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Zeit der Kolibris

von

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Kapitel 1

Zugegeben, dies ist nicht nur eine Geschichte über einen geistig behinderten Menschen und dessen Versuche, am Leben teilzunehmen - und allein das ist ein Wagnis -, sondern auch der Versuch, über einen Regisseur zu schreiben, der sich in der ehemaligen DDR vor allem durch seine hochsensiblen und gleichsam kritischen Filme einen Namen machte, in der Nachwendezeit jedoch nur noch Serien und Schinken für das Unterhaltungsprogramm drehte. Im Übrigen traf dieses Schicksal nicht nur ihn allein, sondern all jene, die sich nach Auflösung der DEFA plötzlich von Arbeitslosigkeit bedroht sahen. So einige ergingen sich im "Traumschiff" etc. Wie fühlt es sich an, plötzlich nicht mehr gebraucht zu werden, die eigene Arbeit nicht mehr geachtet und beachtet zu sehen und zugleich dazu gezwungen zu sein, durch seichte Unterhaltung das tägliche Brot zu verdienen? Derjenige, dem ich durch diese Geschichte näher kommen möchte, ist daran zerbrochen und viel zu früh verstorben. In einem seiner letzten Interviews sagte er: "Ich lebe einfach weiter." Drei Wochen später war er tot. Mein Freund besuchte ihn damals in Potsdam-Babelsberg, da war er gerade auf dem Dach seines Hauses - er drehe nur noch, so sagte er, um das Haus halten zu können. Aber eben das, mag es auf den heutigen Leser noch so vertraut wirken, war nicht sein Anspruch, den er ans Filmemachen hatte. Die Kunst galt ihm nicht nur als Möglichkeit des Geldverdienens durch die Schaffung von billigem Amüsement, purer Unterhaltung, gar Augenwischerei. Frei nach Brecht wollte er Widersprüche und Missstände innerhalb der Gesellschaft aufdecken, wollte bewegen, aufrütteln, zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Er wollte Reales, Greifbares, unmittelbar Bestehendes erzählen ohne einem platten Naturalismus zu verfallen, wollte, dass sich die Menschen in seinen Filmen wiedererkennen, sich mit den Figuren identifizieren. Dazu bedurfte es aufrichtiger, zutiefst ehrlicher Geschichten, die die Menschen unmittelbar angingen. Er wollte dazu beitragen, dass die Gesellschaft, in der er lebte, eine bessere werde. Und das war die in der DDR. Eine andere Welt kannte er nicht. Wollte er das überhaupt, eine andere Welt kennenlernen. Das lässt sich natürlich fragen. Wäre er dazu fähig gewesen, sich irgendwann doch zurechtzufinden in einer Welt, die nie die seine, ihm fremd war?
 

In meiner Geschichte nun stelle ich mir die Frage, wie sein Leben aussehen könnte, weilte er noch unter uns. Welchen Stoffen würde er sich heutzutage zuwenden? Und würde er es schaffen, im geeinten Deutschland anzukommen, also wieder das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden?
 

 

in

memoriam

Heinrich "Heiner" Carow

(1929-1997)

 

 

 

„Sterben“, sagte er, „bald sterben“, dann neigte er sich zur Seite und fuhr mit der Hand durchs Wasser, ehe er sich an seine Mutter wandte und erneut sagte: „Sterben, ganz gewiss.“
 

Dabei deutete er auf sich und verzog das Gesicht – angstvoll, sodass ihn seine Mutter in den Arm nahm, tröstend und zugleich versuchend, seinem schluchzenden Heulen Einhalt zu gebieten. Es war ihr nicht peinlich, dass sich einige der Leute, die mit ihnen im Kahn saßen, umgedreht hatten und sie und ihren Sohn fragend, wenn nicht gar irritiert und missbilligend ansahen und somit gleichsam aus der kahnfahrenden Masse heraushoben. Wohl aber störte es sie, dass all diese Leute Zeuge wurden, wie sich ihr Sohn an ihr barg. Und um sich selbst zu beruhigen, zwang sie sich zu einem Lächeln, das vor allem auch den Schaulustigen galt und ihnen signalisieren sollte, dass nichts sei. Nichts, woran sie sich stören müssten und was ihren Ausflug gefährden würde. Dann senkte sie wieder den Blick, sah auf ihren Sohn hinab, der schniefend an ihrer Brust ruhte, und fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, die Wange. Er schnaufte laut, so als sammelte er Kraft, und sie sprach beruhigend auf ihn ein, während sie ihren Blick über die grünen Weiten links und rechts des urtümlich gehaltenen Kanals gleiten ließ. Sich ablenkend. Nun, weniger von den Blicken und dem nun einsetzenden Getuschel, als vielmehr von dem Wissen, dass er diese Worte nicht zum ersten Mal gesagt hatte – und das mit einer Überzeugung, so als wüsste er tatsächlich um seinen baldigen Tod. Unwillkürlich drückte sie ihn fester an sich.
 

„Mama“, hörte sie ihn da murmeln und er sah sie von unten her an. In seinen Augen erkannte sie Tränen, die ihr, da sie sich zu ihm hinabneigte, die Kehle zuschnürten. Auch sie befürchtete, weinen zu müssen, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn ab und ein: „Matthias, alles ist gut“, ins Ohr flüsterte.
 

Aber es war nicht gut. Das spürte sie. Obwohl er vollkommen gesund war, wie ihr seine Ärztin bescheinigt hatte, wusste sie, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte. Nur sagen konnte er es nicht. Dazu fehlten ihm die Worte. Und malen, wie es der Psychologe versucht hatte, um eine gemeinsame Sprache mit ihm zu finden, wollte auch nicht gelingen.
 

Wieder ließ sie ihren Blick über das Grün gleiten, das sich so undurchdringlich ausnahm. Eine rätselhafte, ja geradezu verwunschene Landschaft, fand sie.
 

Matthias hatte nur lustige Gesichter gemalt, zumeist auch sich selbst und sie, zuletzt sogar, wie sie beide zusammen in einem Kahn saßen. Sie musste lächeln, denn gerade durch seine Zeichnungen war sie auf die Idee gekommen, hierher in den Spreewald mit ihm zu fahren – um ihm und auch sich Ruhe zu gönnen, und Abstand vom alltäglichen Stress der allzu lauten Großstadt, die nur eineinhalb Stunden entfernt lag. Für ein paar Tage hatten sie sich hier in einer kleinen Pension eingemietet. Ruhig gelegen und auch nicht allzu teuer war das Zweibettzimmer.
 

Matthias hatte sich gefreut, als er verstand, was seine Mutter mit ihm vorhatte. Er hatte sie sogar angestrahlt, wie nur er es konnte und sein helltönendes Lachen von sich gegeben.
 

„Bootfahren“, hatte er dann mühsam hervorgebracht und sich an sie geschmiegt.
 

„Ja, Bootfahren“, hatte sie ihm zugestimmt und gehofft, dass er hier, so fern der Großstadt, auf andere Gedanken käme, ja, dass ihn der Ort sein Trauma vergessen ließe, zumindest für eine Weile. Denn vor nicht einmal einem Jahr hatte er auf dem Weg zu seiner Arbeit einen Verkehrsunfall miterlebt. Danach hatte er sich nicht mehr allein aus dem Haus getraut, hatte sogar geweint und gebrüllt, wenn ihn sein Pfleger hatte abholen wollen. So hatte sie ihn schließlich jeden Morgen selbst in seine Werkstatt gebacht, ehe sie zu ihrer Arbeit, einer Grundschule in der Nähe. Sie war Lehrerin, jedoch nur in Teilzeit. Er hatte ihr damals nur stockend davon erzählen können, was geschehen war, an diesem Montagmorgen im Frühherbst, um kurz vor 8.
 

„Auto“, hatte er gestammelt, die Fäuste geballt und sie sich an den Mund gepresst und dann: „Fahrrad kaputt … Mann kaputt ...“ hinzugefügt, obwohl der Radfahrer den Unfall, gleichwohl verletzt und im Krankenhaus liegend, überlebt hatte. Für ihn war er tot. Und das selbst dann noch, als sie den jungen Mann zusammen mit Matthias besucht hatte und der ihm sogar die Hand gereicht und ihm freundlich lächelnd erklärt hatte, dass er nur einen Schock und einen Beinbruch erlitten hätte und wohl deswegen wir tot dagelegen habe.
 

„Mann ... lebt“, hatte sie es ihm in vereinfachter Sprache zu erklären versucht und dabei immer wieder auf den geduldig ausharrenden Mann gedeutet. „Lebt. Lebt.“
 

Doch Matthias hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Für ihn war er tot. Am Abend hatte er sogar geweint, wohl aus Trauer um diesen jungen Mann, dessen Hand er doch so bereitwillig geschüttelt hatte. Und dann war ihm zum ersten Mal das Wort storben über die Lippen gekommen.
 

Damals hatte Simone geglaubt, der Verkehrsunfall habe ihren Sohn so sehr traumatisiert, dass es für ihn gänzlich unvorstellbar war, der Mann könne noch leben und er nun gleichzeitig davon überzeugt sei, in Kürze ebenfalls sterben zu müssen. Es war genau eine Woche nach dem Unfall, und sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen – sie saßen zusammen auf einer Bank im Tiergarten, da sagte er plötzlich und wie aus dem Nichts kommend: „Bald sterben“ und deutete auf sich.
 

Simone hatte diese Selbstverständlichkeit, mit der er die Worte hervorgebracht hatte, schockiert. Da war kein Fragen in ihnen gewesen, keine Unsicherheit, die nach Vergewisserung suchte, sondern es schien so, als treibe ihn tiefste Überzeugung an, es ihr, seiner Mutter zu sagen, dass er bald sterben werde. Und dann hatte er sie einen Moment lang nur angesehen mit seinen graublauen Augen, ernst, ja tatsächlich wissend, ehe er sein Gesicht verzogen und sich an ihr geborgen hatte, so wie auch jetzt, um sich schluchzend Trost zu holen.
 

