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Die Angst vor der Einsamkeit

von

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Moira-Temis saß in einem der Spitzbogenfenster ihrer Schule und ließ den Schülerstrom an sich vorbei ziehen. Alle trugen dieselben schwarzen Uniformen, die Jungs mit Schlips und Hose, die Mädchen mit Rock und Lackschühchen. Anders als im Rest der Welt, wo es nicht mal mehr Schuluniformen gab, wurde hier jegliche Individualität im Keim erstickt. Mädchen durften keine Hosen tragen, Jungs keine Röcke, die Schuhe wurden beim Einkleiden ebenso mitausgegeben wie die Unterwäsche. Nein, das war jetzt kein Witz, sogar die Unterwäsche gehörte hier zur Uniform. Es könnte sich ja sonst eine Revolution ergeben, wenn jemand einen bunten Schlüppi trug. Naheliegend. Und diese Unterwäsche erhielt man anfangend beim sechsten Lebensjahr bis hin zum Uniabschluss. Und ausnahmslos alle hier machten ihren Uniabschluss, zumal es an sich ja auch keine Alternativen gab. Eine Lehre zu machen war unter der Würde der Erebos und an einer Universität in Eros einen Abschluss zu machen, stand gar nicht zur Debatte. Also studierte man hier eben irgendwas Betriebswirtschaftliches, wurde Arzt oder Anwalt. Sollte doch mal etwas anderes gebraucht werden – ja, auch Erebos brauchte manchmal Klempner, auch wenn sie immer so taten, als würden sie nicht scheißen – wurde das von Eros zugekauft. Organisieren durfte das natürlich das Dienstpersonal, ein Erebos gab sich schließlich nicht mit solchen Leuten ab. Mos Herz schlug eigentlich für Tiere, aber Tierärzte gehörten leider auch zu den gekauften Berufssparten. Also wurde sie eben dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend Managerin und ließ hier den schwarzen Strom an sich vorbei ziehen. Hin und wieder kam ein bekanntes Gesicht vorbei, ein Lächeln wurde gefälscht und ein freundlicher Gruß für die Tochter des Ratsvorsitzenden geheuchelt. Und Mo hasste diese Welt mit jedem Wimpernschlag mehr.

Ihr Blick schweifte nach draußen, wo sie helles Sonnenlicht empfing. Dort irgendwo. Irgendwo hinter der hohen Grenzmauer von Erebos gab es eine andere Welt. Während sie hier lebten, als sei die Zeit stehen geblieben, hatte man da draußen angefangen, die unförmige Masse zwischen den Schädelknochen zu benutzen und für sich selbst und alle drum herum zu denken. Hier übernahm das Denken noch der Rat, wer selbst dachte, machte sich als Querulant unbeliebt, wie Mo schon vor langer Zeit gelernt hatte. Viel besser war es, den Mund zu halten und zu versuchen, nicht allzu unglücklich zu sein. Und den meisten Menschen hier gelang das ja auch nur zu gut. Nicht zu denken konnte ja durchaus auch eine Erleichterung sein. Schlechte Laune? Dann kaufte man sich eben ein Paar neuer Schuhe, Geld hatten die Erebos ohnehin nicht zu knapp. Vor dem Krieg waren viele der Erebos durch Korruption, Politik oder Großkonzerne reicht geworden und zehrten auch jetzt noch von den Überresten, den Zinsen und den Zinseszinsen. So wie die Bewohner in machen Teilen von Eros noch von der übrigen Strahlung der Atombomben zehrten, die von den Erebos-Konzernen früher finanziert wurden. Aber wen kümmerte das schon? Hauptsache hier in Erebos war das Leben schön und komfortabel. Aus diesem Grund lebten sie ja auch hier in einer isolierte Enklave und mieden jeglichen Kontakt zur restlichen Bevölkerung. Der Rat hatte beschlossen, dass sie nicht bereit waren, sich an der Neuordnung der Welt zu beteiligen und ihre Ressource für eine faire Verteilung aufzugeben. Warum auch sollte man sein Geld mit den Armen teilen? Ausgeben war doch viel netter für einen selbst. Erebos ließ den Großteil seiner Güter selbst produzieren und auch hier wurde am alten System festgehalten: Arbeiter wurden wie Sklaven in den Produktionsbetriebe ausgebeutet, um Nobelgüter zu erzeugen, die dann teuer verkauft werde konnten. Die bisher gestarteten Rebellionen waren gewaltsam unterdrückt, ein Rettungsversuch durch Eros vereitelt worden. Generell war es momentan eine Patt-Situation zwischen den beiden Ländern. Die Erebos waren zu wenige, um ernstlich gegen Eros vorgehen zu können und in Eros würde man nicht mit Gewalt gegen Erebos vorgehen und die diplomatischen Verhandlungsversuche waren bisher gescheitert. Aber zumindest fruchteten die Versuche der Erebos, Eros zu unterlaufen, nur mäßig. In wenigen Tagen würde wieder eine Ratsversammlung stattfinden, weil die Übernahme eines Betriebes in Eros gescheitert war, was zu einigem Unmut geführt hatte.

