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Cry of the Spirits: The Forgotten Night

von

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Prolog

Prolog

Erinnerung an die alten Tage
 

Alles begann vor 10 Jahren. Damals war ich gerade einmal 7 Jahre alt. Eines Nachts fing mein kleiner Bruder an zu weinen und zu schreien. Er hörte einfach nicht mehr auf. So ging es eine lange Zeit Nacht für Nacht. Ich konnte ihn trösten und gut auf ihn zureden, so viel ich wollte. Doch es brachte einfach nichts. Erst als ich sein Lieblingsplüschtier an sein Grab brachte, hörte er auf. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört.
 

Die Abenddämmerung setzte ein, als Evan und Miles vor dem alten Haus standen. Seit Jahren sollte es leer stehen, obwohl manche behaupteten sie würden die ehemalige Besitzerin manchmal am Fenster stehen sehen. Kein Wunder also, dass es sich herumsprach in diesem Gebäude würde es spuken.

„Ich kann es nicht fassen, dass du mich zu diesem Unsinn überredet hast“, meckerte Miles unmütig. Evan blickte als Antwort jedoch nur verunsichert auf den Boden. Daraufhin seufzte Miles und trat in das langsam verfallene Haus ein. Schnell kramte Evan noch das tragbare Tonaufnahmegerät seines Vaters aus dem Rucksack und trat anschließend auch ein.

„Also, wo ist die Oma nun?“, fragte Miles frech.

„Du bist manchmal so ein Blödmann“, antwortete Evan und drückte Miles eine Kamera in die Hand. Während es immer dunkler wurde, suchten die beiden Freunde zunächst die Zimmer im Erdgeschoss ab. In dem Raum, das wohl einst das Wohnzimmer war, stand noch ein altes, heruntergekommenes Sofa.

„Man mal ein Bild davon“, sagte Evan. Ein kurzes Licht der Kamera erhellte den Raum, das von einem Klickgeräusch begleitet wurde.

„Und, ist etwas darauf zu sehen?“, wollte Evan neugierig wissen.

„Ja, ein Sofa“, entgegnete Miles.

„Ich würde mich echt freuen, wenn du die Sache ein bisschen ernster nehmen würdest“, sagte Evan mit gespielt bestimmender Stimme. Jedoch konnte man trotzdem heraushören, dass er von den Späßen seines besten Freundes geknickt war. Weiterhin versuchend sich nichts anmerken zu lassen verließ er die ehemalige Wohnstube und wollte nach oben in den ersten Stock gehen. Vor der Treppe machte er Halt. Bei genauerem Betrachten sah sie schon sehr instabil aus. Gerade als er seinen Fuß anheben wollte, um ihn auf die erste Stufe zu setzen, spürte er eine Präsenz hinter sich. Ein kurzes Gefühl des Erschreckens durchtrieb seinen Körper, ehe er einen leichten Druck auf seiner Schulter vernahm. Er merkte regelrecht, wie ihm die Farbe aus seinem Gesicht entwich. Langsam drehte er sich um. Doch fast schon zu seiner Enttäuschung musste er feststellen, dass es Miles war, der sich ein Lachen verkniff.

„Schein ich dir einen ordentlichen Schrecken eingejagt zu haben. Hey, tut mir leid. Ich weiß, dass dich sowas wirklich interessiert, aber du solltest ja aber auch wissen, dass ich nicht an Geister glaube. Aber ich mach hier jetzt einfach dir zuliebe mit, okay? Trotzdem bin ich mir absolut sicher, dass hier nichts Paranormales ist“, sagte Miles überraschend erwachsen. Normal war er ja immer eher der, der einen auf stark und cool machte, während Evan doch eher der naivere der beiden gewesen ist.

„Danke, aber ob hier was ist oder nicht werden wir ja noch sehen“, sagte Evan, der daraufhin seinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. Die Räumlichkeiten wurden sofort von einem lauten Knarzen beschallt. Langsam und vorsichtig ging Evan die Treppe nach oben. Doch durch das Knarzen der Bretter bekam er immer mehr ein wackeliges Gefühl in den Beinen.

„Sag mal, was hast du deinen Eltern erzählt, wo du die Nacht über bist?“, wollte Evan wissen, um sich von der möglichen Instabilität der Treppe abzulenken.

„Dass ich bei dir übernachte. Sie würden mich umbringen, wenn sie wüssten, dass wir nachts in einem alten Haus rumhängen. Und was hast du gesagt? Deine haben es ja sicher auch nicht erlaubt“, gab Miles als Antwort, während er nun auch damit begann langsam die Treppe hochzugehen.

„Naja, ich hab ihnen erzählt, dass ich bei dir bin. Nach ihrer Ansicht ist es ja sehr unwahrscheinlich, dass ich woanders bin, wenn ich mal aus dem Haus gehe“, sagte Evan, der während des Satzes oben ankam. Wenige Augenblicke später kam auch Miles im oberen Stockwerk an und sah, dass Evan noch immer das Tonaufnahmegerät in der Hand hielt.

„Nimmst du etwa die ganze Zeit auf?“, wollte er wissen.

„Ja, es könnten doch immer irgendwelche Geräusche auftauchen“, antwortete Evan.

„Buh“, sagte Miles trocken direkt ins Aufnahmegerät. Im Raum direkt am Ende der Treppe befand sich das Badezimmer. Zumindest ließen die Rohre, die aus der Wand ragten und die Porzellanscherben darauf schließen. Miles machte wie von jedem Raum auch hiervon ein Bild mit der Kamera. Das obere Geschoss bestand sonst nur aus einem Gang mit noch zwei Zimmern. Eines lag dem Bad direkt gegenüber. Allerdings war es bis auf Schutt und Abfall auch komplett leer. Evan interessierte sich allerdings für das andere Zimmer am Ende des Ganges. Dies war der Raum, dessen Fenster der Straße zugeneigt war. Also musste dies auch der Raum sein, in dem der Geist der ehemaligen Besitzerin gesehen wurde. Da sich keine Tür mehr im Rahmen befand, wurde der Flur durch das durchs Fenster scheinende Mondlicht erhellt. Mit vorsichtigen Schritten bewegten sich die Jungs auf das Zimmer zu. Die Bodendielen knackten und knarzten noch lauter, als es die Treppe tat. Vor dem Raum blieb Evan noch einmal kurz stehen.

„Was ist?“, fragte Miles.

„Nichts“, antwortete Evan und betrat anschließend den Raum. Darin befand sich das verrostete Gerüst eines alten Bettes und noch mehr Dreck. Nachdem Miles ein paar Bilder gemacht hatte, hielt Evan das Tonaufnahmegerät hoch.

„Wie ist dein Name?“, fragte er. Einen kurzen Moment wartete er und stellte dann die nächste Frage.

„War das dein Haus?“, wieder einen Moment Pause, bis zur nächsten Frage.

„Wie bist du gestorben?“ So ging das noch ein paar Minuten weiter. Währenddessen wanderten Miles Blicke durch den Raum. Über die Wände, von denen Tapeten und der Putz herunter bröckelte. Blickte am Türrahmen vorbei. Doch da erschrak er. Für einen Moment dachte er, er hätte da jemand stehen sehen. Oder etwas. Im Lief ein kalter Schauer über den Rücken. Langsam, als würde sein Hals steif sein, drehte er seinen Kopf wieder in Richtung des Ausganges. Sein Herz machte einen Aussetzer, zumindest fühlte es sich so an. Tatsächlich stand dort eine alte Oma in der Tür und beobachtete still die beiden. Zwar wollte Miles zunächst etwas sagen, allerdings brachte er keinen Ton heraus. Langsam und zitternd fuchtelte er mit seinem Arm hinter sich, um Evan auf ihn Aufmerksam zu machen.

„Was ist?“, fragte dieser daraufhin genervt und drehte sich zu ihm um. Aber dann erschrak er erneut, noch deutlich mehr als unten und ließ dabei sogar sein Aufnahmegerät fallen. Einige Momente standen alle unbewegt da, ehe sich die alte Dame regte und ihre Arme verschränkte.

„Darf ich vielleicht erfahren, was ihr Bengel in meinem Haus zu suchen habt?“, fragte die Oma mit einer alten, kratzigen Stimme. Weder Evan noch Miles zeigten zunächst eine Reaktion, bis sie sich kurz gegenseitig anschauten, bis Evan doch eine Antwort herausbrachte. Obwohl das eher ein Stottern gewesen ist.

„Es hieß in dem Haus soll es spuken, weshalb wir…“

„…weshalb ihr hier auf Geisterjagd gegangen seid, richtig?“, unterbrach die Oma Evans Satz.

„Jetzt verschwindet hier, bevor ich die Polizei anrufe“, fügte die alte Frau noch hinzu. Evan stand nach wie vor wie erstarrt da. Doch Miles nahm das Aufnahmegerät vom Boden auf und packte Evan am Arm, um ihn mit nach draußen zu zerren.

„Warte“, sagte Evan im Flur und riss Miles die Kamera aus der Hand.

„Kann ich Sie um etwas bitten? Dürfte ich vielleicht ein Bild von Ihnen machen, als Beweis dass es hier doch nicht spukt?“, fragte Evan höflich, aber noch immer mit verängstigtem Unterton.

„Na meinetwegen“, antwortete die Oma. Und schon knipste der Junge ein Bild von ihr.

„Danke“, sagte er und verschwand mit Miles nach draußen. Erst als sie einen halben Block von dem alten Haus entfernt waren, begannen sie sich zu unterhalten.

„Siehst du, wie ich es dir gesagt hab. In dem Haus gibt es keine Geister. Diese alte, abgeranzte Hütte gehört sogar noch jemanden und niemand kapiert es“, faselte Miles vor sich hin. Evan, der noch im Menü der Kamera herumtippte, wollte zwar erst antworten und zustimmen, blieb dann jedoch abrupt stehen. Gerade als Miles fragen wollte, was denn nun schon wieder los sei, hielt Evan ihm die Kamera wortlos vor die Nase. Das Display zeigte das Bild, das er von der alten Frau gemacht hatte. Jedoch war darauf keine Oma zu sehen. An ihrer Stelle befand sich nur Nebel, der leicht menschliche Umrisse formte.

„Also etwa doch…?“, murmelte Miles wie jemand, dessen gesamtes Weltbild gerade zerstört wurde.

Kapitel 1

Kapitel 1

Die Nachricht
 

5 Jahre später…

An der Scheibe des Fensters flossen zahlreiche Wassertropfen herab, die von einem erst kürzlich vergangenen Regenfall zeugten. Ein Blick hindurch zeigte das Neubaugebiets einer ordentlich anmutenden Nachbarschaft, die von dichten, grauen Wolken in eine düstere Stimmung gehüllt wurde. Die Blätter der Bäume und Büsche in den Vorgärten raschelten leicht im Wind. Eine Garage öffnete sich und eine Limousine von Toyota in glänzendem Metallicrot fuhr heraus. Als diese die Einfahrt verließ und die Straße entlang weg fuhr, schloss sich das Garagentor automatisch wieder. Evan stieß ein gelangweiltes Seufzen aus, während er auf dem Fensterbrett saß und nach draußen sah. Einige Momente, wenn nicht sogar Minuten, vergingen, ehe Evan seinen Kopf ins Innere seines Zimmers wandte. Rechts neben dem Fenster stand sein Bett, das noch immer nicht gemacht war, weshalb mehrere Kissen und die zerknüllte Decke durcheinander dort lagen. Er ist ohnehin erst vor kurzem aufgestanden und dachte sich sowieso immer, wenn er nachts eh wieder ins Bett geht, warum er es dann ordentlich herrichten sollte. Gegenüber seinem Schlafplatz stand ein unaufgeräumter Schreibtisch, auf dem sich auch sein bereits eingeschalteter PC befand. Mehrere Zettel, Stifte und sonstige Schreibmaterialien formten den Rest der Landschaft des Arbeitsplatzes. Ein durchgesessener Bürostuhl aus Leder gehörte auch noch mit dazu. Rechts neben dem Schreibtisch befand sich dann die Tür. Im Rest des Zimmers standen sonst nur Regale und Schränke, die neben Klamotten mit Büchern, gerahmten Bildern und sonstigem unzähligem Krimskrams gefühlt waren. Insgesamt war dies im Grunde ein typischer Wohnraum eines 17-jährigen Jungen, bei dem die meisten Erwachsenen wohl mit einem ‘du könntest doch mal aufräumen‘ reagieren würden.

Evan stand nun mitten im Raum und wusste nichts mit sich selbst anzufangen. Bei diesem düsteren Regenwetter hatte er auch keine Lust nach draußen zu gehen. Er hatte sowieso niemanden, mit dem er etwas hätte unternehmen können. Doch er setzte sich schließlich dann doch nur an den PC. Gerade als er den Internetbrowser öffnen wollte, spürte er wie auf Befehl eine leichte Vibration in seiner Hosentasche. Eigentlich wollte er es erst ignorieren, aber ihn störte es nicht zumindest einmal nachgesehen zu haben. Mit einem genervten Stöhnen kramte er sein Handy heraus. Fest rechnete er wieder mit einer Werbe-SMS seines Mobilfunkanbieters. Doch als er auf den Sperrbildschirm seines Smartphones schaute, erlebte er eine ziemliche Überraschung. Eine neue Nachricht stand neben einem Profilbild eines Jungen, etwa im Alter von Evan, der längere, zerzauste Haare hatte, die unauffällig an einer Seite mit einer Haarklammer zurückgesteckt waren, mehrere Ohrringe in beiden Ohren hatte und mit einem genervten Blick vor sich hin schaute. Einst waren sie unzertrennliche beste Freunde, doch mittlerweile hatte Evan schon länger nichts mehr von Miles gehört. Umso unerwarteter kam es jetzt, dass er ihn aus dem Nichts plötzlich anschrieb.