Doch im nächsten Moment, und das überraschte sie, sah er auf und lächelte sie an, so als habe er vergessen.
 

„Mama lieb“, sagte er.
 

Auch jetzt, da sie in Lehde, einem alten Spreewalddörfchen, zur Mittagspause anlegten, schien er vergessen zu haben, denn kaum war der Kahn vertäut, sprang er auf und wollte hinaus. In seinem Gesicht ein großes, strahlendes jungenhaftes Lächeln. Und als sie ihn wenig später fragte, ob ihm die Plinsen schmeckten, lachte er laut auf, so laut, dass ihn wieder die Blicke der anderen trafen. Zumal er auch den Kopf in den Nacken warf und mit dem Löffel in der Hand auf den Tisch klopfte, ein helles „Ha ha ha“ hervorbringend. Nur mit Mühe konnte sie ihn beruhigen, indem sie ihn am Ohr berührte. Sofort zuckte er zusammen, zog die Schulter hoch und juchzte.
 

„Leise“, sagte sie sanft und kitzelte ihn leicht. Er gluckste, zog die Nase kraus. „Leise“, wiederholte sie, „ganz leise.“ Dann strich sie ihm mit den Fingern über die Schläfe, deutete auf ihr eigenes Essen, machte: „Hmmm, lecker.“
 

„Lecker“, wiederholte er und nickte.
 

Er hatte verstanden, schmiegte sich einen Moment lang an sie und rieb seinen Kopf an ihr, so, wie es eine Katze tut, ehe er sich seinem eigenen Teller zuwandte und die Häppchen, die sie ihm zuvor geschnitten hatte, mit Hilfe des Zeigefingers auf seinen Löffel schob und sich den dann an den Mund hob. Langsam, ganz langsam, um nichts zu verkleckern, denn das mochte er gar nicht.

Kapitel 2

Matthias aß mit solchem Appetit, dass es Simone freute. Ihr wurde gar leicht ums Herz, ihn so essen zu sehen, wenn er sie mit vollem Mund zwischen zwei Bissen anlachte und sich dann wieder über seinen Teller beugte, so tief, dass er beinah mit der Nasenspitze ans Essen stieß. Wann immer er dies tat, so wusste, Simone, war er zufrieden – dann existierte kein Wölkchen an seinem Himmel. Und wenn er dazu beim Kauen die Augen schloss, sich dann ruckartig nach hinten lehnte und ein Hmmm ausstieß, war ihm wohlig zumute. Durchdrungen war er von positiven Gefühlen, von wunderbaren Gefühlen, von Gefühle, die sie ihm als Mutter immer wieder wünschte. Und so berührte sie ihn an der Hand, begann ihn zu streicheln. Er öffnete daraufhin die Augen, sah sie an.

 

„Mama“, sagte er mit seinem leicht verschmierten Mund. Und noch einmal: „Mama.“

 

Sie lächelte. „Matthias.“ Dann hob sie die Hand, berührte ihn an der Wange. Sie hoffte so sehr, dass es ihm gut ginge, dass er diese Phase überwinden und was immer ihn dazu trieb, so etwas zu sagen, vergessen würde.

 

Sie presste die Lippen fest aufeinander, griff dann zu ihrem Glas Rhabarbersaftschorle, nahm einen Schluck – all das, ohne ihren Blick von ihrem Sohn zu lassen, der da vor ihr saß und sie anstrahlte mit seinen hellgraublauen Augen, den Augen eines Kindes – ihres Kindes, ihres Sohnes, ihres einzigen.

 

Später im Kahn – sie saßen nun ganz vorn, ein Mann hatte ihnen den Platz angeboten – schmiegte sich Matthias wieder an sie und sie legte ihren Arm um ihn, hielt ihn ganz fest – so fest sie nur konnte, schloss kurz die Augen, Ja, er war ihr Sohn, ihr Matthias. Ihm durfte nichts Böses geschehen und er sollte keine bösen Gedanken haben, die ihn traurig machten. Sie als eine Mutter würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn glücklich zu machen.

 

Und so glitten sie weiter ins Grün hinein, links und rechts von sich Wiesen, auf denen Rinder und Schafe grasten, vorbei an einem uralten Bauernhaus, auf dessen Hof, sich zwei Hühner jagten. Matthias lachte und deutete mit dem Finger auf die beiden Tiere. Es gefiel ihm, denn er lachte noch immer, als sie diese Szene schon längst hinter sich gelassen hatten. Bisweilen kam es ihr so vor, als zeigte sich ihnen all das wie auf einer Drehbühne im Theater – und sie die Zuschauer in ihrem Kahn, nahmen teil an der Schönheit und Anmut, aber auch an der verträumten Urtümlichkeit dieser Landschaft, die die letzte Eiszeit geformt hatte und vom Menschen seit über 700 Jahren bewohnt war. Der Tourismus allerdings setzte erst vor rund 160 Jahren ein. Heute war es eines der bekanntesten Urlaubsgebiete.

 

Sich diesen Gedanken hingebend, begann sie Matthias zu streicheln, auch küsste sie ihn schließlich auf den Kopf. Sie tat das beinahe schon unbewusst, wurde sich dessen gewahr und küsste ich noch einmal, hob dann den Blick bis hinauf in die tiefgrünen Kronen der uralten Bäume. Wunderbar. Wie wunderbar das war, sich gleiten lassen zu können. Und wenn sich die Menschen um sie herum nicht immer wieder in Gesprächen ergangen wären, hätte Stille auf diesem Kahn geherrscht. Eine tiefe Stille, die vom Land herkommend, sich wie Nebel heranschob und in die sie nun hineinfuhren. Immer mal wieder war es ihr möglich, dieser Stille zu lauschen, dann nämlich, wenn alle schwiegen. Wie frisch, erquickend sie wirkte, diese Stille – einer Quelle gleich, die den Tiefen des Erdbodens entsprungen, nun an die Überfläche trat. Und sie trank, trank mit begierigen Schlucken, ehe sie wieder von Stimmen gestört, die Verbindung verlor.

 

Eine Fahrt ganz allein – wenn das möglich wäre. Sie begann zu träumen, während sie Matthias, der sich an sie schmiegte, zu streicheln begann. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und streckte die Beine aus. Ja, wenn es doch immer so sein könnte – so fern der eigenen Gedanken, im Augenblick ausharrend, nicht wieder wegmüssend und ohne böse Gedanken, die sich wie schwere Wolken am Himmel auftürmten. Simone seufzte leise, dann sah sie auf Matthias hinab. Vielleicht waren seine Worte tatsächlich dem geschuldet, dass er Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden war und nun fürchtete, ebenfalls sterben zu müssen. Wenn sie sich recht überlegte, war auch sie als Kind eine Zeitlang davon überzeugt, dass der dritte Weltkrieg beginnen würde. Eine richtige Angst hatte sich in ihr breitgemacht damals. Da hatte sie ganze Nächte lang wachgelegen und auf Geräusche gelauscht, vornehmlich auf die von Flugzeugen, die sie aus kommunistischen Propagandafilmen als Bomber kannte. Schuld daran hatte ihre Lehrerin in der 2. Klasse, die ihnen von der ständigen Bedrohung durch den Westen erzählte. Die da drüben haben die Atombombe, und wenn der rite Knopf gedrückt wird, dann … Dass auch die Sowjets über Atombomben verfügten, hatte sie ihnen verschwiegen. Ja, eine Zeitlang hatte sie Angst, es könne etwas Furchtbares geschehen. Auch zog sie sich, wann immer sie Fluggeräusche vernahm, die Decke über den Kopf und machte sich ganz klein. Vielleicht war es bei Matthias ähnlich?

 

Am Abend dann, die Fahrt war seit einigen Stunden schon vorbei, saßen sie beide auf der Terrasse des Schlosses Lübbenau. Obwohl Matthias müde war, hatte er noch einmal losgehen wollen und ein Restaurant besuchen. Sie hatte gezögert und schließlich hatte er ihre Hand gepackt und sie in Richtung des Schlosses gezogen. Dazu hatte er sie immer wieder angelächelt. Was hätte sie dem entgegenhalten können? Sie wollte es ihm doch so schön wie möglich machen – und da auch sie hungrig war. Ein kleinwenig essen. So ließ sie sich treiben und spürte wieder diese Leichtigkeit wie zuvor schon im Kahn. Warum nicht schwebend den Moment genießen, da alles in Ordnung zu sein schien? Ja, hatte sie denn kein Recht darauf? Überdies versprach es ein lauer Sommerabend zu werden. Warum denn nicht? Sie lächelte Matthias an, der ihr die Speisekarte hinschob, damit sie sie ihm vorlas. Schon legte sie ihm den Arm um die Schultern, er schmiegte sich an sie und sie begann ihm vorzulesen, bis er plötzlich: „Will ich!“, rief und sie mit großen Augen ansah.

 

„Was möchtest du?“

 

„Will ich!“, widerholte er und patschte mit der Hand auf die Karte.

 

„Ja, was?“

 

„Fannkuchen … Mittag …“

 

Sie verstand, dass er das Gleiche wie am Mittag haben wollte. „Also Plinsen?“

 

„Fannkuchen“, widerholte er und patschte wieder auf die Karte.

 

Sie lächelte. „Und trinken?“

 

„Prause“, kam es von ihm. Sie nickte, lächelte erneut, wissend, da es doch sein Lieblingsgetränk war.

 

„Klo“, kam es da von ihm plötzlich und er zuckte hoch. „Klo!“

 

Auch sie zuckte zusammen, vom Schreck leicht übermannt. „Musst du?“, fragte sie und deutete sich auf den Unterbauch. Er nickte und stieß die Luft geräuschvoll aus. „Muss.“ Auch er deutete sich auf den Hosenbund.

 

„Muss.“

 

„Dann gehen wir“, erwiderte sie und wollte sich schon ihre Handtasche greifen, doch er schüttelte den Kopf.

 

„Allein“, stieß er hervor. „Allein“, und deutete auf das Schloss.

 

Sie aber schüttelte den Kopf.