Eine Traube aufgeregt gackernder Mädchen schob sich den Gang entlang, fächerförmig um Moros-Kronos angeordnet. Mo verdrehte die Augen. Ihr Zwillingsbruder war ein arroganter, rücksichtsloser Idiot, was niemanden hier hinderte, ihn anzuhimmeln. Oder vielleicht war er gerade deswegen so beliebt. Und weil er der Sohn des Ratsvorsitzenden war. Von allen möglichen Eigenschaften war Beliebtheit wohl jene, die am ungerechtesten verteilt war. Beliebt waren nicht jene, die intelligent oder gerecht waren oder etwas leisteten, sondern die, die dem Mainstream entsprachen, nett aussahen und meistens noch glaubten, etwas Besseres zu sein und auf andere herabblicken zu können. Und in den meisten Fällen dann noch aus einfluss- und geldreichen Familien kamen. Und das alles traf auf Moros zu. Wenn es die Optik nicht eindeutig belegen würde, würde Mo bis heute nicht glauben, dass sie tatsächlich aus demselben Ei wie Moros entstanden war, zu groß waren die Unterschiede. Der Moros-Fanclub zog vorbei und Mo hatte das Gefühl, wieder freier atmen zu können, nachdem die Schar außer Sichtweite war. Mo versuchte, so gut es ging, sich in die Masse einzufügen, sich anzupassen. Sie war sogar schon mit ihnen aus gewesen, hatte Bier getrunken und Zigaretten geraucht mit ihnen. Doch es änderte nichts an dem Gefühl, nicht dazu zu gehören. Mo hatte oft das Gefühl, aus einem klassischen Schwarzweißfilm in einen grellbunten, überladenen Hollywoodstreifen gefallen zu sein. Sie fühlte sich unwohl, gehörte nicht hierher, passte nicht dazu. Und dieses Gefühl ging manchmal sogar so weit, dass es ihr den Atem nahm. Der sprichwörtliche goldene Käfig. Sie hatte all das, was sich alle anderen Mädchen hier wünschten, aber Mo selbst wünschte sich einfach nur, jemand anderes zu sein. Weil als das Selbst, das sie jetzt war, würde sie hier nie akzeptiert werden.

Der Abend dämmerte bereits, als Mo in ihren Kunstkurs zockelte. Mo malte gerne, allerdings am liebsten für sich alleine, ihre Mutter hatte sie in diesen Kurs gedrängt. Für Mo war das Malen eine Art, sich auszudrücken. Zumeist schmierte sie intuitiv Farben auf die Leinwand und verzierte sie mit den Fratzen und Figuren, die aus ihrem Unterbewusstsein aufstiegen. Euryia sah das allerdings als Vergeudung von Zeit und Geld an und vertrat die Meinung, dass ihre Tochter, wenn sie schon unbedingt malen musste, etwas Vernünftiges malen solle. Und daher saß Mo hier und versuchte, eine Schale Birnen akkurat abzuzeichnen und scheiterte dabei kläglich. Ihre Birnen waren nicht symmetrisch genug, nicht perfekt genug, worauf sie ihre Professorin bei jedem ihrer Rundgänge hinwies. Bis aus der hinteren Reihe die Frage laut wurde, warum Birnen eigentlich perfekt oder symmetrisch sein mussten.

Mo drehte sich auf ihrem Hocker um. Scheinbar hatten sie einen Neuen im Kurs, denn Hyperion, der sich ganz hinten auf seinem Stuhl im Kreis drehte und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, war bisher noch nie hier gewesen. Mo seufzte, als der Professor zu einem Standpauke ansetzte. Natürlich hatte Hyperion Recht. Birnen sollten – wie alle Lebensmittel – gut schmecken und den Hunger stillen und nicht gut aussehen. In Erebos wurden jedes Jahr Unmengen Lebensmittel weggeworfen, weil sie nicht der Schönheitsnorm der Gesellschaft entsprachen. Zu krumme Karotten, deformierte Kartoffeln, Äpfel mit Tupfen. Kam alles in den Müll, weil es nicht ästhetisch aussah. Als wäre das nicht völlig egal. Lebensmittel waren wertvolle Güter und die unfaire Verteilung dieser war einer der Mitgründe gewesen, warum es zum Dritten Weltkrieg gekommen war. Für die wenigen Bessergestellten war es selbstverständlich geworden, dass Lebensmittel immer in ausreichender Menge zur Verfügung gestanden waren, während der Großteil der Weltbevölkerung unterernährt war und jeden Tag Kinder starben, weil ihre Eltern sie nicht ernähren konnten. Die Wohlstandsgesellschaft hatte keinen Bezug mehr zum Essen, alles wurde fertig abgepackt im Supermarkt gekauft, aber dass das Fleisch von Tieren aus grausamen Massenhaltungsbetrieben stammte und quer über den Globus gekarrt wurde, bedachte dabei niemand. Und wenn das Verfallsdatum dann erreicht war, zack, ab in den Müll damit, tatsächliche Haltbarkeit hin oder her. Aber der Kunstunterricht in der Universität von Erebos war wahrlich nicht der richtige Ort für Diskussionen darüber. Wozu auch? Hyperion fasste eine gehörige Portion Nachsitzen aus und ändern würde sich hier sowieso nichts, ihre Professorin kritisierte Mos Birnen nach wie vor weil sie nicht perfekt waren. Mo sah Hyperion noch einen Augenblick an, dann wandte sie sich wieder ihrer Staffelei zu.

