der Agent überlebte. „Damals hat Jodie geschrieben, dass sie Abstand braucht und ein neues Leben anfangen will. Zu jener Zeit wusste keiner, wo sie sich aufhielt. Dieses Mal hat sie Ihnen einen Ort angegeben. Das ist schon mal ein Fortschritt.“

„Schon“, murmelte er. „Aber…das wurde nicht autorisiert.“

„Autorisiert? Ich weiß, dass Jodie mit nach Japan wollte, um uns zu unterstützen“, fing er an.

„Und das haben wir ihr untersagt“, unterbrach der Ältere.

„Das heißt, sie hat gegen die Arbeitsanweisungen des FBIs verstoßen.“ Shuichi wusste, dass damit Jodies Karriere endete, ehe sie überhaupt anfing. „Ich denke, Jodie hat Ihnen keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie wollte nur, dass Sie wissen, wo sie ist. Es ist nicht das gleiche, was sie vor einigen Jahren tat.“

„Agent Akai.“ Er wurde böse. „Sie müssen mir die Worte nicht im Mund umdrehen. Es reicht doch aus, dass Jodie wieder einfach so gegangen ist.“

„Dann wird das FBI sie für diese Handlung maßregeln. Wenn ich sie in Japan sehe, setze ich sie in den Flieger zurück.“

James schwieg.

„Agent Black?“

„Jodie hat seit gestern Urlaub“, murmelte der Agent. „Sie hat den Antrag schon vor einigen Wochen gestellt und…geplant nach Japan zu fliegen.“

Shuichi seufzte. „Sir, ich verstehe, dass Sie wegen Jodie besorgt sind. Sie ist damals verschwunden, weil sie sich in einer Ausnahmesituation befand. Aber jetzt ist es ganz anders. Jodie will uns jetzt nur helfen. Sie müssen aufhören daran zu denken, was damals passiert ist. Die Situationen sind nicht vergleichbar. Jodie hat an sich gearbeitet und sie weiß, was sie Ihnen damals angetan hat. Versuchen Sie mit ihr umzugehen, wie mit jedem anderen Agenten. Sie sollten ihr nicht immer jeden Wunsch erfüllen und genau so dürfen Sie nicht immer alles verneinen. Sie gehen bei Jodie von einem Extrem ins andere. Wenn Sie damit weitermachen, verlieren Sie sie möglicherweise wirklich. Agent Black? Sie können nicht alles kontrollieren und Sie sind in der Vergangenheit gefangen.“

James schluckte. „Ich…“

„Denken Sie in Ruhe darüber nach“, begann Akai. „Sie haben gesagt, dass Jodie Urlaub genommen und nach Japan gekommen ist. Seien Sie darüber froh, Sie wissen, wo Jodie ist. Es ist also nicht wie damals. Das sind für uns alle gute Nachrichten.“ Es wäre schlimmer, müsste er wieder aktiv nach Jodie suchen.

„Aber Jodie…sie…sie wird…“

„Ich weiß, sie will aktiv gegen die Organisation ermitteln. Aber nur weil sie es will, heißt das nicht, dass sie es auch tun wird. Wenn ich sie in Japan treffen sollte, werde ich sie daran erinnern, dass sie eine Agentin ist und dass sie nicht tun kann, was sie möchte. Wenn es sein muss, zeige ich ihr Tokyo und setze sie nach ihrem Urlaub in das Flugzeug nach New York. Können Sie damit leben?“

„Ja…“, murmelte James leise. Er war frustriert, wusste aber, dass es so das Beste war. Am liebsten hätte er sich sogar sofort selbst in den nächsten Flieger gesetzt und wäre nach Japan gekommen. Doch das war nicht der Plan.

„Gut. Wenn ich Jodie getroffen habe, werde ich Sie anrufen. Nein, wir werden Sie zusammen anrufen. Und Agent Black? Dürfte ich Ihnen noch einen Rat geben?“

„Ich dachte, das eben war der Rat?“

„Nein, das war meine Meinung.“

„Na gut, sagen Sie, was Sie sagen wollen.“

Akai kannte Jodie gut. Sie würde sich nicht davon abbringen lassen in Japan zu bleiben. Der Urlaub war bereits ein guter Schachzug. Aber irgendwann musste sie wieder zurück. Selbst wenn sie kündigte, konnte sie nicht ewig in Tokyo bleiben. Irgendwann würde sie ein Visum brauchen und auch dieses war nicht ewig gültig. Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass Jodie für den Fall abgelehnt wurde, aber sie wird nicht aufgeben. Wie wir anderen hat sie sich auch darauf vorbereitet. Wenn Sie nicht möchten, dass Jodie irgendwas auf eigene Faust macht, reden Sie mit Agent Decker und sorgen Sie dafür, dass Jodie in Japan ermitteln kann. Sie wird Ihnen dafür dankbar sein, dass Sie es von sich aus gemacht haben.“

„Mhm…“, gab Black nachdenklich von sich.

„Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ich weiß, es ist für Sie schwer, aber Jodie ist erwachsen. Sie muss ihre eigenen Entscheidungen treffen.“ Er stand auf. „Ich muss das Gespräch jetzt beenden. Wie gesagt, wenn ich Jodie getroffen habe, melde ich mich. Auf Wiederhören“, fügte er hinzu und legte auf.

„Agent Akai…“ Aber es war zu spät. James seufzte und grübelte.

Shuichi steckte das Handy in seine Hosentasche und ging in den Flur. Er zog sich Jacke und Schuhe an und ging nach draußen. Ein klein wenig ärgerte er sich über sich selbst. Er kannte Jodie und er hätte wissen müssen, dass sie nicht einfach so aufgab. Er war ihr aber auch dankbar, denn es lenkte ihn von seinem Jetlag ab. Doch das würde er nicht zugeben.

Mit dem Bus fuhr Shuichi zum Flughafen. Dort angekommen, blickte er auf die Anzeigetafel. Hätte Jodie im gleichen Flugzeug gesessen, hätte er sie bemerkt. Also musste sie in einem späteren Flieger sitzen – wenn sie am Flughafen in Haneda landete. Akai hörte auf sein Bauchgefühl und begab sich in die kleine Flughafenbar. Dann wartete er. Und wartete. Und wartete.

Einige Stunden später klingelte sein Handy. Er holte es hervor und strich über das Display. Anschließend las er die eingegangene Nachricht. Sie war von Jodie: Überraschung ;) Ich bin jetzt auch in Japan. Jodie

Der Agent lachte. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie schaffte es, ihn zu überraschen. Shuichi stand auf und machte sich auf den Weg zur Gepäckausgabe. Als er ihr blondes Haar erblickte, ging er zu ihr. Gerade als sie nach ihrem Koffer greifen wollte, kam er ihr zuvor.

Sie blickte zu ihm. „Shu.“ Jodie lächelte. „Das ging ja schneller als erwartet.“

„Weißt du eigentlich, was du getan hast?“

„Natürlich“, nickte Jodie. „Ich habe Urlaub genommen und bin hergekommen. Drei Wochen für Sightseeing. Ist das nicht großartig? Aber du musst mir nicht alles zeigen, ich will dich ja nicht von der Arbeit abhalten.“

Er seufzte. „Du wusstest, dass mich Black anrufen würde, nicht wahr?“

„Natürlich“, antwortete Jodie. „Ich kenn ihn schon seit Jahren. Was hat er dir denn erzählt? Das ich einfach so verschwunden bin? Wenn ja, stimmt das nicht. Ich habe mich mit James vor einigen Tagen sehr ausgiebig über das Thema unterhalten und er lehnte ab, dass ich euch unterstützen kann. Er hat sogar dafür gesorgt, dass mich Agent Decker ungeeignet fand. Sie haben es dann damit begründet, dass ich zu wenig Erfahrung habe. Aber weißt du was? Wie soll ich Erfahrungen sammeln, wenn mir keiner die Chance dazu gibt? Also dachte ich mir, dass ich einfach mal herkomme. Und in drei Wochen, wenn mein Urlaub vorbei ist, fliege ich wieder zurück.“

„Du machst es dir wirklich einfach. Er meinte, du hättest den Urlaub schon eher eingereicht.“

„Das stimmt. Es war eine Absicherung.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist ja auch so einfach. Außerdem habe ich James doch darüber informiert. Ich weiß gar nicht, was das Problem ist. Ich habe James sogar geschrieben, dass ich gut gelandet bin und auch, dass ich mich bei dir gemeldet hab. Soll ja keiner auf die Idee kommen, dass ich abgehauen bin.“

„Du bist wirklich eine Nummer für sich, Jodie.“

Sie schmunzelte. „Das nehme ich mal als Kompliment.“

„Du willst also wirklich hier bleiben?“ Er wirkte unsicher.

„Klar. Ich habe ja Urlaub und ich kann japanisch“, antwortete sie. „Können wir jetzt gehen? Ich hab Jetlag und möchte etwas Essen, aber auch duschen und dann schlafen.“

„In welchem Hotel bist du untergekommen?“

„Öhm…“, sie kratzte sich an der Wange.

„Das ist nicht dein Ernst…“

„Ich habe halt alles auf eine Karte gesetzt. Da ich gewusst habe, dass dich James informieren würde, bin ich davon ausgegangen, dass ich mit zu dir komme. Ich hätte ja auch ein Hotel gebucht, allerdings waren die meisten bereits ausgebucht. Und wenn es gar nicht gegangen wäre, hätte ich hier schon sicher irgendwas Überteuertes gefunden.“

Der Agent musterte sie. „Du traust dich ja viel.“

„Geht ja nicht anders“, gab sie von sich. „Ich hab in den letzten beiden Jahren sehr viel gelernt. Deswegen musste ich das auch tun. Kannst du das denn gar nicht verstehen?“

„Ich verstehe vieles“, entgegnete Shuichi. „Aber du kannst nicht nur das tun, was du willst. Auch wenn Black dafür gesorgt hat, dass man dich nicht für Japan auswählt, kannst du nicht einfach herkommen.“

