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Night Walk

von
Koautor:  Puppenspieler

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Es war Kakerus Idee gewesen.

Es war auch keine schlechte Idee! Trotzdem wusste Koi auch jetzt, Tage nachdem sie das erste Mal aufgekommen war, nicht so ganz, was er davon halten sollte. Er war kein großer Fan von Gruselgeschichten. Er erinnerte sich noch an diverse Mutproben aus Mittelschulzeiten, die… nicht ganz angenehm verlaufen waren. Er erinnerte sich noch an Nachtwanderungen aus seiner Kindheit, die er lieber am Rockzipfel seiner Schwester verbracht hatte.

 

Kurzum: Ein bisschen klang es nicht cool, jetzt mitten im Sommer auf Geisterjagd zu gehen, und das nur, weil Kakeru aufgeschnappt hatte, dass es in den Wäldern in der Gegend in Sommernächten angeblich zu Geistersichtungen gekommen war.

 

Trotzdem stand er jetzt hier, es war längst dunkel geworden, und wartete darauf, dass der Rest ihrer Geisterjäger auftauchen würde. Solange er nicht darüber nachdachte, dass sie wirklich etwas finden könnten, war es sogar eigentlich ziemlich cool! Und aufregend. Wie ein Mystery-Anime, nur besser, weil sie der Reihe nach um einiges cooler waren als die Protagonisten es wären.

Es war schade, dass Haru fehlte; ohne ihn und seine Essenz hatte Koi das Gefühl, als würden ihm zwei wertvolle Mitglieder ihres Teams fehlen, die eine großartige Ergänzung gebracht hätten – und wer wusste schon? Womöglich hätte Harus Essenz sogar mehr gesehen als sie anderen zusammen! Dafür hatten sie statt Haru einiges an nicht-Gravi-Unterstützung bekommen: Kai und Rui würden mitkommen. Kai klang beruhigend. Kai war zuverlässig und gut darin, auf andere aufzupassen, das hieß, Koi ging davon aus, dass er ein würdiger Ersatz für Haru und seine Essenz sein würde. Rui klang ein bisschen weniger beruhigend, denn er hatte die beunruhigende Eigenschaft, Shun zu ähnlich zu sein, wenn es wirklich gerade niemand gebrauchen konnte.

Und wenn man vom Teufel sprach, der stand gerade fröhlich neben der Tür – um sie zu verabschieden, wie er sagte. Um ihnen Angst einzujagen, befand Koi, und dafür reichte schon sein unheilverkündendes Grinsen! Er wollte auch gar nicht mehr über die Geister hören, die sie suchen wollten. Hitodama. Natürlich wusste Koi, was sie waren. Wenn man Japaner war, kam man an einigen Dingen einfach nicht vorbei! Seelen Verstorbener, die in Form von meist als bläulich oder grünlich beschriebenen Flammenkugeln vorkamen, die einige handbreit über der Erde schwebten – gerade weit genug, dass ihre langen, dünnen Schweife den Boden nicht berührten. Bekam ihnen nicht, laut Legenden.

„Verlauft euch nicht im Wald.“

Aus Shuns Mund klang es wie eine Drohung, nicht wie ein guter Ratschlag. Koi erschauderte, verschränkte die Arme vor der Brust. Er versuchte wirklich, sich nicht davon beunruhigen zu lassen, aber Shuns Anblick machte ihn trotzdem jetzt schon nervös.

„Man weiß nie, was da sonst noch so zu finden ist, wenn man lang genug sucht… Oder versehentlich hineinstolpert.“

„Wir werden gar nichts finden!“, erwiderte er in einem Anflug von Panik, den er hinter Entschlossenheit kaschierte. Sie würden auch nirgendwo hineinstolpern! Es half nicht, dass Shun nur auflachte. Koi trat instinktiv einen Schritt zurück. Ein Blick zu Kakeru hinüber zeigte, dass sein ursprünglicher Enthusiasmus auch gedämpft war und große Augen sahen beunruhigt drein.

 

Es war ein bisschen beruhigend, dass Hajime nicht mit der Wimper zuckte.

 

„Oh, Koi. Sorge dich lieber darum, was euch finden wird…“

Es war ein bisschen beunruhigend, dass Shun einfach nicht aufhörte. Er ignorierte Kois kommenden Protest auch nur. Geschlagen sackte er in sich zusammen. Er hatte das dringende Bedürfnis, den Abend lieber mit Animes, Internet und Social Media zu verbringen als damit, durch einen dunklen Wald zu streifen und nach allem Ausschau zu halten, wovor normale, vernünftige Menschen einfach weglaufen würden.

Koi war gern ein vernünftiger Mensch, wenn es um solche Dinge ging.

 

Es brauchte Hajimes Mahnung, damit Shun mit dem gruseligen Grinsen aufhörte. Koi seufzte erleichtert auf. Ein Blick in die Runde zeigte, dass auch Kakeru sehr erleichtert aussah, und sogar Aoi wirkte jetzt irgendwie entspannter – vielleicht war es aber auch nur Einbildung.

In jedem Fall fand er, es geschah Shun ganz recht, dass Hajime ihm nur noch die kalte Schulter zeigte.

„Armer Shun-San“, murmelte Kakeru neben ihm belustigt. Koi nickte grinsend, zusehend, wie Shun beinahe den sterbenden Schwan mimte – ganz mit tragischem an-die-Brust-Fassen. Er musste unwillkürlich auflachen.

So war es besser. Es war wirklich beruhigend, Hajime dabeizuhaben. Wo Koi so darüber nachdachte, waren sie vermutlich wirklich sehr sicher. Nicht einmal Dämonenkönig Shun traute sich, Schabernack mit Hajime zu treiben. Da würden doch so ein paar Geister es noch viel weniger wagen!

 

Die Erkenntnis war genug, dass Koi sich doch schon wieder mehr auf das kommende Abenteuer freute, als sie Shun schließlich hinter sich ließen.

 

Es wäre noch schöner gewesen, wenn das unheilvolle, wissende Grinsen des Anderen ihm nicht noch ewig im Nacken nachkribbeln würde.

 

 
 

***

 

 

Der Wald war wie ein riesiges Monster aus Dunkelheit, das in den klaren Nachthimmel hinaufragte. Der fast volle Mond warf silbriges Licht auf die Erde, das dem Gras und den Baumwipfeln eine unwirkliche, realitätsfremde Farbe verlieh – es sah mehr aus wie ein kreativer Geniestreich als wie das wahre Leben. Die Vorstellung, sich von diesem Monster aus Ästen und Blättern verschlucken zu lassen, war unangenehm beunruhigend und Koi war beinahe froh darum, dass sie am Waldrand noch einmal innehielten für eine Vorsichtsmahnung von Hajime. Sie sollten nicht verlorengehen, keine Erkundungstrips, nicht kreischend weglaufen… Es waren Dinge, die Koi ohnehin nicht getan hätte, also konnte er sie unbekümmert abnicken.

Wenn es nach ihm ging, würde er sich keinen Schritt weiter als nötig von seinen Freunden entfernen!

Wenigstens hatten sie Taschenlampen gegen die Dunkelheit. Begleitet von den Lichtkegeln machten sie sich auf den Weg hinein ins Dickicht. Es erinnerte ihn ein bisschen an Grundschulausflüge, wie sie hier liefen. Abgesehen von Hajime, der offenbar ihrer Lehrer war oder so, liefen sie alle brav in Zweierreihen. Kakeru ging neben Koi, hinter ihnen waren Aoi und Arata.

Es machte Koi nervös, Arata im Rücken zu haben. Er vertraute dem Kerl nicht!

Er hoffte, dass es ihn von gemeinen Streichen abhalten würde, dass Kai und Rui hinter ihm liefen und jede Bösartigkeit sehen würden.

 

Ein Blick zurück zeigte, dass Kai Rui an die Hand genommen hatte. Koi musste grinsen, weil es ein so typischer Anblick war. Nichts, das er wirklich schon einmal gesehen hatte, aber eben vom Grundprinzip her völlig passend. Er stieß Kakeru amüsiert in die Seite.