Hyperion war hier quasi das Gegenteil von Moros-Kronos. Wurde letzterer hier von allen als Held verehrt, war erster der Bösewicht. Dabei hatte ihn die Gesellschaft erst zu einem solchen gemacht. Hyperion war durch eine Genveränderung mit einem grauen und einem grünen Auge zur Welt gekommen. An sich nicht weiter tragisch, es hatte keine Schmerzen deswegen, keine Defizite, nur eben zwei unterschiedliche Augenfarben. Das Problem an sich war vielmehr das Streben nach Makellosigkeit in Erebos. Frauen ließen sich die Knochen brechen und operieren, weil sie der Ansicht waren, dass ihre Beine nicht lange genug waren und für Mos Mutter Eurybia war es schon eine Ohnmachtsgrund, wenn ihre Tochter zwei verschiedene Socken trug, demnach konnte man sich wohl vorstellen was das für die Leute hier hieß, wenn man zwei ungleiche Augen hatte. Und wenn es nicht operabel war. Sonst wurde hier alles, was optisch nicht makellos war, makellos gemacht, nicht umsonst gingen hier so viele Ärzte von der Uni ab. Aber für Hyperions „Problem“ hatte sich noch kein Arzt finden lassen, um es zu kurieren. Hyperion war der älteste Sohn der Familie und damit eigentlich ihr ganzer Stolz. Mo verglich Erebos oft mit dem Mittelalter und auch hier traf dieser Vergleich zu, denn die ältesten Söhne waren dazu auserkoren, das Familienimperium zu übernehmen, während die Mädchen wie Vieh an den Meistbietenden verkauft wurden. Drei Jahre lang hatten Hyperions Eltern alles versucht, um die Augenfarbe ihres Sohnes zu korrigieren, danach war sein jüngerer Bruder auf die Welt gekommen und nachdem der Erstgeborene ja Schande über die Familie gebracht hatte (als ob er etwas für seine Augenfarbe könne, wenn dann sollten ja wohl seine Eltern für die genetische Mitgabe verantwortlich gemacht werden), wurde stattdessen Hyperions jüngerer Bruder zum Stammeshalter erkoren. Seither war Hyperion ein Kind zweiter Klasse, eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass ihn seine Eltern nicht ausgesetzt hatten. Die meiste Erebos behandelten Hyperion wie eine Missgeburt, einen Aussätzigen, aber ausschließen konnten sie ihn auch nicht, immerhin war er ja trotzdem noch das Kind eines hohen Ratsmitgliedes. Deswegen konnten sie ihn auch nicht aus der Schule rauswerfen, trotz Unzähliger Verwarnungen wegen allem Möglichen. Oder eigentlich nur wegen einer Sache: weil er nicht so war wie alle anderen und sich nicht ans System anpasste.

Mo ließ den Blick schweifen und dachte bei sich, dass sie jetzt gerne überall anders wäre außer hier. Die Frau eines Ratsmitgliedes hatte Geburtstag und alle bedeutenden Familien in Erebos waren eingeladen. Was eine erbärmliche Farce war, wenn sie sich ehrlich waren. Hier ging es doch nur darum, dass jeder zur Schau stellen konnte, was er hatte. Die Familie selbst hatte das Haus blank wienern lassen, das teuerste Geschirr hervor geholt und die üppigste Blumendekoration bestellt, die sich finden hat lassen. Die Gäste ihrerseits hatten keine Kosten und Mühen gescheut, um in Sachen Aussehen, Kleidung und Geschenk alle anderen Gäste zu übertrumpfen. Ereignisse wie diese waren sinnlose Huldigungsakte an den Kapitalismus und dienten rein dem Zwecke, eine Plattform zu haben, um sich zur Schau zu stellen und morgen neuen Gesprächsstoff zum Lästern zu haben. Oh, Madame hatte aber schon zugenommen. Und Frau hat bei ihrer Kleiderauswahl wohl auch bei den Dienstboten zugegriffen. Familie hat heuer aber schon am Geschenk gespart. Und die Gastgeber hätten sich mit den Blumen schon etwas mehr Mühe gebe können. Im Februar wohlgemerkt! Diese Unmengen an Blüten waren unter enormen Energieaufwand mitten im Winter in Glashäusern großgezogen worden und würden morgen wieder weggeworfen werden, trotzdem reichte es machen Gästen nicht.

