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Breathless

von

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“Yo, Haru. Wir gehen. Beeil dich und mach dich fertig.“
 

„Gehen? Wohin?“
 

„Ist das nicht offensichtlich? Natürlich unseren Sieg feiern!“
 


 

Wenige Stunden später waren Rins Worte genau so verschwommen wie die Pflastersteine zu Harukas Füßen. Er versuchte, seinen Blick zu fokussieren, um gegen den Schwindel anzugehen, doch vergebens: Die einzelnen Steine gingen ineinander über, manchmal drei, vier auf einmal, tanzten im Kreis, schienen alles zu tun, um sich von ihm fernzuhalten und ihn glauben zu machen, jeder nächste Schritt würde in Leere versinken.
 

Rin stieß einen hörbaren Seufzer aus. „Du hättest sagen können, dass du nichts abkannst.“ Der vorwurfsvolle Unterton entging Haruka nicht, und er meinte, daneben für den Bruchteil einer Sekunde noch so etwas wie Mitleid auszumachen. Nicht, dass ihm Mitleid jetzt noch etwas nützte. Immerhin war Haruka es, der sich von Rin aus der Hotel-Bar nach draußen hat schleifen lassen, weil dieser offensichtlich besser als er selbst wusste, wie viel gut für ihn war - und dass er diese Grenze längst überschritten hatte.
 

Es brauchte einen Augenblick, ehe sich ihm zu den Wörtern auch der dazugehörige Sinn erschloss. Anfangs bemühte er sich, die umherschwirrenden Wörter in seinem Kopf zu einer Antwort zu sortieren, musste jedoch schnell kapitulieren und hüllte sich stattdessen in Schweigen. Seinen Kopf hielt er gesenkt; sosehr dieser Spaziergang einem Balanceakt auf einem Teppich glich, der ihm unter den Füßen weggezogen wurde, so konnte er sich nicht dazu durchringen, Rin ins Gesicht zu schauen.
 

„Lass den Kopf nicht so hängen.“, sagte Rin und drückte den in seinem Arm hängenden Haruka an sich. „Das haben wir alle schon mal mitmachen müssen.“ Diesmal war seine Aussage gefärbt von Schadenfreude. Als vermeintlich aufmunternde Geste tätschelte er Harukas Hand, die sich seit Beginn ihres Spaziergangs an Rins Hüfte festklammerte.
 

„Halt die Klappe“, nuschelte Haruka prompt. Seine eigene Stimme fühlte sich seltsam fremd an in seinen Ohren. Dass andere das gleiche hinter sich hatten, war ihm keine große Hilfe. Mal abgesehen davon, wie schaffte Rin es, noch so klar bei Verstand zu sein? Sie hatten die gleiche Menge getrunken - natürlich wusste Haruka nicht mehr, wie viel, geschweige denn was sie alles in sich hineingekippt hatten, bloß, dass er sich bemüht hatte, Schritt mit Rin zu halten -, trotzdem wirkte Rin nicht großartig anders als sonst. Oder Haruka war einfach so fertig, dass ihm sein Verstand vorgaukelte, sein Freund wäre tatsächlich imstande, sich selbst noch um jemanden zu kümmern. „Du hast mich doch überhaupt erst dazu überredet ...“, fügte er noch hinzu, den Blick auf seine Füße richtend. Links. Rechts. Links. Rechts. Wenn seine Beine sich bloß nicht so anfühlen würden, als bestünden sie aus Streichhölzern.
 

"O-oi! Niemand hat sich gezwungen, also hör auf, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben!", verteidigte Rin sich lautstark. Dennoch plagte ihn das schlechte Gewissen, wenn er sich Haruka so anschaute. Dieser schwieg. Rin wusste, dass er besser auf den Älteren hätte aufpassen müssen. Auch, wenn sie das Hotel letzten Endes nicht verlassen hatten, befanden sie sich in einem fremden Land, noch dazu in einem, dessen Sprache sie nicht beherrschten. Da war es fast schon als Glücksfall zu betrachten, dass Haruka zu denjenigen gehörte, die mit steigendem Pegel immer stiller - noch stiller als üblich - wurden, anstatt sich womöglich auf eigene Faust auf Erkundungstour zu begeben. Wer weiß, wo man ihn wieder aufgelesen hätte. Natürlich würde Rin niemals zugeben, dass er sich verantwortlich fühlte. Das Mindeste, was er zur Beruhigung seines Gewissens tun konnte, war, auf Haruka aufzupassen. Zumindest soweit er konnte.
 

