Zum Inhalt der Seite

In the Dead of Night

Sommerwichteln '15
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Liddell Alice

Mein Name ist Laci Overton. Ich komme aus Bakersfield, California. Als ist 10 Jahre alt war, beschloss ich, Polizistin zu werden. Mit 20 Jahren gab ich diesen Traum auf, um einem anderen Weg zu folgen.

Einem Weg, den ich niemals für möglich gehalten hätte. Einen Weg, dessen Existenz ich verneint hätte, bis ich nicht unabsichtlich den ersten Schritt auf ihm tat.

Heute bin ich 21, sitze im Zug von St. Petersburg nach Moskau. Draußen vor den Fenstern wirbeln Schneeflocken, die so dick sind wie mein Daumennagel. In weniger als einer Stunde treffe ich am Bahnhof zum ersten Mal auf meine neue Einheit. Wir sind WISP – World Intelligence for Supernatural Phenomena.

Mein Name ist Liddell Alice.

Irrlicht.

 

Jägerin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Laci strich sich die schokobraunen Locken aus dem Gesicht, während sie kritisch die Buchstaben musterte. Sie hatte sich gegen ein digitales Tagebuch entschieden und an der Bahnhofsbuchhandlung in St. Petersburg ein wunderschönes, gebundenes Notizbuch gekauft, dessen Einband dunkelviolett mit einem goldenen, eingeprägten Muster war. Es sah ein bisschen altmodisch aus, aber das fand sie nur passend. Die Seiten waren auch nicht grellweiß, sondern hatten einen sanften, cremigen Farbton, die äußeren Ecken der Seiten waren abgerundet. Es war ein wunderschönes Buch – für eine wunderschöne Geschichte, wie sie hoffte.

Eigentlich sollten sie ihre Geschichten nicht weitergeben. Sie waren immerhin ein Geheimdienst. Aber nachdem Laci ohnehin niemanden hatte, dem sie davon erzählen würde, oder der es ihr glauben würde, fand sie es nur recht und billig, dass sie ihre Gedanken festhalten durfte. Sie hatte doch sonst nichts, und sie schadete niemandem damit. Irgendwann, in fünfzig Jahren, wenn sie denn so alt wurde, wollte sie aber etwas haben, das sie daran erinnerte, wie es einmal gewesen war. Damals, als sie gerade auf dem Weg gewesen war, ihre erste Partnerin als Dämonenjäger kennenzulernen. Ihren ersten Auftrag nach der kräftezehrenden Ausbildung zu erhalten.

Sie war aufgeregt. Über ihre Partnerin wusste sie nicht mehr als dass – ja, sie eine Partnerin war. Eine Frau, schon länger im Dienst, die ihr zukünftig zur Seite stehen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für eine Person das sein würde. Das Bild, das sie in ihrem Kopf hatte, war das von einer sonnengebräunten Holzfällerbraut, die rauchte und fluchte und eine große Narbe im Gesicht hatte.

In jedem Fall, ob Holzfällerbraut oder nicht, Laci war unglaublich gespannt auf ihre neue Partnerin – und ihr neues Team.

 

Endhaltestelle ihres Zuges war der Leningrader Bahnhof in Moskau. Vor dem Eingang sollte ein Mitglied ihres neuen Teams sie in Empfang nehmen. Als sie hinaus in das Schneegestöber eilte, ihren Trolly hinter sich herziehend, die Kapuze schon tief ins Gesicht gezogen gegen die kalten Flocken, entdeckte sie zunächst Unmengen von Autos – und Menschen. Nach einem ziellosen Blick über die Masse beschloss sie, dass sie warten würde. Eine verloren aussehende, junge Frau würde doch auffallen, nicht wahr? Sie lief ein paar Schritte, bis sie das gigantische Bahnhofsgebäude hinter sich in Augenschein nehmen konnte. Mit der freundlichen, hell gestrichenen Fassade und dem schneebedeckten Uhrentürmchen fühlte sie sich wie ein einem Märchen. Es war wunderschön. Sie hätte sogar noch eine ganze Weile hier bleiben können, trotz der Kälte. Was anderes blieb ihr auch nicht übrig, allerdings: Sie wusste nicht, wie ihr Kontaktmann aussah. Man hatte ihr nur gesagt, sie würde abgeholt werden, und sie solle sich keine Sorgen machen, ihr Teammitglied würde sie schon erkennen. Also machte Laci sich auch keine Sorgen.