 

„Doch“, beharrte er und zog die Augenbrauen zusammen. „Doch. Klo allein.“ Schon hatte er sich erhoben. „Klo allein“, rief er beinahe, dann wandte er sich zum Gehen.

 

„Aber du musst fragen, wo das Klo ist“, rief sie ihm hinterher, wollte ihm nach, hielt sich dann jedoch zurück. Er

war alt genug, sagte sie sich. Alt genug. Konnte ja auch allein zur Arbeit fahren. Aber wenn er das Klo nun nicht finden würde, wenn er sich verirrte? Manchmal waren es Kleinigkeiten, die ihn ins Straucheln geraten ließen. Beunruhigt sah sie ihm hinterher und so, als hätte sie es geahnt, drang plötzlich ein lauter Schrei aus dem Schloss an ihr Ohr. Sie wusste sofort, dass es sich um Matthias handelte, sprang auf, hastete zur Tür, in der er verschwunden und hörte, wie er rief: „Sterben, bald sterben.“ Er rief es, brüllte es und dann sah sie ihn auf dem Boden des Foyers liegen, sich wälzend und zuckend. Schon hatte sich eine Menschentraube um ihn herum gebildet.

 

„Das ist mein Sohn“, hörte sie sich wie von ferne sagen. „Das ist mein …“

 

Sie sah, wie sich ein fremder Mann über Matthias beugte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

 

„Mein Sohn“, schnappte sie unter Herzrasen und drängelte sich an den Umstehenden vorbei.

 

„Sterben, bald sterben!“, rief er.

Kapitel 3

„Mein Sohn … mein Sohn!“, rief Simone, ließ sich neben Matthias auf die Knie fallen. Sie spürte den Schmerz kaum, den der harte Aufprall verursachte, schlug die Hand des Mannes, der Matthias an der Schulter berührt hatte, weg und rief erneut – nun jedoch mit unterdrückter, fast gepresster Stimme: „Das ist mein Sohn, mein Sohn“, ehe sie sich ihrem Sohn zuwandte, der sich vor ihr krümmte, als habe er Schmerzen und dazu dies durchdringende: „Sterben bald, sterben …“
 

„Nicht sterben“, nuschelte sie ihm entgegen, berührte ihn an der Wange, zog ihn alsbald auf ihre Knie, beugte sich zu ihm hinab. „Nicht sterben“, flüsterte sie, nun unter Tränen. „Matthias, nicht sterben.“
 

Matthias regierte nicht, sah sie nur, wie sie fand, aus glasigen Augen an. Eine Welle der Angst packte sie und verwandelte sich blitzschnell in Panik, die über ihr zusammenschlug.
 

„Matthias!“, rief sie und rüttelte ihn. Er öffnete den Mund, schien nach Luft zu schnappen.
 

„Einen Arzt, schnell einen Arzt, wo bleibt der Arzt“, bellte sie, hob den Kopf. „Wo bleibt der Arzt?“
 

Einen Moment lang war ihr so, als werde ihr selbst schwarz vor den Augen.
 

„Ist schon gerufen“, kam es von irgendwoher, dann spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sie wollte sie abschütteln, doch war sie dazu nicht fähig.
 

Erst im Krankenhaus, da sie sich in einem Arztzimmer befand, traten ihr wieder Bilder dieser Szene vor Augen. Ihr Sohn, vor ihr auf dem Boden liegend.
 

„Matthias!“
 

Wo war er? Sofort sprang sie auf, sah sich um, doch wurde sie von zwei Händen zurück in den Stuhl gedrückt.
 

„Frau Falkenstein, bitte“, hörte sie die Stimme des Arztes.
 

„Was ist mit Matthias? Was …“ Sie unterbrach sich, schluckte, dann traten ihr wieder Tränen in die Augen.
 

„Derzeit wird er noch untersucht.“
 

„Untersucht? Ja weiß man denn noch nicht, was ihm fehlt?“, herrschte sie den Arzt an. Der schüttelte mit dem Kopf. „Wir sind sehr gründlich.“
 

„Gründlich“, schnappte sie. „Sie? Hier? Wie denn?“, brauste sie auf.
 

„Frau Falkenstein, ich versichere Ihnen, dass wir alles nur Erdenkliche tun, um ihrem Sohn …“
 

„Das“, unterbrach sie den Arzt, dessen Namen sie gar nicht kannte. Hatte er sich ihr zuvor überhaupt vorgestellt? Wenn ja, dann hatte sie ihn wohl vergessen, da unwichtig. Wichtig war nur, dass ihrem Sohn endlich geholfen wurde. „Das“, setzte sie wieder an und begann die Lehnen des Stuhls zu umklammern, „hat man mir schon so oft gesagt. So oft. Und nie wurde etwas gefunden.“
 

Wieder traten ihr Tränen in die Augen und der Arzt reichte ihr ein Papiertaschentuch, das sie ihm fast aus der Hand riss. „Nie“, schniefte sie. „Wissen Sie, wie das ist, wenn der eigene Sohn zusammenbricht und dann wird einem gesagt, dass er nichts habe?“
 

Sie sah auf und dem Arzt zum ersten Mal direkt in die Augen. Vor ihr stand ein älterer Mann von leicht untersetzter Gestalt. Klingbeil stand auf seinem Namensschild.
 

„Wir wollen die Ergebnisse erst einmal abwarten“, versuchte er sie zu beruhigen, dann legte er ihr die Hand auf die Schulter und wieder war sie versucht, diese Berührung abzuschütteln. Doch wiederum fühlte sie sich zu schwach und ließ ihren Blick zum Fenster gleiten, durch das die Abendsonne ihre Strahlen schickte. Doch noch ehe sie sich auf diesen Anblick einlassen konnte, durchzuckte es sie wieder.
 

„Ich will sofort zu Matthias“, herrschte sie und funkelte den Arzt an. „Sofort!“
 

„Beruhigen Sie sich, Frau Falkenstein, er wird doch noch untersucht“, entgegnete ihr der Arzt mit ruhiger, ja geradezu gelassen wirkender Stimme, doch seinem Blick meinte sie Besorgnis zu entnehmen. Und gerade das peitschte sie wieder auf.
 

„Das kann doch aber nicht so lange dauern!“, rief sie und wollte auf, doch wurde sie Klingbeil zurück in ihren Stuhl gedrückt.
 

„Bitte bewahren Sie Ruhe. Die Untersuchungen haben dort gerade erst begonnen.“
 

„Was heißt das, gerade erst? Was?“, schnappte sie und sah den Arzt wieder an. „Und warum soll ich Ruhe bewahren?“
 

„Weil sie viel zu aufgeregt sind. Und die Untersuchungen haben gerade erst begonnen.“
 

„Aber er ruft doch nach mir … ganz sicher ruft er nach mir. Er ist doch … er ist doch geistig …“
 

Klingbeil nickte.
 

„Er braucht mich doch. Ohne mich …“
 

„Sie sind allein mit ihm?“, fragte sie Klingbeil da plötzlich. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann runzelte sie die Stirn, nickte.
 

„Ich weiß, was in ihnen vorgeht“, fuhr der Arzt fort.
 

„Wie?“, schnappte sie und er lehnte sich an seinen Schreibtisch, nickte seinerseits. „Ich kenne es aus der Familie. Mein Bruder und meine Schwägerin ... sie haben ein Mädchen im Alter Ihres Jungen. Ebenfalls, nun ja, verzeihen Sie mir die Offenheit, geistig beeinträchtigt …“
 

„Aber dann können Sie doch gar nicht ermessen, was ich durchmache“, platzte es aus Simone heraus.
 

„Freilich nicht, jedes Schicksal ist ja individuell“, erwiderte er und verschränkte die Arme vor der Brust, „aber ich sehe doch, wie sich das Familienleben meines Bruders gestaltet. Ist Matthias ihr einziges Kind?“
 

Wieder sah sie ihn einen Moment lang an, dann nickte sie. „Ja“, sagte sie leise und senkte den Blick, „mein einziger.“
 

„Mein Bruder hat auch nur diese eine Tochter.“
 

„Und was wollen Sie mir jetzt damit sagen?“, fuhr Simone ihn an. „Hat sie auch solche Aussetzer und Anfälle? Spricht sie auch davon, dass sie bald sterben werde? Ja?“
 

Sie funkelte den Arzt an, der jedoch blickte ihr weiterhin in die Augen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das nicht.“
 

„Sehen Sie, dann wissen Sie doch gar nicht …“
 

„Ich weiß aber, wie schwer es manchmal sein kann mit einem Kind, das geistig beeinträchtigt ist. Das sich nicht adäquat äußern und weder seine Gefühle noch seine Gedanken mitteilen kann. Wie fremd einem dadurch das eigene Kind manchmal wird.“
 

„Aber da ist die Liebe“, flüsterte sie zischend und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Liebe, nichts als Liebe. Tiefste Verbundenheit.“
 

„Wie viel Stress es aber auch bedeutet, dieses Leben …“, fuhr der Arzt fort.
 

„Was reden Sie da?“ Wieder wollte Simone auf, besann sich dann jedoch und sagte nur: „Das ist doch kein Stress.“ Sie hatte es überzeugender hervorbringen wollen, spürte jedoch selbst, wie hilflos es sich anhörte und umklammert die Stuhllehnen nur umso mehr. „Das ist kein Stress. Ich liebe meinen Sohn. Ich liebe ihn …“
 

„Mein Bruder und meine Schwägerin tun das auch. Sie lieben Julia. Aber sie sind sich selbst gegenüber auch ehrlich, wenn sie sich eingestehen, dass ihr Leben in gewisser Weise sehr beeinträchtigt ist, ja, dass es geradezu Stress bedeutet, bei all dem Schönen, das sie gemeinsam erleben dürfen.“
 

„Bei allem Respekt“, stieß Simone hervor, „aber Sie spinnen. Sie spinnen!“
 

Klingbeil blieb vollkommen ruhig, strich sich mit der Hand über die Brust, sagte dann – fast sachlich: „Es ist sicher leichter, sich in einer Partnerschaft eingestehen zu können, dass es schwer ist, als wenn man die Verantwortung allein hat. Ich verstehe das. Sich Schwäche einzugestehen, bedeutet Gefahr zu laufen, dass man strauchelt und gar nicht mehr kann.“
 

Wieder funkelte sie ihn an, schwieg aber.
 