Der Fußweg erstreckte sich schier endlos. Arm in Arm folgten sie dem fein-säuberlich gepflasterten Weg. In der von hohen Gebäuden gesäumten Straße hallte der Lärm der vorbeifahrenden Autos wider. In der Ferne heulte eine Sirene. Dafür, dass es nach Mitternacht war, war es ungewöhnlich laut; es unterstrich das Schweigen zwischen den beiden Männern unangenehm. Wie lange sie wohl schon unterwegs waren? Das Hotelgebäude war ein riesiger Komplex, und drum herum sah alles irgendwie gleich aus, nichts hätte einen möglichen Orientierungspunkt bieten können. Der Rausch tat sein Übriges, jegliches Zeitgefühl zu beseitigen.
 

Plötzlich blieb Haruka stehen und hob seinen Kopf.
 

„Was ist los, Haru?“, wollte Rin wissen, als er es ihm gleichtat.
 

Harukas Augen begannen zu glänzen. „Es regnet“, wisperte er fast schon ehrfürchtig.
 

Rin schaute ebenfalls auf. Tatsächlich. In Gedanken versunken - oder vielmehr bemüht darum, sein Gesicht zu wahren und sich sein eigenes Torkeln nicht anmerken zu lassen - hatte er nicht mitbekommen, wann die Tropfen begonnen hatten, zu Unzähligen auf den Asphalt zu klatschen und das Echo der Umgebung zu schlucken. Der Blick Rins richtete sich auf Haruka, dessen Miene zwar so ausdruckslos war, wie man es von ihm kannte, dafür aber mit einem nicht zu übersehenden Funkeln in seinen Augen. Wenn man ihn so beobachtete, konnte man glatt neidisch werden. Auf den Regen. Genüsslich schloss Haruka seine Augen und reckte seinen Hals dem Wolkenbruch entgegen, begierig darauf, sein Gesicht von den kühlen Wassertropfen liebkosen zu lassen. Dieser Typ änderte sich wohl nie.
 

„Also gut, lass uns weitergehen“, sagte Rin und machte einen Schritt - um feststellen zu müssen, dass da jemand andere Pläne hatte.
 

„Nein.“
 

„...Ha?
 

„Ich bleibe hier.“
 

Dieser Typ änderte sich wirklich nie! „Was soll das heißen, du bleibst hier?!“ Während er sprach, war Haruka bereits dabei, sich aus der halben Umarmung - oder was auch immer diese seltsame Position war, in der sie sich die letzte Zeit gemeinsam fortbewegt hatten - zu befreien. „Nichts da!“, bestimmte Rin und zerrte seinen Freund ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich her.
 

„Ich habe gesagt, ich bleibe hier!“, entgegnete dieser aufgebracht, doch absolut überzeugt.
 

„Und ich hab' gesagt, du kommst mit! Ich hab' keinen Bock, meine Trainingspause mit einer Erkältung im Bett zu verbringen wegen dir!“
 

„Dann geh eben alleine!“
 

„Ich lass' dich doch nicht hier allein zurück!“
 

„Ich komme schon allein zurecht!“
 

Allmählich war Rins Geduldsfaden auf ein kritisches Maß ausgedünnt; was sich nicht zuletzt bemerkbar machte an einer bedrohlich zuckenden Augenbraue. Er war kurz davor, Haruka wirklich stehen zu lassen. Auf jeden Fall bereute er, diesen mit nach draußen genommen zu haben. Nächstes mal würde Rin ihn zum Ausnüchtern irgendwo einsperren, eine Besenkammer, oder so, mit einem Planschbecken. Entnervt fuhr er sich durch die Haare. "Haru... Du bist ganz schön anstrengend, wenn du besoffen bist."
 

Dieser zeigte sich unbeeindruckt. "Guck dich doch an."
 

Das vereinzelte Zucken der Augenbraue ging über in eine durchgehende Bewegung. Bis gerade eben war Harukas Verhalten noch als kindisch durchgegangen.. Bis gerade eben. Jetzt aber ... Jetzt war er nicht mehr kindisch, sondern einfach scheiße! Gut, als Kind war er teilweise auch unnahbar und echt seltsam gewesen, aber gerade jetzt in diesem Moment wie sie hier standen war er einfach nur noch scheiße. Es reichte Rin. „Dann mach doch, was du willst! Leck mich!“, verkündete er und stapfte davon.
 

„...Rin.”
 

Hör nicht hin. Spar dir die Kopfschmerzen., dachte er sich, die Augenbrauen zusammenziehend.
 

„Die andere Richtung.”
 

Nicht darauf eingehen!
 

„Rin. Die andere Richtung.”
 

Die Zähne zusammenbeißend ging er weiter.
 