„Hey, Liddell Alice!“

Eine Stimme ließ sie herumwirbeln, und sie lachte erleichtert auf, als sie einen ihrer Ausbilder aus Fort Hunter Liggett entdeckte.

Fort Hunter Liggett war eigentlich ein Trainingsstützpunkt der US-Army, doch seit einiger Zeit und einem Vorfall, den jeder lieber geheimnisvoll ausschwieg, hatte WISP die Erlaubnis, dort ihr praktisches Training durchzuführen.

Greg Rivera, der Mann, der sie gerade strahlend in Empfang nahm, war innerhalb der Einheit eher unter dem Spitznamen Sasquatch bekannt. Was nicht daran lag, dass Greg Rivera ein großer Mann war; der schwarzhaarige Kerl mit den dunklen, funkelnden Augen, dem sonnengebräunten Teint selbst im tiefsten Winter und dem breiten, immer lachenden Mund war mit seinen knapp ein Meter siebzig nun wirklich kein Riese. Einige munkelten, der Name käme daher, dass ein kanadischer Bigfoot sein erster Auftrag gewesen war, andere behaupteten, es käme von einer dichten Körperbehaarung, die er unter seiner Kleidung versteckte. Laci fand, Hobbit hätte ob der behaarten Füße viel besser gepasst.

Sie lief zu ihrem Ausbilder hinüber, fiel ihm erleichtert um den Hals, froh, ein bekanntes Gesicht in der Fremde zu sehen. Natürlich freute sie sich auf die neuen Bekanntschaften, aber ein bisschen Vertrautheit kam ihr gerade auch nur gelegen. So weit entfernt vom heimischen Nordamerika tat das einfach gut.

„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch hier sein wirst?!“

Sie wollte vorwurfsvoll klingen, aber sie war einfach so erleichtert, dass in ihren Worten immer noch ein glockenhelles Lachen mitschwang. Sasquatch lachte, umarmte sie fest und wirbelte sie erst einmal durch die Luft. Erst, als er Laci wieder sicher abgestellt hatte, ließ er sie los, griff stattdessen nach ihrem Trolly.

„Los, komm. Das Team wartet. Ich erzähle dir unterwegs alles.“

Während sie von einem Chaffeur in einem unauffälligen, schwarzen Wagen durch Moskau gefahren wurden, erzählte Sasquatch, auch wenn seine Geschichte denkbar langweilig war. Die Leitung hatte beschlossen, die Zweigstelle in Russland aufgrund der zuletzt vermehrt gesichteten paranormalen Vorkommnisse zu vergrößern und hatte im Zuge dessen neben Laci auch Sasquatch, dessen Partnerin – und Ehefrau. Laci fand das wahnsinnig romantisch – Bloody Mary und ein paar andere aus diversen US-amerikanischen Stützpunkten hierhergeschickt. Laci war erleichtert, ein paar bekannte Gesichter um sich zu haben.

Die Einsatzzentrale ihrer Einheit lag in den oberen beiden Stockwerken eines nichtssagenden Bürogebäudes, das nicht gerade in der besten Gegend der Stadt lag. Die Fassade brauchte dringend wieder einmal einen Anstrich, und die alten, etwas schiefen Holztreppenstufen knarzten, wenn man hinauflief. Der Personenlift sah so wacklig aus, dass sich weder Sasquatch noch Laci hineintraute. Einmal im richtigen Stockwerk angekommen, begrüßte sie hinter der Tür vom Treppenhaus gleich der Geruch nach heißem Kaffee und nassen Mänteln. Ihren eigenen nassen Mantel hängte Laci an die Garderobe, dann eilte sie Sasquatch hinterher in die Küche, um sich dort eine große Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker zu genehmigen.