Mo kratzte sich am Unterarm und fing dafür einen Stoß ihres Angetrauten ein. Ihr zukünftiger Gemahl war ihr von ihren Eltern vorgesetzt worden und war eben von diesen heute darin unterwiesen worden, sie am Kratzen zu hindern. Von Zeit zu Zeit hatte Moira das Gefühl, es in ihrer Haut nicht mehr auszuhalten, der Hass auf sich und die Gesellschaft war zu groß und schien ihre Haut sprengen zu wollen. Aber das Gewebe war zu elastisch, weshalb Mo sich am liebsten die ganze Haut einfach vom Leib gerissen hätte, um ihre Seele zu befreien. Kam aber natürlich nicht in Frage, ihre Mutter würde ihr den Hals umdrehen, wenn Mo ihre makellose Haut beschädigen würden, also hatte Mo als, wenn auch wenig zufrieden stellenden, Kompromiss begonnen, sich an den Unterarmen zu kratzen. Ihre Mutter achtete immer penibelst darauf, dass Mos Fingernägel sauber manikürt waren, was sie zu einem perfekten Werkzeug machten, um sie sich ins Fleisch zu graben und langsam an der weichen Innenseite am Unterarm nach oben zu ziehen. Nicht so befriedigend wie Rasierklingen, aber weit weniger aufmerksamkeitserregend. Mo redete sich immer auf die Katze hinaus, wenn sie nach den Kratzspuren gefragt wurde und ihre Mutter hatte sie damit zufrieden stellen können, dass die Haut juckte. Jetzt saß Mo eben regelmäßig beim Dermatologen, der natürlich nichts fand, aber immerhin ließ ihre Mutter sie meist in Ruhe. Außer in öffentlichen Situationen wie diesen, weil Eurybia der Ansicht war, dass Kratzen nicht schick war.

Mühsam unterdrückte Mo den Impuls. Sie wollte hier raus, wollte raus aus ihrer Haut. Um sie herum war alles so künstlich. Künstlich bunt, künstlich freundlich, künstlich laut. Hollywood. Und sie war hier in ihrem ganz eigenen Stummfilm in Schwarz-weiß. Sie wollte schreien, wollte raus aus dieser Farce, wollte all diesen Menschen hier sagen, dass sie hirnlose Marionetten des Systems waren. Aber sie schwieg. Lächelte. Gönnte sich noch ein Gläschen Champus mit den Reichen und Schönen, eh sie sich entschuldigte, um auf die Toilette zu gehen. Im Flur ignorierte sie betreffende Örtlichkeit allerdings und ging geradeaus weiter zur Treppe. Das zweite Stockwerk lag leer und dunkel da, die Festlichkeiten konzentrierten sich auf den ersten Stock und das Dienstpersonal war in der Küche zugegen. Bei ihrer Ankunft hatte Mo im Obergeschoss einen Balkon gesehen, der über der Einfahrt thronte, dort wollte sie hin. Leise tapste sie den Gang entlang, für einen kurzen Augenblick bildete sie sich sogar ein, laute Metallmusik hinter sich zu hören. Als würde hier jemand Metall hören. Nachdem sie einige Türen geöffnet hatte, fand sie eines der Schlafzimmer, von dem aus sie nach draußen gelangt. Wie erhofft lag die Einfahrt unter dem Balkon verlassen und dunkel dar. Die Feier wurde im Saal im ersten Stock abgehalten, der den Blick auf die hintere Seite des Gebäudes und den kunstvoll gestalteten Garten freigab. Dort waren in den Bäumen bunte Laternen drapiert und später sollte dort dann ein Feuerwerk am Himmel aufleuchten. Sinnlos in die Umwelt gepumpte Schadstoffe, für einen Augenblick der Freude am Zenit.

An der Stirnseite des Gebäudes war von alledem aber nicht zu bemerken. Vereinzelt waren erleuchtete Rechtecke am Boden sichtbar, wo Licht in den Dienstzimmern brannte, der munter vor sich hinplätschernde Springbrunnen war dezent erhellte und weiter unten, am Ende des langen Auffahrtsweges, wurde das Eingangstor von den Straßenlaternen miterleuchtet. Irgendwo war der Ruf eines Vogels zu vernehmen. Und Mo fühlte sich hier in der Stille weniger allein als gerade eben noch, als sie umgeben von Menschen war. Die kühle Nachtluft stieg ihr in die Nase, brachte den Geruch von schweren Blumen mit sich und hinter Mos Rücken bauschte eine leise Brise die Vorhänge.

Die Stille kroch ihr über die Haut, hüllte sie ein, liebkoste sie. Mo mochte das Alleinsein, fürchtete aber die Einsamkeit. Nachts wachte sie schweißgebadet und verstört auf, herausgerissen aus Träumen, in denen sie einsam und verlassen durch die Finsternis geirrt war. Entgegen dem weitverbreitetem Glauben waren Alleinsein und Einsamkeit nicht dasselbe. Dummerweise gingen beide oft miteinander einher. Mo war gerne alleine, für sich, ohne Gesellschaft. Dann konnte sie ungezwungen sein, tun, wonach ihr beliebet. Dann malte sie, nähte, ging in den Wald, nur um die Vögel zu beobachten und den Duft der Bäume einzuatmen. Meistens zog sie diese Art der Beschäftigung auch jeglichen gemeinschaftlichen Aktivitäten vor. Nicht immer, Mo war keine völlige Einzelgängerin, das musste man auch sagen. Sie hatte drei, vier enge Freunde, mit denen sie viel Zeit verbrachte und mit denen sie gerne Zeit verbrachte. Aber eben nicht immer. Allerdings wurde gerade das von ihr erwartet. Abrufbereit zu sein und allzeit bereit für gemeinsame Aktivitäten. Und wenn sie es nicht war, waren die Leute sauer auf sie. Warum sie schon wieder keine Zeit habe, wurde sie dann gefragt. Warum sie denn nicht mal bei was mitmachen könne. Warum sie denn so eine Spaßbremse sei. Und mit Spaßbremsen wollte sich niemand abgeben. Also wurde sie immer seltener gefragt, ob sie überhaupt mitkommen wollte. Die Anfragen wurden weniger und somit auch der Kontakt zu anderen. Das Handy blieb immer öfters still und die Zeit, die Mo ohne Gesellschaft verbrachte, wurde immer mehr. Und in diesem Moment passierte sie die Grenze zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Es war eine Gradwanderung. Ersteres war von ihr gewollt, letzteres erlebte sie unfreiwillig. Und das führte in die Zwickmühle. Mo konnte es nicht akzeptieren, dass sie gerne allein war, konnte die gesellschaftslose Zeit nicht genießen, weil im Unterbewusstsein die Angst lauerte, dass die Einsamkeit dann auch kommen würde. Ihre schwarzen Klauen nach ihr ausstrecken und sie in die dunkle, leere Ödnis hinabreißen würde. Also raffte Mo sich auf, suchte die Gesellschaft, die sie eigentlich zumeist verabscheute und ließ sich zu Aktivitäten mitreißen, die sich zumeist ebenfalls verabscheute, alles nur um nicht als Geisel der Einsamkeit zu enden.