„Schau mal“, forderte er leise. Kakeru folgte seinem Fingerzeig und drehte sich kurz um. Als er wieder zu Koi sah, grinste er selbst breit. „Wie süß! Immerhin geht Rui uns so nicht verloren.“

„Passt lieber auf, dass ihr selbst nicht verloren geht“, kommentierte Arata von hinten. Koi hörte ein süffisantes Grinsen in seiner Stimme, für das er ihm gern etwas an den Kopf geworfen hätte.

„Wir gehen nicht verloren!“

Wie auch? Sie waren effektiv sicher in ihrer Position mitten in der Schlange. Solange Hajime nicht verschwand, konnte ihnen auch nichts passieren, denn Koi bezweifelte ehrlich, dass die vier Jungs hinter ihnen so einfach verschwinden würden. Kai war vernünftig. Er musste vernünftig sein, immerhin vertrat er gewissermaßen Harus Essenz, und der durfte man keine Schande bereiten.

 

Irgendwie half Vernunft im Rücken nur nicht wirklich gegen das typische Gefühl von Nervosität und Paranoia, das damit einherging, wenn man nachts an einem dunklen Ort unterwegs war.

 

Bei allem Nachteulensein, Koi war niemand, der nachts gern draußen war. Er hatte eine lebhafte Fantasie, die schnell dazu führte, dass er Monster sah, wo keine waren. Dass Schatten wirkten, als würden sie die Hände nach ihm ausstrecken und ihn packen wollen. Dass der Wind, der in den Bäumen wisperte, plötzlich ein Meer an bösartigen Dämonen wurde, die ihm grausige Geheimnisse ins Ohr flüstern wollten, ohne die Kois Leben eindeutig besser war.

Es war ohrenbetäubend laut von den Zikaden, die überall im Gebüsch lauerten und ihre scheußlichen, monotonen Gesänge sangen. Trotzdem hörte Koi jeden knackenden Zweig, jedes Rascheln im Gebüsch. Jedes Mal zuckte er zusammen, und wenn er doch einmal etwas nicht mitbekam, dann war es Kakeru neben ihm, der erschrocken zusammenfuhr und ihn dann mit so viel Panik im Blick ansah, dass Koi erwartete, auf einen Massenmörder zu treffen, wenn er über seine Schulter sah. Mit einer Axt. Einer großen Axt.

Er konnte sich sogar sehr gut vorstellen, wie dieser Axtmörder da irgendwo im Gebüsch war. Er lauerte, nur darauf wartend, dass sie unachtsam wurden, dass sie sich nicht mehr ständig umblickten. Wenn sie sich erst an die nächtlichen Geräusche des Waldes gewöhnt hatten, an alles Zirpen und Rascheln und Knacken, dann würde er sich in Bewegung setzen. Aus dem Gebüsch heraus…

 

Tapp, tapp.

 

Ihm war, als könnte er die Schritte des Axtmörders hören. Leise, weil er sich bemühte, nicht aufzufallen, aber sie schleiften ein bisschen, raschelten auf dem unruhigen Waldboden. Sein Nacken kribbelte, Koi zog instinktiv die Schultern hoch, um ihn zu beschützen. Vielleicht hatte der Kerl hinter ihnen schon ein Auge auf sie geworfen. Überlegte sich, wo seine Axt sich am besten machen würde.

Wäre Koi ein Axtmörder, er würde zuerst Kai ausschalten. Immerhin sah er groß und kräftig aus!

Aber vielleicht mochte der Axtmörder ja eine Herausforderung. Dann würde er Kai am Leben lassen, und sich stattdessen die schwächsten Glieder der Kette schnappen, weil sie ohnehin zu langweilig wären.

 

Tapp, tapp.

 

Rui vielleicht. Kakeru? Kois Magen verknotete sich besorgt und er warf reflexartig einen Blick über die Schulter – da war kein Axtmörder hinter ihnen. Er stieß erleichtert die Luft aus. Kakerus Handrücken kollidierte mit seinem Unterarm.

„Alles okay?“

„Huh–? Ja, keine Sorge, Kakeru-Sa–“

Es wurde Koi gerade erst bewusst, dass er sich die fremden Schritte irgendwo hinter ihnen nicht nur einbildete, als sie ihn mitten im Satz unterbrachen.

 

In einem Anflug von Panik klammerte er sich an Kakerus Arm fest.

„D-da sind Schritte!!!“, verkündete er panisch, seine Stimme plötzlich eine gefühlte Oktave höher als sonst. Selbst wenn es kein Axtmörder war – die Alternativen waren auch nicht besser! Geister? Monster? Ungeheuer? Zombies? Sein Kopf lieferte ihm immer mehr Erklärungen, was sich da hinter ihnen im Dickicht befinden mochte, ganz diskutabel, wie glaubhaft die nun wirklich waren.

Für Koi klangen sie gerade alle unangenehm plausibel!

„Da ist nichts.“

Hajimes Stimme klang ruhig, gelassen. Koi spürte, wie ihm allein von dem Klang ein Stein vom Herzen fiel und langsam ließ er wieder von Kakerus Arm ab, grinste ihn mit neugeschöpfter Hoffnung an. „Meinst du wirklich, Hajime-San?“

„Natürlich. Was du hörst, sind entweder unsere eigenen Schritte, oder ihr Echo. Hier ist offensichtlich niemand außer uns.“

Es klang vielleicht doch plausibler als alles, was Kois Hirn fabrizierte. Er lachte, verlegen von seiner eigenen Panik.

„Macht Sinn.“

„Also spar dir die Panik, Pinkie. Selbst wenn hier jemand wäre, deine Haarfarbe schreckt jeden potentiellen Angreifer wieder ab. Wie die Tiere, die extra bunt sind, um ihre Feinde einzuschüchtern.“ – „Arata-Kun!“

Koi fand das überhaupt nicht lustig. Er drehte sich empört zu dem anderen herum, der ihn völlig unbekümmert und ohne jede Gemütsregung musterte. Seine dunklen Augen wirkten im mangelnden Licht beinahe schwarz, was ihn ein bisschen aussehen ließ, als wäre er selbst ein Dämon. Unheimlich. Er schauderte, drehte sich lieber wieder um, ehe der Anblick von Arata dem Dämon sich noch in seinen Erinnerungen festbrannte.

 

Es dauerte keine zehn Minuten, bis Koi doch wieder mit dem Gedanken liebäugelte, Panik zu bekommen. Es war erschreckend genug, dass Aoi abrupt stehen blieb, aber ein Blick in sein Gesicht zeigte obendrein weit aufgerissene, erschrockene Augen, die überhaupt nichts Gutes verheißen konnten. Koi schluckte.

„Habt ihr das auch gehört…?“

„Was?“

Kakeru, wie er klang, hatte nichts gehört. Eine Mischung aus Neugier und Beunruhigung schwang in seiner Stimme mit. Aois Blick wanderte zu ihm. Selbst im schlechten Licht von Taschenlampen und Mond war sichtbar, dass er bleicher war als sonst.

 

„Da war ein Lachen…“

 

 
 

***

 

 

Auch wenn sie schnell zu der Einigung kamen, dass da auch kein fremdes Gelächter war, Koi blieb nervös. Jedes Knacken unter ihren Füßen. Jedes Rascheln im Gebüsch. Selbst das laute Zirpen der Zikaden machte ihn gerade kirre, und immer wieder sah er sich hektisch um, halb erwartend, irgendwo im Dunkeln ein Paar rot glühender Augen zu sehen. Oder einen halbtransparenten Geist. Eine schwebende Feuerkugel. Ein Irrlicht, das ihn in eine fremde Welt locken wollte.

„Die Zikaden werden ganz schön nervig, wenn man nichts anderes hört, huh?“

Selbst Kakerus Stimme erschreckte ihn – er zuckte zusammen, sah seinen Freund überrascht an. Kakeru wirkte noch fröhlich, alles in allem. Bis auf einen leicht beunruhigten Unterton in seinem Blick grinste er munter. Koi beneidete ihn darum. Es war gerade ein bisschen wie mit Achterbahnen – Koi verschätzte im Vorfeld, wie schlimm es werden würde. Und Kakeru vertrug es einfach, weil Kakeru irgendwie alles vertrug, und das war unglaublich beneidenswert.