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten“, fuhr der Arzt einen Moment später fort.
 

„Das sind Sie schon längst. Und nun will ich endlich zu meinem Sohn. Was soll das überhaupt? Warum hat man uns getrennt?“ Sie war wieder lauter geworden und erhob sich nun auch. „Bringen Sie mich sofort zu ihm. Sofort.“
 

„Frau Falkenstein, Sie sitzen hier, weil Sie selbst zusammengebrochen sind und gar nicht fähig waren, bei ihrem Sohn zu sein.“
 

„Jetzt bin ich es aber wieder. Also bitte – oder nein, ich verlange von Ihnen, dass Sie mich zu ihm bringen!“
 

Klingbeil verschränkte die Arme vor der Brust, nickte schließlich. „Aber nur, wenn Sie mir versprechen, ruhig zu bleiben.“
 

„Wieso ruhig bleiben, was ist denn?“, fauchte sie. „Vermuten Sie irgendetwas?“

Kapitel 4

Erst, als Simone ihren Sohn wieder im Arm hielt und er seinen Kopf an ihrer Brust barg, beruhigte sie sich langsam.
 

„Mama“, brachte Matthias krächzend hervor und legte die Arme um ihre Taille. Das tat er oft, wenn er Schutz und Trost suchte. Auch duckte er sich dann, machte sich klein wie ein Kind, und sie hielt ihn – so fest sie konnte. Ihr war es dabei vollkommen egal, wie sie wirkte, vor allem jetzt und hier, da sie mit Matthias im Untersuchungszimmer saß.
 

„Ist ja gut“, flüsterte Simone und strich ihrem Sohn über den Kopf, während sie sich noch einmal versichern ließ, dass Matthias nichts habe – jedenfalls nichts Körperliches, wie Dr. Klingbeil hinzufügte.
 

„Also nichts?“, keuchte sie.
 

„Nichts“, wiederholte er.
 

„Keine Epilepsie?“
 

„Wir haben ein EEG gemacht – das jedoch ergab nichts. Daher ist es nicht angeraten, ein MRT …“, fuhr Klingbeil fort.
 

„Nicht angeraten?“, fauchte sie, zuckte jedoch leicht, da Matthias ein leises Jammern von sich gab.
 

„Ist gut, ist ja gut“, flüsterte sie an ihn gewandt, sah dann wieder zu Klingbeil: „Meines Wissens aber lassen sich gewisse Dinge nicht eindeutig durch das EEG bestimmen und mein Sohn …“ Sie unterbrach sich, verengte die Augen zu Schlitzen, denn so wie jetzt, hatte man sie schon einige Male abgewimmelt.
 

„Frau Falkenstein, bitte glauben Sie mir, dass keine Veranlassung dazu besteht, von einer Epilepsie auszugehen. Aber wenn Sie Ihrem Sohn tatsächlich eine Untersuchung im MRT zumuten möchten, dann freilich hindere ich sie nicht daran.“
 

„Was soll das heißen“, schnappte sie und fuhr ihrem Sohn mit der Hand über die Stirn. „Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich …“
 

„Nein, nein“, beeilte sich Klingbeil zu versichern und hob die Hände. Sie schwieg, sah den Arzt einen Moment lang scharf an, bis der seinen Blick senkte. Dann wandte sie sich an Matthias, der nun fast auf ihr lag, den Daumen an den Lippen.
 

„Aber woher kommen dann diese Anfälle?“, begann sie dann wieder, „woher seine Gedanken, woher diese Vehemenz?“
 

„Ich weiß es nicht“, gab Klingbeil zu. „Ich kann es Ihnen nicht sagen.“
 

„Aber das muss doch aufhören“, beharrte sie und spürte, wie sich in ihrer Kehle ein Knoten zu bilden begann. „Mama“, kam es im gleichen Augenblick von Matthias und er hob den Kopf. So als habe er verstanden, sah er sie an. Sie aber wusste, dass das ganz unmöglich war. Er suchte nur ihre Nähe und spürte, dass sie in diesem Moment nicht vollkommen bei ihm war, dass sie sich mit anderen Dingen beschäftigte.
 

„Wann hört das auf?“, fragte sie Klingbeil hilflos. „Wann?“
 

„Ich weiß es nicht. Hauptsache ist doch aber, dass Matthias rein körperlich nichts fehlt.“ Er wandte sich an Matthias: „Nicht, wahr, du bist gesund.“ Dazu lächelte er.
 

„Gesund“, kam es prompt von Matthias, der sogleich an seinem Daumen zu knabbern begann. Das tat er oft, wenn er aufgeregt war. „Gesund“, wiederholte er, dann hob er den Kopf, gab ein helles Lachen von sich, erhob sich gänzlich vom Schoß seiner Mutter und klatschte in die Hände. „Gesund, gesund“, rief er dazu.
 

„Aber das stimmt doch überhaupt nicht“, warf Simone ein. „Mein Sohn sei gesund? Nur, weil Sie nicht wissen, was er hat, behaupten Sie nun, er sei gesund?“
 

„Ich behaupte es nicht, ich weiß es, Frau Falkenstein“, erwiderte Klingbeil.
 

„Ach, Sie wissen es? Wissen Sie, von wie vielen Ärzten ich Gleiches schon hörte?“, fauchte sie.
 

„Frau Falkenstein, ich bitte Sie“, versuchte sie der Arzt zu beruhigen, fuhr dann jedoch fort: „Was soll ich denn mehr sagen als das? Ich kann mir doch keine Krankheit aus den Fingern saugen.“
 

„Was? Was wollen Sie damit sagen? Dass ich …“, rief sie und sogleich gab Matthias einen unartikulierten Laut von sich. Er klang gepresst, gleichzeitig schrill. Simone wandte sich an ihren Sohn, legte ihm den Arm um die Schulter. Dieser barg sein Gesicht an ihrer Brust. „Da sehen Sie, was Sie angestellt haben“, ereiferte sie sich.
 

„Es tut mir leid, aber vielleicht sollten Sie sich …“
 

„… an einen Psychologen wenden?“, schnappte sie, ihn unterbrechend, und rümpfte die Nase. Derweil strich sie Matthias über den Kopf, ohne es recht zu bemerken. Klingbeil registrierte ihre fahrigen Gesten, sagte einen Moment lang gar nichts, ehe er tief Luft holte. „Ich erahne, dass ich Ihnen damit keinen Dienst erweise, weil Sie bereits bei zahlreichen Psychologen waren und sie Ihnen nicht helfen konnten. Und deswegen wollte ich Ihnen etwas ganz anderes vorschlagen.“
 

„Und was bitteschön?“
 

„Nun, ich weiß nicht, inwieweit es Ihnen überhaupt hilft, aber mir kam da gerade ein Gedanke“, fuhr der Arzt fort.
 

„Und was für einer?“
 

„Nun, ich habe Kontakt zu einem Filmemacher, der gerade an einem Projekt arbeitet, das sich jungen Erwachsenen zuwendet, die wie Matthias sind. Er möchte einen Film über diese Menschen machen, ihre Lebenswelt nachzeichnen.“
 

„Spinnen Sie?“, kam es prompt von Simone. „Denken Sie etwa, ein Filmemacher könnte mir helfen?“
 

Klingbeil zuckte mit den Schultern. „Bei der Familie meines Bruders war er bereits. Er ist ein schon etwas älterer Regisseur, der sehr viel Erfahrung und auch Empathie zeigt.“
 

„Na und?“, schnappte Simone. „Was geht das mich an?“
 

„Im Zuge seiner Recherchen spricht er auch mit den Eltern.“
 

„Was? Das wird ja immer besser. Jetzt servieren Sie mir einen Filmemacher als Therapeuten?“, kollerte Simone und fuhr ihrem Sohn so heftig durchs Haar, dass dieser einen unartikulierten Laut von sich gab. Sofort neigte sie sich zu ihm hinab. „Ist ja gut“, sagte sie leise, sah dann wieder auf, und fing Klingbeils Blick auf. „Was starren Sie so?“
 

Klingbeil schüttelte den Kopf. „Ich möchte Ihnen den Filmemacher nicht als Therapeuten servieren, doch weiß ich von meinem Bruder, dass es ihm und seiner Frau guttat …“
 

„Aber mir wird es nicht guttun“, unterbrach ihn Simone barsch, wollte aufstehen, doch wurde sie sich sogleich ihres Sohnes bewusst, der wieder an ihr lehnte.
 

„Aber wenn Sie doch allein sind“, insistierte der Arzt, „dann kann ein Gespräch guttun.“
 

„Aber doch nicht mit einem dahergelaufenen Regisseur.“ Simone tippte sich an die Stirn und lachte gequält. Dann gab sie Matthias ein Zeichen, dass sie sich erheben wolle. Nur widerwillig richtete der sich auf. „Film“, sagte er.
 

„Ja, richtig Film“, kam es von Klingbeil. Er deutete auf Matthias. „Weißt du, was das ist, ein Film?“
 

„Jetzt hören Sie doch endlich damit auf“, rief Simone spitz und funkelte den Arzt an.
 

„Ich höre schon auf“, wandte er sich an sie, „aber was, wenn Matthias diese Idee gutfindet?“
 

„Mumpitz“, kam es von ihr, dann nahm sie die Hand ihres Sohnes, entschlossen, das Zimmer zu verlassen, doch in dem Moment trat ihr Klingbeil in den Weg. „Frau Falkenstein, ich weiß, dass Sie verzweifelt sind, weiß auch, dass es so wirkt, als habe niemand ein Ohr für Sie. Niemand versteht Sie, alle sind Ihnen fremd. Sie allein mit ihrem Schicksal. Und gerade aus diesem Grunde habe ich Ihnen diesen Vorschlag gemacht. Aber das hätte ich gewiss nicht getan, wenn ich von diesem Regisseur nicht vollkommen überzeugt wäre. In Ihrem Fall halte diese Idee zumindest für bedenkenswert. Der Regisseur möchte gerade Behinderten und ihren Angehörigen eine Stimme verleihen, also die Möglichkeit geben, sich zu äußern. Wie weit Sie dabei gehen, wäre doch Ihnen überlassen … Und wenn Sie das nicht überzeugt, dann schauen Sie sich wenigstens seine Filmographie an. Er heißt Heiner Krumbiegel, wenn der Ihnen etwas sagt. Er war damals, als die Mauer noch stand, einer der bekanntesten …“
 

„Dafür hatte ich keine Zeit“, unterbrach Simone ihn.
 