Ihr sündhaft teures Kleid stellte sich als enorme Behinderung heraus, als Mo ungelenk auf die Balkonbrüstung kletterte. Ihre hochhackigen Schuhe hatte sie am Boden zurück gelassen, der Stein der Umrandung fühlte sich kühl und rau an unter ihren Zehen.

„Angenommen du wärst eine der Dienstboten hier im Haus. Würdest du deinen restlichen Abend damit verbringen wollen, menschlichen Blut-, Muskel- und Knochenmatsch vom Asphalt kratzen zu wollen?“

Mo riss die Augen auf. Ihr war nicht aufgefallen, dass ihr jemand gefolgt war. Sie hatte sich doch mehrfach umgesehen. Nein! Alle Zeichen hatten dafür gesprochen, zu springen. Der Wind, der sie im freien Fall leise umspielt hätte. Das Rauschen der Bäume und das Plätschern des Brunnens, die ihren Sturz untermalt hätten. Das Bewusstsein, ein friedliches Ende zu finden und aus ihrem goldenen Käfig auszubrechen. Endlich frei sein. Mo spürte kalte Schweißperlen ihre Wirbelsäule hinab wandern. Sie sollte springen. SOFORT!

„Ich könnte mir jedenfalls bessere Beschäftigungen für den Abend vorstellen.“

Erst jetzt erkannte sie die Stimme. Hyperion.

„Was machst du hier?“

„Wohnen.“

Mo stutzte. Eigentlich hatte sie gemeint, warum er nicht unten bei der Feier war, warum er ihr gefolgt war (zumindest glaubte sie nicht, dass er sich vom Festsaal zufällig zur gleichen Zeit durch die düsteren Gänge hierher verirrt hatte). Und sie hatte eine dementsprechende Antwort erwartet. Sie überlegte. Ja, jetzt wo er es sagte. Die Gastgeberin des heutigen Abends war seine Mutter, daran hatte Mo überhaupt nicht gedacht. Wobei sie eigentlich generell noch keine Gedanken daran verschwendet hatte, wer heute gefeiert wurde. Was machte es auch für einen Unterscheid? Der Ablauf, die Gäste, die Intentionen – es war ohnehin immer dasselbe.

„Dann solltest du umso mehr unten beim Fest sein.“

„Ich bin nicht eingeladen.“

Und wieder stutzt Mo. Auch mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Und jetzt wo er es sagte: sie hatte ihn heute tatsächlich den ganzen Abend noch nicht gesehen. Ihr fiel das kurze Aufwallen von Metall-Musik ein, als sie hergekommen war. Vermutlich war er just in diesem Moment aus seinem Zimmer gekommen.

„Warum?“

„Weil ich nie eingeladen bin.“ Sie hörte ihn kurz schnauben, konnte aber nicht zuordnen, ob es ein abfälliges oder belustigtes war. Mo stand nach wie vor auf der Balkonbrüstung und Hyperion in ihrem Rücken, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber sie meinte, seine ungleichen Augen auf sich zu spüren. „Ich hab‘ die Ehre, heute Abend tun und lassen zu können, was ich will.“

„Eine ziemlich einsame Ehre.“

„Ich hab den Abend heute mit guter Musik und meinem Hobby verbracht. Und du?“

Mit schlechter Musik, schlechter Gesellschaft und schlechten Gedanken.