Die Zikaden waren eindeutig eine Pest. Entsprechend war Koi mehr als dankbar für Aois spontanen Vorschlag, sie zu übertönen. Wie auch immer, das war ihm völlig egal. Sie könnten singen! Das war immerhin ihr Job, es war nicht, als würde es allzu grausig klingen.

Aber vielleicht mochte der Axtmörder keine Pop-Musik.

 

Er schüttelte den Gedanken gerade rechtzeitig ab, um zu bemerken, wie Kakeru ins Straucheln geriet. Sofort streckte er die Hand nach ihm aus, um ihn festzuhalten, aber – zu spät. Mit einem lauten Schrei landete er auf dem Hosenboden, und Koi sah entsetzt zu, wie seine Taschenlampe in einem hohen Bogen ins nächste Gebüsch fiel, nur um dort zusätzlich zum Sturz auch noch ihr Leben auszuhauchen.

Es war so typisch.

Es war so typisch, und trotzdem kam es so unerwartet, dass sie allesamt einen langen Moment still waren. Koi fühlte sich mindestens genauso entgeistert, wie Kakeru dreinblickte, als der das Schicksal seiner Lampe beweinte.

Und deshalb war es gut gewesen, Kai mitzunehmen. Der hatte allen Ernstes eine Ersatztaschenlampe dabei, die er Kakeru mit einem großbrüderlichen Grinsen hinunterreichte.

„Du machst Harus Essenz wirklich alle Ehre, Kai-San!“, verkündete Koi stolz. Er brachte Procellas Babysitter damit dazu, verdutzt zu blinzeln. Kakeru lachte. Im Licht seiner neuen Taschenlampe sah er schon wieder munter aus. Koi grinste zufrieden. Er mochte es nicht, wenn Kakeru unglücklich aussah. Und es war einfach nur ein gruseliger Anblick. Kakeru war einfach nicht der Typ für Unglück.

Also klar, er war ein Pechvogel, aber das war etwas anderes. Kakeru war einfach so unheimlich optimistisch und positiv, dass Koi gar nicht anders konnte, als immer ein bisschen besorgt zu sein, wenn sein Freund dann doch einmal eben nicht positiv aussah.

 

Irgendwie hatte die Taschenlampentragödie aber sogar etwas Gutes – sie war ablenkend gewesen. Koi fühlte sich wieder entspannter, als sie ihren Weg schließlich fortsetzten – entspannt genug, dass ihm sogar noch bessere Ideen als Singen kamen, um die nervigen Zikaden zu übertönen. Schwungvoll drehte er sich um, rückwärts weiterlaufend. Im Gegensatz zu Kakeru, den das vorhin auf den Hintern befördert hatte, traute er sich durchaus zu, nicht bei erster Gelegenheit über seine eigenen Füße zu stolpern. Oder einen Stein. Oder ein Stöckchen.

„Wir können ein Spiel spielen, um die Zikaden zu übertönen!“

Es hätte eine großartige Idee sein können, wirklich. Es hätte großartig sein können, aber dann kam Arata. Koi widerstand gerade so dem Impuls, ihm die Zunge herauszustrecken, als seine einzige Reaktion war, nachzufragen, was sie denn überhaupt spielen sollten. Als ob Koi das wüsste! Außerdem fand er, dass der gemeine Kerl sich ruhig auch mal beteiligen konnte.

Es war immens befriedigend, dass auch Arata keine Idee hatte.

„Alles, was mit Fangen oder Verstecken zu tun hat, ist raus“, kommentierte Hajime von vorne. Seine Stimme klang wieder einmal mahnend. Koi verdrehte die Augen – etwas, das er sich aber auch nur traute, wenn sein Leader es nicht sah.

„Wir sind nicht dumm, Hajime-San!“

„Wie wäre es mit ich sehe was, was du nicht siehst?“, schlug Kakeru vor. Koi schüttelte fast augenblicklich den Kopf.

„Zu dunkel! Wie soll das denn aussehen? Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist… dunkel?“

„Ich sehe was, das ist pink und nervig.“ – „Arata-Kun! Dich fragt niemand!“

 

„Wie wäre es mit Rätseln?“ – „Müssten uns erst einfallen, Aoi-San. Nicht so gut. Assoziationsketten?“

„Nicht mit Arata-Kun, Kakeru-San!“

Koi hätte nie gedacht, dass es so schwer wäre, ein simples Spiel zu finden. Aber es war faszinierend wenig simpel, ein Spiel zu finden, wenn man nicht einmal genug Licht hatte, um irgendetwas zu machen, das sich nicht nur aufs rein Verbale beschränkte. Eine ganze Weile ging die Diskussion weiter, hauptsächlich zwischen ihm und Kakeru, nachdem sich Arata dankenswerterweise raushielt, außer, wenn es darum ging, spitze Kommentare zu machen. Irgendwann war Koi so frustriert, dass er mit einem resignierenden Stöhnen die Hände in die Luft warf.

„Flaschendrehen! Mit einer Taschenlampe.“

Die Idee gefiel ihm gut genug, dass er schnell wieder grinste. Er nutzte seine eigene Lampe, um in Aratas entgeistertes Gesicht zu leuchten – die Reaktion war ein genervtes Zungeschnalzen, das ihn noch breiter grinsen ließ.

„Lampendrehen!“

„Abgelehnt“, gab Arata augenblicklich zurück. Aoi war weitaus höflicher damit, aber auch er lehnte es ab.

„Ihr wollt nicht hier übernachten, also sucht euch ein Spiel, das man auch nicht-stationär spielen kann.“

Hajime hatte wenigstens ein Argument. Auch wenn das kein Problem war. Koi winkte lachend ab.

„Keine Sorge! Das kriegen wir bestimmt hin!“

Man konnte die Lampe doch irgendwo dranbinden und dann eben die Kordel zwirbeln, und wenn sie sich ausgedreht hatte…

„Wir brauchen eine ordentliche Idee, bevor dem Kerl noch eine Umsetzung für seine idiotische Idee einfällt.“

 

Alleine aus Protest Arata gegenüber hätte Koi seine Idee gerne durchgesetzt, aber Kai kam ihm schlussendlich zuvor, als er ein simples Frage-Antwort-Spiel vorschlug. Es klang sogar richtig witzig! Wer vor den Antworten kniff, bekam einen Strich, und wer am Ende die meisten hatte, musste eine Strafe absolvieren. Was auch immer. So richtig einig konnten sie sich nicht darin werden, wie diese Strafe aussehen könnte, also vertagten sie das Thema.

Sie konnten auch erst einmal spielen und nachher die Strafe aussuchen. Hier draußen im Wald würde man sie wohl eh nicht einlösen können, und das klang besser, als noch ewig darüber zu diskutieren!

(Im Endeffekt war es einerlei. Worüber sie auch sprachen, die Zikaden waren übertönt – aber Koi wollte ein Spiel!)

Um die Antwortverweigerer zu notieren, landete nach kurzer Diskussion noch Kois Handy bei Hajime, der gleichzeitig Teilnehmer und Schiedsrichter sein würde, und nachdem endlich alle organisatorischen Kleinigkeiten geklärt waren, drehte Koi sich wieder schwungvoll zu seinen Freunden herum, klatschte auffordernd in die Hände.

 

 „Also los! Mögen die Spiele beginnen!“

 

 
 

***

 

 

„Lieblingsfarbe? Meine ist blau. Wie der Himmel, morgens vor dem Sonnenaufgang.“

„Blau.“

„Gold! Und alles, was auffällig ist!“

„Bin nicht wählerisch, solange es zusammenpasst! Aber ich mag pink ziemlich gern.“

„Lila. Blau. Grün. Schwarz.“

„Dunkel und unaufdringlich. Schwarz und violett sind angenehm.“

„Hab keine Lieblingsfarbe. Hauptsache, nicht pink.“ – „Arata-Kun!“

 

Es war wirklich lustig.