„Mary ist gerade noch unterwegs. Sie holt ein paar der anderen ab“, informierte Sasquatch sie über seinen eigenen Kaffee hinweg, „Aber deine Partnerin ist schon da. Wenn du sie kennenlernen willst? Lady Di ist in der Kommandozentrale, das ist hinten die Tür rechts. Ansonsten gibt’s ohnehin eine Teambesprechung, wenn alle da sind.“

Laci hätte sie zu gern kennengelernt, doch als sie neugierig in die Kommandozentrale linste und dort eine viel zu hübsche, elegante Frau erblickte, die ihrem Spitznamen alle Ehren machte, verließ sie der Mut wieder. Sie zog sich in den Pausenraum zurück, mit Kaffee und Notizbuch, und begann, ihre ersten Eindrücke zu schildern.

 

 

WISP – Worldwide Intelligence for Supernatural Phenomena. Ein internationaler Geheimdienst, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet worden war. Im Zeitalter der Technologisierung war er immer und immer weiter zusammengeschrumpft, bis nur noch wenige Zweigstellen und Mitarbeiter existiert hatten. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts boomte die Branche wieder. Niemand konnte genau sagen, warum, doch seit der Jahrtausendwende vermehrten sich die übernatürlichen Sichtungen und Phänomene, und so war WISP in den letzten fünfzehn Jahren wieder stark aufgeblüht. Der Hauptsitz hatte sich von England schon vor Jahrzehnten in die USA verlagert und lag dort an einem nicht näher bekannten Ort im Landesinneren. Alle Agenten – nicht ohne ein bisschen Selbstironie nannten sie sich Irrlichter – waren eigens rekrutiert und kamen oft aus paranormalen Fällen, die von WISP bearbeitet wurden. Jedes Mitglied hatte seine eigene, unglaubliche Geschichte zu erzählen. Wer nicht mit dem Paranormalen in Berührung kam, wusste von WISP nichts, und auch die meisten, die das Übernatürliche erlebten, hatten keine Ahnung. WISPs oberstes Gebot war es, den Opfern paranormaler Erscheinungen zu helfen und ihnen zu ermöglichen, ihre simple, normale Weltanschauung zu behalten.

Bei WISP war es üblich, dass alle Mitglieder einen seltsamen Spitznamen hatten. Es hatte sich einfach etabliert, und inzwischen ging das soweit, dass viele Agenten einander nur unter ihren Spitznamen kannten und die richtigen Namen häufig überhaupt nicht wussten. Laci selbst war gerade einen Monat bei den Rekruten gewesen, als man ihr ihren Namen verpasste – Liddell Alice. Ein Wortspiel aus dem Namen des Mädchens, das Inspiration für Alice im Wunderland gewesen war, und dem Wort little, das auf ihre geringe Körpergröße von gerade mal ein Meter achtundfünfzig anspielte. Zuerst war es befremdlich für sie gewesen, doch sie hatte sich schnell daran gewöhnt – und im Vergleich zu manch anderem hatte sie es mit ihrem Spitznamen auch sehr gut getroffen.

Ihre neue Einheit im Herzen Moskaus bestand aus insgesamt rund zwanzig Mann, von denen aber nur etwa die Hälfte der operativen Abteilung angehörte. Diese zehn Leute, sowie der Chef der organisatorischen Abteilung, waren es, die sich am Abend mit heißem Kaffee und süßem Gebäck in der Kommandozentrale versammelten. Einem einfachen, großen Besprechungsraum mit einer großen und detaillierten Karte Russlands an der Wand.

Der Chef der Organisation war Parker Choi, dem man seine asiatischen Wurzeln wirklich an der Nasenspitze ansah. Unter dem Spitznamen Big in Japan hatte er sich schon lange einen Namen innerhalb der Gruppe gemacht. Jeder kannte ihn für seinen überragenden Scharfsinn, sein Organisations- und Informationsbeschaffungstalent. Die Operationseinheit bestand aus drei Paaren zur Untersuchung übernatürlicher Sichtungen, sowie vier weiteren Mitgliedern, deren Aufgabe die Verschleierung der tatsächlichen Vorkommnisse war. Da es WISPs oberste Maxime war, den Menschen ein Leben ohne die übernatürliche Bedrohung zu ermöglichen, war es selbstverständlich, dass jeder Fall durch darauf geschulte Mitarbeiter nach Abschluss so verfälscht wurde, dass sich eine logische Erklärung für die Vorkommnisse finden ließ. Unter anderem aus diesem Umstand heraus war der Name Irrlichter zustande gekommen, mit dem die Einzelnen sich identifizierten – sie führten die Menschen in die Irre, während sie ungesehen für ihren Schutz sorgten.