„Die ande-”
 

„Was, 'die andere Richtung'?!” Verdammt, nun hatte er sich doch umgedreht. So viel zum Thema Selbstbeherrschung.
 

„Aus der Richtung kommen wir gerade.”, wies Haruka ihn hin.
 

„Eh?” Rin ließ seinen Blick schweifen, um prompt seinen Fehler festzustellen und mit einem nicht ganz so eleganten Schwung seines Beins auf dem Absatz kehrtzumachen. „...In die Richtung wollte ich auch gar nicht gehen!”, stellte er klar.
 

Ein reichlich unbegeistertes Blinzeln. „Ach so.”
 

Mit gerümpfter Nase zog Rin an Haruka vorbei, diesmal in besagte andere Richtung. Einfach so tun, als wäre nichts gewesen, und geradeaus schauen. Sollte der doch bleiben, wo der Pfeffer wuchs; er würde schon noch sehen, was er davon hat! Und außerdem ... Moment, irgendwas stimmte hier nicht. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Warum rückte alles nach rechts mit jedem Schritt? Geradeaus, hatte ich gesagt! Okay, das gleichen wir schon wieder aus, kein Problem. Verlagern wir unser Gewicht einfach ein bisschen. So, jetzt nach rechts. Genau, rechts. Nein, rechts. Das andere Rechts!
 

Ein wenig besorgt beobachtete Haruka das Treiben vor sich. Dafür, dass Rin bis eben noch den stoischen Aufpasser gemimt hatte, wirkte er gegenwärtig irgendwie ziemlich verloren, wenn man ihn sich so anschaute: Wie er beim Gehen stockte, als wäre der Hebel rostig, der ihn in Bewegung setzen soll; mal ganz davon zu schweigen, dass er sich so seltsam nach links lehnte und dadurch unweigerlich nur imstande zu sein schien, eine Kurve zu laufen. Oh, er ist stehengeblieben.
 

Was macht der beschissene Bordstein hier?!
 

Ohne einen Kommentar sah Haruka zu, wie Rin aufgebracht auf den Bordstein eintrat.
 

Verzweiflung machte sich breit.
 

Verzweiflung, die vor allem Rin zu spüren bekam. Elender Bordstein, stellte sich ihm dreist in den Weg. Er würde schon noch wissen, was er davon hat! Ein paar Tritte hier und da, und sowieso... und sowieso war der Drink, den Rin kurz bevor sie losgegangen waren noch auf ex gekippt hatte, wohl zu viel gewesen - oder eher einer von den zu vielen, wie ihm sein Unterbewusstsein vermittelte, denn jetzt machte sich die Wirkung mehr als deutlich bemerkbar. Was natürlich äußerst zu Rins Missfallen war. Dafür musste der Bordstein noch mal herhalten. Schon besser.
 

„Rin.“
 

„Was?!“, bestellte der Angesprochene und musste in ein ausdrucksloses Gesicht gucken. Er verfluchte Haruka so sehr. Noch gerade eben schien dieser mehr tot als lebendig gewesen zu sein - obwohl man sich bei ihm manchmal nicht sicher sein konnte, ob er innerlich nicht bereits abgetreten war -, doch kaum hatte es angefangen zu regnen, war er wie neugeboren, als hätte der Regen ihn nüchterngespült. Gut, bei Haruka war das gar nicht mal so unwahrscheinlich. So, wie er auf Wasser abging, haben seine Eltern irgendwann einen Pakt mit einem Wassergott oder ähnlichem eingehen müssen, bei dem sie die Seele ihres Erstgeborenen geopfert haben. Anders war dieser Freak nicht zu erklären mit seiner Versessenheit auf Wasser, der sich ohne zu zögern die Kleider vom Leib riss, sobald sich jedwede Möglichkeit ergab, unterzutauchen. Man konnte glatt eifersüchtig werden. Darauf, wie seine Augen anfingen zu glitzern wie die Oberfläche des Meeres, an deren Wellen sich das Sonnenlicht brach, was das tiefe, unerwartet warme Blau noch hinreißender machte, als es ohnehin schon war, während man selbst hilflos danebenstand, zermürbt von der Gewissheit, dass er diese Augen nur für das Wasser hatte. Zum Kotzen. Ein Swimmingpool müsste man sein.
 

„Was willst du? Glotz nicht so blöd!“, warf Rin hinterher, als ihm eine Antwort nicht schnell genug kam.
 

„...Rin,“ Harukas Stimme klang beinahe zärtlich. „Nicht weinen.“
 

„Hä?“
 

„Alles ist okay.“
 

„Ich heul' gar nicht!“
 

„Ich sehe es doch.“
 

„'nen Scheiß siehst du!“
 

„Dein Gesicht ist ganz nass.“
 

„Es regnet ja auch!“ Dennoch fasste Rin sich aus Reflex an die Wange, um sicherzugehen.
 