Ganz wie Koi erwartet hatte, war das Spiel unglaublich unterhaltend. Klar, es waren Fragen dabei, die waren eher unspektakulär. Lieblingsessen. Hassessen. Wer brauchte das denn? Aus allen Kindheitsträumen und Kindheitsängsten war Koi auch herausgewachsen, weswegen sie für ihn eher langweilig waren, aber Kakerus Erzählung, dass er als Kind panische Angst vor Musikinstrumenten gehabt hatte, weil er immer darauf gewartet hatte, wann seine Eltern ihm eins aufzwingen würden, war schon wieder amüsant gewesen. Und Arata. Horrorfilme, sagte er. Etwas an Aois Blick ließ Koi zumindest hoffen, dass die Angst noch existierte, und er nahm sich vor, bei Gelegenheit einen Gravi-Filmabend zu organisieren.

Mit Horrorfilmen. Ganz zufällig. Er wollte Arata doch nichts Böses, niemals.

Die Frage nach ihren lächerlichsten Albträumen ließ bald darauf nicht nur Koi laut auflachen. Es war richtig gut! Kakeru erzählte, dass er als Kind oft von einem gigantischen Nikuman gejagt worden war, das ihn fressen wollte – so als Rache für all die Teigtaschen, die er in seinem Leben verspeist hatte.

„Ich hab dann ein paar Wochen lang tatsächlich keine Nikuman gegessen.“

Ein paar Wochen. Koi musste grinsen. Natürlich hatte Kakeru das nicht länger ausgehalten, auf irgendein Nahrungsmittel zu verzichten, das er grundlegend aß.

Aratas peinlichster Albtraum hatte irgendetwas mit Haien in rosa Tutus zu tun. Aoi war weniger spektakulär – aber irgendwie niedlich. „Hab geträumt, ich wäre ein Mädchen.“

„Du wärest ein sehr hübsches Mädchen“, kommentierte Arata trocken. Aois empörten Protest ignorierte er konsequent.

„Frag You. Soll ich ihm mal die Fotos von damals zeigen? Vierte Klasse? Theateraufführung?“ – „Arata, es ist genug!“

 

Alle lachten, außer Aoi, dessen Gesicht selbst in der Dunkelheit sichtbar rot geworden war. Koi wollte die Fotos sehen. Es war beinahe schade, dass Arata sie ihm niemals zeigen würde, dieser gemeine Kerl.

 

Die restlichen Albtraumgeschichten konnten sich alle nicht mit Kakerus Kakeru-fressenden Nikuman messen. Die waren einfach viel zu genial, fand Koi.

Hajime war wirklich langweilig – es war der typische nackt-in-der-Schule-Traum, den er hatte.

Rui erzählte zugeknöpft davon, dass er keine peinlichen Albträume gehabt hatte, nur solche, in denen seine Familie stritt; Kakeru stand sofort ins Gesicht geschrieben, wie Leid ihm seine Frage tat.

„Ist okay“, gab Rui zurück. Er sah tatsächlich nicht aus, als würde es ihn belasten, aber ehrlich, in seinem Gesicht konnte Koi sowieso noch nie auch nur ansatzweise lesen. „Es ist besser. Heute vertragen wir uns wieder.“

Er sah ein kurzes, zufriedenes Lächeln auf Kais Gesicht, das Koi den Eindruck vermittelte, der junge Mann wüsste mehr als er. Hauptsache, Rui ging es besser und Kakeru musste kein schlechtes Gewissen haben, denn Koi mochte seine Frage sehr!

„Eine Höhle“, erzählte Kai. Er grinste, völlig unbekümmert von aller möglichen Peinlichkeit seiner Geschichte, „Mit nem Schild davor. Menschenfressende Menschen. Ich hab‘s im Traum gelesen und dachte mir, es wäre ne gute Idee, da reinzugehen. War es natürlich nicht, entsprechend ist mein Traum auch geendet, aber es war so dämlich selbstverschuldet, dass ich schon beim Aufwachen wieder lachen musste.“

„Es ist wirklich dämlich, Kai“, kommentierte Rui nüchtern. Kakeru lachte herzlich, schüttelte den Kopf.

„Wie gut, dass es solche Höhlen nicht wirklich gibt! Sonst würden wir Kai-San doch glatt verlieren.“

„Mein peinlichster Albtraum war die ganz banale Tatsache, dass mein geheimer Süßigkeitenvorrat plötzlich leer war. Ich schwöre, es war schrecklich! Ich bin panisch aufgewacht und hab erstmal meine Schubladen durchwühlt, bis ich alles wiedergefunden habe. …und dann hab ich den Großteil aufgegessen, weil der Stress mich hungrig gemacht hat.“

Koi würde niemals behaupten, dass seine Träume spektakulär waren. Mussten sie auch nicht, denn sein Leben übernahm das schon sehr gut – und es war ihm mehr als genug, dass er Kakeru und den Rest der Truppe mit der kleinen Erzählung zum Lachen brachte. Selbst Arata ließ sich zu einem amüsierten Schnauben herab.

„Pass auf, dass dein Albtraum nicht wahr wird“, drohte er.

 

Koi würde sich angewöhnen müssen, seine Zimmertür nachts zu verbarrikadieren.

 

„Was sind eure Lieblingsplätze? Ich mag Kais Veranda. Und den Gemeinschaftsraum im Wohnheim.“

„Ach stimmt ja. Rui und Kai-San haben zusammengewohnt, ehe sie hergekommen sind! Äh. Mein Lieblingsplatz ist auf der Arbeit…? Ich fühl mich einfach gut, wenn ich was Sinnvolles tue!“

„Mein Zimmer.“

„Draußen in der Sonne! Wobei manchmal vor dem Fenster bei Sommerregen auch nett ist.“

„Vor dem Internet! Es gibt nichts cooleres, als durch die ewigen Weiten des World Wide Web zu surfen!“

„In der Zuschauermenge eines Idol-Konzerts. Oder auf der Bühne.“

„Kein Kommentar? Ich glaube nicht, dass ich eine brauchbare Antwort habe.“

 

„Wie alt wart ihr bei eurem ersten Kuss? Ich war zwölf.“

Arata grinste. Koi stolperte vor lauter Schreck, und aus dem Augenwinkel sah er, wie Kakerus Taschenlampe hektisch zuckte. Er starrte Arata an, ungläubig und empört, spürte, wie Hitze in seine Wangen kroch. Das war doch wirklich kein passendes Thema für eine Nachtwanderung, während sie auf der Suche nach Geistern waren!

(Auch wenn sie letzteren Teil irgendwie sehr vergessen hatten. Koi störte es nicht.)

 „Definiere erster Kuss. Erster ernsthafter Kuss aus romantischen Gründen, oder zählen auch alle Mutproben und Schultheaterküsse dazu?“

Hajime machte es nicht besser. Vor allem deshalb nicht, weil Arata es natürlich nur auf ernsthafte Küsse bezog. Koi verzog das Gesicht unselig, presste die Lippen zusammen. Das war nicht fair! Das ganze Thema war blöd, und er war sich fast sicher, dass Arata es mit Absicht gemacht hatte, einfach nur, um hier irgendjemanden zu foppen. (Ihn, wahrscheinlich. Pah!)

 „Ändert meine Antwort übrigens nicht. Zwölf.“

„Vierzehn“, war Hajimes Antwort. Kois Mundwinkel verzogen sich immer mehr.

„Zwölf“, verkündete Aoi leise. Er lächelte verlegen. Kois Blick wanderte weiter, blieb an Rui hängen, der gerade den Mund aufmachte.

„Sechszehn.“

Koi fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, so sehr schockierte ihn die Antwort. Er starrte Rui ungläubig an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn noch einmal.

„Was?! Sogar Rui-Kun–?!“ – „Sag nicht, du hast noch nie jemanden geküsst?“

Koi gab einen leidenden, unglücklichen Laut von sich und schüttelte vehement den Kopf. Auch wenn es stimmte – das würde er ganz sicher nicht sagen, wenn Arata danebenstand und ihn so dämlich schadenfroh ansah.

„Ich verweigere die Aussage!“

„Wir wissen deine Antwort doch eh alle. Sag’s doch einfach, dann sparst du dir den Strich.“

„Kein Kommentar!!!“

 

Es war deprimierend, dass selbst Kakeru eine Antwort geben konnte. Elf war er gewesen, erzählte er stammelnd, und Koi verzog unglücklich das Gesicht, weil es einfach unfair war, dass selbst der Pechvogel mehr Liebesglück hatte als er.