„Den Erwartungen entsprechend.“

„Deinen Erwartungen oder denen der anderen?“

Aussagen wie diese machten Mo wütend. Und ungehemmt in ihren Worten. „Ja klar, für dich ist alles so einfach. Weil du ohnehin nie Teil der Gesellschaft warst. An dich stellt niemand Erwartungen, Anforderungen. Du brauchst dich nicht anzupassen, um dazu zu gehören – weil du ohnehin nie dazu gehören wirst.“

Mo schob einen Fuß nach vorne. Fühlte die Leichtigkeit des Nichts unter ihren Zehen und die Härte des Steins unter ihren Sohlen. Die Grenze zwischen Fliegen und Stehenbleiben, Tod und Leben. Zu oft hatte Mo es schon gehört, wie einfach denn nicht alles war. Von ihren Eltern, ihrem Umfeld, ihrem Bruder. Einfach anpassen. Einfach weniger nachdenken. Einfach mitmachen. Und von ihren tatsächlichen Freunden. Einfach sie selbst sein. Einfach zu sich stehen. Einfach die Zweifel fallen lassen. Einfach. Wenn es so einfach wäre, hätte Mo es schon längst getan. Und vielleicht war es für ihre Ratgeber auch tatsächlich einfach. Für Moira aber nicht. Ein Nilpferd würde in einer Herde Elefanten nie dazugehören, auch wenn es noch so sehr versuchte, sich anzupassen. Wenn es aber nicht versuchte, sich anzupassen, bestand erst gar nicht die Chance, dass es als Teil der Gruppe anerkannt werden würde. Und andere Nilpferde waren nun mal nicht in Sicht, also blieb nur die Wahl zwischen der unpassenden Gruppe oder der Einsamkeit. Mo schob den zweiten Fuß nach vorne. Entweder sie versuchte weiterhin, Teil einer Gruppe zu sein, zu der sie nicht dazu passte oder sie akzeptierte, dass sie nie Teil sein würde und gab sich der schwarzen Leere der Einsamkeit hin. Beides keine schönen Alternativen.

„Warum ist es so wichtig, dazu zu gehören? HIER dazuzugehören? Ich hab‘ es im Kunstkurs in deinen Augen gesehen. Die Rebellion, die du ständig unterdrückst. Birnen müssen nicht perfekt sein. Sei ehrlich: willst du überhaupt zu solchen Leuten dazu gehören?“

Nein, weil sie die Ansichten, Meinungen und Vorstellungen dieser Leute nicht teilte. Und ja, weil es nun mal die breite Masse war, weil es sonst nun mal keine andere Leute gab, nur die Außenseiter und Verstoßenen. „Ja“, hauchte Mo und schluckte ihre Tränen hinunter. Mo weinte oft, für sie waren Tränen eigentlich kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck menschlicher Emotionen und konnten neben Trauer auch Freude oder Wut ausdrücken und befreiend sein. Eigentlich. Alle anderen sagte und zeigten ihr nämlich, dass ihre Tränen nicht erwünscht waren. Tränen waren nicht erwünscht, von Mo wurde erwartet, immer gut gelaunt, handzahm und lächelnd zu sein. „Die andere Option wäre die Einsamkeit.“

„Nicht, wenn du sie als deinen Freund betrachtest und nicht als deinen Feind. Komm schon, tu nicht so, als wäre es so viel schöner, deinen Abend zwar in Gesellschaft aber eben mit dieser Horde konsumgetriebener, blinder und systemverhangener Lackaffen zu verbringen, als allein aber dafür mit Dingen, die du magst. Und bevor du jetzt wieder anfängst zu jammern: die Leute, die dich tatsächlich sehen wollen, dabei haben wollen, werden sich so oder so bei der melden. Und die, denen du nur bequem bist, wenn du ihren stumpfsinnigen Mist mitmachst, die können dir auch gestohlen bleiben. Wenn du mich fragst, ist eine Hummel in einem Wespennest mehr einsam, als wenn sie alleine auf einer Blume sitzt.“

„Du meinst ein Nilpferd in einer Elefantenherde.“

Sie hörte Hyperion leise lachen. Mo hatte bisher geglaubt, dass solcherlei Gedanken nur ihr durch den Kopf gingen, dass sie damit alleine war und niemand sonst ihren Gedankengängen folgen konnte, umso mehr überraschte es sie jetzt, hier jemanden gefunden zu haben, dem es ähnlich erging. Und dann noch ausgerechnet Hyperion. Wobei: eigentlich hatte sich Mo noch nie richtig mit ihm befasst. Er war immer schon der Außenseiter gewesen, mit dem sich niemand abgeben wollte und Mo hatte Angst gehabt, auch zum Außenseiter zu werden, wenn sie mit ihm in Verbindung gebracht worden wäre.

„Du hast mir noch kein einziges Mal direkt gesagt, dass ich nicht springen soll.“

„Werd‘ ich auch nicht. Weil es deine Entscheidung ist. Ich werd' nicht drum betteln, dass du es nicht tust oder dir nachspringen oder mit einem Schrei auf den Lippen zur Brüstung rennen und zuschauen, wie dein Körper am Asphalt wie eine Melone explodiert. Reisende soll man bekanntlich nicht halten. Aber ich glaube, dass mit dir ein großer Geist verloren gehen würde.“

Moira ließ den Blick schweifen. Sog den Sternenhimmel in sich auf, das Rauschen der Bäume und das Plätschern des Springbrunnens, das Gefühl der kühlen Luft auf ihrer Haut.

Ein letztes Mal.

Dann kletterte sie von der Brüstung herab.

Mo atmete tief durch, als sie durch die Drehtür der Bank trat. Sie hatte die letzten Tage damit verbracht, ihre wichtigsten Habseligkeiten in großen Handtaschen aus ihrem Elternhaus zu schmuggeln und vorerst in einem Mietcontainer zwischen zu lagern, den sie hatte bar bezahlen können. Ihr Vater hatte Einsicht in ihr Konto und wurde über alle Transaktionen benachrichtigt, daher war es ihr nicht möglich gewesen, gleich ein Hotelzimmer oder gar eine Wohnung anzumieten, es wären sonst mit Sicherheit unangenehme Fragen aufgetaucht und diese war Mo noch nicht bereit zu beantworten.