Zu den Vieren gehörte unter anderem Firestarter, den Laci noch aus den USA kannte; er war bekannt dafür, dass er Beweise fürs Übernatürliche einfach in Flammen aufgehen ließ. Die anderen drei waren zwei Russen und ein weiterer Amerikaner. Die beiden Russen hörten – Amtssprache von WISP war Englisch, immerhin musste man sich international miteinander verständigen können – auf die Spitznamen Shadow und Liquid Liar, der zweite Amerikaner, ein junger Bursche mit zerzaustem Haar und klugen Augen hinter verspiegelten Brillengläsern, wurde Paper Boy gerufen. Ironischerweise hörte Laci schon aus den ersten Gesprächsfetzen heraus, dass Paper Boy von Papier so gar nichts hielt und der wohl technologisierteste Mensch im Raum war. Sie erinnerte sich vage, ihn bei der Ausbildung gesehen zu haben, doch wer von vornherein eher in die Spurenverwischung als den aktiven Kampf wollte, genoss den Großteil der Ausbildung an einem anderen Ort.

Die aktiven Agenten waren immer in Pärchen unterwegs. Neben Sasquatch war natürlich seine Frau Bloody Mary dabei. Niemand konnte so recht sagen, woher sie den Namen hatte, doch einige behaupteten steif und fest, dass Mary zumindest tatsächlich ihr richtiger Name war. Laci hatte zwar nachgefragt, aber nur ein geheimnisvolles Grinsen als Antwort bekommen von ihr, und auch Sasquatch verriet es nicht. Das andere Pärchen waren zwei Männer Ende zwanzig; ihre Spitznamen waren Splatter und Gore und sie waren scheinbar bekannt dafür, ganz schön viel Dreck zu hinterlassen – dafür nahmen sie es aber auch mit den übelsten Monstern auf. Die letzte im Bunde, neben Laci, war Lady Di. Ihr richtiger Name war Dinah Withrow, hatte sie Laci verraten, also konnte man ihren Spitznamen auf ihren Namen und ihr elegantes Aussehen heruntermünzen. Paper Boy hatte trocken kommentiert, dass ihr bei dem Namen ja ein früher Tod bevorstünde. Lady Di zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln bei dem Kommentar.

Laci fand, der Name passte zu ihr. Sie war wirklich schön. Rote Lippen in einem ernsten Gesicht mit strengen, aber schön geformten Augen. Ihr Haar war kastanienbraun und zu einem eleganten Kurzhaarschnitt geschnitten. Sie trug Ohrstecker in beiden Ohren, Edelsteine in Weißgold eingefasst, die im Licht sanft glitzerten. Sie war mit ihren Anfang dreißig schon etwas älter und hatte schon einiges an Erfahrung bei WISP sammeln können. Ihr ehemaliger Partner war wohl bei einem der letzten Einsätze umgekommen, deshalb war ihr Laci zugeteilt worden. Bloody Mary wusste zu berichten, dass es nicht der erste verstorbene Partner gewesen war. Vielleicht kam der Spitzname auch daher – nicht Lady Di, sondern Lady Die. Lady Stirb.

Nur, dass sie nicht sich selbst, sondern ihren Partnern den Tod brachte.

Laci glaubte das nicht. Ihr Job ging eben mit einem gewissen Berufsrisiko einher, und wie Paper Boy schnell herausfand, war Lady Di eine der Agenten mit der höchsten Fallaufklärungsrate. Jemand so Kompetentes konnte unmöglich Schuld am Tod seiner Partner sein.

Rusálka

„Eine Rusálka ist ein weiblicher Wassergeist. Sie leben üblicherweise am Grund von Gewässern, die sie allerdings gelegentlich vor allem nachts verlassen. Hier scheiden sich die Geister, unter welchen Umständen genau sie an Land kommen. Allgemein scheiden sich die Geister bei diesen Wesen in vielen Punkten. Mal werden sie als alt und hässlich beschrieben, mal als jung und schön. Womöglich sind sie beides. Jedenfalls decken sich die Überlieferungen zu guten Teilen mit unserem neuen Fall.“

In der Kommandozentrale befand sich die gesamte operative Einheit, sowie, natürlich, Big in Japan. Er hatte sie zusammengetrommelt, nachdem einer seiner Jungs, wie er sagte, etwas Interessantes entdeckt hatte. Gerade stand er vor der Russlandkarte, die im Raum hing, und tippte mit der Rückseite eines dicken Markers auf den roten Punkt einer Stadt. Laci fiel auf, dass sie direkt an einem Fluss gelegen war.