„Du musst nicht eifersüchtig sein.“ Es war fraglich, ob Haruka überhaupt zuhörte, was ihm gesagt wurde, denn Rin schaffte es lediglich, ein verwirrtes „Eh?“ einzuwerfen, ehe der Schwarzhaarige einfach weitersprach. „Ich habe dich mindestens genau so gern wie den Regen.“
 

Einige Augenblicke verstrichen, während Rin verarbeitete, was er da soeben gehört hatte. Dann Schweigen, das sie einhüllte, gemeinsam mit dem Klatschen der Regentropfen auf den Asphalt. Rin biss sich auf die Unterlippe. „Lügner.“
 

„Ich lüge nicht!“
 

„Trotzdem entscheidest du dich für ihn und nicht für mich!“
 

Haruka zog die Luft scharf ein. Er wusste, dass Rin recht hatte. Das schlechte Gewissen ergriff ihn, er schaute zu Boden. „Tue ich nicht ...“, sagte er leise und beobachtete die Regentropfen dabei, wie sie auf den Boden auftrafen und zerbarsten, sofern sie nicht das Glück hatten, sich mit einer der kleinen Pfützen, die sich in der Zwischenzeit gebildet hatten, zu vereinen. Obwohl Haruka den Augenkontakt mied, spürte er Rins abwartenden Blick auf sich.
 

„Wenn du es ernst meinst, komm her.“, hörte er ihn verlangen. Unsicher hob Haruka seinen Kopf, den Blick seines Gegenübers suchend. Dieses stand immer noch halb abgewandt da, signalisierend, dass es jederzeit bereit war, auch alleine zu gehen, was im Widerspruch zu seinem Gesichtsausdruck stand: die Lippen zusammengepresst, die Wangen angespannt. Haruka hob langsam seine Arme und ging auf Rin zu, den er so sehr zu beschwichtigen begehrte. Ihn so zu sehen tat ihm selber weh, selbst wenn er es nicht so ausdrücken konnte, wie er es am liebsten getan hätte. Mit nach Rin ausgestreckten Armen machte Haruka weitere Schritte auf ihn zu, wobei ihm jeder dieser große Mühe bereitete. Der Regen hatte ihn vergessen lassen, dafür spürte er den Schwindelreiz jetzt, da er auf eigenen Beinen stand und niemanden an seiner Seite hatte, umso stärker. Tapfer kämpfte er an gegen die unsichtbaren Kräfte, die von allen Seiten an ihm zerrten. Ein Stück. Nur noch ein kleines Stück.
 

Währenddessen stand Rin da und sah mit einem Blick über die Schulter zu, wie Haruka unbeholfen, die Arme ausgedehnt, von einem Bein auf das andere tippelte, mit schaukelndem Oberkörper, und Zielstrebigkeit, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Und ohne sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu bewegen.
 

Wie gut, dass die Nacht noch jung war.

„Geht's dir wieder besser?“, wollte Rin wissen, als sie sich der Pforte des Hotels näherten.
 

Zwar hatte es eine Weile gedauert - wie lange genau vermochte keiner von beiden zu sagen, der Regen war jedoch inzwischen übergegangen in ein sachtes Nieseln -, letztlich haben sie aber doch noch zueinander gefunden, um Arm in Arm den Rückweg anzutreten. Damit beschäftigt, sich gegenseitig dabei auszuhelfen, ihr jeweiliges letztes bisschen Würde zu bewahren, wechselten sie auf ihrem Rückweg kein Wort miteinander. Erst, als der dekadente Eingang des Ressorts mit dem karminroten ausgelegten Teppich in Sichtweite gekommen war, hatte Rin sih dazu entschlossen, das unangenehme Schweigen zu brechen.
 

„Halbwegs“, sagte Haruka leise. Auch wenn die frische Luft dabei geholfen hatte, seine Sinne einigermaßen zu klären vom anfangs undurchsichtigen Nebel, litt er immer noch unter den Schwaden, die sich hier und da festgesetzt hatten und als zäh wie Kaugummi erwiesen. Bis er die loswurde, würde sicher noch eine Weile vergehen. Ihm war nicht groß nach Reden zumute, trotzdem warf er Rin einen fragenden Blick zu. „Was ist mit dir?“
 

„Mir ging es nie besser!“, antwortete Rin unbeschwert, atmete tief ein und streckte seine Brust aus, „Dieser Spaziergang hat echt gutgetan!“ Harukas skeptischen Gesichtsausdruck beschloss er zu ignorieren.
 