Hey, hast du dieses Wochenende Zeit?, las Evan in Miles‘ Nachricht, nachdem er sie geöffnet hatte. Einen kurzen Moment überlegte er, was er denn schreiben sollte. Wäre es klug gewesen Miles zu fragen, wieso er nach all den Monaten nun plötzlich wieder Kontakt aufnimmt? Aber Evan entschied sich dann doch dagegen.

Klar, du kennst mich doch. Hab ja immer Zeit, antwortete Evan schließlich. Ein paar Minuten vergingen, bis Miles eine Antwort schrieb und diese ankam.

Ich will mich wieder mal mit dir treffen. Interessierst du dich noch für dieses Geisterzeug? Wenn ja weiß ich schon, was wir unternehmen könnten. Du wolltest doch damals immer schon zu diesem verlassenen Dorf auf dem Hollow Berg, Guilswell oder wie das hieß, wolltest. Wieso treffen wir uns heute Abend nicht da? Evan fragte sich nun ernsthaft, ob er wirklich mit Miles schrieb. Nach der Sache vor 5 Jahren, als sie den Geist der alten Frau begegnet sind, wollte Miles erst recht nichts mehr über Geister wissen. Er ließ es sich nicht anmerken, aber Evan wusste immer, dass er einfach eine riesen Angst hatte. Doch trotz der Skepsis sagte Evan zu. Das Dorf wollte er, wie Miles schon sagte, schon immer einmal besuchen. Zahlreiche Besucher berichteten dort von Geistererscheinungen. Aber da Miles nie mitgehen wollte, hatte er niemanden, der ihn begleitet hätte. Und auch wenn er es so stark er konnte verleugnete, alleine traute er sich dann doch nicht. Zwar interessierten ihn Geister wie nichts Anderes, aber das änderte nichts daran, dass er sich doch fürchtete. Außerdem gab es in seiner Umgebung eh kaum Orte, bei denen es spuken sollte. Selbst der Hollow Berg war mit dem Zug locker eine Stunde entfernt. So war es kein Wunder, dass Evans Traum von der Geisterjagd nur ein Wunschgedanke geworden ist. Doch nun war es wieder an der Zeit. Und je mehr er darüber nachdachte, umso mehr freute er sich.
 

Am Fuß des Berges ist eine alte, zerfallene Farm. Ist zwar extrem Matschig dort, aber es kann sich lohnen dort die Augen mal offen zu halten, das war die letzte Nachricht, die Evan von Miles erhalten hatte. Nachdem er den Bahnhof verlassen hatte, folgte er einen kleineren, abgelegenen Wanderpfad. Nach einigen Kilometern fand er sich nun in einem Gebiet wieder, bei dem man deutlich sah, dass dort seit Jahrzehnten nichts mehr durch Menschenhand verändert geworden ist. Der Boden war nass, aufgequollen und matschig. Überall wuchsen absolut verwilderte Büsche. Alte verwitterte Telefonmasten ragten teilweise schräg und am Umfallen aus dem sumpfigen Boden. Mittendrin stand das alte, verrostet Wrack eines Jeeps, die Räder halb im Schlamm versunken. In der ganzen Gegend stieg ein Schleier aus Nebel empor. Der Hintergrund wurde ausgefüllt von einem Berg, der fast vollständig von Wald überwuchert war. Auf diesem stiegen zwischen den Bäumen zahlreiche große und dichte Nebelschwaden in die Luft. Ein kühler Wind ging und man konnte die Feuchtigkeit richtig spüren. Schnell bildete sich ein leichter, feuchter Film auf Evans Wanderjacke. Als er weiterging und den weichen Boden unter seinen Füßen nachgeben spürte, welcher bei jedem Schritt ein schmatzendes von sich gab, war er froh seine massiveren Wanderstiefel angezogen zu haben.

Eine gefühlte Ewigkeit watete er durch die Gegend. Obwohl er durch den Nebel kaum sagen konnte, wo hinten oder vorne war, orientierte er sich einfach auf den Hollow Berg, auf den er langsam zuwanderte. Irgendwann tauchte plötzlich aus der dichten Nebelwand ein Zaun auf, der allerdings auch schon teilweise mit Gebüsch und Unkraut überwuchert war. Zwischen dem Gestrüpp war ohnehin zu erkennen, dass das Gitter des Zauns verrostet war. An den Metallpfeilern flossen einzelne kleine Wassertropfen herab. Evan folgte dem Zaun und merkte, wie der Boden fester wurde. Unter dem Matsch befanden sich Holzplatten, die wohl einst ein Weg gewesen sind. Und bald war auch das Ende des Zaunes erreicht. Noch leicht in den Nebelschwaden verhüllt zeigte sich langsam die Ruine eines alten Hauses.

„Das hat er wohl gemeint“, murmelte Evan leise vor sich hin. Ohne lange zu zögern nahm er seinen Rucksack ab und kramte etwas heraus. Es war eine relativ alte Kamera. Nachdem er gelesen hatte, dass mit älteren Geräten die Chancen höher sind Geisterscheinungen einzufangen, als mit einem modernen Digitalgerät, wollte er eine solche Kamera. Also hatte er dann diese Kamera von seinem Großvater geschenkt bekommen, als dieser sie verstaubt in einer Kiste seines Dachbodens gefunden hatte.

Evan legte ein Videoband ein und sattelte den Rucksack wieder auf. Er schaltete sie ein, woraufhin ein lautes, statisches Geräusch kurz ertönte. So startete er dann die Aufnahme und schaute dabei durch die Linse der Kamera die Gegend ab. Durch diese sah nun alles leicht verzerrt, in niedriger Auflösung aus und alles war mit Störeffekten überzogen. Allein daran war zu sehen, dass die Kamera antik gewesen ist.

„Selbst wenn ich einen Geist filme, wird bei der Qualität nichts zu erkennen sein“, murmelte er leise. Evan betrat das alte Haus, von dem eigentlich nur noch Teile der Grundmauern standen. Von einem oberen Stockwerk waren lediglich ein paar Balken übrig, manche schon halb nach unten gefallen. Die Dielen des Holzbodens knarzten nichtmal mehr, so feucht und vermodert waren sie. Ein paar Büschel Unkraut wuchsen aus den Spalten im Boden heraus. An der einen Wand waren noch die Überreste eines Kamins zu erkennen. Die Luft war allgemein sehr kalt, doch als er weiter in das Innere des Hauses ging, wurde es schlagartig noch wesentlich kühler. Als Evan dann dazu ein kalter Schauer über den Rücken lief, blieb er stehen.

„Ich weiß dass du hier bist“, sagte er ruhig, aber mit leichtem Zittern in der Stimme. Ein leichtes paranoides Gefühl machte sich in seinem Rücken breit. Er rechnete nun damit, dass jeden Moment etwas hinter ihm auftauchte. Etwas griff dann auch nach seinem Arm, zumindest fühlte es sich so an. Evan erschrak und zuckte zurück. Nein, da war nichts, er hatte es sich nur eingebildet. Er war sich absolut sicher, dass etwas hier war. Doch weder zeigte es sich, noch machte es sich auf andere Art und Weise bemerkbar. Zunächst traute er sich nicht, stand wie erstarrt da. Aber dann schlich er doch langsam wieder aus dem Haus heraus. Die Luft war schon lange wieder auf normaler Temperatur. Ein leises Rascheln eines Busches erklang. Schnell schaute Evan mit der Kamera in die Richtung, aus der es kam. Nur ein wildes Gestrüpp, hinter dem ein dunkler, kleinerer Fels lag. Muss ein Vogel gewesen sein. Fast schon enttäuscht drehte er sich wieder in eine andere Richtung. Aber nichts außer Matsch, Gebüsch und Nebel war zu sehen. Er blickte noch ein weiteres Mal hin und her. Ganz deutlich, dass er nicht weiter wusste. Sollte er weiter suchen? Oder wo ging es allgemein nach Guilswell? Am besten, so dachte er, ging er weiter in Richtung des Berges. Doch ihm fiel etwas auf. Er blickte noch einmal zurück. Von dort, wo das Geraschel herkam. Der Busch stand noch wie vorher da. Doch nun bemerkte Evan, dass der Fels weg war. Momente vergingen, während er mit der Kamera in diese Richtung filmte. Zu spät fiel auf, dass ihn etwas am Hosenbein packte. Ein Schock wie zuletzt vor fünf Jahren durchzog seinen Körper. Schnell fing sein Herz zu klopfen an, das sich eher wie Schläge mit einem Vorschlaghammer anfühlte. Jede einzelne Faser sträubte sich danach, doch er schaute doch langsam nach unten. Doch in dem Moment lockerte sich der Griff. Wie zu erwarten war, war nichts zu sehen. Evan atmete tief ein und aus. Er brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen. Ein entferntes, kurzes Kinderlachen war zu hören, das mit einem leichten Echo durch die Gegend zog. Mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht stand Evan ein paar Sekunden da. Wenn nicht gar eine oder mehrere Minuten. Wieder erschrak er, als er etwas am Bein spürte. Diesmal war es jedoch nur das Vibrieren seines Handys.

„Verdammt“, fluchte Evan. Er schaltete die Kamera ab und nahm sie wieder herunter. Ein Blick auf dem Handy zeigte, dass ihm Miles wieder geschrieben hatte.

Hast du ihn gesehen? Ich war letztens hier, hab nach einem Ort zum abhängen gesucht. Da hab ich ihn gesehen. Hab dann erfahren, dass in den 50ern hier eine Farmerfamilie gelebt hat, bis das Haus durch ein Hochwasser unbewohnbar wurde. Ihr kleiner Sohn ist dabei ertrunken. Jetzt beeil dich, schrieb Miles. Ein weiteres Mal atmete Evan tief ein und aus und schaute sich dabei ein nochmal um. Er schüttelte mit dem Kopf und ging weiter. In Richtung des Berges, wo er hoffte das Dorf zu finden. Eine Mischung aus Freunde und Furcht tobte in ihm. Mittlerweile war er davon überzeugt, dass er eindeutige Geister filmen wird. Dass das gerade nur der Anfang gewesen ist.

Kapitel 2

Kapitel 2

Das vergessene Dorf
 

„Du behindertes Scheißding, kostest so ewig viel Geld und kannst gar nichts“, regte sich Evan schon seit einer Weile auf, da der Empfang seines Handys immer schlechter wurde. So konnte er sich nun nicht mehr auf die GPS Funktion verlassen. Der Wald wurde nun langsam immer dichter. Zwischen den Baumkronen drangen die letzten, immer schwächer werdenden Lichtstrahlen der Sonne, die langsam unterging. Durch die dichte Wolkendecke und dem Nebel war dies aber eher ein kaltes, dunkles Licht. Das Wetter, bei dem man Zuhause in einer Decke eingekuschelt auf dem Sofa verbringen möchte. Obwohl der Boden noch immer weich gewesen ist, so war er immerhin nicht mehr so sehr matschig und sumpfig wie noch am Fuße des Berges. Hinzu kam, dass überall Steine herumlagen. Mal kleinere, mal größere. In nicht allzu großer Entfernung konnte Evan eine Formation von zwei Felsen sehen, die aussahen, als würden sie einen Durchgang formen. Zwar gab es keinen Grund dafür, aber allein weil sie so aussahen, ging er hindurch. Er marschierte einfach weiter durch den Wald. Als die Sonne dann gänzlich am Horizont verschwand und mit ihr auch die letzten Lichtquellen, holte Evan eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche. Doch in dem schmalen Lichtpegel wirkte der Forst nur noch unheimlicher. Wenn man ihn gefragt hätte, so hätte Evan das Gefühl, welches er in dieser Gegen hatte, nicht beschreiben können. Es war eine Art Spannung, ein Druck der sich in der Atmosphäre breit machte. Am besten passte wohl die Beschreibung, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Mit jedem Schritt den er ging schien es ihn mehr auf den Magen zu schlagen. Zwar war es erträglich und ignorierbar, aber diese Empfindung ist nun sein Begleiter gewesen. Er war nun vollständig überzeugt, dass in diesem Dorf etwas sein wird. In Gedanken malte er sich schon aus, wie er den unwiderlegbaren Beweis für die Existenz von Geistern liefern würde. Wie ihn die skeptischsten Wissenschaftler erstaunt anschauen würden. Nein, er machte sich schon wieder zu große Hoffnung. Er erinnerte sich an eine Sache von vor eineinhalb Jahren. Seine Cousine hatte ihn kontaktiert, da sie bei sich Daheim Geister vermutete. Sie hatte immer größere Angst. Sie hörte oft Schritte über ihrem Zimmer, obwohl dort das Dach war. Und einmal sah sie das Gesicht einer jungen Frau vor dem Küchenfenster. Also statte Evan ihr einen Besuch ab, um der Sache auf den Grund zu gehen. Auch damals hoffte er schon einen Geist eindeutig auf einem Bild einzufangen. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass die Schritte auf dem Dach die Collegestudenten vom Haus nebenan waren. Denn wie es schien waren die beiden Gebäude einst einmal miteinander verbunden gewesen, sodass es noch im Nachbarhaus einen Weg aufs Dach gab. Auch die Frau vor dem Fenster war eine Freundin des Nachbarn. Evans Enttäuschung war damals groß, seine Cousine jedoch heilfroh. Zu seinem Bedauern blieb die Begegnung mit der alten Frau seine bisher einzige Begegnung mit einem Geist. Selbstverständlich glaubte ihm damals niemand die Geschichte. Der Nebel auf dem Bild war einfach für niemanden ein Indiz. Von dem Ärger, den er von seinen Eltern bekam, einmal abgesehen. Zu jener Zeit schwor er sich daraufhin erstrecht eines Tages den Beweis zu finden, dass man ihm Glauben schenken würde.