„Und du, Kai-San?“

Kai sah einen Moment fast verwirrt drein. So, als müsste er ernsthaft darüber nachdenken. Schon so lange her? Schon so viele Küsse? Koi wollte es sich gar nicht so genau ausmalen, es würde ihn nur noch mehr ärgern!

„Neunzehn.“

Gar nicht lange her. Er sah den Mann verblüfft an, sah dann zu Kakeru hinüber, der ähnlich verblüfft den Kopf schüttelte.

„Ich hätte gedacht…“ – „Ich weiß, was du meinst.“

Kai war jetzt zwar kein Weiberheld, aber er wirkte durchaus wie jemand, der viel Erfolg bei den Mädchen haben konnte! Frauen mochten doch Typen, die groß und zuverlässig waren, wieso also nicht? Sein Blick kehrte immer noch sehr verwirrt zu Kai zurück, der aber nur geheimniskrämerisch grinste.

Vielleicht würde Koi es sich für eine der nächsten Fragen merken.

 

Vielleicht wollte er von dem Thema aber auch nur ganz schnell wieder weg.

 

Arata war ein Teufel. Ein Teufel, der viel zu viel Spaß daran hatte, immer wieder Fragen zu stellen, auf die Koi keine Antwort geben wollte. Leider war der Dreckskerl damit nicht einmal alleine – und sei es nur aus Ideenmangel, aber auch in den Fragen der anderen kamen immer wieder Dinge auf, die einfach nicht okay für Koi waren!

Er litt.

Er fühlte sich regelrecht verraten, ernsthaft. Sehr verraten, also gar Kakeru schlussendlich auf den fahrenden Zug aufsprang:

„Seid ihr verliebt?“

Er sah in die Runde, große Augen aufmerksam. Erst, nachdem er die Frage gestellt hatte, schien ihm bewusst zu werden, dass er selbst antworten musste – er errötete schlagartig und verzog verlegen das Gesicht. Sein Blick huschte zu Koi hinüber. Er schnitt selbst eine Grimasse. Die Frage war doch dumm gewesen! Und viel zu privat! Die wollte Koi auch nicht beantworten, wenn er ehrlich war.

„Ich bin verliebt!“, verkündete Kakeru schließlich tatsächlich noch, und er sah aus, wie Koi sich fühlte – als würde ihm das Herz bis zum Hals schlagen. Ihm wurde mulmig. Kakeru sah ihn immer noch an.

„Ich… auch.“

Er hatte nicht antworten wollen – es war einfach so herausgerutscht!

 

Die Tatsache, dass irgendwie niemand – nicht einmal Rui! Koi war langsam echt schockiert – verneinte, machte die Peinlichkeit um einiges erträglicher.

Kai und Rui waren verschwunden.

 

Es passierte so plötzlich, dass Koi im Nachhinein keinerlei Ahnung hatte, wie es passieren konnte. Im einen Moment spielten sie ihr albernes Frage-Antwort-Spiel, im nächsten Moment drehte er sich um, und plötzlich war ihre Nachhut verschwunden. Einfach so. Ohne einen Hinweis darauf, dass sie überhaupt dagewesen waren.

Sie mochten laut gewesen sein mit ihrem Spiel, aber nicht so laut, als dass sie verpasst haben könnten, wie die beiden verschwanden. Koi starrte immer noch entsetzt auf den Fleck Waldboden, an dem Rui und Kai vorhin noch gewesen sein mussten. Sah zu seinen Kameraden, die ähnlich wie er unglaublich besorgt dreinsahen. Kakeru erwiderte seinen Blick panisch.

„Wie kann das sein?“, hauchte er; die Panik aus seinem Blick weitete sich auch auf seine Stimme aus. Koi schüttelte den Kopf, unfähig, eine logische Erklärung zu finden.

„Vielleicht sind sie schon einmal zurückgegangen? Es ist spät. Rui wird so früh müde…“

„Sie hätten Bescheid gesagt“, wischte Arata Aois Einwand schroff beiseite. Der Blondschopf verzog unglücklich die Mundwinkel. Letztlich wanderten ihrer aller Blicke zu Hajime, der nichts gesagt hatte bisher, sondern nur schweigend dastand und auf die Stelle leuchtete, die eigentlich nicht leer hätte sein sollen.

 

Gruseliger als das Verschwinden selbst war die Tatsache, dass Hajime nicht augenblicklich eine Erklärung lieferte.

 

„Wir sollten–“, setzte der Mann an, doch er unterbrach sich selbst mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich, kaum merklich. Kois Magen krampfte, und obwohl er wusste, dass es eine dumme Idee war, folgte er Hajimes Blick.

Er bereute es augenblicklich.

„Hiiiiiiiiiiiiiiiiiii–“

Kakerus Stimme neben ihm ließ Koi erschrocken zusammenfahren. Instinktiv packte er nach seinem Freund, hielt sich an seinem Arm fest. Kakerus Finger krallten sich in seinen eigenen Unterarm. Er musste nicht zu ihm hinübersehen, um zu wissen, dass er genauso entsetzt auf den gleichen Punkt starrte wie er selbst.

Sie schwebten keinen Meter über dem Boden. Kugeln aus Licht, die etwa so groß wie ein Kinderkopf waren, umgeben von einem bläulichen oder grünlichen Schimmer. Ihre langen, fadendünnen Schweife wiegten sich unter ihnen, nicht ganz tief genug reichend, um über die spärlichen Grashalme am Waldboden zu kitzeln. Es waren nicht viele. Zwei, drei. Als Koi noch einmal nachzählte, zählte er vier. Dann waren plötzlich wieder nur zwei da.

Sie taten nichts. Sie schwebten einfach da, so reglos, wie man eben als Geist in der Luft schweben konnte, kaum eine Bewegung außer ihrer träge schlängelnden Schweife. Koi war sich sicher, er hatte vergessen, wie man richtig atmete. Sein Brustkorb schmerzte. Vielleicht konnte er auch gar nicht mehr atmen. Konnten Geister durch bloßen Anblick töten?

Theoretisch waren Hitodama nicht gefährlich! Angeblich. Laut vieler Legenden zumindest.

Andere Legenden wiederum… Er schluckte hart um einen Kloß aus Panik herum, als er sich an all die Geschichten erinnerte, die Shun ihnen in den letzten Tagen erzählt hatte, wann immer er Gelegenheit dazu bekam. Geister, Flüche, all die schrecklichen Dinge. War da nicht etwas gewesen von wegen Hitodama konnten gefährlich werden, wenn ihr Beschwörer verstarb?

Wer sagte denn, dass wer auch immer diese Dinger beschworen hatte noch am Leben war?!

 

Er konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Irgendwo hörte er ein Rascheln im Gebüsch, doch er schaffte es nicht, in die entsprechende Richtung zu sehen. Diese seltsamen, unwirklichen Lichtbälle zogen all seine Aufmerksamkeit auf sich, in einem Maße, dass Koi geradezu vergaß, wo er sich überhaupt befand.

Plötzlich setzten sich die Kugeln in Bewegung. In einem Tempo, das Koi niemals für möglich gehalten hätte, rauschten sie an ihnen vorbei, hinterließen einen eisigen Wind und völlige Dunkelheit.
 

Dunkelheit.
 

Es dauerte einen langen Moment, bis Koi begriff, dass ihre Taschenlampen ausgegangen waren. Panisch tastete er nach dem Einschaltknopf. Betätigte ihn. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Lampe blieb aus. Dem hektischen Klicklaut neben sich nach zu urteilen hatte Kakeru keinen Deut mehr Erfolg als er.

„Koi…“

Er wimmerte beinahe. Koi schluckte, seine Finger krallten sich haltsuchend in Kakerus Unterarm, den er immer noch nicht losgelassen hatte. Er wollte es  nicht tun, aber wusste, einer von ihnen musste sich umdrehen und herausfinden, was mit ihren Freunden war. Er wusste, dass er es sein musste, denn Kakeru sah aus, als wäre er geradezu zu Stein erstarrt. Er holte Luft, mühsam, bebend, musste sich zwingen, einzuatmen, denn es erschien mit einem Mal so unglaublich anstrengend. Seine Beine waren wie Blei. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich einen Fuß heben und wieder auf den Boden setzen konnte, ohne dass irgendwo dazwischen seine Knie einknickten.