„Zumindest scheint es dir besser zu gehen als vorhin.“

Rins Überschwänglichkeit wurde ein sichtlicher Dämpfer verpasst. „Ne, Haru, du tust so, als wäre ich derjenige gewesen, der nicht mehr wusste, wo oben und wo unten ist.“
 

Der Angesprochene presste die Lippen zusammen, gleichzeitig wich die Skepsis in seiner Mimik zunehmend Verachtung. Ihm fielen gleich mehrere Situationen an diesem Abend ein, in denen Rin mindestens genau so hilflos gewesen war wie er selbst, beschloss jedoch, lieber zu schweigen. Ihm war nicht danach, einen weiteren - vermeidbaren - Streit zu entfahren. Stattdessen bliebt er unmittelbar vor der Überdachung des Eingangs stehen. „Danke. Den Rest schaffe ich allein.“
 

„Sicher?“ Rin hob eine Augenbraue in Unglauben.
 

Als wenn Rin sich diesen Abend besser geschlagen hätte. „Ganz sicher“, sagte Haruka bestimmt und hatte sich bereits aus der Umklammerung gelöst. Ohne diesen elenden Schwindel, der ihn vorhin geplagt hatte, fiel ihm die Koordination seiner Bewegungen nur noch halb so schwer; da würde er es wohl noch schaffen, die letzten paar hundert Meter, die ihn von seinem wohligen Bett trennten, ohne Hilfe zurückzulegen.
 

„Du siehst nicht so aus, als ob-“
 

„Mir geht es gut, danke der Nachfrage.“, unterbrach Haruka Rin etwas harscher, als er beabsichtigt hatte.

Offenbar wurde dieser Ton von Rin als Kampfansage gewertet, denn seine Miene verdunkelte sich von einer Sekunde auf die andere. „Wenn du meinst.“, sagte er und ließ Haruka den Vortritt. „Stolper nicht über den Teppich.“, strichelte er sarkastisch.
 

„Mach dir keine Sorgen um mich.“, gab Haruka bloß zurück und ging voran, dicht gefolgt von Rin.
 

„Nicht umkippen.“
 

„Werde ich schon nicht.“
 

„Du torkelst ganz schön.“
 

„Das stört mich nicht.“
 

Egal, was Rin sagte, Haruka sprang nicht darauf an; seine Antworten blieben nach wie vor gleichgültig. Sehr zu Rins Missfallen. Wenn sein Freund sich durch harmloses Necken nicht aus der Ruhe bringen ließ, müsste er eben andere Saiten aufziehen. Es brauchte schon mehr um ihn zu entmutigen, als eine kalte Schulter, und der Abend sollte noch lange nicht enden, wenn es nach ihm ginge. Unscheinbar platzierte er seine Hände auf Harukas Schultern und rief: „Vorsicht, Stufe!“
 

Haruka hatte keine Zeit zu registrieren, was um ihn herum geschah. Zwischen seinen Füßen hatte sich plötzlich ein weiterer Fuß eingefunden - und Trunkenheit hin oder her, er legte seine Hand ins Feuer dafür, dass er nicht ihm gehörte -, welcher sich um seine Ferse schlang und mit einem Ruck aus der Balance brachte. Ehe er irgendwas unternehmen konnte, um dem entgegenzuwirken, fand Haruka sich bereits in Rins Armen wieder, der ihn aufgefangen hatte.
 

„Ich hab' doch gesagt, du musst aufpassen!“ Es war nicht mal notwendig für Haruka, zu Rins Gesicht aufzuschauen, denn das schelmische Grinsen übertrug sich selbst auf dessen Stimme. Ohne eine Antwort abzuwarten, hakte Rin sich wieder bei Haruka ein. „Das kommt davon, wenn man alles besser weiß!“, wies er ihn selbstgefällig zurecht.
 

„Das hast du mit Absicht gemacht!“, startete Haruka sogleich seinen Protest.
 

„So?“ Rin ließ seine spitzen Eckzähne aufblitzen. „Habe ich das?“
 

Natürlich war es Rins Absicht gewesen. Und so, wie er unverhohlen griente, schien er sich nicht mal die Mühe zu machen, es zu verbergen. Nicht nur das, er sah ganz danach aus, als machte er es bewusst offensichtlich, um Haruka weiter zu provozieren. Ein Mal mehr konnte Haruka sich keinen Reim darauf machen, was in Rins Kopf vor sich ging und was seine Absichten waren.
 