Evans Wanderung querfeldein zahlte sich irgendwann doch sogar aus, als er auf einer überwucherten Straße landete, die mitten durch den Wald führte. Da der Weg auch noch eine leichte Steigerung hatte, wusste er in welche Richtung er gehen musste. Der Asphalt war nur noch Bruchstückhaft vorhanden, der Rest abgebrochen und von Gestrüpp überwuchert. Aber es wo der Weg entlang ging, konnte man dennoch eindeutig erkennen. So lief er noch ein ganzes Stück, während er sich fragte, wieso man ein so dermaßen abgelegenes Dorf baute. Für ihn also kein Wunder, dass dieser Ort verlassen wurde. Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit kam er an einem Schild vorbei, an dem groß und deutlich in Rot Betreten verboten stand.

„Jetzt kehre ich erst recht nicht mehr um“, murmelte er leise für sich hin und ging weiter. Langsam konnte er dann zwischen den Bäumen auch bereits ein erstes Haus erkennen, welches alles andere als nach einem guten Zustand aussah. Mit einem leicht nervösen Gefühl bewegte er sich langsam darauf zu. Als er dann kurz davor stand, bemerkte er eine Präsenz hinter seinem Rücken. Reflexartig drehte er sich um. Wie er in dem Moment schon richtig geahnt hatte war es Miles. Dieser hatte sich mit seinem leicht rebellischen äußeren Auftreten gar nicht verändert, so empfand es Evan.

„Und ich dachte schon du kommst gar nicht mehr“, sagte Miles mit seinem standardmäßigen Ton, der immer etwas leicht Genervtes an sich hatte.

„Auch schön dich zu sehen. Es ist ja nicht so, als wäre dieses Kaff leicht ausgeschildert“, entgegnete Evan.

„Ja, wie auch immer, komm mit.“

„Was? Keine weitere Begrüßung? Wir haben uns doch schon ewig nicht mehr gesehen“, redete Evan leicht geknickt. Die Wiedervereinigung mit seinem besten Freund hatte er sich etwas emotionaler vorgestellt. Aber er wusste ja dennoch, dass Miles nicht der Typ für sowas war.

„Naja, egal. Wieso aber willst du dich hier mit mir treffen? Du wolltest doch nichts mehr mit der Geistersache zu tun haben“, lenkte Evan dann doch von Thema ab, obwohl er sich mit ihm nur zu gerne einmal ordentlich ausgesprochen hätte.

„Ich bin ja auch nicht unbedingt hier, weil es spukt. Sondern aus einem ganz anderen Grund. Und da ich dich eh mal wieder sehen wollte und du dich für sowas interessierst, hab ich dich eingeladen, okay?“, redete Miles, während er schon weiterging, direkt in das alte Haus.

„Und aus welchem Grund bist du hier?“, wollte Evan wissen.

„Das siehst du, wenn ich es gefunden habe“, antwortete Miles mit einem Seufzen. Evan betrat ebenfalls das Haus. Jedoch war es von innen so ramponiert, dass man nur in wenige Räume gehen konnte. Aber bevor er das tat, holte er wieder die Videokamera heraus und begann die Erkundung aufzuzeichnen.

„Wow, eine noch modernere Kamera hast du aber nicht gefunden, oder?“, scherzte Miles wie in alten Tagen.

„Ach halt doch deine Klappe.“ Überall im Haus lagen Gesteinsbrocken, heruntergestürzte Holzbalken und alte Möbel. Die Treppe in das nächste Stockwerk war komplett zerstört. Das beklemmende Gefühl ist hier noch deutlich stärker gewesen. Als ob etwas Unsichtbares anwesend war, das die Gesellschaft der Jungs nicht mochte. Der Geruch in den Räumen war dazu passend feucht und modrig. Der Putz bröckelte von den Wänden. Evan wusste nicht, was ihn mehr Sorgen bereiten sollte. Dass hier eventuell Geister waren, die seine Anwesenheit nicht mochten, oder dass das Haus aussah, als würde es jeden Moment einstürzen. Beim Durchwandern der Räume ertönte ein knackendes Geräusch, das beim Drauftreten auf die herunter gebröckelten Steine entstand. Zwei Räume weiter ertönte dann ein leises, abfälliges Kichern. Wie ferngesteuert ging mit schnelleren, aber doch leisen Schritten, Evan darauf zu. Der Weg führte ihn durch die einstige Küche, in der nur noch die leeren Hüllen der Regale standen. Ein Raum weiter war auch schon die Quelle des Lautes. Doch es war nur Miles, der sich über das alte Plumpsklo amüsiert hatte.

„Und was ist daran so lustig?“, wollte Evan wissen.

„Dass die Leute damals echt nichts besseres zum Scheißen hatten, als ein Loch in einem Brett.“ Evan drehte sich daraufhin nur um und ging weiter. Er ärgerte sich etwas über die Verschwendung von Videokassetten. Also beendete er die Aufnahme und packte die Kamera wieder in den Rucksack. Währenddessen lief Miles direkt an ihm vorbei und raus in den Flur.

„Hey, warte“, rief Evan ihm hinterher. Doch er blieb nicht stehen, weshalb er ihm folgte. Im Flur war er nicht mehr, also musste er schon draußen sein, weshalb Evan auch das Gebäude verließ. Im Freien konnte er Miles sehen, der bereits weiter in Richtung des Dorfes ging. Dabei hatte er schon überraschend viel Abstand. Und das, obwohl er nicht einmal eine Taschenlampe hatte. Mit schnellem Schritt versuchte Evan ihn zu folgen. Doch Miles schien schneller zu sein, da er einfach nicht aufholen konnte. Im Gegenteil, die Distanz zwischen den Beiden wurde immer größer.

„Hey, warte doch“, rief Evan irgendwann hinterher, aber er Miles hörte einfach nicht.

„Dieser elende Sturkopf“, nuschelte er anschließend leise. Doch ehe er sich versah, verschwand Miles auch schon aus dem Sichtfeld seiner Taschenlampe. Noch ein paar Hundert Meter sprintete er in die Richtung, doch Miles war mittlerweile schon verschwunden.

„Wenn das jetzt ein schlechter Scherz sein soll, dann kannst du dich drauf verlassen dass ich dir ordentlich in die Fresse schlag“, rief Evan gereizt. Da blieb er stehen und sah sich um. Denn er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich nun mittlerweile mitten im Dorf befand. Überall standen nun alte, verlassene Häuser. Ruinen einstiger Behausungen, die teilweise stark zerfallen waren. Das war nun also das vergessene Dorf Guilswell. Evan lief ein äußerst unangenehmer kalter Schauer über den Rücken. Aber diese Art, bei der sich sämtliche Härchen auf dem Arm aufstellten. Und noch merkwürdiger fand er das Verschwinden von Miles. Zwar hoffte er, dass er sich sicher irgendwo in einem der Häuser verstecken würde, aber egal wie frech Miles auch war, er hätte ihn nie an so einem Ort alleine irgendwo gelassen.

„Miles, wo bist du?“, rief Evan. Die in ihm langsam größer werdende Verzweiflung war nicht zu überhören.

Kapitel 3

Kapitel 3

Bei Körper und Seele
 

Miles war spurlos verschwunden. Bei genauerem Betrachten war das Dorf doch relativ überschaubar, weshalb Evan schnell die Straßen zwischen den teilweise verfallenen Häusern durchsucht hatte. Aber er hatte keinen Hinweis auf den Verbleib seines Freundes finden können. Es herrschte eine totenstille. Nur der Wind und ein leichtes Rauschen der Blätter waren zu hören. Doch diese leichte, ausblendbare Geräuschkulisse fühlte sich an wie ein schwacher Deckmantel einer bedrohlichen, unheimlichen Stille, die wie ein zu fest zugeschnürter Gürtel auf den Magen drückte. Doch war Evan alleine? Nein, war er nicht, davon war er überzeugt. An seinem Leib konnte er permanent das Gefühl spüren von jemand beobachtet zu werden. Die Anwesenheit einer Person war deutlich zu spüren. Doch es war keine wohlseiende Empfindung von Gesellschaft. Evan fühlte sich dennoch allein, isoliert und hatte deutlich den Eindruck einer Gefahr im Nacken. Das war ihm mittlerweile bewusst, dass die ruhelosen Seelen der ehemaligen Einwohner über sein Dasein nicht erfreut waren. Mit jedem Meter, den er voranschritt, wurden diese Gefühle intensiver. Er rechnete jeden Moment damit, dass ihn von hinten etwas anfassen würde.

Evan betrat eines der wenigen Häuser, die noch relativ intakt zu sein schienen. Die Eingangstür hing nur noch in Einzelteilen in den Angeln und stand dazu auch weit offen. Nach einem kurzen, kahlen Flur, fand er sich im Wohnzimmer wieder, welches überraschenderweise sogar noch voll mit Möbeln und Einrichtungsgegenständen war. In der Mitte stand ein alter Holztisch, auf den einige vergilbte Kaffeetassen standen. Drumherum befand sich ein Sofa aus altem, braunen Leder, das stark vermodert und ausgefranzt war, sowie dazugehörige Sessel. Von der Decke hingen lange, dichte Spinnenweben und vereinzelt Glühbirnen, die aber nicht mehr zu funktionieren schienen, genauso wie die braune Deckenverkleidung aus Holz, die schon teilweise abfiel. Eine beigefarbene Tapete hing nur als Fetzen an der Wand und enthüllte die graue Steinmauer darunter. Die Wand wurde dazu auch noch von ein paar vereinzelten Gemälden geziert, die aber schon zu alt waren, um wirklich ein Motiv zu erkennen. Eines davon schien vielleicht einmal das Bild eines Schiffes gewesen zu sein. Auf einer Seite des Raumes befand sich auch ein Kamin, auf dem zwei alte, mittlerweile verrostete Kerzenständer standen. Dazwischen lang ein kleiner, zerbrochener Bilderrahmen. Gegenüber, auf den Tisch gerichtet, stand ein kleines, halb zerfallenes Regal, auf das ein kleiner Röhrenfernseher stand. Zumindest war das mal ein Fernseher, jetzt war davon nur noch das Holzgehäuse übrig, in dem ein paar einzelne elektrische Teile lose lagen. Zerbrochene Holzbretter auf der anderen Seite der einstigen Wohnstube zeugten davon, dass das wohlmöglich ein größerer Schrank gewesen ist. Hinter dem Tisch mit dem Sofa, also gegenüber dem Eingang, befand sich ein weiterer Flur. Wegen der drückenden Dunkelheit war nicht zu erkennen, wo dieser hinführte. Als Evan noch einmal seine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen lies, ging er darauf zu. Die hölzernen Bodendielen knarzten laut beim Darüberlaufen. Diese Geräusche, die durch die Stille hallten, fühlten sich wie Bombenexplosionen an. Bei jedem Schritt hoffte er, dass das nicht auf ihn aufmerksam machen würde. Und dann ertönte ein lauter Knall. Evan erschrak und zuckte dabei so zusammen, dass er seine Taschenlampe fallen ließ. Der Schock hatte seinen Puls schlagartig ansteigen lassen, sodass er bei jedem Herzschlag einen drückenden Schmerz im Hals spürte. Einige Momente blieb er kurz stehen und atmete tief durch, ehe er mit zittrigen Händen nach seiner Taschenlampe griff. Diese Bewegung fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an. Zentimeter für Zentimeter näherten sich seine Finger der Lichtquelle. Fast hatte er sie erreicht, bis er plötzlich einen starken Druck an seinem Handgelenk spürte und seinen Arm Richtung des Bodens zerrte. Er wehrte sich mit aller Kraft dagegen, aber die fast durchsichtige Hand, die er in der Dunkelheit schwach erkennen konnte, war sehr stark. Mit aller Kraft stemmte er seine Beine dagegen und zerrte nun auch mit seiner anderen Hand entgegen. Aber dann ließ die Geisterhand so schnell los, wie sie gekommen war, wodurch die Gegenkraft verschwand und Evan nach hinten umfiel. Einen kurzen Augenblick versuchte er sich zu sammeln, ehe er blitzschnell diesmal erfolgreich nach seiner Taschenlampe griff und er auf allen Vieren rückwärts sich in eine Ecke verkroch. Zugegeben, er hatte mit etwas derartigem gerechnet. Doch es nun tatsächlich zu erleben, löste den Schock seines Lebens aus. Nun saß er hier und wusste nicht weiter. Seine Knie waren noch viel zu schwach und sein ganzer Körper zitterte zu sehr, um weiter zu gehen. Vorsichtig blickte er sich mehrere Male in dem Raum um. Erst jetzt erkannte er, dass von dort wo der Knall herkam, ein altes Klavier stand, dessen Abdeckung für die Tasten zugefallen ist. Er atmete mehrmals tief ein und aus. So verbrachte er noch einige Minuten, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. So war er sich nun auch etwas sicherer, dass er nun weitergehen konnte. Beim Aufstehen drehte sich kurz alles und er merkte, wie ihm durch das heftige Erschrecken schwindlig wurde. Aber das konnte er jetzt vernachlässigen. Mit noch langsameren Schritten als zuvor wollte er wieder auf den Flur zugehen, doch dann erkannte er eine Tür neben dem Klavier. Diese schien einst weiß lackiert gewesen zu sein, jedoch war die Farbe teilweise abgeblättert und von Dreck und Spinnenweben überzogen.