„Unser Fall befindet sich in der Stadt Twer an der Wolga. Bereits seit zwei Jahren ist die Rate verschwundener junger Frauen sehr hoch, zuletzt gipfelte diese Zahl in allein fünfzehn Vermissten im letzten Monat. Jede dieser vermissten jungen Frauen wurde ertrunken gefunden, nackt. Man hat ihre Kleider zerrissen gefunden, auf größeren Raum verteilt, so als wäre sie ihnen vom Leib gerissen worden, während sie vor ihrem Angreifer flohen. Laut alter Überlieferung reißen Rusálki jungen Frauen die Kleider vom Leib und verjagen sie schließlich. Wir vermuten, in diesem Fall endet diese Jagd damit, dass sie in den Fluss gescheucht werden und dort schließlich ertrinken. Man kann Rusálki nicht töten, jedenfalls gibt es keine Aufzeichnungen darüber, wie man es tun kann, keine Überlieferung, keinen Hinweis, nichts. Selbstverständlich werdet ihr mit den üblichen Mitteln gegen das Übernatürliche ausgestattet, allerdings ist Töten dieses Mal nicht einmal unser erstes Ziel.“

Big in Japan hielt kurz inne. Seine schmalen Augen wanderten aufmerksam durch den Raum, als wolle er sich vergewissern, dass alle noch zuhörten. Alle hörten zu. Hier und da hob sich zwar eine ungläubige Augenbraue, doch keiner sprach dazwischen.

„Einer Überlieferung zufolge ist es so, dass junge Frauen, die nach ihrem Tod zu Rusálki werden, noch bis zu vier Jahre zu den Lebenden zurückgeholt werden können, indem man ihnen ein christliches Kreuz um den Hals hängt. Unserer Recherche zufolge ist kurz, bevor die Vermisstenmeldezahl für junge Frauen in die Höhe geschossen ist, eine junge Frau vermisst gemeldet worden – die einzige, die nicht tot wieder aufgetaucht ist, aber zuletzt ebenfalls in der Nähe der Wolga gesehen wurde. Es ist natürlich ziemlich weit hergeholt, aber womöglich haben wir da unsere Rusálka gefunden, so sie überhaupt Ursprung des Übels ist. Wir könnten es auch mit einer Vielzahl anderer Wassergeister zu tun haben, aber das ist im Moment unsere beste Idee. Unsere oberste Priorität ist also die potentielle Rettung dieser jungen Frau. Sollte das nicht funktionieren, werden wir die Rusálka selbstverständlich eliminieren.“

Big in Japans Worte gingen mit viel Unglaube einher. Auch für Laci klang das wirklich fantastisch. Ein übernatürliches Wesen, das einmal ein Mensch gewesen war, konnte nicht mehr zurückgeholt werden. So war das immer, jedenfalls bisher. Sie wollte aber zu gern daran glauben, dass es funktionieren würde. Wie sehr die Familie des verschwundenen Mädchens sich freuen würde!

„Da die Rusálka nur junge Frauen attackiert… Lady Di, das ist euer Job. Viel Vergnügen!“

 

Laci konnte ihre Freude kaum unterdrücken. Fast ekstatisch rutschte sie auf dem Beifahrersitz des roten Wagens – sie hatte keine Ahnung, welche Marke es war – herum, der Lady Di gehörte. Ihre neue Partnerin saß neben ihr hinter dem Lenkrad, trommelte mit sauber geschnittenen Fingernägeln darauf herum, während sie wartete, dass die Ampel wieder umsprang.

„Ich habe mir von Biggy die Fundorte der Leichen geben lassen. Zusammen mit der Strömung und dem Todeszeitpunkt können wir ungefähr abschätzen, wo die Mädchen ins Wasser gefallen sind“, informierte sie trocken, warf einen kurzen Seitenblick zu Laci hinüber, die sofort eifrig nickte. Lady Di gab einen verächtlichen Laut von sich.