Sie konnten auch einfach hier bleiben. Stehen bleiben. Abwarten. Gleich würde Arata einen blöden Spruch bringen. Oder Aoi nachfragen, ob bei ihnen alles okay war. Wo blieben Hajimes Mahnungen?

Jemand lachte. Erleichterung machte sich in Koi breit, und beinahe hätte er selbst aufgelacht. Wahrscheinlich hätte er selbst aufgelacht, wenn sein ganzer Hals nicht so schmerzhaft verkrampft gewesen wäre. Er drehte sich hektisch um.

„Arata-Kun–!“

 

Es war nicht Arata.

Da war überhaupt niemand. Koi starrte in beinahe undurchdringliche, nachtschwarze Dunkelheit, die nur von vagen Sprenkeln Mondlicht durchbrochen wurden, die Muster auf den Waldboden malten. Muster, die gerade alle ein bisschen so aussahen, als wollten sie Koi hämisch auslachen.

Er schluckte hart. Sein Hals schmerzte.

„K-Kakeru-San…“

„Mhmmm?“

Er wollte es nicht sagen. Er wollte es nicht einmal denken, und es zu sagen würde es endgültig real machen. Da war niemand. Kein Arata mit seiner spitzen Zunge. Kein Aoi mit seinem sanften, behutsamen Lachen. Kein Hajime, dessen bloße Anwesenheit schon dazu führte, dass man sich sicher fühlte, wo man war. Aus dem Augenwinkel nahm er eine vage Bewegung war – ein Lichtkügelchen, das zwischen den Bäumen verschwand. Koi sah seinen langen Schweif noch lange vor seinen Augen nach, wie die seltsamen Formen, die im Blickfeld tanzten, wenn man zu lange ins Licht sah.

„Koi?“

Finger gruben sich in seinen Unterarm. Es tat beinahe weh, aber gleichzeitig war es unglaublich beruhigend; Kakeru war eindeutig noch da. Koi war nicht alleine, würde nicht alleine sein, solange sie einander einfach nicht losließen. Langsam verstand er wirklich, wieso Kai Rui an die Hand genommen hatte vorhin.

Er wollte es nicht sagen. Er starrte auf den Waldboden, der ihn mit hämischen, mondlichtsilbrigen Grimassen aufzog, versuchte nicht zu genau hinzuhören, wie über das Lärmen der Zikaden hinweg der Wind durch die Bäume strich und ein unheimliches Wispern auslöste. Hörte er Gelächter? Es klang wie tausend kleine, bösartige Stimmen, die seine Misere verlachten.

Sie passten zu den Mondlichtgesichtern am Boden.

 

„Wir sind alleine, Kakeru-San.“

 

 
 

***

 

 

Koi war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt noch wirklich in dem Wald waren, in dem sie hätten sein sollen. Er war sich sicher, dass es Paranoia war. Hysterie. Jedenfalls wollte er sich das so erklären, und dass seine innere Stimme verblüffende Ähnlichkeit mit Hajime hatte, half immens.

Einbildung, erklärte sein innerer Hajime zum fünften Mal, seit Koi begonnen hatte, an seinem Verstand zu zweifeln, Panik. Kein Grund, wirklich durchzudrehen.

Es gab auch ganz bestimmt keinen Grund zur Panik. Und logische Erklärungen für alles. Koi hatte keine, aber das war auch kein Wunder; er war nicht gut in logischen Erklärungen, ganz egal, worum es ging. Seine Fantasie machte ihm da viel zu schnell einen Strich durch die Rechnung, was dazu führte, dass er eher auf hanebüchene Verschwörungstheorien kam als auf die banale, simple, eigentlich völlig offensichtliche Erklärung.

 

Gerade hatte er auch mehr als genug Theorien, die bestimmt alle nicht wahr waren. Angefangen bei der offensichtlichsten: Geister. Er hatte keine andere Möglichkeit, die Lichtkugeln zu erklären, die mit ihren schmalen Schweifen hintendrein über den Waldboden schwebten, als wäre es das natürlichste der Welt. Wenn sie zu nahe kamen, schienen sie jedes Mal irgendetwas mitzubringen.

Da waren Geräusche, die nicht in einen Wald gehörten. Kinderlachen. Glöckchenklingeln. Das Knistern eines Lagerfeuers. Da waren Gerüche, die genauso wenig passten. Süß und klebrig, wie die Luft in einer Konditorei. Der salzige Geruch des Meers. Etwas, das Koi verblüffend an sein Duschgel erinnerte und in seiner Vertrautheit nur noch gruseliger wurde. Es waren so viele Dinge, die einfach nicht zusammenpassten, und jeder wirre Eindruck wurde von einem anderen neuen, wirren und unpassenden Eindruck abgelöst.

Er wollte, dass es aufhörte. Die Zikaden waren nicht laut genug, um das wirre Schauspiel zu übertönen, und Koi schaffte es nicht, wirklich einen Ton hervorzubringen. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte. Ihm fiel kein cleverer Spruch ein. Kein dummer Witz. Sie könnten über das Spiel reden, das sie vorhin gespielt hatten. Aber wollte Koi das? Schon der Versuch, daraus ein Gespräch zu konstruieren, scheiterte daran, dass sein Verstand immer wieder den Dienst quittierte. Das meiste fiel ihm gar nicht mehr ein.

Kakeru war auch still. Er stand neben ihm, klammerte sich mit schmerzhafter Kraft an Kois Arm fest und das einzige, das er ab und zu von sich gab, war ein kleiner, verstörter Laut, wenn irgendwo ein Zweig knackte oder ein anderes Geräusch ihn aus dem Takt brachte – oder ein Hitodama zu nah an ihm vorbeiflog. Er sah aus, als würde er sich gleich übergeben – oder zumindest sehr, sehr mitgenommen. Koi konnte es ihm kaum verübeln. Hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte sofort alles getan, um Kakeru von seinem Leid zu befreien.

 

Bisher waren sie aber nicht einmal einen Schritt von der Stelle gekommen.

Herumirren ist eine dumme Idee, erinnerte Hajimes Stimme ihn, wenn ihr euch verlaufen habt, wartet darauf, dass euch jemand findet, ehe ihr euch noch mehr verlauft. Koi war ganz seiner Meinung, und er wollte sich an Hajimes Ratschlag klammern. Gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob sein Verstand es überleben würde, noch länger hier zu bleiben. Es war pure Folter.

Er war sich fast sicher, es reichte, um verrückt zu werden. Ständig diese seltsamen Geisterwesen, die um sie herumschwirrten. All die Geräusche, die hier nicht hergehörten. Die Zikaden, die nicht leiser wurden und einen steten, monotonen Hintergrund boten für die Horrorshow, die Koi sicher nicht hatte erleben wollen. Sie waren nicht gefährlich. Praktisch gesehen konnte ihnen also nichts passieren, selbst wenn sie sich in Bewegung setzten, oder? Außer, dass sie sich noch mehr verliefen, aber wie groß konnte so ein Wald schon sein? Nicht riesig.

Sie würden einen Ausgang finden, früher oder später.

Oder sich zumindest ablenken können, weil sie mehr zu tun hatten als erstarrt in der Gegend herumzustehen.

Sie mussten doch nur bis zum Morgen überstehen. Das konnte nicht so schwer sein. So endlos lang waren japanische Sommernächte nicht. Es würde überlebbar sein. Sie brauchten nur Ablenkung.

Herumirren war eine dumme Idee, da gab Koi Hajime wirklich Recht.

 

Aber manchmal waren dumme Ideen immer noch besser als gar keine.

 

„Wir sollten“, begann er, brach ab, als es im Unterholz wieder raschelte. Er warf reflexartig einen Blick in die Richtung, ohne zu erwarten, dort etwas zu sehen – er hatte bisher nie etwas gesehen.

Er sah etwas.