„Du willst doch bloß davon ablenken, dass du selber nicht laufen kannst!“
 

„Sagt der, der über seine eigenen Füße stolpert!“
 

Es war zwecklos. Entweder, Haruka gab nach und hatte hoffentlich alsbald seine Ruhe, oder sie stünden bis zum Morgengrauen hier und zögen vermutlich noch mehr schiefe Blicke auf sich mit ihrem Hahnenkampf als ohnehin schon. Er entschloss sich für die erste Option, das seines Erachtens kleinere Übel. „Ist ja jetzt auch egal... Lass uns endlich gehen.“
 

„Was, so schnell gibst du schon auf?“ Rin klang ein wenig enttäuscht.
 

„Ich habe einfach keine Lust, die halbe Nacht sinnlos hier rumzustehen mit dir.“
 

„Haruuu... Du bist so kalt!“ Als dieser keine Regung zeigte, gab Rin letztlich klein bei. „Heh, also gut. Lass uns gehen.“
 

Gemeinsam setzen sie sich in Bewegung, den ratlosen bis missbilligenden Gesichter, die ihnen in der Lobby entgegenstarrten, schenkten sie dabei keine Beachtung. Ab und an merkte Haruka, wie Rin zu ihm lugte, allerdings ging er nicht darauf ein.
 

Die Luft in der Lobby war so anders als die von der Straße, obwohl die Türen die ganze Zeit über offengestanden hatten. Vielleicht lag es daran, dass der Regen die Luft im Gebäude nicht hat auswaschen können. Sie war schwül, irgendwie behäbig, vor allem aber drückend. Wie eine wuchtige Decke schien sie Haruka einzuhüllen, eine bleierne Müdigkeit mit sich ziehend. Mit einem Mal fiel es ihm unheimlich schwer, seine Beine vorwärts zu bewegen, und nun war er doch recht dankbar dafür, dass Rin ihn stützte. Er lehnte sich gegen ihn und ließ sich bereitweillig zum Fahrstuhl führen.
 

Für einige Sekunden war alles verschwommen, ehe Rins Stimme ihn zurück ins Diesseits holte. „Haru? Geht es dir gut?“, erkundigte er sich.
 

„Mhm.“ Sobald die Türen geschlossen waren, setzte die Kabine sich in Bewegung.
 

„Wir haben es fast geschafft.“, sagte Rin. Dort, wo soeben noch Zanklust seinen Unterton dominiert hatte, befand sich nun eine ungewohnte Milde.
 

Anstelle einer Antwort schloss Haruka seine Augen und legte seinen Kopf auf Rins Schulter ab.
 

„Wehe, du stirbst mir hier“, ermahnte dieser ihn und spannte demonstrativ seine Schulter an, um Haruka wachzuhalten.
 

„Ich sterbe schon nicht“, grummelte dieser und platzierte seinen Kopf abermals auf der Schulter. „So schnell wirst du mich nicht los.“ Er hörte Rin ein leises Lachen ausstoßen.
 

„Besser so.“ Seine Augen stets verschlossen, merkte Haruka, wie Rin die Stirn gegen die seine lehnte. „Du wirst hier noch gebraucht.“ Während Rin sprach, konnte Haruka seinen warmen Atem direkt auf seinen Lippen spüren - eine ungeahnt angenehme Empfindung, und für den anhaltenden Augenblick wagte er es nicht, zu atmen. Zu fragil erschien ihm dieser Moment, als könnte er an einem bloßen Wimpernschlag zerbrechen. Behutsam öffnete Haruka schließlich doch seine sah, wie Rin es ihm gleichgetan hatte: Mit geschlossenen Augen gedrückter Atmung stand er da, die Stirn nach wie vor an ihr Gegenüber gelehnt.
 

Er wunderte sich, ob es Rin genau so ging wie ihm.
 

Wenn er so darüber nachdachte, waren sie sich noch nie zuvor so nahe gewesen wie jetzt, und zum ersten Mal fiel Haruka auf, wie sehr Rins Gesichtszüge eigentlich im Widerspruch zu seinem manchmal schroffen Auftreten standen. Unbewusst streckte er seinen Kopf ein wenig hervor, um einen besseren Blick erhaschen zu können, und stieß dabei aus Versehen Rins Nase mit einer eigenen an.
 

Oi, was wird das?“, sagte Rin vorwurfsvoll, an seinen Augen war aber abzulesen, dass es nur gespielt war. Die dichten Wimpern, von denen sie umrahmt waren, gepaart mit den definierten, und doch feinen Gesichtszügen, verliehen ihm ein sanftmütiges Aussehen. Es war ein direkter Kontrast zu seiner herrischen Persönlichkeit - und gleichzeitig spiegelte es Rin besser wider, als alles andere; die Sanftmut, die sich hinter der aufgesetzt rauen Fassade verbarg. Haruka konnte nicht anders, als zu schmunzeln, da ihm bewusst wurde, wie glücklich er sich schätzte, Rin in seinem Leben zu haben, auch, wenn er es bisher nicht richtig auszudrücken vermochte.
 