„Aber dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens seine Nummer aufschreiben …“
 

„Mumpitz“, erwiderte Sie und wandte sich zum Gehen.
 

„Film“, kam es da von Matthias. „Film.“
 

„Warten Sie doch“, rief Klingbeil hinter ihr her. „So warten Sie!“ Sie aber war schon zur Tür hinaus, an der Hand ihren Sohn, der sich umsah und noch einmal „Film“ sagte. Sie zog ihn weiter, doch sogleich hörte sie, wie jemand hinter ihr hergerannt kam. „Frau Falkenstein, so nehmen Sie wenigstens die Nummer mit. Ich bitte Sie. Ich weiß um Ihre Verbitterung.“
 

„Bitterung“, wiederholte Matthias und dann sagte er noch einmal: „Film.“
 

„Ja, Film“, wandte sich Klingbeil an Matthias, dann lächelte er müde. „Hier, die Nummer, gib Sie deiner Mutter“, fuhr er fort und drückte Matthias den Zettel in die Hand. „Gib ihn deiner Mutter.“
 

„Mama“, rief er. „Mama, Film.“
 

Am Abend hatte sich Matthias wieder beruhigt – zumindest sprach er nicht mehr von den Erlebnissen des Tages, sondern schmiegte sich, im Bett neben Simone sitzend, an sie, gähnte und patschte auf das kleine blaue Buch – Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. „Vorlesen“, murmelte er und rieb seinen Kopf an Simones Schulter.

 

Kapitel 5

Sie las ihm vor über diese Pippi, deren Geschichten er so sehr mochte. So sehr, dass er sich wiederum wie eine Katze an sie schmiegte und seinen Kopf an ihr zu reiben begann und dabei ein leises, zugleich entspanntes Brummen von sich gab. Sie wusste, dass er sich wohlzufühlen begann. Zwar konnte sie ganz und gar nicht verstehen, weswegen er solch einen Narren an diesen komischen Geschichten um dieses chaotische und in jeder Hinsicht liederliche Mädchen gefressen hatte, doch ließ sie ihn und las weiter. Hauptsache, er war zufrieden, Hauptsache, sie konnte ihn von diesen selbstzerstörerischen Gedanken ablenken und letztlich auch abbringen. Nie wieder wollte sie von ihm hören, dass er bald sterbe. Und so als könne sie’s verhindern, könne tatsächlich Einfluss auf seine Gedanken und Gefühle nehmen, drückte sie ihn an sich, und das so sehr, dass er schließlich einen unartikulierten Laut, ähnlich einem Krächzen, von sich gab, den Kopf hob und sie ansah. Verwundert?
 

„Was?“, wollte sie fragen, las jedoch weiter, bis er schließlich laut gähnte, mit der Hand aufs Buch patschte und ein genuscheltes: „Morgen weita“, hervorbrachte, ehe er sich aus ihrer Umarmung löste, sich auf seiner Seite des Bettes niederließ und sich die Decke bis zur Nasenspitze hochzog.
 

„Mama, Kuss und Nacht“, krähte er.
 

Unwillkürlich musste sie schmunzeln, legte rasch das Buch auf dem Nachtisch ab, wandte sich an ihn, fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar und küsste ihn dann – zuerst auf die Stirn, alsbald auch recht laut schmatzend auf beide Wangen. Er zog die Nase kraus und kicherte, mochte er doch dieses allabendliche Ritual. Und noch einmal küsste sie ihn, wiederum laut schmatzend. Und wieder kicherte er, sie sah es, spürte es auch am leichten Zucken, das seinen Körper durchdrang.
 

„Matthias“, murmelte sie, strich ihm die Haare aus der Stirn und presste ihre Lippen nochmals auf seine Stirn, denn gerade in dem Moment, da sie ihn so fröhlich sah, wollte sie ihm zuflüstern, dass er nie wieder sagen dürfe, er würde bald sterben, bezwang sich jedoch, indem sie ihn nochmals küsste. Und er reagierte prompt, gluckste so, wie er es in Kindertagen auch getan hatte. Ebenso.
 

„Mein Kleiner. Mama hat sich lieb“, flüsterte sie und stupste ihn auf die Nasenspitze.
 

„Auch“, kam’s von ihm, dann gähnte er wiederum, den Mund weit aufgerissen. „Nun schlafen.“
 

„Nun schlafen“, wiederholte sie und ließ sich ebenfalls in die Kissen sinken, jedoch nicht ohne noch einmal den Arm nach ihm auszustrecken. Er reagierte sofort, kam ihr näher. Doch statt sich an sie zu kuscheln, wie sie es gedacht hatte, blies er sie an, gab dann, als er ihres gespielt erstaunten Gesichtsausdrucks gewahr wurde, ein hohes Kichern von sich und warf sich herum, auf seine Einschlafseite. Sie indes verharrte noch einen Moment in ihrer Position, betrachtete ihren Sohn, strich ihm auch übers Haar, vernahm dazu sein leises, wohlgefälliges Brummen, ehe auch sie sich zurückzog und das Licht löschte.
 

Am nächsten Morgen wurde sie von einem lauten Schrei wach. Sie zuckte hoch, sah Matthias neben dem Bett stehen. Er starrte an sich hinab. Sie folgte seinem Blick und wurde eines großen feuchten Flecks auf seiner Hose gewahr. Sofort war sie auf und stieß hervor: „Mama macht das!“ Doch er, den Blick hebend, schüttelte mit dem Kopf. „Nein, nein, nein“, erwiderte er, griff sich ins Haar mit beiden Händen, sah wieder an sich hinab, blieb aber stehen. „Fleck“, nuschelte er, „Fleck.“
 

„Mama macht das“, versuchte sie ihn zu beruhigen und ergriff ihn am Arm. Doch er entzog sich ihr. Ziemlich abrupt, wie sie fand.
 

„Matthias allein. Allein …“, beharrte er, raufte sich die Haare, sah sie dann mit leicht geöffnetem Mund an, fragend, so als wüsste er nicht. Dann jedoch wandte er sich dem Bad zu.
 

„Mama helfen“, entfuhr es ihr. „So, wie immer.“
 

„Keine Hilfe“, versetzte er und war im Bad verschwunden, während sie ihm nachrief: „Hose aus und in die Dusche legen. Mama wäscht sie aus.“
 

Erst dann wandte sie sich seiner Betthälfte zu, legte die Decke zurück und wurde des großen Urinflecks ansichtig. Wie gut, dass sie von vornherein an die wasserdichte Unterlage gedacht hatte. Doch das Lacken war verschmutzt, musste gewechselt werden. Und derweil sie sich an die Arbeit machte, vernahm sie aus dem Bad wiederum ein lautes Gerumpel. Sie zuckte neuerlich hoch. In wenigen Schritten war sie bei der Tür, riss sie auf und sah ihren Sohn in der Dusche hockend, nackt unter laufendem Wasser. Aber als er sie sah, sprang er auf, die verschmutzte und nun vollkommen durchnässte Hose in der Hans, und rief: „Mama weg! Allein.“
 

„Nicht allein!“, erwiderte sie ebenso laut und trat auf ihn zu.
 

„Doch allein“, beharrte er. „Allein.“
 

„Dann mach wenigstens die Dusche zu.“
 

„Nein!“, brüllte er.
 

„Doch, sonst spritzt das Wasser heraus.“
 

„Nein, nein, nein – allein, allein, allein.“
 

„Ja, aber dann mach zu.“
 

„Nein, nein, nein!“
 

„Matthias“, schnappte sie, griff sich an die Brust. Solche Szenen waren ihr ungeheuer, kaum fassbar, gleichwohl sie sich in letzter Zeit häuften. „Mach zu. Das Wasser …“, beharrte sie, denn es hatte sich schon eine Lache vor der Dusche gebildet.
 

„Nein“, brüllte er und wedelte mit seiner nassen Hose vor ihrer Nase herum. Sie versuchte sie zu erhaschen. Es gelang ihr nicht. „Matthias“, rief sie und tastete an ihm vorbei nach der Armatur, um den Wasserstrahl zu unterbinden. „Jetzt gut!“
 

„Allein, allein“, wehrte er sie ab und schleuderte ihr seine Hose entgegen. Sie zuckte zurück. Dabei spritzte Wasser aus der Duschkabine und durchnässte auch sie.
 

„Wasser aus!“, kreischte sie und riss beide Hände hoch, um sich zu schützen. „Wasser aus. Sofort!“
 

„Mama weg! Allein, allein“, hielt Matthias dagegen. „Mama weg. Matthias allein.“
 

„Sofort das Wasser aus.“
 

„Allein!“ Wieder traf sie ein Schwall Wasser und sie begriff, dass er den Duschkopf auf sie gerichtet hielt. Nach Luft schnappend trat sie dem Wasser entgegen, riss die Augen auf, packte Matthias am Arm – so fest sie konnte – brüllte: „Nein, jetzt Ruhe“ und stellte die Dusche ab. Schon entwand er sich ihrem Griff, wollte das Wasser erneut anstellen. Da hob sie die Hand und schlug ihm mitten ins Gesicht. Er zuckte zurück, sah sie einen Moment lang an, ehe er ein leises Wimmern von sich gab und sie brüllte: „Jetzt raus. Sofort.“

 

Kapitel 6

Simone wich zurück, geriet ins Stolpern und fand am Waschbeckenrand Halt, sonst wäre sie gefallen. Matthias, mit einem Fuß noch in der Dusche, hielt sich die Wange und wimmerte. Tränen traten ihm in die Augen. Er schniefte. Sie senkte den Blick, sah auf ihre Hand, die zu zittern begonnen hatte, und ballte sie zur Faust, gab sich dann einen Ruck und trat auf ihren Sohn zu.
 