Er wusste nicht, was es war. Aber es war da. Ein undefinierbares Etwas, ein Schatten, der noch dunkler war als der Rest der Finsternis. Ein Schatten, der im vagen Licht vorbeifliegender Hitodama eine beinahe menschenähnliche Form hatte – auf eine groteske Art. Verzerrt, wie ein Schatten bei Sonnenuntergang, der obendrein über drei verschiedene Richtungswechsel gebrochen wurde. Er schluckte.

Da waren Schritte.

Kam der Schatten näher?

„Wir sollten weiter“, wiederholte er, selbst erstaunt, wie fest und selbstsicher seine Stimme mit einem Mal klang. Er hatte Panik, aber das Adrenalin in seinen Adern war gerade effektiv dabei, sie für den Moment zu unterdrücken. Er funktionierte. Noch. Es würde funktionieren, solange es musste, zumindest hoffte er das. Mit einem tiefen Durchatmen wandte er sich Kakeru zu.

„Los, gib mir deine Hand. Wir kommen besser voran, wenn wir nicht so aneinanderklammern, dass wir uns schon gegenseitig boykottieren.“

Ganz überzeugt sah Kakeru nicht aus, soweit Koi irgendetwas in der Dunkelheit erkennen konnte. Riesige, verängstigte Augen blickten ihn an, ließen ihn keinen Augenblick aus den Augen, aber immerhin folgte der Kerl seiner Aufforderung – bald waren ihre Hände fest miteinander verschränkt, ihre Finger geradezu verknotet. Er würde Kakeru nicht verlieren. Kakeru würde ihn nicht verlieren.

So viel konnte also nicht schief gehen!

 

Die ersten Schritte waren die Schlimmsten.

Koi hatte bei jedem Einzelnen noch die Panik, dass die bisher friedlichen Hitodama plötzlich auf die Idee kamen, sie attackieren zu wollen. Er hatte Angst, dass der Schatten plötzlich durchs Unterholz bräche und sie in einer Geschwindigkeit verfolgte, der sie niemals etwas entgegenzusetzen hätten.

Was machte man überhaupt, wenn man in einem Wald voller Geister verloren ging? Er hatte doch keine Ahnung!

Wieso gab Shun ihnen nicht wenigstens Survivaltipps mit auf den Weg, wenn er schon so viel Ahnung von solchen Themen hatte?!

Aber alles, was er tat, war Gruselgeschichten zu erzählen, in denen überhaupt nichts Hilfreiches steckte.

„Was meinst du, wo die Anderen sind?“

Kakerus Stimme klang dünn, besorgt. Ängstlich. Koi fühlte sich nicht wirklich besser, trotzdem gab er sich Mühe, aufmunternd zu klingen, als er in einem etwas zu gekünstelten Plauderton antwortete: „Vielleicht zum Waldrand zurück? Ist die beste Lösung, wenn das Licht ausfällt, oder? Und vielleicht hatte Aoi-San ja doch Recht…“

Er glaubte nicht daran. Schon alleine, weil Stimme der Vernunft Hajime es nicht bestätigt hatte. Es war einfach zu unglaublich.

„Meinst du?“ – „Jap! Rui ist doch echt viel zu schlafmützig, um so lange draußen auszuhalten.“

Kakeru grinste. Zögerlich, aber so langsam schien seine positive Einstellung wieder an ihren Platz zurückzukehren. Koi fiel ein Stein vom Herzen und er erwiderte das Grinsen des anderen breit.

 

„Weißt du, irgendwie ist es fast cool!“, kommentierte Kakeru nach ein paar Minuten. Koi lachte hilflos, schüttelte den Kopf.

„Cool“, wiederholte er, ungläubig. Er sah sich um. Sah Hitodama, teilweise nah genug, dass er sich nur ausstrecken müsste, um sie zu berühren. Sah unheimliche Mondlichtbilder auf dem Boden, sah Schatten im Dickicht, die viel zu lebendig aussahen, obwohl sie sich nicht regten.

„Deine Definition von cool ist eigenwillig, Kakeru-San.“

Sein Freund lachte, und der Laut war so erleichternd für Koi, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, dass der Wald mit einem Schlag heller geworden wäre.

„Ich mein’s ernst, Koi! Das ist doch eigentlich echt aufregend! Sieh es so, diese Teile hätten uns längst etwas tun können – aber sie tun es nicht! Also sind sie ungefährlich. Es ist auch nicht anders als gigantische Glühwürmchen!“

Gigantische Glühwürmchen. Koi schmunzelte, ein bisschen überfordert. Wenn er sich die Hitodama wirklich einfach als riesige Leuchtkäfer vorstellte… das war irgendwie einfacher. Leuchtkäfer gab es. An denen war nichts Unheimliches oder Gruseliges, sie waren ganz natürlich und nicht angsteinflößend. Er grinste, schob konsequent die Erinnerung an den Schatten zwischen den Bäumen von sich. Ohne den Schatten war es wirklich erträglich. Leuchtkäfer waren cool!

 

„Weißt du, was uns fehlt, Kakeru-San? Ein riesiges Schmetterlingsnetz, um die Leuchtkäfer auch einzufangen.“

 

 
 

***

 

 

Obwohl sie sorgfältig in die Richtung liefen, aus der sie gekommen waren, kam der Waldrand nicht näher. Koi wusste nicht, wie lange sie unterwegs gewesen waren, er hatte ein schlechtes Zeitgefühl und konnte nicht einschätzen, ob das tatsächlich passte oder mit dem wirren Spuk zusammenhing, aber in jedem Fall – er wurde ungeduldig. Er wollte den Weg raus aus dem Wald finden. Wollte irgendein Anzeichen dafür, dass sie einen Fortschritt machten und nicht auf der Stelle liefen.

Es sah alles gleich aus!

Es war eben ein Wald, wie sollte er da einen bestimmten Platz ausmachen können? Hatte er sich die Formation der Bäume gemerkt? Nein! Und außerdem sah ohne das Licht der Taschenlampen ohnehin alles noch einmal ganz anders aus – auf eine beunruhigende, unangenehme Art.

Insgesamt war es aber doch irgendwie erträglich geworden. Die Stille wurde nicht weniger quälend, aber in Bewegung zu sein war entspannend, selbst wenn man nirgendwo so recht hinlief. Und Kakeru ging es besser – das allein machte eine ganze Welt an Unterschied für Koi. Mit der positiven Stimmung seines Freundes konnte er sich gar nicht mehr in dem Grusel um sie herum verlieren. Kakeru war ansteckend, und das auf die beste Art überhaupt.

 

Es war solange gut, bis sie plötzlich auf einer Lichtung standen, die es so ganz sicher auf dem Hinweg nicht gegeben hatte. Sie war riesig – viel größer, als Koi eine Lichtung in diesem Wald erwartet hätte. Sie war riesig, sie war komplett leer, und der Boden war völlig karg. Kein Gras, obwohl nirgendwo Bäume waren, die mit ihren Kronen das lebensnotwendige Sonnenlicht stehlen könnten. Der Boden sah aus wie eine einzige, tiefdunkle Masse. Im Mondlicht war es nicht erkennbar, aber Koi hätte beinahe auf Schwarz spekuliert.

Hier waren so viele Hitodama, dass er sie nicht mehr zählen wollte. Nicht zählen konnte. Sie wuselten durch die Luft, eins ums andere, nah am Boden, tanzten umeinander herum. Es sah aus, als wären sie in einen Reigen vertieft; nach einigem schweigenden Zusehen entdeckte Koi tatsächlich so etwas wie ein Schema in ihren Bewegungen.

Es war verstörend, auf eine so makabre Art, dass er nicht einmal Worte dafür hatte.

Irgendwo wurde Gelächter laut. Zuerst nur ein kleines, harmloses Kichern. Es kam ganz plötzlich, dann hörte es wieder auf. Dann kam es wieder.

Und dann blieb es.

Ein dauerhaftes, körperloses Kichern, das seinen Ursprung überall und nirgendwo nahm, das nicht mehr aufhörte, das nur noch lauter wurde. Kakerus Hand klammerte mit einem Mal wieder viel fester an seiner.