Evan betätigte den rostigen Türknopf. Jedoch war dieser verschlossen. Zumindest öffnete sich die Türe nicht. Eigentlich war er darüber sogar etwas froh. Denn er konnte ja nicht wissen, was sich dahinter befand. Und nach dem Erlebnis von eben war er sich nicht einmal sicher, ob er das wissen wollte. Also ging er zu dem Flur, zu dem er schon zuvor wollte. Ein mittellanger Gang, mit einem zerfallenen Regal auf der rechten Seite. Ihn packte doch die Neugierde und er öffnete eine der Schubladen. Darin befand sich nur Staub. Also öffnete er die zweite der drei Schubfächer. Dort entdeckte er einen alten Zettel, der schon fast vollständig ausgeblichen war. Nur schwach konnte er die Schrift erkennen. Einer der Sätze schien zu sagen: bis zu der Nacht, liegen die Erinnerungen im Garten begraben. Er hatte zwar überhaupt keine Ahnung, was dies bedeuten sollte, aber er legte den Zettel zurück und ging weiter. Die linke Wand wurde immer niedriger. Es war die Treppe in das nächste Stockwerk. Am Fuße der Treppe lag ein Durchgang in einen anderen Raum, während am Ende des Ganges eine weitere Eingangstür war, die man allerdings mit Brettern vernagelt hatte. Also ging Evan durch den Durchgang und fand sich in der Küche wieder. Diese war zwar noch voll eingerichtet, aber am Design der Möbel zu urteilen wurde diese seit den 50ern nicht mehr berührt. Vermoderte Regale Ständen an den Wänden, die allerdings nicht mehr zu gebrauchen waren, ein Gasherd, der aber schon stark verrostet war. Genauso verrostet wie der Kühlschrank, der offen stand. In diesem lagen sogar noch Verpackungen alter Lebensmittel. Aber wegen des Alters konnte man nicht einmal mehr erkennen, was das für Produkte waren. Neben dem Herd war auch noch ein Spülbecken, in dem die Überreste alter Töpfe lagen. Scheinbar warteten diese schon seit über 60 Jahren darauf geputzt zu werden. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, mit mehreren Holzstühlen drumherum. Einfach ohne groß darüber nachzudenken holte Evan das alte Aufnahmegerät aus seinem Rucksack heraus, das er zuletzt in dem Haus der alten Frau vor fünf Jahren benutzt hatte. Er wusste ja, dass hier ein Geist war. Mindestens einer. Vielleicht würde der ja mit ihm sprechen. Das neue Band hatte er schon Zuhause eingelegt. Jetzt drückte er nur noch auf Aufnahme.

„Bist du hier?“, fragte Evan direkt ins das Gerät und hielt es danach in den Raum.

„Wie ist dein Name?“

„Wie bist du gestorben?“, fragte er mit jeweils immer einem Moment Pause dazwischen, um den Geist eventuell Zeit für eine Antwort zu lassen.

„Wieso willst du mich nicht hier haben?“, fragte er, während er sich umdrehte. Und in dem Moment sah er im Flur eine Person an dem Durchgang vorbeigehen. Evan stoppte die Aufnahme und folgte der Gestalt. Doch draußen im Flur angekommen war diese schon verschwunden. Vielleicht war der Geist ja die Treppen nach oben gegangen. Obwohl Evan einen Moment darüber nachdachte dort hinaufzugehen, entschied er sich dann doch dagegen. Durch das Mondlicht, das durch die Fenster schien, gab es im unteren Stockwerk zumindest eine ganz schwache Lichtquelle. Aber von oben war nichts als gähnende Schwärze zu erkennen. Er war sich sowieso sicher, dass Miles nicht hier war. Mit diesen Böden wäre er von oben zu hören gewesen. Also entschied sich Evan das Haus zu verlassen.

Das bedrohliche Gefühl in seinem Nacken war stärker als je zuvor. Nun wusste er ja, dass hier etwas gewesen ist. Aber er schaffte es ohne einen weiteren Zwischenfall nach draußen. Vielleicht wollte das der Geist ja auch einfach nur.

Wieder im freien lehnte sich Evan gegen die Außenmauer des Hauses und spulte die Kassette zurück, um anschließend die Aufnahme wiederzugeben.

„Bist du hier?“, hörte er seine Stimme. Eigentlich hasste er es seine eigene Stimme in Aufnahmen zu hören, da er sie als einfach grässlich empfand. Doch auf seine Frage erhielt er keine Antwort.

„Wie ist dein Name?“, und auch da wieder keine Antwort.

„Wie bist du gestorben?“, auch da keine Reaktion.

„Wieso willst du mich nicht hier haben?“

„Wir sind nicht tot“, war dann plötzlich doch eine leiste, fast schon flüsternde Stimme eines Mannes zu hören.

„Die Nacht des Vergessens darf nicht passieren“, fuhr die Stimme fort, ehe sie wieder verstummte. Fassungslos starrte Evan auf das Aufnahmegerät. Er wusste nicht, was diese Worte bedeuteten. Doch er hatte nun unwiderlegbar die Stimme eines Geistes aufgenommen. Allerdings wusste er nicht, ob er sich freuen oder Angst haben sollte.

Noch immer auf das Gerät starrend bemerkte er nicht die Gestalt, die nun vor ihm stand. Diesmal erschrak er aber auch nicht, schaute allerdings dennoch nur vorsichtig hin. Erleichterung, aber auch Verwunderung machte sich in ihm breit. Er erkannte die Gestalt sofort. Ein Junge, der Evan etwa bis zum Kinn ging, mit etwas längeren, hellblonden Haaren, die er unter der Kapuze seiner hellblauen Kapuzenjacke versteckte. Es war Kenta, der kleine Bruder von Miles Freundin. Dieser war nun die letzte Person, mit der er gerechnet hätte.

„Kenta? Was machst du denn hier?“, fragte er verwundert.

Kapitel 4

Kapitel 4

Es ist, was es ist
 

„Kenta? Was machst du denn hier?“, fragte Evan verwundert.

„Meine Schwester und ich sind hier um nach Miles zu suchen“, antwortete Kenta, der kleine Bruder von Miles Freundin.

„Und wo ist deine Schwester jetzt?“, wollte Evan wissen. Kenta zeigte auf ein großes Haus auf einem Hügel, das allerdings in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen war, aber dennoch über das Dorf thronte, als hätte es jemanden gehört, der viel in Guilswell zu sagen hatte.

„Wir haben Miles bis nach dort oben verfolgt. Dann kam aber ein Mann, zumindest glaube ich dass es ein Mann war. Er war hinter uns her. Ich bin weggerannt und dann konnte ich sie nicht mehr finden. Ich hab mich einfach nicht ins Haus hineingetraut“, erzählte der Junge.

„Nagut, dann gehen wir jetzt mal dorthin und suchen vor allem erst einmal deine Schwester. Vielleicht finden wir so auch Miles.“

„Warte, wieso bist du eigentlich hier?“

„Miles wollte sich mit mir hier treffen. Er meinte, dass er wegen irgendwas hier wäre. Frag aber nicht was, das hat er mir selber auch nicht gesagt“, sagte Evan und machte anschließend eine Geste, dass Kenta folgen sollte. Eigentlich hatte Evan ein gutes Verhältnis zu Kenta. Damals sollte seine Schwester Chiko oft auf ihn aufpassen. Doch stattdessen hatte sie sich mit Miles getroffen. So durfte Evan oft den Babysitter spielen und so freundeten sich die beiden irgendwann an. Auch wenn er es unsinnig fand, wieso ein damals 13-jähriger Junge überhaupt noch einen Babysitter gebraucht hätte. Aber vielleicht lag das auch eher daran, weil Kenta zwar auf den ersten Blick wie ein lieber, höfflicher Junge wirkte, in Wahrheit aber sogar ziemlich frech war. Aber Evan konnte dennoch gut mit ihm umgehen. Was vermutlich den Grund hatte, dass beide allgemein keine große Auswahl an Freunden hatten.

Überwucherte Steinstufen führten den Hügel hinauf zum Herrenhaus. Das verwilderte Gestrüpp am Hang war nur noch ein Überbleibsel dessen, was früher wohl man eine wunderschön angelegte Gartenanlage war. Evan malte sich in Gedanken aus, wie dort wohl einst Rosenbüsche, Obstbäume oder gepflegte Beete waren. Doch jetzt war schon allein das Groß so hoch, dass wohl niemand freiwillig dort hineingehen würde. Bald waren sie oben angekommen und fanden sich in einem kleinen Vorhof wieder, der direkt an das große Haus anschloss. Erst jetzt war zu erkennen, dass das Gebäude mit weißen Holzbrettern verkleidet war. Diese wurden allerdings teilweise von Ranken überwuchert. Die Eingangstür stand offen und es brannte sogar ein schwaches Licht darin. Scheinbar funktionierte der Strom in dieser Behausung sogar noch. Evan konnte es sich nur so erklären, dass Guilswell wohl noch mit der allgemeinen Stromversorgung der Stadt verbunden sei. Er schaute sich noch einmal um und bemerkte, dass sich die dichte Wolkendecke langsam löste, sodass der Mond immer mehr durchdringen konnte. Gerade als er weitergehen wollte, packte Kenta ihn am Ärmel.

„Du, sag mal. Sind das wirklich Geister hier?“, wollte der Junge verängstigt wissen.

„Ich wünschte ich könnte dir eine Antwort geben, die dich beruhigt. Aber anlügen tu ich dich nicht. Ja, es sind Geister. Und ich hab auch Angst. Trotzdem müssen wir weiter. Je eher wir die beiden gefunden haben, desto schneller können wir von hier verschwinden“, beantwortete Evan, woraufhin Kenta los ließ. Beide betraten anschließend das Haus. Sie fanden sich in einem kleinen Eingangsbereich wieder, in dem nur ein Kleiderständer stand. Dieser sah allerdings so aus, als würde er zu Staub zerfallen, wenn man versuchte ein Kleidungsstück dran zu hängen. Der kleine Raum endete in einem Flur. Vom Design sah es dem Haus von vorhin identisch. Eine Ähnliche beige Tapete, die hier allerdings besser erhalten war. Auch der Fußboden hatte die gleichen Holzdielen.

Kenta und Evan betraten den Flur. Gleich links befand sich eine Tür, die jedoch mit Brettern zugenagelt war. Also folgten sie den Gang weiter.

„Was…ist das etwa…?“, rief Kenta, der plötzlich stehen blieb.

„Was ist los?“, fragte Evan. Als Antwort zeigte Kenta allerdings nur auf den Boden. Dort war eine Blutspur zu erkennen, die weiter den Weg entlang führte. Kurz darauf war dann auch ein lautes Klopfen und Hämmern zu hören. Die Laute schienen nicht einmal von weit weg zu kommen. Nur wenige Meter weiter führte links vom Flur ein weiterer, kleiner Gang weg, der eine kurze Treppe hochging. Scheinbar kam der Lärm von da. Die Stufen endeten an einer Tür. Jetzt war es deutlich, dass jemand auf der anderen Seite dagegen hämmerte. Doch Evan zögerte sie zu öffnen. Welche Garantie hatte er, dass ihn kein Geist in eine Falle locken wollte.

„Worauf wartest du?“, fragte Kenta. Daraufhin seufzte Evan nur und öffnete vorsichtig die Tür. Kaum hatte er sie einen Spalt geöffnet, wurde sie von etwas aufgerissen. Doch bevor er eine Reaktion zeigen konnte, stürmte schon ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, schwarzen Jeans und einer Lederjacke heraus, Chiko, Kentas Schwester und Miles Freundin.

„Wo warst du, du warst plötzlich weg“, sagte sie, während sie ihren kleinen Bruder in die Arme schloss. Der verweigerte die Umarmung allerdings und schaute zu Evan. Erst jetzt drehte sich Chiko um und bemerkte ihn.

„Was zum Teufel machst du denn hier?“, fragte sie fast schon zickig.

„Genauso wie ihr bin ich wegen Miles hier. Sag mal, was hast du da drin gemacht?“

„Ich hab jemanden gesehen. Hab zwar nicht genau erkannt wer das war, aber ich bin natürlich davon ausgegangen dass es Miles war. Ich bin der Person aber hier in diesen Vorratsraum oder was das ist rein gefolgt, allerdings ist hier niemand drin gewesen. Dann ging auch noch die Tür zu und ich hab sie nicht mehr aufbekommen“, klärte sie auf. Danach ging sie die Treppe hinunter.

„Oh mein Gott, Miles muss diesen Weg weiter gegangen sein, weil er definitiv hier ins Haus ist. Das Blut, was wenn das von ihm ist? Evan, wir müssen ihn schnell finden“, sagte Chiko schon fast hysterisch. Evan folgte daraufhin auch den Stufen hinunter und sah sich das Blut, welches eine Spur den Gang entlang bildete, noch einmal an.

„Nein, das ist nicht seins. Schau mal genau hin, das ist schon fest eingetrocknet. Das bedeutet es ist schon älter. Aber wenn er wirklich in dieses Haus gegangen ist, muss er diesen Weg entlang sein“, klärte er auf. Ihm war schon immer klar, dass Chiko nicht gerade das intelligenteste Mädchen war, das er kannte. Auch allgemein konnte er sie nicht besonders gut leiden. Sie hatte schon immer diese leicht überhebliche Art.