„Mama“, kam’s von ihm ganz leise. Und noch einmal: „Mama, eingepullert.“
 

Ihr Herz begann zu rasen und sie streckte ihre Arme nach ihm aus, zog ihn an ihre Brust.
 

„Matthias“, murmelte sie und auch ihr traten Tränen in die Augen, die sie wegzublinzeln versuchte, zumal sie spürte, wie er den Kopf hob, sie ansah. Sie aber wich seinem Blick aus, flüsterte nur: „Alles gut, alles gut, nicht schlimm.“
 

„Eingepullert“, wiederholte er fast fragend.
 

„Nicht schlimm“, erwiderte sie rasch und strich ihm mehrere Male über den Kopf. „Alles gut.“
 

„Gut“, kam’s von ihm.
 

„Ja. Die Hose bleibt in der Dusche. Ich wasche sie nachher aus. Und du – anziehen“, stammelte sie und drückte ihn noch mehr an sich. „Anziehen, dann frühstücken.“
 

„Anziehen, frühstücken. Hunger“, wiederholte er und sie nickte mit zusammengepressten Lippen.
 

Später beim Frühstück versuchte sie sich zu beruhigen, doch es gelang ihr kaum, denn immer wieder traf Matthias’ Blick sie und sie senkte den Kopf, biss von ihrem Brötchen ab, kaute, schmeckte jedoch kaum, schluckte.
 

„Nicht schlimm“, schnappte sie. „Gar nicht schlimm. Wir machen das nachher weg.“
 

Sie sah kurz zu Matthias hinüber, dann sofort zum Fenster hinaus. Von draußen her empfing sie das Grün des Pensionsgartens. Ein wilder, wunderschöner, wie sie fand. Eine Wiese, umstanden von Sträuchern und Bäumen. Auf der, in den Garten übergehenden Terrasse saßen auch einige Gäste, frühstückten. Sie hätte mit Matthias auch dorthin gehen können, doch hatte er sich diesen Tisch nahe dem Buffet ausgesucht. So war sie ihm gefolgt, fast blind.
 

Wieder biss sie von ihrem Brötchen ab, nahm zugleich auch einen Schluck Kaffee. Dass er schwarz war, fiel ihr gar nicht auf. Und wieder senkte sie den Blick. Ihr Herz schlug noch immer so schnell, wollte sich nicht beruhigen und so schloss sie kurz die Augen, wandte sich dann an Matthias, der sie wiederum ansah, so als warte er auf ein Zeichen von ihr, ein Signal, ein Irgendwas und sie gab sich einen Ruck, legte ihre Hand auf seine, mühte sich um ein Lächeln.
 

„Und danach wieder Bootfahren“, sagte sie und plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
 

„Bootfahren“, rief er und klatschte in die Hände. „Bootfahren.“
 

Sie nickte und ertappte sich dabei, dass sie sich an diesem Lächeln festzuklammern begann, während sie wieder nach seiner Hand griff. „Ja, Bootfahren“, erwiderte sie und nickte.
 

„Und Pfannkuchen essen“, fuhr er fort. Seine Augen leuchteten.
 

„Ja“, beeilte sie sich zu erwidern, „aber zuerst Frühstück“, und deutete auf seinen Teller, auf dem sich noch sein halbangebissenes Brötchen befand. Er folgte ihrem Fingerzeig, kicherte, klatschte erneut in die Hände und begann zu schnalzen. Dazu warf er ihr einen pfiffigen Blick zu und krähte: „Pfannkuchen.“
 

„Gut, Pfannkuchen“, stimmte sie ein, nahm wieder einen Schluck Kaffee, musste dann selbst lachen, weil sie sich an dem entsetzlich herben Geschmack beinahe verschluckt hätte und sich gleichzeitig erleichtert fühlte, ihren Sohn so aufgelöst zu sehen. Matthias grinste noch immer und zwinkerte ihr zu – mit leicht schräg gelegtem Kopf.
 

„Pfannkuchen“, wiederholte er. „Pfannkuchen, Pfannkuchen, Pfannkuchen.“
 

Im Boot dann reckte sich Matthias sogleich wieder über Bord, doch diesmal wusste Simone, dass er’s der Freude wegen tat. Er schien die Ereignisse des Morgens vergessen zu haben, denn er lachte, als er mit seiner Hand durchs Wasser fuhr. Und schon war Simone versucht, es ihm gleichzutun, zumal das Boot gerade ablegte, als sie bemerkte, wie ein Mann im letzten Moment aufsprang und genau vor ihr und Matthias platznahm. Der Kahn schaukelte entsetzlich, Matthias krähte laut auf, Simone versuchte sich krampfhaft am Sitz festzuhalten und der Mann drehte sich abrupt um, musterte Mutter und Sohn einen Moment lang, lächelte dann nickend und sagte: „Das ist ja noch einmal gutgegangen.“
 

Simone wollte „Frechheit“ rufen, verkniff es sich jedoch und schüttelte stattdessen mit dem Kopf, um doch ihre Missbilligung über dieses Verhalten zu bekunden, Matthias krähte und juchzte noch immer und der Mann lächelte breiter und wandte sich an Matthias.
 

„Wie ich sehe, geht es dir wieder gut.“
 

„Ja, wieder gut“, erwiderte dieser und klatschte in die Hände und Simone runzelte die Stirn. „Was? Was wollen Sie?“
 

„Ich bin derjenige, der unmittelbar Zeuge seines Zusammenbruchs war“, fuhr der Mann fort und reichte Simone die Hand: „Gestatten, Heiner Krumbiegel.“

Kapitel 7

Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht und ohne die Hand des Mannes zu ergreifen, schnappte sie unüberlegt: „Dann sind Sie der Regiss …“, griff sich jedoch sogleich an den Mund.
 

„Ja, genau, der bin ich“, kollerte er, sie unterbrechend.
 

„Herr Krumbiegel.“
 

„Korrekt“, bemerkte er und zog seine Hand zurück, jedoch noch immer laut lachend fuhr er fort: „Sie kennen mich wohl aus dem Vorabendprogramm. Haben da meinen Namen gelesen. Ich habe da jeweils einige Folgen von Praxis Bülowbogen, Großstadtrevier und auch dem Traumschiff gemacht.“
 

„Das … das …“, stammelte sie, „… schaue ich nicht. Vorabendserien überhaupt nicht.“
 

„Ach nein?“ Wieder lachte er laut heraus und neigte sich über die Lehne seiner Bank hinweg. „Nun muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen, dass das Traumschiff zur Hauptsendezeit im ZDF kommt.“
 

„Schaue ich nicht“, entgegnete sie knapp und holte tief Luft.
 

„Ich auch nicht“, gab er prompt zurück.
 

Simone stutzte, schüttelte den Kopf und fragte sich, wie sie das Letztgesagte verstehen solle, meinte sie doch ein fast lausbübisch-provozierendes Blitzen in seinen Augen wahrzunehmen.
 

„Und wie steht’s um mein letztes Meisterwerk, Fähre in den Tod?“
 

Sie zuckte mit den Schultern.
 

„Der Untergang der Autofähre Estonia“, fuhr er erklärend fort und sah sie unverwandt an.
 

„Weiß ich nicht, kenne ich nicht“, erwiderte sie.
 

„Das lief dereinst auf Sat1.“
 

„Wie gesagt, ich schaue kaum fern“, sagte sie abwehrend.
 

„So?“, schnaubte er, „dann begeben sie sich am Samstagabend nicht gern auf eine Traumreise quer über den Ozean?“
 

„Nein, ganz bestimmt nicht. Und ich gehe auch nicht gern mit irgendwelchen Autofähren unter, denn dazu fehlt mir einfach die Zeit“, blaffte sie und wieder nahm sie dies Blitzen in seinen Augen wahr, sah zugleich auch, wie es um seinen Mund zuckte. „Mir auch“, erwiderte er lakonisch, winkte ab, hob dann den die Hand. „Aber …“
 

„Sagen Sie mal“, unterbrach sie ihn unwirsch, „was soll das hier werden? Wollen Sie mir mit ihren Filmen ‘nen Knopp an die Backe labern?“
 

Er grinste daraufhin noch breiter, musterte sie eingehend, sagte dann augenzwinkernd: „Sie sind von entwaffnender Offenheit“, wurde jedoch ernst, als Simone nicht reagierte. „Verzeihen Sie“, schob er leiser, wenngleich noch immer kollernd hinterher, „es war nicht meine Absicht, Sie …“
 

„Schon gut“, fuhr sie ihm barsch ins Wort und wandte sich ab, um ihm zu signalisieren, dass das Gespräch für sie beendet war. Auch nahm sie wahr, dass er Anstalten machte, sich zurückzuziehen, doch gerade, als sie dachte, er lasse nun endgültig von ihr ab, drehte er sich erneut um. „Darf ich Sie auf den Schreck hin zu einem Kaffee einladen? Und den jungen Mann zu einer Cola? Matthias, nicht wahr?“
 

Matthias gab einen unartikulierten Laut von sich, nickte dann heftig und lachte übers ganze Gesicht.
 