Der Wechsel von Harukas Gemütszustand entging Rin nicht. „Geht's dir endlich wieder gut, hm?“
 

„Mh-hm.„, machte er und schloss genüsslich die Augen, als Rin seinen Kopf tätschelte und ihm durch sein nasses Haar strich. Etwas, das er gerne zur Gewohnheit machen würde.
 

Die Situation wurde jäh unterbrochen vom Gong, der signalisierte, dass das gewünschte Stockwerk erreicht war. Sobald sich die Türen öffneten, flutete grelles Licht aus dem Flur in die schummrige Kabine. Ächzend drückte Haruka seine Stirn gegen Rins Brust. So unbedeutend es aus war, er wollte nicht, dass es schon vorbei war - und so, wie es aussah, verstand Rin; er sagte nichts, und streichelte einfach nur Harukas Kopf weiter.
 

„Rin...“
 

„Hm?“
 

Haruka hielt sich an Rins Jacke fest und sagte nichts. Fast glaubte Rin schon, sich verhört zu haben, ehe Haruka sich doch noch zu Wort meldete: „Ich... bin müde...“
 

Rin schnaubte, konnte aber nicht anders, als zu schmunzeln. „Dann lass uns gehen.“, sagte er und bugsierte seinen Freund zu dessen Zimmer, wobei sich herausstellte, dass das gar nicht mal so einfach war. Es war eine Herausforderung, sich seitwärts fortzubewegen, allem voran, wenn sich dazu ein ausgewachsener Mann an einem festklammerte. Letztlich schafften sie aber unfallfrei bis zur Tür - nur, damit diese zum unüberwindbaren Hindernis zu werden drohte.
 

„...Willst du nicht rein?“, fragte Rin, nachdem Haruka eine ganze Weile einfach nur dagestanden und das Schloss observiert hatte, die Schlüsselkarte tatenlos in der Hand.
 

„Doch.“
 

„Warum machst du dann nicht auf?“
 

Haruka guckte angestrengt. „Das versuche ich gerade.“
 

„Was?“
 

„Das Schloss ... bewegt sich.“, erläuterte er in vollem Ernst, den Blick starrend auf besagtes Schloss gerichtet, als könnte er es damit festhalten. „Ich kann es nicht öffnen, wenn es sich bewegt.„
 

„...Gib her!“ Vor Ungeduld verzog Rin das Gesicht.
 

Dagegen machte Haruka keine Anstalten und konzentrierte sich weiterhin darauf, das Schloss mit seinen Blicken zu durchbohren.
 

„Ich hab' gesagt, lass mich das machen! Sonst tust du dir noch weh!“ Ungestüm packte Rin Harukas Handgelenk und führte dessen Hand zum ominösen Schloss, um ihm vorzuführen, dass er Blödsinn von sich gab. Und verfehlte. „Was zum...?!“
 

„Man kann es nicht öffnen, wenn es sich bewegt.„, wiederholte Haruka.
 

Rin stierte böse.
 

„Das Schloss ist lebendig.“
 

„Halt's Maul!“, warf er ein und startete weitere Versuche, sich Zugang zu verschaffen, allesamt zum Scheitern verurteilt.
 

„Du darfst keine Angst zeigen.“
 

„Ich sagte, halt's Maul!„ Eines stand für Rin fest: Es war unmöglich, so viel zu saufen, wie nötig war, um Harukas Abhandlungen darüber zu ertragen, was und was nicht lebendig war und wie man sich dem stellte; und wenn er jetzt auch noch anfinge, über Schlösser genau so zu philosophieren wie von Wasser, erwies es sich als durchaus verführerisch, sich einfach den Liftschacht hinunterzustürzen. Vielleicht sollte er dies als Plan B im Hinterkopf behalten.
 

Während Rin in flammendem Jähzorn aufging, behielt Haruka die Fassung; immerhin wusste er, wie er mit der Situation umzugehen hatte. Entschlossen nahm er Rins freie Hand und führte sie zur Klinke, seine eigene Hand darauflegend. Dann atmete er tief durch und schloss die Augen.
 

„Was wird das?“
 

„Vertrau mir.“
 

„Das ist das Problem! Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich keine Ahnung habe, was du hier abziehen willst!“ Bei diesen Worten kräuselte sich Harukas Stirn.
 

„Nur dieses eine Mal. Bitte.“
 

Ein genervter Seufzer entwich Rin, bevor er es Haruka gleichtat.
 