Sie folgten nun den Flur tiefer ins Haus. Irgendwann kamen sie in einem kleinen Bereich an, der genauso aussah wie der Eingangsraum. Mit Ausnahme dass statt des Kleiderständers ein Regal mit einem Telefon stand. Dazu war in jeder Wand eine Tür. Doch die Blutspur führte weiter geradeaus, weshalb sie auch diesen Weg gingen. Ein weiterer Gang, der allerdings weiter hinten versperrt war, da dort anscheinend die Decke eingestürzt ist. Aber die Spur führte durch eine Tür rechts davor. Als sie sich diese näherten, ging sie von alleine auf.

„Nein, vergiss es. Ich geh nicht weiter“, weigerte sich Chiko und blieb stehen. Auch wenn Evan sie verstehen konnte und selbst auch kein gutes Gefühl hatte, ging er trotzdem weiter, ohne ihre Ablehnung zu beachten.

Vorsichtig schaute er durch die Tür. Es war ein kleiner Raum, in dem sich lediglich eine Toilette befand. Allerdings war das einstige weiße Porzellan überhäuft von Blutspritzern. Er verließ den kleinen Raum mit dem Abort.

„Hier ist nichts“, sagte er dabei.

„Und jetzt?“, fragte Chiko.

„Dann ist er halt eben durch eine der anderen Türen gegangen“, warf Evan genervt zurück. Ihm ging schon lange ihre Art auf die Nerven scheinbar nicht selbständig denken zu können. Zumindest empfand er das so.

Zurück in dem Ort, wo das Telefon stand, versuchten sie die anderen beiden Türen. Die Linke war verschlossen, weshalb es ihnen nur die Rechte blieb. Diese führte zu einer Treppe, die in das obere Stockwerk führte.

„Wartet ihr beiden hier. Gerade stabil sieht das Ding hier nicht aus“, sagte Evan, während er nach oben ging. Das obere Geschoss schien allerdings nicht mehr einem so guten Zustand zu sein. Die Wände waren teilweise stark durchbrochen und die Möbel lagen in Einzelteilen da, als wenn ein Tornado gewütet hatte. Evan schaute sich um, konnte allerdings nicht wirklich sagen, was nun Gang oder Zimmer war. Er nutzte nun die Gelegenheit und holte aus seinem Rucksack wieder die Kamera heraus, um damit weiter aufzunehmen. Es fühlte sich hier wie ein surrealer Ort an. Als hätte man ein altes Haus genommen und es in einen Mixer gesteckt. Auch dadurch, dass viele der Wände zerstört waren, hatte er ein ungutes Gefühl, dass hier nicht jeden Moment alles einstürzen könnte. Aber er ging dennoch weiter, begleitet von dem schon bekannten Knarzen der Bodendielen. Irgendwann kam er in den Überresten eines Raumes an. Mitten in dem Bereich stand ein Bett, auf das ein Regal gefallen war. In der etwa zehn Meter entfernten Wand klaffte wieder ein riesen Loch, allerdings stand ein anderen Regal davor, als hätte man es damit verdecken wollen. Der Durchbruch war allerdings dennoch größer. Und genau dahinter erkannte Evan etwas. Er hielt mit der Kamera direkt drauf. Ein kleines Mädchen stand da, leicht transparent und blau schimmernd. Sie stand einfach nur da und beobachtete ihn. Als er dann einen Schritt weiter auf sie zu machen wollte, verschwand sie und der Schrank fiel um. Ein lauter Knall durchdrang die staubige Luft, wie ein Donner eine warme Sommernacht. Miles schien allerdings nicht hier zu sein, weshalb Evan wieder zurückgehen wollte. Zu spät. Auf ihn kam schon ein Mann zu, genauso durchsichtig und blau schimmernd wie das Mädchen. Mit einem starren, aber gequälten Gesichtsausdruck kam er mit ausgetreckten Armen und Händen direkt auf Evan zu. Kurz packte ihn die Panik, ehe er begann los zu rennen, durch das Loch, hinter dem das Kind stand. Dort fand er sich wieder in einem Gang wieder. Der Fußboden hinter ihm knarzte weiter. Der Geist verfolgte ihn weiter. Also blieb ihn nichts anderes übrig, als zu rennen. Doch da geschah es und der Boden brach untern seinen Füßen ein. Ein lautes Krachen ertönte und er fiel. Ein drückender Schmerz durchzog jede einzelne Faser seines Körpers, als er im Raum darunter auf den Boden stürzte. Am liebsten wollte er liegen bleiben, zumindest bis die Schmerzen vorüber waren. Doch langsam und steif richtete er sich dennoch auf. Kleine Gesteinsbrocken fielen noch von der Durchbruchsstelle herab. Die Taschenlampe hielt er noch fest in der Hand. Allerdings die Videokamera lag auf den Boden. Als er sie aufheben wollte, bemerkte er einen großen Riss im Gehäuse. Dazu war auch noch ein Klappern im inneren zu hören. Er drückte ein paar Knöpfe, aber scheinbar hatte sie den Sturz nicht überlebt. Er hatte zumindest die Hoffnung, dass sie alles bis zum Schluss aufgenommen hatte, während er sie wieder wegpackte.

Nun schaute er sich um. Scheinbar befand er sich nun in einem Arbeitszimmer. Einige alte Bücherregale standen dort und unter den Fenstern war ein Schreibtisch. Die Tapete unterschied sich vom Rest des Hauses. Diese hier war dunkler, eine Art Weinrot mit schwarzen Karomustern. Fast schon irgendwie gemütlich, wenn man auf alte Einrichtungen stand.

Unter dem Schreibtisch war eine große Blutlache. Auf dem Möbelstück selber war auch nicht gerade wenig Blut. Die zerstreuten Blätter, der noch offene Füller und ein Zettel, auf dem ein Text stand, deuteten fast schon an, als ob hier jemand etwas schreiben wollte, aber dabei überraschend angegriffen wurde. Evan versuchte den Text zu lesen, auch wenn dies etwas schwer war. Nicht weil das Papier vergilbt war, sondern weil es in einer alten Schrift geschrieben wurde.

Sehr geehrter Mr. Folks,

das Ritual der Erinnerungen hätte heute um Mitternacht durchgeführt werden sollen. Ich muss Sie ja nicht extra daran erinnern, was passiert, wenn dies nicht geschieht. Unser ganzer Glaube basiert darauf, die Nacht des Vergessens zu verhindern. Mir sind schon am gestrigen Tage Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Mrs. Wilson und ihr Sohn nirgends zu finden seien. Und tatsächlich sind sie nicht wie vereinbart aufgetaucht. Der Sohn, Chad Wilson, hätte vor zwei Stunden geopfert werden sollen. Jetzt frage ich Sie, wie Ihnen als die Person, die für die Aufsicht unseres Dorfes zuständig ist, es passieren kann, dass die beiden abhauen. Ich mache Sie dafür verantwortlich, wenn…

Und da hörte der Brief auf, als ob der Verfasser unterbrochen wurde. Aber dieser Name, Chad Wilson. Evan war sich sicher den schon einmal gehört zu haben.

Ein Klopfen an der gegenüber liegenden Tür riss Evan aus den Gedanken. Dieser Ort setzte ihn allmählich immer mehr zu, wenn er sich schon vor so etwas banalen erschrecken ließ.

„Evan, bist du da drin?“, hörte er Chikos Stimme auf der anderen Seite.

„Ja.“

„Okay, geht es dir gut?“

„Geht schon, morgen werde ich von dem Sturz aber richtige Schmerzen haben.“

„Hör mal, ich hab keine Ahnung wie ich diese Tür auf bekomme. Du bist in diesem Raum neben dem Eingang, der zugenagelt ist.“ Diese Tatsache schloss einfach gemütlich durch die Tür zu spazieren schon einmal aus. Er schaute sich um. Der Raum war zu hoch, als dass er irgendwo durch das Loch in der Decke wieder durchgekommen wäre. Da fiel ihm das Fenster auf.

„Ich hab eine Idee. Wir treffen uns vor dem Haus“, sagte er. Und schon nahm er den Stuhl vor dem Schreibtisch und warf ihn mit voller Kraft durch das Fenster, welches daraufhin zerbrach. So konnte er auf den Schreibtisch klettern und das Haus verlassen.

Kapitel 5

Kapitel 5

Kein Entkommen
 

„Ich glaube ich weiß nun, was Miles hier vor hat“, verkündete er Chiko und Kenta, die er vor dem großen Haus angetroffen hatte.

„Ja? Was denn?“, wollte Chiko wissen.

„Ist etwas schwer zu erklären, aber auch nicht weiter wichtig. Viel wichtiger ist, dass ihr beiden von hier verschwindet. Ich finde ihn schon und bringe ihn Nachhause“, sagte Evan.

„Vergiss es“, stellte sich Chiko stur.

„Du weißt verdammt nochmal, was hier los ist. Und denke zumindest einmal an deinen Bruder. Er hat eine scheiß Angst. Ich frag mich sowieso, wieso du ihn mit hierher gebracht hast. Deshalb lasse ich es nicht zu, dass ihr beide noch länger hier seid.“

„Nagut, zugegeben hab ich auch die Schnauze voll von diesem Ort.“

So machten sie sich auf den Weg. Evan wollte sie zumindest so lange begleiten, bis sie sicher aus Guilswell heraus waren. Aber er folgte ihnen erst einmal. Denn scheinbar sind sie einen anderen Weg gegangen, da sie um das Herrenhaus herumgingen. Dort führte ein etwas steiler Hang hinunter. Unten angekommen, kam wie nicht anders zu erwarten war, Wald. Immerhin führte da ein kleiner Pfad hindurch.

„Nachdem Miles damals die Schule gewechselt hat, ist bei euch ja der Kontakt abgebrochen oder?“, begann Chiko während des Marsches zu reden.

„Ja, wir haben uns noch zwei oder dreimal getroffen, aber dann hat sich keiner mehr gemeldet. Und je länger kein Kontakt mehr da war, umso weniger hab ich mich getraut mich bei ihm zu melden. Das hatte mich sehr schwer getroffen. Wir waren seit unserer Kindheit so eng befreundet und dann bricht der Kontakt so leicht ab. Das konnte ich irgendwie nie verstehen“, erzählte Evan.

„Mit mir hat er vor ein paar Tagen Schluss gemacht. Ich wollte ihn heute dann zur Rede stellen, da er nicht einmal gesagt hat wieso. Er war nicht Zuhause, hab aber auf seinem PC gesehen, dass er sich mit diesem Dorf hier befasst hatte. Bin dann einfach davon ausgegangen, dass er hier ist.“

„Und wieso hast du Kenta mitgebracht?“

„Wieso wohl? Weil meine Eltern ausgegangen sind und sie mich umgebracht hätten, wenn sie gemerkt hätten, dass ich ihn alleine gelassen hätte. Aber würdest du mir nun verraten, was Miles nun hier eigentlich vor hat?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Hab eigentlich nur eine Theorie, aber wenn diese nicht stimmt, dann ist es Unsinn dich damit verrückt zu machen. Er soll es dir doch dann selber erzählen.“

„Ich vertraue dir, dass du ihn findest“, sagte Chiko, bevor das Gespräch hinterher verstummte. Eine gefühlte Ewigkeit wanderten sie weiter, bis Evan bemerkte, dass die Geräusche der Schritte der anderen ebenfalls verschwanden. Er blieb stehen und blickte um sich. Er wusste nicht wie das passieren konnte, aber er war auf einmal alleine.

„Chiko? Kenta? Wo seid ihr?“, rief er laut in den finsteren Wald hinein. Doch es kam keine Antwort, egal wie oft er rief. Dabei schloss er eigentlich sogar aus, dass er sich unbemerkt verlaufen hatte, da er sich noch auf dem Wanderpfad befand. Also folgte er diesen weiter. Der Wald schien zu Enden und er rief noch ein weiteres Mal nach ihnen. Allerdings bemerkte er dabei erst zu später, dass er einen weiteren Abhang hinunterstürzte. Mit dem Bauch voraus kam er dann unten auf. Jetzt war es sogar noch Schmerzhafter als im Haus zuvor, da er auf harten und teilweise scharfkantigen Steinen fiel. Er rappelte sich auf und bemerkte, dass er nun einige Schrammen davontrug, wovon manche sogar bluteten. Er fand sich in einer Landschaft wieder, die an eine Schlucht erinnerte. Zwischen den Beiden Abhängen, direkt über den Boden des Abgrundes schien der Mond hell zwischen einigen kleineren Wolken. Es hing noch immer ein leichter Nebel in der Luft. Evan wollte weitergehen, doch sein Knie tat ihm höllisch weh, weshalb er nicht mehr als ein Humpeln zusammenbrachte. Wieder fühlte er sich beobachtet, als ob die Geister aller Einwohner Guilswells oben an den Abhängen standen und jeden seiner Schritte genauestens beäugten.