„Ich glaube, wir sollten nicht hier sein“, wisperte er, so leise, dass Koi es selbst kaum hörte. Trotzdem wurde das Lachen prompt noch lauter – wie eine Antwort. Eine Bestätigung, dass ja, es eine ganze dumme Idee war, hier zu sein.

Nebel kroch aus dem schwarzen Boden. In langen, dünnen Schlieren schob er sich langsam aus dem Erdreich und verteilte sich überall, kroch in jede Ritze, umspülte Kois Füße mit einem Gefühl von eisiger Kälte, die völlig unpassend zu dem heißen Sommerabend war, an dem sie ihre Nachtwanderung begonnen hatten. Er trat einen Schritt zurück, noch einen, doch der Nebel war längst überall um sie herum – es war zwecklos.

 

Er hatte keine Ahnung, was hier passierte. Ein großer Teil von Koi wollte es auch gar nicht wissen.

Sollten sie weglaufen? Er sah über die Schulter, doch in der Ferne sah er nur noch eine dichte, milchig weiße Nebelwand, die ihm mehr und mehr Übelkeit bescherte. Zwischen der schlierig weißen Suppe sahen die schwebenden Hitodama noch gruseliger aus, weil Koi nicht einmal mehr recht erkannte, wo das eine aufhörte und das nächste anfing.

„Koi.“

Kakerus Stimme war drängend. Er zog an Kois Hand; Koi rührte sich keinen Millimeter. Er klammerte, schüttelte vage den Kopf, biss sich auf die Unterlippe, um einen panischen Laut schon im Keim zu ersticken.

„Koi! Wir müssen–“

Hier weg.

Es blieb Kakeru selbst im Hals hängen. Wohin sollten sie auch flüchten? Sie waren mitten im Nirgendwo, und so dicht, wie der Nebel gerade wurde, traute Koi sich kaum einen Schritt voran, ohne fürchten zu müssen, dass er mit vollem Karacho gegen den nächsten Baum lief.

Vielleicht wäre das aber auch ein besseres Schicksal, als hier von der trüben Brühe verschluckt zu werden.

„Kakeru-San, vielleicht–“

 

Koi wusste selbst nicht, was.

Seine Knie zitterten. Sein Herz krampfte, genauso wie sein Magen. Das schrille Lachen schwoll immer weiter an, übertönte längst alle Zikaden, die es geben mochte. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, als könnte er damit verhindern, was auf ihn zukam – was man nicht sah, existierte nicht.

Die Logik hatte ihm schon als Kind nicht wirklich geholfen, aber vielleicht half es eben doch? Ein Schatten in der Finsternis machte in jedem Fall wirklich nur dann ein Problem, wenn man ihn auch sah.

 

Und dann war plötzlich nichts mehr.

 

Die Stille traf Koi wie ein Lastwagen. Seinen Ohren schmerzten von der jähen Geräuschlosigkeit, ein schrilles Klingeln, das eindeutig aus seinem Kopf selbst heraus kam, das einzige, das er noch wahrnahm.

„Koi! Kakeru!“

Die Stimme klang so dumpf, dass er sie nicht zuordnen konnte. Langsam flaute das Klingeln ab, langsam kehrten die Zikaden zurück. Er hörte Lärm im Unterholz, der so eindeutig menschlich klang, dass ihm fast übel vor Erleichterung wurde.

Vielleicht auch nicht nur fast. Reflexartig presste er die freie Hand vor den Mund, schluckte hektisch, panisch, bis er sich sicher sein konnte, dass sein Abendessen blieb, wo es hingehörte – in seinem Magen. Als er die Augen öffnete, war es so dunkel, dass er nichts mehr sah.

 

Ein Lichtkegel schob sich in sein Blickfeld. Es war unverkennbar eine Taschenlampe, an deren Ende eindeutig ein Mensch hing.

Shun.

Shun.

„Shun-San?!“, rief Kakeru völlig überrascht aus. Der junge Mann kam vor ihnen zum Stehen. Koi erkannte dicht hinter ihm Hajime, dessen besorgter Gesichtsausdruck in Erleichterung schmolz. Er fühlte sich nach Lachen und Heulen gleichzeitig.

„Hajime-San.“

Seine Knie gaben nach. Endgültig. Koi fiel zu Boden, riss Kakeru mit sich. Vielleicht fiel er aber auch einfach aus eigener Unfähigkeit, sich aufrecht zu halten. Sofort hockten Shun und Hajime neben ihnen. Koi bemerkte es nicht sofort, aber hinter ihnen standen auch Aoi und Arata, beide mit besorgten Mienen. Selbst Arata!

„Seid ihr okay?“

Kakeru nickte.

„Sind wir! Irgendwie. Was ist passiert?“

„Ganz egal! Hauptsache, wir sind da raus! Hajime-San, du hast uns das Leben gerettet!!“

 

Hajime sah nicht aus, als wüsste er, warum. Er konnte es auch nicht wissen, dass da ein innerer Hajime in Kois Kopf war, der ihm Vernunft eingeflüstert hatte. Trotzdem lächelte er, legte eine Hand auf Kois Schopf und zerzauste ihm sanft das Haar.

„Ich bin froh, dass es euch gut geht.“

Koi hätte ihn am Liebsten geknutscht vor Erleichterung.

Es war vorbei!

Sie hatten, was auch immer da passiert war, überlebt!

 

„Wo sind Kai-San und Rui?“

Kois Erleichterung bekam einen unangenehmen Dämpfer. Er sah zu Kakeru hinüber, beinahe anklagend, dass der die Stimmung wieder runterziehen musste. Aber andererseits – er hatte ja Recht!

„Keine Sorge.“

Shun klang überzeugt. Auf eine angenehme, ruhige Art, die Koi gerade das Gefühl gab, dass er mindestens genauso zuverlässig war wie Hajime. Er lächelte sogar ernsthaft beruhigend, statt besorgniserregend. Langsam erhob der junge Mann sich wieder, Hajime folgte, und auch Koi tat es ihm gleich, nachdem seine Beine sich langsam wieder anfühlten, als wären sie Beine und keine weichen Spaghetti. Er zog Kakeru mit sich hoch – ein bisschen zu schwungvoll, der Junge stolperte sofort gegen ihn. Kakeru lachte. Koi lachte, und es störte ihn eigentlich auch überhaupt nicht, Kakeru so nah zu sein.

Eher im Gegenteil.

„Ah, schaut. Da sind sie schon.“

 

Zwei Lichtkegel kamen auf sie zu. Kai und Rui, immer noch Hand in Hand, und sie sahen so gesund und munter aus, als wäre ihnen überhaupt nichts passiert. Selbst Rui lächelte.

Koi verstand gar nichts. Wohin waren sie verschwunden?

Aber wohin es auch war – er war einfach froh darum, dass es ihnen gut ging, dass sie gesund und munter waren, und dass da nirgendwo mehr irgendwelche Geisterwesen waren, die ihnen das Leben schwer machen konnten.

Es war seltsam. Irgendwie hatte Koi das untrügliche Gefühl, etwas sehr wichtiges verpasst zu haben, als die zwei zu ihnen aufschlossen.

Irgendwie…

Shun seufzte zufrieden auf. Als Koi zu ihm sah, grinste er wieder sein wissendes, besorgniserregendes Grinsen, das ihm die Aura verlieh, dass er einfach alles wüsste und noch mehr. Koi fand es unheimlich. Und gerade war es irgendwie trotzdem fast charmant, denn er sah immer noch ehrlich erleichtert dabei aus.

 

„Wie beruhigend~ Manchmal braucht es eben gar keine Dämonen, um die bösen Geister zu vertreiben.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  ParadoxKanata
2017-03-18T15:01:45+00:00 18.03.2017 16:01
Die FF war toll X3 <3
Kakeru und Koi sind so süß, und ich mochte die Vorstellung mit den großen Leuchtkäfern xDD Auch wenn ich mich noch immer Frage was das für ein Schatten war, woher das Lachen kam und wo die anderen waren @A@
Aber am Ende ging ja alles gut aus zum Glück, ich mag es nicht wenn es böse ausgeht >.<
Und vielen lieben Dank für die FF <3


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