Bei Fest vor wenigen Tagen war ihr langes Fehlen einigen aufgefallen und allesamt hatten die Nase gerümpft. Vermutlich hatten sie ihr langes Fehlen mit einem großen Geschäft am stillen Örtchen erklärt und das war entgegen jeglicher guter Sitten in Erebos. Über’s Kacken wurde hier nicht geredet. Wie über so vieles. Eine Freundin von Mo hatte sich mal einen Scheidenpilz eingefangen und sogar ihrem behandelnden Arzt war es peinlich gewesen, darüber zu reden, er hatte es sogar vermieden, auch nur das Wort in den Mund zu nehmen und ihr eiligst eine Salbe verschrieben und den nächsten Patienten aufgerufen.

Auch psychische Erkrankungen waren nach wie vor ein Tabuthema in Erebos. Einen Therapeuten zu haben war in Mode, das Geschäft boomte, vor allem bei den Damen. ‚Oh nein, heute kann ich nicht zum Brunch kommen, ich habe eine Sitzung bei meinem Therapeuten‘. Fast jeder hatte einen Therapeuten. Dort erzählte man dann von den enormen Belastungen, denen eine reiche Hausfrau ausgesetzt war. Aber über echte Probleme – darüber sprach man nicht.

Mo hatte in den letzten Tagen seit ihrem Suizidversuch viel nachgedacht. Über sich. Über ihr Leben, Über Hyperion. Über seine Worte. Und sie war zu einem Entschluss gekommen.

Klimatisierte, künstliche Luft empfing sie in der Bank, dahinter eine marmorene Halle mit Schaltern rechts und links, dahinter professionell lächelnde Angestellte in perfekt sitzenden Anzügen und Kostümen. Ihr Vater hatte Mo immer aus allen Bankangelegenheiten heraus gehalten, weil er der Ansicht war, dass Frauen lieber ihren Männern das Geschäft überlassen und sich mit anderen Dingen beschäftigen sollten, daher musste sie sich erstmal durchfragen, bis sie beim zuständigen Mitarbeiter war. Ihr Name war ihm ein Begriff, natürlich als Tochter des Ratsvorstandes und er umschmeichelte sie schon bei der Begrüßung. Aber es wundere ihn doch. Wo denn ihr Vater geblieben sei. Er müsse erst nachsehen, ob er Moira überhaupt Auskunft geben dürfe. Schmieriger Wicht. Moira hatte sich in der Vorbereitungsphase ihres Plans auch mit den Bankunterlagen befasst und wusste demnach, dass sie Geld unbegrenzt von ihrem Konto beheben durfte, ihr Vater würde aber monatlich darüber informiert werden. Der Angestellte kam lächelnd mit den Unterlagen zurück, blätterte eifrig darin und fragte Moira letztlich doch, was er für sie tun könne.

„Ich möchte Geld abheben.“ Sie schob ihm ihre Kontokarte über den Tresen.

„Aber natürlich, es ist mir eine große Freude. Wie viel darf ich Ihnen denn bringen?“

„Alles.“ Das schmierige Grinsen gefror. Mo hatte eine beträchtliche Summe auf ihrem Konto liegen und es war beinahe greifbar, dass hier etwas im Busch war. Vermutlich hätte der Kerl hinterm Tresen jetzt den Manager geholt, dummerweise war er das selbst. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und er begann zu stammeln. Er roch den Braten, war sich sicher, dass hier etwas nicht stimmte und er womöglich den Zorn es Ratsvorsitzenden auf sich ziehen könnte. Allerdings war das Vorgehen genau in den Unterlagen geregelt, Mo konnte so viel Geld abheben, wie sie wollte, eine Monatsabrechnung würde dann an ihrem Vater ergehen.

„Ich würde jetzt gerne mein Geld haben. Wie Sie gerade selbst gesehen haben, ist das vertraglich ganz klar geregelt, demnach verstehe ich nicht, wo das Problem liegt.“

Dem Angestellten blieb nichts anders übrig, als ihr das Geld auszuhändigen. Er zählte große Scheine ab, bündelte sie zwischendurch immer wieder und ließ alles nochmal durch eine Zählmaschine laufen. Die Scheine wurden langsam kleiner, schließlich folgten dann Münzen. Und dann war Mos Konto leer und ihre Tasche prallgefüllt mit Bargeld, das sie zu einer anderen Bank trug, in der ihr Vater sonst nicht verkehrte. Sie eröffnete ein neues Konto, schließlich brauchte sie eines, um sich ein Hotelzimmer nehmen zu können. Und um ihre Studiengebühr zu überweisen, nachdem sie sich in Eros an der Veterinärmedizinischen Universität eingeschrieben hatte.