Er schleppte sich mehrere hundert Meter durch die Schlucht, bis sie irgendwann endete. Dort fand er ein altes Haus vor, dessen Grundstück an eine Farm erinnerte. So stieg er auf dessen leicht angehobene Veranda, deren Bretter sich bei seinem Gewicht leicht durchbogen. Beinahe befürchtete er wieder durchzubrechen. Da er sowieso keine Bewohner erwartete, betrat er einfach das Haus. Das Innere war dabei allerdings nur sehr spärlich eingerichtet. Direkt hinter der Tür stand ein runder Tisch, mit drei Stühlen darum. Daneben befand sich ein Raum, mit einer sehr rustikalen Küche, die eigentlich nur aus ein paar Regalen, einer Feuerstelle und einem Waschbecken bestand. Gegenüber stand auch schon ein Bett. Über dem Tisch beim Eingang hin ein großes Kreuz. In der Luft hing ein feuchter Geruch von Schimmel. Kein Wunder, da das ganze Haus nur aus Holz bestand. Hier hab es nichts weiter, also verließ er das Haus wieder. Neben der Hütte war eine Überdachung, das wohl eine Garage andeutete. Darin stand auch ein verrostetes, ausgeschlachtetes Auto. Gerade als Evan weitergehen wollte, sah er im Augenwinkel, dass etwas hinter der Garage stand. Doch als er hinblickte, war es schon verschwunden. Sonst befand sich nur noch eine Scheune auf dem Grundstück, die allerdings wahrscheinlich schon einstürzen würde, wenn man sie zu intensiv anstarrte. Er ging an dieser vorbei und kam kurze Zeit später wieder auf einen Feldweg, der durch kleinere Bäume und Büsche führte. Er versuchte es zunächst zu überhören, aber das ging nicht. Seine Schritte machten ein knackendes Geräusch auf dem steinigen Weg. Doch wenige Meter hinter sich hörte er genau das gleiche. Vielleicht war es ja aber doch Chiko oder Kenta. Dennoch traute er sich nicht sich umzudrehen. Auch wenn er noch ein ganzes Stück weiterging, tat er es letztendlich doch. Falls einer der beiden gewesen wäre, hätte er nicht vor ihnen davon laufen wollen. So wendete er seinen Blickwinkel nach hinten, doch dort war nichts.

„Ich kann nicht mehr“, seufzte er leise vor sich hin. Ja, er war langsam am Ende seiner Kräfte angelangt. Sowohl der körperlichen, als auch der psychischen. Immer mehr dachte er darüber nach aufzugeben und einfach zu gehen. Aber das konnte er weder gegenüber Miles, noch Kenta verantworten. Auch Chiko wollte er nicht hier irgendwo alleine lassen.

Er blieb noch einen Moment stehen. Langsam ließ auch der Schmerz in seinem Knie nach. Wieder bemerkte er eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Sofort richtete er seine Blicke dorthin. So erkannte er, dass eine Gestalt sich direkt auf ihn zubewegte. Eine weißblaue Erscheinung, die Finger wie Klauen ausgestreckt und einem grimmigen Gesicht, mit leeren toten Augen. Dieser Geist schwebte direkt durch die Bäume und Büsche hindurch, direkt auf Evan zu. Der machte sich auf, um so schnell er konnte den Pfad weiter zu rennen. Obwohl er schon völlig außer Atem war, trieb ihn wohl nur noch pures Adrenalin an. Seine Füße schmerzten zwar höllisch und jeder noch so kleine Stein tat mehr und mehr weh, aber von dem Geist wollte er sich nicht erwischen lassen. Aber er spürte den Griff an seiner Schulter. Wie ihn die zornige Seele des verstorbenen Mannes festhielt. Dies reichte aus, um Evan genug zu verlangsamen, dass ihn der Geist richtig packen konnte. Dieser hielt ihn mit einer überraschend starken Kraft fast, obwohl Evan sich mit aller Gewalt loszureißen versuchte. Aber er schaffte es nicht. Sein Gesicht war jetzt wenige Zentimeter von dem des Geistes entfernt. Sein Atem stockte, als würde sich etwas Schweres auf seiner Brust befinden. Mit einem letzten, verzweifelten Ruck gelang es ihm sich dann doch zu befreien. Ohne zu zögern rannte er. Er rannte so schnell, dass ihm noch immer der Atem weg blieb. Seine Sicht wurde immer dunkler und verschwommener. Ihm war klar, dass wenn er so weitermachen würde, dass er das Bewusstsein verlor. Doch er musste das Risiko eingehen. Er rannte immer weiter, bis seine Beine komplett versagten und er stolperte. Das war es jetzt, so seine Überzeugung. Sein Blick wanderte nach oben.

„Wie kann das sein?“, fragte er murmelnd. Zwar fehlte von dem Geist jede Spur. Allerdings befand sich wieder mitten in Guilswell, genau dort wo er vorher die Spur von Miles verloren hatte. Da wurde es ihm klar. Die Geister würden ihn nicht gehen lassen.

Kapitel 6

Kapitel 6

Das eigene Leid
 

Eine lange Zeit lag Evan einfach nur auf dem Boden und starrte in den Nachthimmel. Die Wolken hatten sich schon fast komplett verzogen. Dennoch waren die Sterne nicht zu erkennen. Allgemein lag eine Art schleierhafter Nebel in der Luft, durch den das Mondlicht unheimlich und bedrohlich aussah. Es war dieser Moment, als ihm klar wurde, dass er das Dorf vielleicht nie wieder verlassen würde. Allerdings musste das auch bedeuten, dass Kenta und Chiko ebenfalls wieder hier waren. Dieser Gedanke ließ ihn hochschnellen. Immerhin die beiden musste er finden, wenn er schon keine Ahnung hatte, wie sie entkommen konnten. Er richtete sich auf und klopfte ein wenig den Dreck von seinen Klamotten. Erst jetzt bemerkte er, dass jemand neben ihn saß und ihn beobachtet hatte.

„Miles? Verdammt nochmal, wo bist du gewesen?“, fragte Evan überrascht. Das Gesicht seines Freundes zu sehen löste in ihn ein so erleichterndes Gefühl aus, dass er hätte heulen können.

„Ich war…irgendwo“, antwortete Miles, als wäre nichts gewesen.

„Jetzt reicht es. Chiko und Kenta sind auch hier. Wir alle suchen dich schon seit Ewigkeiten. Sind dafür durch die Hölle gegangen. Falls du es nämlich wissen willst, hier spukt es wirklich. Und die Geister sind alles andere als begeistert, dass wir hier sind. Oh, ach ja, bevor ich es vergesse. Sie werden uns auch nicht gehen lassen. Ich hab in dem großen Haus dort oben einen Brief gefunden. In diesem wird ein gewisser Chad Wilson erwähnt. Ich bin nicht gleich draufgekommen, aber dann ist es mir wieder eingefallen, mein werter Freund Miles Wilson. Der Junge aus dem Brief ist dein Vater, hab ich nicht Recht?“, brach es aus Evan heraus. Ihm war klar, dass Miles mehr wusste, als er zugab. Besonders da seine Familie aus diesem Dorf zu stammen schien.

„Okay, ja. Du hast Recht. Mein Vater hat hier gelebt, bis er fünf Jahre alt war. Und ich weiß auch, dass es hier spukt“, gab Miles kleinlaut zu.

„Dann jetzt raus mit der Sprache. Was ist hier los?“

„Ich kann dir nur sagen was ich weiß. Die Leute hier hatten damals so eine seltsame Religion, die wohl auf irgendwie entfernt auf den Buddhismus basiert. Jedenfalls war ein bestimmtes Ritual immer der religiöse Höhepunkt einer Generation. Es auserwähltes Kind, das immer der erstgeborene Junge einer Familie war, sollte geopfert werden. Geopfert an irgendeine höhere Macht. Und irgendwann war mein Vater dieses auserwählte Kind. Zu dem Ritual ist es dann aber nicht gekommen, was zu dem allem hier geführt hat. Sie nannten es die Nacht des Vergessens. Ein Ereignis, bei dem sich diese höhere Macht die Erinnerungen der Bewohner hier geholt hat, wodurch sie durchgedreht sind und sich gegenseitig umgebracht haben. Das war aber noch nicht Strafe genug. Anscheinend sind sie bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, hier herumzuspuken und keine Ruhe zu finden. Ich glaube mal dass die Geister erst recht deswegen ziemlich angepisst sind. Mehr weiß ich auch nicht, okay?“, erzählte Miles.

„Auf der einen Seite macht das ja irgendwie Sinn, aber auf der anderen hört es sich aber auch nach ziemlichem Schwachsinn an. Wie auch immer. Wir müssen jetzt erst einmal Chiko und Kenta finden.“

„Es tut mir wirklich leid, dass ich euch alle da mit reingezogen hab. Aber bitte, du musst mir einen Gefallen tun, Evan.“

„Und der wäre? Irgendwo im Haus meiner Großeltern befindet sich etwas sehr wichtiges. Hol es und bring es mir. Du musst es einfach tun.“

„Und was genau?“

„Du wirst es schon wissen. Wenn du es hast, triff mich im Schrein des Erblühens, dort wo das Ritual stattfand. Ich spüre wie er mich ruft“, sagte Miles, der danach aufstand und einfach wieder wegging.

„Oh nein, du verschwindest jetzt nicht wieder einfach so“, rief Evan ihm hinterher.

Er folgte ihm und griff nach seiner Schulter. Als er ihn berührte, überkam ihn ein Gefühl, als würde ihn ein LKW mit voller Geschwindigkeit treffen. Gefolgt von einer kurzen Orientierungslosigkeit. Ehe er sich versah, saß er Zuhause auf seinem Bett. Durch das Fenster schien die untergehende Abendsonne herein, die alles in ein angenehmes rotes Licht tauchte. War das jetzt alles doch nur ein Traum? Nein, irgendwas war anders. Er schaute sich um. Die Einrichtung entsprach so gar nicht seinem eigentlichen Zimmer, obwohl es das war. Jetzt erinnerte er sich. So sah es aus, als er noch ein Kind war. Der PC und Fernseher fehlten. Dafür lagen überall Spielsachen verstreut herum. Selbst die Bettdecke war die von damals, die blaue mit den Rennautos darauf. Er stand auf. Es war ein seltsames Gefühl wieder so klein zu sein. Doch fast sehnte er sich an diese alten Tage der Unschuld zurück, so ganz ohne Probleme. Solange, bis ihn eine andere Sache wieder einfiel. Etwas, das er verdrängt und fast schon vergessen hatte. Passend dazu kam es auch wie erwartet. Einen Raum weiter hörte er das Geschrei eines Babys losgehen.

„Nein. Tut mir das nicht an…bitte“, sagte er leise, während ihm die Tränen in die Augen stiegen. So verließ er sein Zimmer und ging in den Raum nebenan. Es war klein, aber entsprechend eingerichtet. Unter dem Fenster stand ein niedriges, weißes Regal, das auch als Wickelliege diente. Daneben ein weißer Sessel, den Evan sehr bequem in Erinnerung hatte. Gegenüber ein Bett für Kleinkinder mit einem Gitter aus Plastik drumherum. Desweiteren war der Raum mit einem flauschigen Teppich geschmückt, ein weiteres Regal befand sich neben der Tür und eine Stoffkiste voll mit Spielsachen für Babys darin. Diese Einrichtung hatte er zuletzt vor zehn Jahren gesehen.

Das Babygeschrei hörte nicht auf, obwohl eindeutig niemand in dem Bett lag.

„Ich habs verstanden. Ihr wollt mich quälen. Jetzt hört damit auf. Denn ich habe genug. Habt ihr mich verstanden? Ich habe genug!“, fing Evan an zu schreien. Doch das Heulen des Kindes hörte nicht auf. Im Gegenteil, es wurde noch lauter. Even setzte sich auf den Boden, während die Tränen schon an seinen Wangen herunterflossen.

„Was wollt ihr denn von mir?“, sagte er schluchzend.

„Mal abgesehen, dass ich genau das hier wochenlang jede Nacht durchmachen musste. Glaubt ihr nicht, dass ich schon genug unter seinen Tod gelitten habe? Dass ich mir nicht lange genug die Schuld dafür gegeben hab? Die monatelange Therapie, gegen diese Schuldgefühle haben wohl auch nicht gereicht was? Das wollt ihr, nicht wahr? Dass ich zerbreche, ich mich umbringe und genauso wie ihr auf ewig keine Ruhe finde. Vergesst es. Nicht mit mir“, sagte er, während er sich die Tränen abwischte, aufstand und zum Bett ging. Darin lag wie erwartet ein grüner Teddybär, den Evan seinem kleinen Bruder damals geschenkt hatte. Er nahm diesen, verließ das aus und rannte los. Zwar hatte er noch einen weiten Weg vor sich, aber irgendwie glaubte er sowieso nicht, dass das alles hier real war. Obwohl es sich täuschend echt alles anfühlte. Es störte ihn dabei nicht mehr, dass es finstere Nacht geworden ist. Dass ein immer dichter werdender Nebel aufzog und dadurch die Straßenlaternen die einzige Lichtquelle waren. Genauso wie die klirrende Kälte, die ihn umhüllte wie ein Anzug aus Eis. Seine schnellen Schritte hallten wie Kriegslärm durch die Straßen. Aber wer sollte sich schon beschweren.

So rannte er durch unzählige Straßen, bis er sein Ziel erreichte. Vor einem großen, schwarzen Tor stand. Glücklicherweise war dies nicht verschlossen. Mit einem lauten Quietschen öffnete er es. Der örtliche Friedhof. Zahlreiche Reihen von Gräbern, die von Angehörigen hübsch hergerichtet und gepflegt wurden. Es sollte ihm wohl Angst machen, dass ihn die Geister der hier beerdigten Leute über ihre Gräber schwebten und ihn beobachteten. Aber dafür hatte er in dieser Nacht schon schlimmeres erlebt. Weit hinten erreichte er dann sein Ziel. Ein kleiner Grabstein aus schwarzem Marmor.