„Du siehst doch, dass ich das kann.“ Jodie lächelte. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde dich nicht bei der Arbeit behindern. Du wirst gar nicht mitbekommen, dass ich hier bin.“

„Oh man…“, murmelte Shuichi. „Dann lass uns gehen. Aber ich kann nicht versprechen, dass dich das FBI in Japan lässt, wenn dein Urlaub vorbei ist.“

„Das weiß ich doch“, nickte sie. „Vielleicht kann ich euch in den drei Wochen beweisen, dass ich hier her gehöre.“

„Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.“

Sie streckte ihm kichernd die Zunge raus. „Manchmal muss man eben Hintergedanken haben. Und ich kann doch auch im Urlaub arbeiten.“

„Du bist wirklich eine Klasse für sich.“

„Danke“, gab Jodie von sich. „Oh, warte kurz“, fügte sie hinzu, als ihr Handy klingelte. Sie holte es aus der Handtasche und rief die eingegangene Nachricht auf. Sofort lächelte sie. „Schau mal.“ Sie hielt es ihm vor das Gesicht. „James schreibt, dass sich das FBI dazu entschlossen hat, mir in Japan eine Chance zu geben. Mein Urlaub ist aufgehoben und ich darf dich unterstützen. Erst einmal soll ich mich hier einleben und dir bei der Arbeit über die Schulter schauen.“

Ein wenig irritiert las Akai die Nachricht. Er hatte James zwar selbst dazu geraten, aber nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde. „Das ist…“

„Großartig, nicht wahr?“, wollte die Agentin wissen. Sie sah nun wieder selbst auf das Display und scrollte bei der Nachricht nach unten. „James kümmert sich um den Rest. Vielleicht arbeiten wir dann zusammen im Büro der Polizei. Da ist mein Plan doch gut aufgegeben.“

„Dein Plan…?“ Sie war wirklich etwas Besonderes.

Jodie schmunzelte. „Um ehrlich zu sein, bin ich nicht nur davon ausgegangen, dass James dich anruft, sondern auch, dass du ihn überzeugen würdest, dass ich hier bleiben und arbeiten kann.“

„Oh man…“ Shuichi schüttelte den Kopf und lachte. Damit begann ein neues Kapitel in ihrem Leben.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Frohes neues Jahr :) Ich hoffe, ihr seid gut reingerutscht.

Wir sind hier schon fast am Ende ;) Daher werf ich mal folgende Fragen in die Runde:
Wollt ihr eine Fortsetzung? Und wenn ja, in einer eigenen FF oder soll ich hier einfach weiter machen? Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Nickay
2022-10-15T15:12:57+00:00 15.10.2022 17:12
waaaaaaaas :o :o :o
Das kannst du doch nicht machen!
Nun soll Jodie 2 Menschen auf dem Gewissen haben :o
Also sie soll das denken aber :o :o
Antwort von:  Varlet
16.10.2022 19:39
Danke für deinen Kommentar,

ich bin manchmal schon etwas Graumsam *hüstel* Zum Glück wird sie ja Shu haben ;)
Von:  Nickay
2022-09-29T20:37:46+00:00 29.09.2022 22:37
Ich war hier lange nicht mehr unterwegs und bin mal wieder auf eine tolle Fic von dir gestoßen.
Ich finde es grausam, dass Jodie ihren eigenen Dad erschoßen hat =( auch wenn es ein Unfall war.
Mit dieser Schuld leben zu müssen... auch wenn ihr Hirn es verdrängt, das wird wirklich grausam werden.
Ich hoffe Shuichi findet sie schnell, ehe die falschen Leute sie finden.
Antwort von:  Varlet
03.10.2022 11:16
Danke für deinen Kommentar :)

Mein Hirn produziert manchmal wirklich grausame Szenarien, aber es hat mich in den Fingern gejuckt, dazu was zu schreiben, auch mit dem Fokus beim FBI.
Ich bin auch schon gespannt, wie ich die Geschichte enden lasse *lach* ich krieg jedes Mal, wenn ich ein Pitelchen schreib, Ideen für den weiteren Verlauf und nun überlege ich, ob ich mein geplantes Ende nicht doch über den Haufen werf und mich einer anderen Idee hingeb :D

Antwort von:  Nickay
03.10.2022 23:31
Woooooah ich kenne das! Oder du machst ein alternativ Ende. Bis zu einem gewissen Punkt ist die Story ja sicher identisch. Heißt Fall 1 kannst du ja wie geplant enden und dann gibt es einen Fall 2, bzw ein 2. Ende und da gibt es dann den Hinweis auf ein alternativ Ende. Hab für meine Story die ich im Kopf habe eigentlich auch alles durchgeplant, aber dann kommen immer wieder andere Ideen und die machen es einfach nicht leichter haha.
Ich hoffe einfach, ich muss nicht zu lange darauf warten xD
Bin leider ein ziemlich ungeduldiger Mensch haha


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