„Und ich bin der Heiner“, fuhr Krumbiegel fort, „ich mache Filme“ und reichte ihm die Hand. Doch Matthias ignorierte sie, klatsch stattdessen in die Hände und warf den Kopf in den Nacken, während er noch lauter lachte. „Prause“, rief er, zum Himmel aufblickend und ballte seine Hände zu Fäusten. „Und Pfannkuhen …“, krähte er, so laut, dass sich einige der Mitfahrenden umsahen, empört, ob des Lärms. Simone hatte die Szene bisher mit angehaltenem Atem beobachtet, doch war ihre Erregung ins Unerträgliche gestiegen, sodass es sie nun drängte, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Da aber rief Matthias: „Heine … Film …“ und klatschte wieder in die Hände. Von Krumbiegel kam ein lautes Schnauben, dann ein ebenso lautes wie polterndes: „Ja, richtig“, und er deutete nickend auf sich, „Film.“
 

„Film, Film, Film“, erwiderte Matthias. „Und Pfannkuhen und Prause.“
 

„Ja, auch das“, stimmte Krumbiegel zu. „Also keine Cola?“
 

Matthias schüttelte den Kopf, lachte prustend und begann mit den Füßen zu trampeln, so als wolle er wegrennen. Rasch versuchte Simone ihren Arm um seine Schultern legen, um ihn zu beruhigen, doch er entzog sich ihr und krähte gen Himmel blickend. „Keine Cola, keine Cola … Prause, Prause!“
 

„Na, nun wird’s aber bald, oder?“, kam’s von irgendwoher aus dem Kahn. „Das ist hier kein Tollhaus.“
 

„Sie sind zu laut“, zischte Simone daraufhin Krumbiegel durch zusammengepresste Zähne an und herrschte dann: „Sehen Sie denn nicht, dass Sie Matthias vollkommen durcheinanderbringen“, zog ihren Sohn nun doch in die Arme. Der aber machte sich sofort wieder frei. „Film“, krakeelte er, „der Heine …“ und trampelte wieder auf, sprang gar von seinem Sitz hoch und brachte den Kahn zum Schaukeln, so, wie zuvor Krumbiegel, der, ungeachtet der Zurechtweisung aus voller Kehle lachte und nun seinerseits in die Hände klatschte.
 

„Also, das ist doch wohl“, drang es da wieder an Simones Ohr. Und dann: „Wenn Sie sich da vorne nicht benehmen können, muss ich Sie ersuchen, das Boot an der nächsten Haltestelle zu verlassen.“
 

Keine fünf Minuten später fanden sich alle drei auf einer Wiese wieder. Krumbiegel, halb in die Knie gegangen, hielt sich kollernd auf seinen Oberschenkeln abgestützt und wirkte so, als müsse er sich übergeben, doch lachte er aus voller Kehle.
 

„So etwas …“, setzte er an, wurde jedoch von Matthias unterbrochen, der ebenso laut lachend um ihn herumtanzte und in die Hände klatschte. „Pfannkuhn und Prause“, wieherte er.
 

Nur Simone fühlte sich elend, aufgeregt und wusste nicht, wie sie dem Treiben beikommen sollte.
 

„Matthias“, rief sie, gegen den Tumult kaum ankommend. Und noch einmal: „Matthias.“
 

„Ach, lassen Sie ihn doch“, warf Krumbiegel ein und hob die Hand und an Matthias gewandt rief er: „Macht Spaß!“
 

Dieser riss die Augen weit auf und brauste Krumbiegel ein: „Ja“ entgegen.
 

„Hören Sie endlich auf, meinen Sohn … Matthias …“, rief Simone erneut. „Matthias, komm her, wir wollen …“
 

„Du willst rennen, stimmt’s?“, warf Krumbiegel da ein und Matthias machte einen Luftsprung, klatschte dazu in die Hände. „Dann los“, rief ihm der Regisseur zu. „Los!“, und machte eine eindeutige Kopfbewegung. „Renn los, so schnell du kannst. Ich will sehen, wie schnell du kannst.“
 

„Spinnen Sie“, schnappte Simone und hörte ihren Herzschlag in den Ohren hämmern. „Was … was mischen Sie sich ein. Können Sie uns nicht endlich …“
 

„Verzeihen Sie, Frau …“
 

„Falkenstein“, schmetterte sie ihm entgegen und funkelte ihn an. „Und jetzt lassen Sie uns endlich in Ruhe.“
 

„Aber Sie sehen doch, Ihr Junge …“, erwiderte er leicht außer Atem und kam auf sie zu. Der Jüngste war er gewiss nicht mehr. Sie schätzte ihn auf Mitte 60. Und trotz der sommerlichen Temperaturen trug er eine Jeansjacke, wie Simone auffiel, und darunter einen Pullover. Er sah sie aus runden Brillengläsern unverwandt an, lächelte jedoch weiterhin. „Ihr Sohn“, setzte er wieder an und wandte sich kurz um, dem davonrennenden Matthias ein „Bravo!“ zujohlend, fuhr sich dann durchs Haar, das ihm in die Stirn hing, ein wenig verstrubbelt, und rief, sich die Hände wie ein Rohr vor den Mund haltend, noch einmal: „Ja. Bravo!“
 

„Sagen Sie mal, was bilden Sie sich eigentlich ein?“, krächzte Simone matt.
 

„Frau Falkenstein“, wandte sich Krumbiegel da wieder an sie, „ich bilde mir nichts ein. Ihr Junge wollte rennen, nichts weiter – und sehen Sie, was für eine Freude es ihm macht.“
 

Matthias lief, nun um beide herum und hielt dazu die Arme ausgestreckt. „Fliegzeug“, rief er, warf den Kopf in den Nacken, geriet jedoch plötzlich ins Straucheln, fiel.
 

„Aua“, machte er, dann war er im hohen Gras verschwunden.
 

Simone durchzuckte es, schon stürzte sie auf ihren Sohn zu. „Das haben Sie nun davon“, schrie sie und dann erneut: „Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie … Sie …“
 

Auch Krumbiegel hockte sich neben Matthias, knuffte ihn. „Na, so schlimm?“, fragte er und Matthias, vor ihnen auf dem Rücken liegend, blinzelte einige Male, dann schüttelte er den Kopf, streckte die Arme aus. „Getolpert.“
 

„Und außerdem spricht er falsch, wenn er sich aufregt“, jammerte Simone, „und das soll er nicht. Das ist alles Ihre Schuld.“
 

Krumbiegel ging nicht auf sie ein, reichte Matthias die Hand, zog ihn wieder auf die Beine. „Noch mal rennen?“, fragte er, doch Matthias schüttelte den Kopf. „Pannkuhn, Prause. Jetzt!“, kommandierte er.
 

„Gut, dann jetzt …“, setzte Krumbiegel an, wurde jedoch von Simone, die sich leicht taumelig fühlte, unterbrochen. „Jetzt reicht es mir aber, Sie sind übergriffig. Und wenn Sie nicht sofort verschwinden, dann hole ich die Polizei.“ Sie spie die Worte aus, wohl so heftig, dass Matthias zu wimmern begann.
 

„Jetzt sehen Sie, was Sie angerichtet haben – zuerst verderben Sie uns die Fahrt und dann … dann …“
 

„Na, an allem trage ich nun nicht die Schuld. Aber das Geld für die Fahrt …“ Er unterbrach sich, klopfte die Taschen seiner Jeansjacke ab, zog sein Portemonnaie heraus, sah hinein, grinste Simone dann schelmisch-verlegen an, „gebe ich Ihnen sofort nachher wieder – ich habe jetzt leider nichts dabei, außer meiner Karte. Und da es hier keinen Automaten gibt …“
 

„Behalten Sie Ihr Geld“, pfefferte sie ihm entgegen, nahm ihren Sohn bei der Hand und wollte mit ihm, ungeachtet seiner Tränen, zur nahegelegenen Straße hinauf. Doch er entzog sich ihr wiederum. „Nein, hier“, beharrte er und als sie wiederum nach seiner Hand greifen wollte, schon der Verzweiflung nah, dass sie der Situation nicht mehr Herr werden würde, stampfte er fest auf. „Hier, Pannkuhn, Prause!“

 

Kapitel 8

„Also dann – ich will nicht weiter stören“, ließ sich Krumbiegel vernehmen, sah kurz zu Matthias, hob die Hand, wollte ihm durchs Haar streichen, ließ es jedoch und nickte dann Simone zu. Diese schnappte Matthias Hand, drückte sie, denn sie spürte seinen Wiederstand, sich der Situation zu ergeben. Sie aber hielt ihn fest, so fest sie konnte, und wollte ihn auch mit der anderen Hand packen, um seinem Toben und Trotzen etwas entgegensetzen zu können. Doch vergebens. Wie sollte sie ihn jetzt nur beruhigen, wie ihm begreiflich machen, ja ihn überzeugen von dem, was richtig für sie beide war, wenn er doch so stark dagegenhielt – gleichsam wie ein Hund. Simone schrack bei diesem Gedanken zusammen, sah auf, fand Krumbiegels Blick auf sich gerichtet. Prüfend war er, wie sie fand.

 

„Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Sie jetzt gehen“, presste sie hervor. Er nickte, jedoch nicht ohne sich noch einmal an Matthias zu wenden. „Auf Wiedersehen, Matthias“, sagte er ruhig und lächelte, geradezu freundlich durch seine runden Brillengläser hindurch, die seine Augen größer erscheinen ließen. All das nahm Simone in diesem Bruchteil einer Sekunde wahr, wunderte sich. Auch, dass er braune Augen hatte, war in ihr Bewusstsein getreten – gerade als sein Blick den ihren noch einmal streifte. Dann drehte sich Krumbiegel um, ging. Aber als er sich schon einige Schritte entfernt hatte, riss sich Matthias mit solch einem Ruck von seiner Mutter los, dass sie, den Schmerz in der Schulter kaum spürend, zurücktaumelte und gar zu fallen drohte, während er hinter dem Regisseur herlief, „Heine, Heine“, rufend.

 

Indes rieb sie sich die pochende Brust und begriff erst jetzt, dass er sie wohl auch weggestoßen haben musste, um von ihr loszukommen. Sie schnappte nach Luft und presste die Augen zu, um sie sogleich wieder zu öffnen. „Matthias“, rief sie, doch er hörte nicht und noch einmal: „Matthias“, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht, brach, ging über in ein Wimmern, dass sie sich zwar verbieten konnte, jedoch wurde sie nicht Herr darüber. Sie räusperte sich, tat einige Schritte auf die sich ihr bietende Szene zu, blieb wieder stehen – irritiert – denn plötzlich begann auch Krumbiegel zu rennen und es schien ihr so, als wolle er Matthias entkommen. Wieder hörte sie seine brüchige Stimme, die, so vermutete Simone, von Tränen und der Erschöpfung des schnellen Laufs getragen war.