„Jetzt“, hauchte dieser überzeugt.
 

Mit den Zähnen knirschend versuchte Rin, die Schlüsselkarte an den Schlitz anzusetzen. Was sollte das überhaupt werden, wenn es fertig war? Ihm fehlte die Geduld für solche Spielchen. Oh.
 

„Es hat geklappt.“, stellte er tonlos fest. Die Karte hat sich tatsächlich ohne Probleme durchziehen lassen und den Weg freigegeben. Es schielte zu Haruka, der stolz dreinblickte. Lieber die Gelegenheit schnell ergreifen: Er zog ihn ins Zimmer, ehe die Idee aufkam, noch mehr „spirituelle Erfahrungen„ zu sammeln an den benachbarten Türen.
 

„Pass auf, wo du hintri-“
 

Zwar erlaubte Rin sein Elan, mit seinem Bein elegant die Tür hinter sich zu schließen - Haruka im Arm, wohlgemerkt -, dies bewahrte ihn aber nicht vor den Gefahren, die unmittelbar vor ihm lagen: Ein Paar achtlos hingeworfener Laufschuhe.
 

Polternd gingen beide zu Boden.
 

„Ugh... Warum lässt du mitten im Flur was rumliegen?!“
 

„Die Schuhe standen an der Wand! Nicht meine Schuld, wenn du immer noch nicht geradeaus laufen kannst!“ Haruka hob seinen Kopf ein wenig an, um Rin anschauen zu können; dieser war direkt auf ihm gelandet, wenn auch ein wenig versetzt, und vergrub das Gesicht in seiner Jacke. Das einzige, was er im Dunkel des Raums erkennen konnte, war ein durchnässter, dunkelroter Haarschopf. „Du bist schwer...“
 

„Schnauze“, knurrte Rin, krallte sich in die Jacke und fuhr ruhiger fort: „Du hast mir heute echt was abverlangt... Sei gefälligst ein wenig dankbarer.“ Ein paar Finger strichen versöhnlich durch sein nasses Haar, wie er es vorhin bei Haruka getan hatte.
 

„Tut mir leid.“
 

Die Berührung löste einen wohligen Schauer in Rin aus und er bekam mit, wie sein Herz sofort anfing schneller zu schlagen, obwohl die Geste so klein war. Es war egal, sie konnte noch so klein sein, solange sie von Haruka kam. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie den Rest der Nacht so liegenbleiben... oder, besser noch, für immer. Aber er erinnerte sich daran, sich eine Deadline gesetzt zu haben. Jedes Mal hatte er den richtigen Moment abwarten wollen, jedes Mal hat er es hinausgezögert. Er wusste nicht, wann er es sich zum ersten Mal vorgenommen hatte, doch erschien es ihm wie eine Ewigkeit. Immer wieder aufs Neue in die Knie gezwungen von der zermürbenden Angst, noch bevor er überhaupt etwas hat unternehmen können. Und er drohte, erneut im Kreis zu laufen.
 

Ein besserer Moment kommt nicht mehr. Jetzt oder nie.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallihallo an diejenigen, die es bis hierhin geschafft haben! ^_^

Jahaa, sie haben es endlich geschafft ins Zimmer, nach ihrer langen Odyssee, wuhuu! Und da die Story hier anknüpft an den ersten Entwurf, als das hier noch ein One-Shot werden sollte, tritt im nächsten Kapitel der Comedy-Teil zugunsten des Romanzen-Teils weit in den Hintergrund. :)

Natürlich freue ich mich über jegliche Rückmeldung (zumal ich derzeit parallel an anderen Geschichten mit Rin und Haru schreibe und ich von anderen gerne eine zweite Meinung hätte, wie lang im Optimalfall denn ein Kapitel sein sollte, was als kurz gilt, und was schon ZU lang ist): Lob, konstruktive Kritik, Fragen, Spekulationen, Verschwörungstheorien. Alles liebend gern gesehen! xD

Joa. Das war's so weit von mir! Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen und bleibt auf 'nen Tee und das nächste Kapitel. :) Schöne Woche noch! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sylvanas_Windrunner
2019-01-05T21:28:37+00:00 05.01.2019 22:28
Ich hoffe doch sehr das nochnal weitere Kapitel erscheinen. Die bisherigen zwei gefielen mir sehr gut. HaruxRin *_*
Von:  YumeKahoko
2017-09-03T19:55:23+00:00 03.09.2017 21:55
Also der Anfang klingt schon mal wirklich gut und ich bin gespannt wies weitergeht.
RinxHaru <3
Ich geh mal zum nächsten Kapitel.

LG YumeKahoko


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