Shawn Dalton

Geboren 16.04.2006 – gestorben 01.08.2006

„Ich wäre gern dein großer Bruder gewesen. Hätte dir Dinge beigebracht, hätte dich beschützt wenn etwas gewesen wäre. Aber es sollte wohl einfach nicht so sein. Es tut mir leid“, sagte Evan, während er sich hinkniete und den Teddy auf das Grab legte. Das permanente Babygeschrei verstummte daraufhin. Und eher er sich versah, stand er wieder in Guilswell, dort wo er sich auf vorher befand. Doch Miles war wieder einmal verschwunden. Zwar hatte er ihn darum gebeten etwas zu finden, aber Evan hielt es erst einmal für wichtiger Chiko und Kenta zu finden.

Kapitel 7

Kapitel 7

Für ein Zurück ist es jetzt zu spät
 

Es musste sein, aber er wusste nicht wie. Zwar hatte er keine Ahnung, wo sich Chiko und Kenta befanden, allerdings kam ihm eine Idee. Da er dort zu sich gekommen ist, wo er Miles verloren hatte, vielleicht sind sie dort auch wieder im Dorf gelandet. Als er sich dann erneut auf den Weg zum Herrenhaus machte, sah er ihn. Etwa dreißig Meter vor sich. Der Geist eines Mannes in einer düsteren Robe gekleidet, der so eine stark abstoßende Ausstrahlung hatte, dass an diesem nichts gutartig sein konnte. Evans Puls stieg so schlagartig an, als der Geist sich auf ihn zubewegte, dass er nichts tun konnte, als nur da zu stehen. Fast begann er zu hyperventilieren, als er immer näher kam.

„Es muss vollendet werden“, sprach der Geist leise, als der seine Hand austreckte, um nach ihn zu greifen. Für einen kurzen Moment sah Evan sein Ende kommen.

„Nein“, rief er, und schaffte es daraufhin sich doch zu bewegen und dem tödlichen Griff auszuweichen. Er rannte direkt an den Geist vorbei, die Straße entlang. Irgendwann kam die Gabelung. Beim rechten Weg führten Treppen nach unten, beim linken nach oben. Links ging es also zum Herrenhaus. Er spürte, dass der Geist noch hinter ihm her war. Wie eine unsichtbare Macht zog es an ihm, dass er doch stehen blieb und sich stellte. Dennoch rannte er die Treppen hoch, vorbei an den verwilderten Garten, bis er wieder im Hof war. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung ins Haus, wo er dann auch die Tür hinter sich schloss. Auch wenn das einen Geist nicht sonderlich aufgehalten hätte. Even wünschte, er hätte sich gefreut wieder hier zu sein. Doch weder sah das Haus schön aus, noch hatte er hier gute Erfahrungen gemacht. Wieder ging er den Gang entlang, wo er schon ein leises Schluchzen hörte. Der Quelle folgend ging er die Treppen nach oben, dorthin wo Chiko eingesperrt war. Die Tür war nur angelehnt, aber das Geräusch kam deutlich von dort. Vorsichtig öffnete er die Tür, doch die Scharniere quietschten dennoch unnötig laut. Zusammengekauert in einer dunklen Ecke saß dort tatsächlich Kenta, der sein Gesicht in seinen Knien vergrub.

„Hey, da bist du ja“, sagte Evan ruhig, aber erleichtert. Sofort sprang der Junge auf und klammerte sich mit einer Umarmung an ihn.

„Schon ok, ich bin ja jetzt hier“, wollte Evan ihn beruhigen, aber es schien nichts zu helfen.

„Hab schon gedacht ich bin nun alleine, weil meine Schwester auch verschwunden ist. Wir kommen hier nie wieder weg, oder?“, sagte der Junge unter Tränen.

„Zunächst suchen wir deine Schwester. Wenn wir sie haben sehen wir weiter. Immerhin hab ich Miles gefunden.“

„Und dann? Was ist wenn wir schon gar nicht mehr leben. Vielleicht sind wir ja schon genauso Geister.“

„Kenta, das ist Unsinn und das weißt du auch. Konzentrier dich mal, wo könnte deine Schwester denn sein?“, wollte Evan wissen, während Kenta seine Umklammerung löste und versuchte sich zu beruhigen.

„Ich hab doch keine Ahnung. Wie hast du mich gefunden?“

„Meine Theorie war es, dass wir dort im Dorf wieder auftauchen, wo wir Miles das erste Mal verloren haben. Ich hab ihn im Dorfplatz relativ am Eingang zuletzt gesehen gehabt. Und ich dachte ihr hier beim Herrenhaus.

„Naja, meinte Schwester meinte sie hatte ihn vorher schon einmal gesehen. Als wir hier ankamen, sind wir an einer Art Kirche vorbeigelaufen. Naja, nicht wirklich eine Kirche, sondern eher eine Mini Kirche.“

„Du meinst eine Kapelle?“

„Ja, kenn ich mich doch nicht mit aus. Vielleicht ist sie da“, sagte Kenta und wollte schon loslaufen. Doch Evan packte ihn an der Kapuze seines Pullovers, um ihn festzuhalten.

„Lass mich vorausgehen. Dort draußen war etwas, dem du glaube ich nicht in die Arme laufen willst“, sagte Even und ging voraus. Als sie nach draußen gingen, schien der Geist wieder verschwunden zu sein. Dieser hatte generell den Eindruck gemacht, als wäre es eine Art Priester oder Mönch gewesen. Immerhin sprach die dunkle Robe dafür. An den Seiten des Herrenhauses führten nach wie vor kleine Wege entlang, die mit von Unkraut überwuchertem Kies belegt waren. Das Knirschen beim Darüberlaufen hatte etwas so natürliches, dass das Geräusch eine fast schon beruhigende Wirkung hatte. Hinter dem Haus führte der Weg zwar nach links, wo er in einer Terrasse endete. Aber Evan und Kenta gingen wieder den Abhang hinunter, der im Winter wenn Schnee lag sicherlich eine gute Piste für den Schlitten gewesen wäre. Zumindest wenn dort nicht direkt ein Wald anfing und man bloß gegen einen Baum knallen würde.

Sie gingen nicht lange durch den Wald, da stand die Kapelle auch schon. Jetzt erinnerte sich Evan auch, dass er sie schon zuvor gesehen hatte, aber nicht weiter beachtete.

„Warte hier“, sagte Evan vor dem Eingang. Er öffnete die die massive Holztür, in der ein Kreuz eingeschnitzt war und trat ein. Was er dort sah, ließ ihn einfach nur mit einem geschockten Gesichtsausdruck dastehen. Chiko stand auf einer Art Hocker, ein Strick baumelte vor ihr von einem Balken. Vor ihr knieten im Kreis mehrere Geister, von denen eine Art unverständlicher Sprachgesang zu hören war. Mit langsamer Bewegung griff Chiko nach dem Strick.

„Lasst sie verdammt nochmal in Ruhe“, schrie er laut. Die Geister blickten daraufhin alle zu ihm und verschwanden danach. Chiko blieb mehrere Momente regungslos stehen, bis Evan auf sie zuging.

„Was machst du denn da?“, fragte er fassungslos.

„Ich bin…so schrecklich müde. Es gibt kein Entkommen“, sagte sie wie in Trance. Evan zog sie vom Hocker herunter.

„Doch, wir kommen hier weg. Ich hab Miles gefunden. Wir müssen ihm nur eine Sache besorgen und dann verschwinden wir von hier, klar? Deinen Bruder hab ich auch gefunden. Also komm“, sagte er, packte sie am Handgelenk und zerrte sie mit nach draußen, wo Kenta noch wartete.

„Wir müssen das Haus von Miles Großeltern finden“, sagte Evan bestimmend. Seine Angst wurde mittlerweile von seiner Motivation von hier wegzukommen überspielt. Er war sich nicht sicher, ob man seine überhaupt in seiner Stimme hörte. Aber er strengte sich an, dass man dies nicht tat.

„Die Großeltern von Miles haben hier gelebt?“, fragte Kenta verwundert.

„Ja“, antwortete Evan. Sie machten sich auf den Weg zurück in den Ort. Das Dorfzentrum hatte ja glücklicherweise nicht viele Häuser, aber jedes einzelne zu durchsuchen hätte dennoch lange gedauert. Dazu wusste er ja nicht einmal wo sich dieser Schrein befand, den Miles erwähnt hatte.

Sie kletterten wieder den Hang hinauf und gingen den Weg zurück. Vielleicht hätte er ja einen Hinweis in diesem Arbeitszimmer gefunden. Also kletterte er auf der anderen Seite des Hauses durch das Fenster, wo er den Stuhl hindurchgeworfen hatte. Kenta und Chiko folgten ihm.

„Helft mir dabei einen Hinweis auf die Standorte der einzelnen Häuser zu finden“, sagte Evan und fing damit an die Bücher in den Regalen zu durchsuchen. Doch bei den meisten Lektüren stand kein Titel auf dem Einband. Also begann er damit jedes einzelne Buch herauszunehmen und schnell durchzublättern. Doch er schien keinen Erfolg zu haben. Es waren alles nur alte Wälzer, die heute kein Mensch mehr lesen würde.

„Ich hab was“, rief Kenta, der vor den geöffneten Schubladen des Schreibtisches kniete.

„Genau sowas brauchen wir“, sagte Evan. Es war eine Liste, mit den Namen der Bewohner und deren Hausnummern.

„Gut gemacht“, sagte er lobend, während er weiter die Liste studierte. Währenddessen fing Chiko leise das Kichern an, die durch das Fenster wieder nach draußen kletterte. Verwundert sah Evan ihr hinterher. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren voller Tränen. Dennoch kicherte sie zunächst, bis sie lautstark zu Lachen anfing, das irgendwann in ein hysterisches Lachen überging, das alles andere als gut klang. Mit ihrem Mund formte sie das Wort Hilfe. Zunächst wusste er nicht, was das bedeutete. Er dachte daran, dass sie eventuell psychisch am Ende sei. Doch dann sah er, dass sie eine Glasscherbe in der Hand fest umklammert hielt.

„Bleib bloß hier“, sagte er zu Kenta, während er zu ihr hinausklettern wollte. Doch da setzte sie die Scherbe schon an ihrem Hals an. Zwar konnte man gut erkennen, dass sie sich dagegen zu wehren drohte, aber irgendetwas schien stärker zu sein. Und noch bevor er sie erreichen konnte, schlitzte sie sich mit einem Ruck die Kehle auf. Einen Augenblick stand sie röchelnd da, während das Blut in rauen Mengen aus ihren Hals spritzte. Dann fiel sie auf ihre Knie und kippte nach vorne um.

„Nein“, schrie Evan, als er zu ihr hinrannte. So sah er nun auch einige Meter entfernt den Geist einer Frau, die ihre Fast noch an ihren Hals hielt, so als ob sie sie sich ebenfalls die Kehle aufgeschlitzt hätte. Even kämpfte gegen seine Tränen an, aber schaffte es dann doch nicht. Er starrte noch einen Moment auf den Leichnam von Chiko, eher er sich umdrehte. Dort stand aber Kenta schon, der regungslos und ohne deutbaren Gesichtsausdruck dastand.

„Es tut mir leid“, sagte Evan weinerlich, während er auf Kenta zuging und ihn in seine Arme schloss.

Kapitel 8

Kapitel 8

ɯʌʎıʌƃɥ ɥɥɟu ɥʌoɹu
 

Lange Zeit saßen Evan und Kenta einfach nur da auf dem Boden des Arbeitszimmers, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Evan selber zitterte am ganzen Körper und begann erst langsam die Situation zu realisieren. Kenta hingegen zeigte noch immer keine emotionale Regung. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Allerdings machte sich Evan die größten Vorwürfe. Hätte er nur wenige Sekunden schneller reagiert, hätte er sie vielleicht retten können. Die andere Frage war sogar auch, wie lange es wohl dauerte, bis mit ihnen das gleiche passierte. Seine Psyche hatten sie ja schon versucht zu brechen, aber es war eventuell auch nicht das letzte Mal. Aber um sich abzulenken ging er die Liste im Kopf durch. Versuchte sich zu erinnern, wie viele Häuser im Dorf standen. Wenn er beim dem Haus am Anfang, vor dem er und Miles sich am Abend getroffen hatte, war es ihm vielleicht möglich herauszufinden, welches der Häuser das der Wilsons war. Letztendlich kam er zu dem Entschluss, dass es das Haus war, in dem er schon gewesen ist. Das, in dem er die Tonaufnahmen gemacht hatte.

„Mach dir keine Vorwürfe, du kannst nichts dafür“, sagte Kenta schließlich und brach damit das Schweigen.

„Aber ich hätte ihr vielleicht helfen können“, entgegnete Evan.

„Ich hab doch gesehen, dass sie sich schon in der Kapelle umbringen wollte. Mir war das schon klar. Sie war sowieso psychisch nie sonderlich stabil. Zum Teil ist da auch Miles dran schuld, weil er sie oft wie Dreck behandelt hatte. Hat sie vernachlässigt, sie mehrmals betrogen. Aber immer wieder ist sie ihm hinterhergekrochen. Dafür hab ich sie gehasst, für diese Schwäche. Genauso gehasst wie Miles. Auch wenn er immer nett zu mir war, aber ich konnte ihn einfach nie leiden. Im Gegensatz zu dir. Du warst als einziger immer da, wenn ich jemanden gebraucht hab. Du warst mir schon immer ein besserer Bruder, als Chiko mir eine Schwester. Und das obwohl wir nicht einmal verwandt sind. Daher fände ich es auch viel schlimmer, wenn dir etwas passieren würde, als dass sie gestorben ist. Das klingt hart, ich weiß. Aber es ist nun einmal so. Also versprich mir bitte eine Sache. Und zwar dass wir hier rauskommen. Und dass du mich dann auch weiterhin besuchen kommst, ist das ok?“, sagte Kenta fast schon beängstigend emotionslos. Aber das war ja auch kein Wunder, nach allem was er in dieser Nacht schon durchgemacht hatte.