 

„Niheine … Film … Film“, rief er. „Niheine … hier, aba sofot.“

 

Und just in dem Moment sah sich Krumbiegel kurz um, breitete dann die Arme aus und rannte weiter. Simone stutzte und verstand erst, als Matthias es schon begriffen hatte und es dem Regisseur gleichtat.

 

„Fliegzeug“, rief ihr Sohn. „Heine … Fliegzeug“, und wedelte mit den Armen in der Luft herum. Krumbiegel verlangsamte seine Schritte, drehte eine Kurve. Matthias folgte ihm, wenn auch langsamer werdend. Sehr viel langsamer. Doch wieder krächzte er: „Fliegzeug.“

 

„Ja“, kam es da kollernd, aber ebenso heißer von Krumbiegel. Auch er was langsamer geworden, hielt jedoch die Arme ausgebreitet. Und Matthias tat es ihm gleich. „Ja“, rief er und machte einige Sprünge. „Fliegzeug …“

 

Kann nicht anders, schoss es Simone durch den Kopf, wischte den Gedanken jedoch sofort wieder weg.

 

 

„Mir ist durchaus bewusst …“, setzte sie später, als sie alle drei in einem der vielen Lokale in Lehde saßen, an. Im Garten, da die Sonne so sommerlich warm schien. Simone und Krumbiegel je einen Kaffee vor sich, Matthias Brause und Plinsen, die er mit großem Appetit verzehrte. Diesmal hatte er sich jedoch geweigerte, sie sich von seiner Mutter in kleine Häppchen schneiden zu lassen.

 

„Allein“, hatte er gesagt und sie hatte ihn, wenn auch widerwillig, gelassen, nur, um nun immer wieder zu ihm hinüber zu blicken – er hatte darauf bestanden, neben Krumbiegel zu sitzen – und das Chaos, das er auf seinem Teller anrichtete, zu begutachten. Er fetzte die Plinsen mehr als dass er sie entzweischnitt und stopfte sich viel zu große Happen in den Mund. Das Apfelmus quoll ihm aus den Mundwinkeln.

 

„Bitte verzeihen Sie“, hatte sie soeben noch sagen wollen, sich dann jedoch zurückgenommen. Wenn es Krumbiegel anekelte, neben ihrem Sohn zu sitzen – was durchaus verständlich wäre –, könnte er ja gehen. So dachte sie. Doch er blieb, sah nur einige Male amüsiert zu Matthias. „Schmeckt’s?“, fragte er mit rauer Stimme und erhielt dafür ein ebenso kollerndes und schmatzendes Nicken.

 

„Mund zu beim Essen“, rief Simone, doch Matthias schien sich daran nicht zu stören. Er aß einfach weiter und sie versuchte, von der vorherigen Situation noch immer überfordert, sich darüber klar zu werden, was genau eigentlich geschehen war, warum sie nun hier saß – mit diesem Krumbiegel. Wie er es letztlich geschafft hatte, dieser aufdringliche Kerl, mochte er nun Regisseur sein oder nicht, sie hierherzubekommen.

 

„Mir ist durchaus bewusst, was Sie mit Ihrer Rumrennerei bezweckt haben“, setzte sie wieder an und erntete dafür ein belustigtes Lächeln. „Nur der Grund dafür ist Ihnen nicht klar?“

 

„Nur der Grund dafür ist Ihnen nicht klar?“

 

Sie schwieg, wollte ihn kommen lassen. Und so neigte er sich plötzlich über den Tisch, sah sie einen Moment lang an, sagte dann leise, fast verschwörerisch: „Aber, wenn ich Ihnen das sage und es Matthias hört, möchte er bei dem, was ich vorhabe, mitmachen und was dann?“

 

Wieder sah Krumbiegel sie an, wohl um ihre Reaktion abzuwarten. Doch die blieb aus und so fuhr er schließlich fort: „Und dabei habe ich mich ja noch gar nicht entschieden, ob er mitmachen kann. Also werde ich wohl noch nichts sagen …“

 

„Jetzt hören Sie aber mal mit den Kindereien auf“, unterbrach ihn Simone scharf. „Ich weiß doch, was Sie im Schilde führen!“

 

Krumbiegels Augenbauen zuckten kurz noch, dann gebot er ihr mit einer eindeutigen Handbewegung zu schweigen, doch sie, nun wieder voll der Wut darüber, dass sie der Wiesenszene nachgegeben hatte, schnaubte: „Bei mir liegt ja wohl die Entscheidung darüber!“

 

„Eben deswegen …“, fuhr Krumbiegel leise fort.

 

„Hören Sie“, ergriff Simone wieder das Wort, „ich weiß um ihr Projekt aus dem Krankenhaus …“

 

„Also haben Sie es nicht aus der Zeitung erfahren?“

 

Sie schüttelte den Kopf. „Klingbeil.“ Sie räusperte sich als sie den ausmerksamen Blick Krumbiegels auf sich gerichtet wusste: „Herr Dr. Klingbeil nannte Sie mir – gestern. Gab mir auch Ihre Telefonnummer.“

 

„Und, werden Sie mich irgendwann einmal anrufen?“, platzte es aus Krumbiegel heraus – stimmlich leicht knarrend, wie Simone fand, aber nicht desto weniger lachend.

 

„Das geht ja wohl alles ein wenig zu schnell“, erwiderte sie knapp.

 

„Pardon.“

 

„Und außerdem kenne ich Sie ja gar nicht. Außer, dass Sie hier und da mal ein paar Serien gedreht haben …“

 

„Im Grunde nicht nur hier und da“, unterbrach er sie, „in letzter Zeit …“ Er kollerte wieder leise, doch sie winkte ab. „Und dass Sie damit nicht sonderlich zufrieden sind …“, fuhr sie fort, „wobei ich mich frage, warum das so ist. Machen Sie nicht gern Filme und Serien für die Allgemeinheit? Ist es, weil Sie meinen, die eigenen, zu hochgehaltenen Fähigkeiten hier vermeintlich nicht zum Einsatz bringen zu können …“

 

Simone unterbrach sich, sah Krumbiegel in die Augen, der jedoch ganz ruhig, ja geradezu statuengleich vor ihr saß. Sie hatte ihn provozieren wollen und schickte dem, da außer einem Lächeln keine Reaktion von ihm kam, noch ein: „So ist es doch bei den meisten“, hinterher.

 

Doch erntete sie dafür nur ein schulterzuckendes, wieder leicht kollerndes und angerautes: „Das sind sehr viele Gedanken auf einmal, Frau Falkenstein.“

 

„Wunderbar pariert!“, konterte sie, nahm einen Schluck Kaffee, fuhr dann fort: „Und jetzt versuchen Sie sich, nach Fähre, Traumschiff, Polizei und Arztpraxis an Stoffen, die das Leben schreibt?“ Auch sie kollerte leise – von dem Wunsch getragen, ihn nachzuahmen. Doch wiederum schien er sich nicht von ihr provozieren zu lassen und so fiel die gedeihliche Stimmung schlagartig von ihr ab und sie lehnte sich, noch ehe sie es bewusst hätte verhindern können, zurück und schob ihre Kaffeetasse umher.

 

„Ich würde mich Ihnen gern vorstellen, Frau Falkenstein“, setzte Krumbiegel an, gerade so, als existierten Simones Einwürfe nicht, die sich dadurch wie das bockige Aufbäumen eines kleinen Kindes ausnahmen.

 

„Verzeihen Sie“, warf sie ein, ohne ihn jedoch anzusehen.

 

„… ob wir das heute jedoch schaffen …“

 

Sie sah ihn einen Moment lang an, öffnete dann den Mund spie ihm entgegen: „Himmel, Sie könnten wenigstens so tun, als nähmen Sie meine Entschuldigung an“, nur, um gleich darauf zurückzuzucken und auf ihre Tasse hinabzusehen.

 

„Was sollt’ ich da verzeihen“, ließ sich Krumbiegel nach einer kleinen Weile vernehmen und räusperte sich anschließend, „Sie kennen mich ja nicht. Aber um mit Letzterem zu beginnen: Ja, Sie haben recht, nach langer Zeit ist es mir wieder möglich, einen Film zu drehen, der mir persönlich am Herzen liegt. Einen Film über Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen – noch immer, wie ich finde …“

 

„Früher war das schlimmer“, warf sie ein, noch immer unfähig, den Blick zu heben.

 

„Deswegen sagte ich ja noch immer, denn das Problem ist ja nicht behoben. Freilich – nun weiß ich nicht, aus welchem Kontext heraus Sie sprechen …“

 

„Ich komme aus der ehemaligen DDR“, erwiderte sie und zwang sich nun doch aufzusehen.

 

„Dann wissen Sie ja, wie es da war.“ Und mit Blick auf Matthias: „Und vielleicht sogar ganz persönlich.“

 

„Die ersten Jahre schon“, gab Simone knapp zur Antwort.

 

„Auch das interessiert mich!“

 

„Aber das wissen Sie doch.“

 

„Ja, aber nicht von Ihnen, Frau Falkenstein. Nicht von Ihnen“, kam’s prompt von ihm und er deutete auf Simone, zog dann den Finger zurück, begann seine Jackentaschen abzuklopfen, nach etwas suchend, und brachte schließlich eine Zigarette ans Tageslicht, die er sich umgehend in den Mundwinkel schob. „Ich schätze mal“, sagte er – und die Zigarette begann zu wippen –: „dass Sie Nichtraucherin sind?“

 

Sie nickte, sah ihn irritiert an – schon darauf gefasst, ihn bitten zu müssen, die Zigarette nicht anzuzünden.

 

„Dann entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich muss mal …“ Er grinste und wackelte dabei mit dem Kopf. „Aber nicht weglaufen“, schob er grinsend hinterher. „Sie bekommen ja noch das Geld für die ausgefallene Bootstour von mir.“



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