Mit einem Hochgefühl ging Mo shoppen. Kleidung stand bei ihr im Regelfall nicht sonderlich oft auf der Liste, viel eher landeten regelmäßig Mal- und Bastelutensilien und vor allem Bücher in ihrem Einkaufkorb. Heute aber, quasi zur Feier des Tages, ging es in einen Kleiderladen. Natürlich kannte man Moira auch hier und ließ ihr eine Extraportion geheuchelter Freundlichkeit und Service zukommen, während sie ein graues Kostüm anprobierte. Kleidung war in Erebos das Ausdrucksmittel erster Wahl. So wurden wichtige Botschaften nach außen getragen und an die Umwelt versendet: wie stillvoll man doch nicht war, wie wohlhabend, wie akkurat. Hier saß jedes Kleidungsstück, jedes Haar, jeder Lidstrich, die meisten Frauen verbachten mehr Zeit mit ihrem Aussehen als mit ihren Kinder. Und selbst wenn mal ein Zipfelchen Bluse aus dem Rock hervor lugte, konnte man sicher sein, dass das bewusst so drapiert worden war, wenn jemand gerade mal „rebellisch“ sein wollte. Das war dann aber auch schon die einzige Form der Rebellion, die hier geduldet wurde.

Der Abend senkte sich langsam herab und Mos Hände fingen an zu zittern. Angst. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was sie vorhatte, Angst vor den Konsequenzen, die ihr Vorhaben nach sich ziehen würde. Aber sie wollte keine Angst mehr haben. Wollte sich nicht mehr von der Einsamkeit fürchten und zu ihrer Geisel werden. Mo wollte frei sei, frei von Angst und Zwängen. Sie war bewusst spät dran, wollte einen großen Auftritt hinlegen. Alle sollten Zeugen ihrer Darbietung werden, sollten sehen, wie das Vögelchen seine Flügel spreizte und aus seinem goldenen Käfig flog.

Das Dienstpersonal empfing sie offensichtlich überrascht, fing sich aber schnell und geleitete sie professionell diskret zu einem Wartesofa im Eingangsbereich. Die Ratssitzung hatte bereits begonnen und es war nicht klar, wie jetzt mit Mos Forderung, eben dorthin zu wollen, umgegangen werden sollte. Zudem war es nicht nur ihr Zuspätkommen, Frauen waren generell nicht bei der Ratssitzung anwesend. Weil sie in Erebos nichts zu sagen hatten.

Moira nahm den Dienstboten die Entscheidung ab und rauschte einfach selbst Richtung Bibliothek. Wie im Film. Das eifrige Dienstmädchen mit einem ‚Aber, Madame, sie können doch nicht einfach…‘ auf den Lippen im Schlepptau, schob Mo die große, hölzerne Doppeltür auf. Die Welt sagte ihr doch immer, dass alles so einfach war. Also machte es sich Mo jetzt einfach mal einfach. In der Bibliothek trat schlagartig Stille ein, als Mo den Raum betrat, alle Augen waren auf sie gerichtet. Was sie denn hier mache? Mos Vater Keto sah sie verärgert an.

„Ich hoffe, ihr entschuldigt meine Verspätung. Moros, wenn du meinen Platz bitte frei machen würdest, ich gedenke heute der Ratssitzung selbst beizuwohnen.“

Stille. Völlige, undurchbrochene Stille. Als hätte man das Radio stumm gedreht. Zap, einfach auf das Knöpfchen gedrückt und weg war der Ton.

„Das kommt gar nicht in Frage, Frauen haben hier nichts verloren“, zischte Keto und starrte sie aus finsteren Augen an. Vermutlich bereitete er sich innerlich schon auf die Schimpftirade vor, die er Moira nach der Sitzung an den Kopf werfen wollte für ihren unpassenden und peinlichen Auftritt. Zu dumm, dass Mo dann nicht mehr zuhause sein würde.

Sie setzte ein reizendes Lächeln auf und sah in ihrem neuen Kostüm aus, wie eine Juristin bei Gericht. Sie war ihre eigene Pflichtverteidigerin. Und hatte sich auf diese Rolle gut vorbereitet. Die letzten Tage hatte sie die Gesetzestexte und die Ratsordnung gewälzt, auf der Suche nach Schlupflöcher und Grauzonen, die sie sich irgendwie zu Nutze machen konnte. Und dabei war sie auf eine interessante Entdeckung gestoßen. Viele der Texte waren noch aus der alten Welt übernommen worden, waren fast schon antik und so wurden viele Dinge an den ältesten Nachkommen übergeben, eine explizite Definition des Geschlechtes dieses Nachkommen hatte Mo aber nirgends gefunden. Früher war wohl standardmäßig immer davon ausgegangen worden, dass dabei die Rede von den ältesten Söhnen gewesen sei und dementsprechend wurde es auch so gehandhabt. Und auch in Erebos war es eigentlich so übernommen worden, dass automatisch immer nur die Männer bestimmte Rechte bekamen. Aber es stand eben nirgends dezidiert niedergeschrieben. Und genau das erläuterte sie jetzt auch dem versammelten Rat. Mo und Moros waren zwar Zwillinge, aber Mo war die Erstgeborene. Und demnach, war das hier ihr Platz im Rat.

„Demnach ist es ein gutes Recht, meinen Platz im Rat einzunehmen“, beendete Mo ihren Vortrag mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Der Vogel hatte seine Flügel gespreizt und gelernt zu fliegen.



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