„Ich verspreche es dir“, sagte Evan.

„Aber jetzt lass und dafür sorgen, dass wir es hier auch überleben“, sagte er anschließend und stand auf. Er reichte Kenta seine Hand und sie verließen beide das Haus. Gingen zurück in den Hof und blickten hinunter ins Dorf. Mehrere Geister wandelten dort ziellos umher. Bei manchen konnte man deutlich erkennen, wie sie als lebende Menschen ausgesehen hatten, andere erschienen nur als blasse Lichtgestalten.

„Die Nacht der Vergessens. Wo die Seelen der Verstorbenen keine Ruhe finden und dazu verdammt sind auf ewig umherzuwandern“, flüsterte Evan leise, als hätte jemand anderes ihm die Worte in den Mund gelegt. Langsam gingen sie die Treppe hinunter. Die Geister hier schienen aber nun ungefährlich zu sein. Einfach verirrte Seelen, die den Weg ins Licht nicht finden konnten. Evan glaubte daran, dass dies Besucher waren, die alle hier gestorben sind. Wahrscheinlich würde auch Chiko bald unter ihnen weilen. Manche von ihnen sprachen zusammenhangslose Sätze vor sich hin.

„Es ist so kalt.“

„Wo ist mein Zuhause?“

„Wann darf ich endlich schlafen?“

„Meine Großmutter ruft mich, ich kann sie hören. Doch ich finde sie nicht.“

Das waren nur ein paar der Aussagen, die Evan verstehen konnte. Als er die Straße entlang ging, kam ein Geist direkt auf ihn zu. Noch bevor er reagieren konnte, lief dieser schon durch ihn hindurch und verschwand dann. Evan stand mit weit aufgerissenen Augen da. Also ob ein Stromschlag durch ihn durchgefahren wäre und dann, mit einem Schlag, übermannten ihn erneut die Gefühle. Ohne irgendeine Regung begannen Tränen aus seinen Augen zu fliesen.

„All das Leid, das diese armen Seelen ertragen müssen. Gefangen in der Dunkelheit, nur weil sie diesen verfluchten Ort besucht hatten“, sprach Evan vor sich hin. Danach schüttelte er kurz den Kopf und schien sich wieder gefangen zu haben. Sie gingen weiter. Das Haus war schon in Sichtweite. Als sie dann schließlich vor der Tür standen, atmete Evan noch einmal tief durch, bevor sie es betraten. Zunächst gingen sie ins Wohnzimmer.

„Und was wollen wir hier?“, wollte Kenta wissen.

„Keine Ahnung. Miles wollte, dass ich hier etwas für ihn suche. Aber frag nicht was“, antwortete Evan. Doch in dem Moment fiel ihm etwas ein. Aus seiner Jackentasche kramte er einen Zettel hervor. Bis zu der Nacht, liegen die Erinnerungen im Garten begraben. Vielleicht war ja das gemeint. Doch wo war der Garten? Etwa am anderen Ende hinter der zugenagelten Tür? War wohl die logischste Antwort.

„Hast du eine Ahnung wie wir das auf bekommen?“, frage Evan. Kenta schüttelte aber mit dem Kopf. Sie gingen dann in die Küche. Vielleicht fand sich da ja etwas. Da fiel sein Blick auf den Esstisch. Dieser hatte zwar eine Tischplatte aus Plastik, aber die Beine schienen aus Metal zu sein, auch wenn sie etwas verrostet waren. Ohne Rücksicht auf das, was noch drauf stand drehte er den Tisch um und rüttelte an den Beinen, um sie abzubrechen. Erst als Kenta auch half, schafften sie es.

Es war zwar etwas körperliche Anstrengung erforderlich, aber mit Hilfe des Tischbeines schaffte es Even nach einiger Zeit die Bretter zu lösen, woraufhin sich die Tür auch öffnete. Es entblößte sich ein kleiner Garten, dessen Gras und Gestrüpp aber mittlerweile eher an einen Urwald erinnerten. Kenta stürmte gleich hinaus.

„Dieses Haus ist mir zu unheimlich“, sagte er, während er vor dem Gras stehen blieb. Evan blickte instinktiv noch einmal ins Haus. Da packte er Kenta und zog ihn mit ins hohe Gras, um sich dort hinzulegen, damit man sie nicht sah. Er beobachtete, wie ein Geist, von dem nur der Oberkörper sichtbar war, die Treppe hinunterschwebte, durch die Tür in den Garten. Mit toten Augen und weit aufgerissenem Mund wirkte dieser alles andere als vertrauenswürdig.

„Die Erinnerungen müssen bewahrt werden“, war eine leicht verzerrte Stimme vom Geist zu hören, ohne dass dieser den Mund bewegte. Daraufhin schwebte er weiter aufs Gras zu, aber verschwand. Einige Momente blieben sie noch liegen, ehe sie aufstanden. Da war erst zu merken, dass Kenta am ganzen Leib zitterte.

„Es ist fast geschafft“, versuchte Evan ihn zu beruhigen. Am Ende des Gartens stand ein Hügel von Steinen, der von Moos und Unkraut bedeckt war. Evan nahm einige davon weg, bis eine darunter vergrabene Holzkiste sichtbar wurde.

„Ich hoffe dass es das ist“, murmelte Evan. Er stampfte wieder durch das Gras, das ihm immerhin bis zur Brust ging, und kehrte ins Haus zurück, die Schachtel dabei fest umklammert. Er blieb vorsichtig, aber wollte nur eilig weitergehen. Aber die Hand tauchte wieder auf und griff nach seinem Arm. Egal wie stark er zog, er konnte sich nicht befreien. Kenta eilte hinzu und versuchte ihm zu helfen. Aus dem Augenwinkel sah Evan, dass der Geist zurückkehrte.

„Renn weg“, schrie er zu Kenta, der aber nicht hörte und ihn befreien wollte.

„Hörst du denn nicht, du sollst verschwinden“, rief er ihm noch einmal zu. Doch er reagierte nicht darauf. Evan spürte schon den Griff des Geistes, doch in dem Moment schafften sie es ihn zu befreien und er rannte so schnell er konnte nach draußen.

„Tschuldigung, aber das geht jetzt zu deinem Enkel“, rief er dem Geist über die Schulter, während er nach draußen rannte. Dort herrschte nun wortwörtlich eine Totenstille. Die umherstreunenden Geister waren wieder verschwunden. Sie machten sich auf den Weg zurück zu der Weggabelung mit den Treppen, um diesmal die rechte Abzweigung zu nehmen. Wohlwissend, dass er Geist in der dunklen Robe sie aus der Entfernung beobachtete. Aber Evan ließ sich nun wirklich nicht mehr einschüchtern.

Kapitel 9

Kapitel 9

Du weißt, dass es für immer ist und du niemals wieder zurückkehren wirst?
 

Die Treppe endete in einer Höhle, die mit brennenden Fackeln ausgeleuchtet war. Ein fast schon beruhigendes Tropfen war in Regelmäßigen Abständen zu hören. An vielen Stellen bildeten sich kleine Pfützen auf dem Boden. Doch hier war das Gefühl beobachtet und verfolgt zu werden stärker als je zuvor. Und tatsächlich. Es war nicht sofort zu erkennen, aber scheinbar sämtliche Geister standen mit dem Rücken zur Wand der Höhle entlang, als salutierten sie vor Evan und Kenta. Je weiter sie gingen, umso lauter wurde das Pfeifen des Windes im Hintergrund. Irgendwann erreichten sie ein großes Tor, das mit vielen unidentifizierbaren verziert war. Bevor Evan es öffnete, schaute noch einmal zurück. All die Geister standen wie eine Gruppe von Menschen hinter ihnen, als würden sie den Weg versperren.

Ein letzter Tiefer Atemzug und er öffnete das Tor, welches langsam, schwerfällig und mit einem kratzenden Geräusch aufging. Es entblößte sich ein großer, natürlicher Hohlraum, in dem die Höhle endete. In der Decke klaffte ein großes Loch und überall standen Statuen sowie Teppiche mit den gleichen Symbolen wie auf dem Tor hingen an den Wänden. Dieser Ort strömte eine deutliche unangenehme Atmosphäre aus. Hier wurden eindeutig grausame Rituale und Zeremonien durchgeführt. Egal was das für ein Glaube war, an dem diese Menschen hier festhielten. Evan wollte davon nichts wissen.

In der Mitte auf einem Podest aus Holz stand Miles. Hinter ihm der Geist in der Robe, der ihn scheinbar fest umklammerte. Evan nahm seinen Rucksack ab und reichte ihn Kenta.

„Bitte warte draußen“, sagte er, als er feststellte, dass die Geister mittlerweile verschwunden waren.

„Aber…“, wollte Kenta erwidern.

„Nichts aber. Ich habe es dir versprochen, dass ich zurückkomme. Aber das ist eine Angelegenheit zwischen Miles und mir“, versuchte er zu erklären. Noch etwas widerwillig nahm Kenta den Rucksack und verließ den Raum. Erst dann trat Evan auch auf das Podest. Er öffnete die Schachtel und ein Dolch zeigte sich. Dieser war aufwendig verziert und ebenfalls wieder mit diesen Symbolen beschriftet. Erst als er ihn herausholte und fest in der Hand hielt, ließ der Geist Miles los und verschwand.

„Du weißt was zu tun ist, oder?“, fragte Miles, während er Zum Loch in der Decke blickte, durch das die Lichtstrahlen des Mondes gespenstisch hereinfielen. Sein Gesicht schimmerte dadurch in einem leicht blauen Ton, fast wie die Geister.

„Ja“, gab Evan als einfache, trockene Antwort zurück.

„Weißt du, wäre meine Großmutter damals vor dem Ritual nicht geflogen, hätte es mich nie gegeben. Irgendwie finde ich diesen Gedanken verrückt.“

„Dir ist klar, dass ich das nicht so einfach tun kann, oder?“

„Evan bitte, es muss getan werden. Mir ist das schon lange bewusst. Außerdem würden du und Kenta sonst niemals von hier weg kommen. Wenn es passiert, wollte ich nur, dass du es tust. Also bitte. Ich habe in meinem Leben viel Scheiße gebaut und mich oft vom Ernst des Lebens gedrückt. Jetzt muss ich mich wohl letztendlich doch einer Verantwortung stellen.“

„Miles…“, wollte Evan sagen, doch er fing lautstark das Weinen an. Miles umarmte ihn daraufhin.

„Danke Evan. Einfach für alles. Du warst der beste Freund, den ich je haben konnte“, sagte Miles, während Evan die Umarmung erwiderte. Und in dem Moment stach er schon mit dem Dolch zu. Ein mit Schmerzen erfülltes Stöhnen ertönte.

„Mach es gut“, sagte Miles, während Evan noch ein weiteres Mal zustach. Erst jetzt gab Miles Körper nach und Evan legte ihn auf den Boden. Ein letzter Atemzug entwich seinem Mund, während Evan neben ihm kniete und sich keine einzige Träne mehr zurückhalten konnte.
 

Mir war bewusst, dass ich meinen besten Freund getötet hatte, auch wenn er mich inständig darum gebeten hatte. Auch wenn ich wusste, dass es getan werden musste, um die ganzen Seelen ins Licht zu führen. Jedoch schmerzte es. Es war, als würde ein Teil von mir sterben, als ein helles Licht aus seinem Körper heraustrat und hinauf in den Himmel stieg. Es war dennoch ein friedvoller Anblick, den ich durch das Loch in der Decke beobachten konnte. Wie ein Schwarm Glühwürmchen stiegen all die Seelen, die in Guilswell gefangen waren empor, um ihre ewige Ruhe zu finden. Ich stand auf und rannte anschließend nur noch. Nach draußen, der aufgehenden Sonne entgegen. Nach dieser langen Nacht, war es ein unbeschreiblich befreiendes Gefühl, als ich mich dem warmen Licht zubewegte.
 

Er saß Zuhause auf dem Bett in seinem Zimmer, als der Ermittler der Polizei hereintrat und sich vor ihm hinkniete. Der lange braune Mantel sah teuer aus, aber die Bartstoppeln und die etwas unsauber zurückgekämmten Haare zeigten, dass der Mann scheinbar zu viel arbeitete. Der Geruch von billigem Aftershave stieg sofort in seine Nase. Gesetzeshüter begann schließlich mit einer ruhigen, leicht rauen Stimme zu reden.

„Okay Kenta, ich weiß dass du sehr verängstigt bist. Das ist in Ordnung und dir wird jetzt auch nichts mehr passieren. Aber du musst uns erzählen was passiert ist. Drei Jugendliche, die du kennst, sind spurlos verschwunden und darunter eben auch deine Schwester. Damit wir herausfinden können, was passiert ist, musst du uns alles sagen was du weißt.“ Der Ermittler redete noch weiter auf ihn ein, doch Kenta blendete irgendwann die Stimme aus. Er blickte hinter dem vor ihm kniehenden Mann, scheinbar auf die Wand. Dort sah er kurz eine Gestalt, die daraufhin sofort wieder verschwand. Die Gestalt seines Freundes, der hier war um sein Versprechen einzulösen.
 

Ende



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