„Wir werden uns die Gegend ansehen und einen Punkt suchen, der für unsere Operation geeignet ist. Die nächsten Tage wirst du dann mit Spazierengehen verbringen, hörst du? Du tust nichts, du wartest nur, dass die Rusálka auftaucht und dich jagt. Ich werde immer in der Nähe sein und das Monster überwältigen. Beten wir, dass der Chef recht hat und wir das Ding mit einem Kreuz erledigt kriegen, sonst könnte es blutig und hässlich werden. Und bedenkend, dass du unbewaffnet sein wirst… Na Mahlzeit.“

Laci sah ihre Partnerin kurz eingehend an, dann räusperte sie sich verlegen.

„Glaubst du denn, dass er Recht haben könnte? Dass man das Mädchen zurückholen kann?“

Lady Di sah sie an, abwägend, ungläubig, dann schüttelte sie den Kopf und wandte den Blick wieder zur Straße. Gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie die Ampel endlich grünes Licht gab.

„Nein. Was einmal unmenschlich ist, bleibt unmenschlich. Ende der Geschichte. Wenn du erstmal zehn Jahre dabei bist, verstehst du das auch, Püppi.“ – „Und was, wenn es doch geht? Wir können doch die Hoffnung nicht aufgeben, solange wir es nicht versucht haben! Diese Überlieferungen kommen sicher nicht von ungefähr.“

„Eine ganze Menge Überlieferungen sind nur Humbug“, gab Lady Di nüchtern zurück, „Und du tätest gut daran, dich nicht in solchen Ammenmärchen zu verlieren. Wir glauben an das Übernatürliche, aber das heißt nicht, dass wir jedem Firlefanz hinterherrennen. Mit deiner kuscheligen Einstellung schadest du am Ende eh nur dir selbst.“

Laci schüttelte vehement den Kopf, dass ihr die braunen Locken ins Gesicht flogen.

„Du bist zu pessimistisch. Ich glaube daran, dass wir diesem Mädchen noch helfen können!“

„Du weißt doch nicht einmal, ob es wirklich dieses Mädchen ist, du dummes Ding.“

 

 

Sie verbrachten mehrere Tage damit, die Gegend rund um die Vorfälle auszukundschaften. Laci taten nach den ersten zwei Tagen schon die Füße weh. Sie hatte zwar daran gedacht, warmes Schuhwerk gegen den russischen Winter mitzunehmen, doch sie hatte nicht so weit gedacht, dass dieses Schuhwerk auch bequem und dauerlauftauglich sein musste. Sie gab sich Mühe, sich ihr Leid nicht anmerken zu lassen, doch natürlich merkte Lady Di es. Bald übernahm sie den Großteil der Erkundungen, während Laci sich darauf beschränkte, Fotos der Umgebung zu machen und im Auge zu behalten, dass sie nicht weiter auffielen.

Ihren letztendlichen Einsatzort bestimmten sie im Gespräch mit Big in Japan, eine Diskussion, die überwiegend Lady Di und der Asiate führten, während Laci dabei saß, zuhörte, zu verstehen versuchte und an ihrem heißen Kaffee ihre kalten Hände wärmte. Lady Di schien die eisige Kälte überhaupt nichts auszumachen. Sie sah hübsch aus in ihrem weinroten Rollkragenpullover, der sich eng an ihren Körper schmiegte.

Laci bewunderte die schöne, stoische Frau.

Wenn sie erst einmal länger dabei war, wollte sie werden wie Lady Di. Nur den Pessimismus mochte sie sich nicht abgucken dabei.

Für den Moment gab sie sich noch damit zufrieden, ihren ersten Einsatz zu überstehen. Bisher fühlte sie sich nicht nervös. Noch fühlte sich alles surreal an, während sie hier in ihrer warmen Einsatzzentrale saßen und sprachen. Lady Di gestikulierte gerade über einem Stadtplan von Twer, während Big in Japan ihr aufmerksam folgte, jeder Bewegung, und immer wieder nickte oder den Kopf schüttelte. Laci fragte sich unwillkürlich, ob er Lady Di wohl mochte. Ihr entging nicht, dass einige der Männer ihrer Partnerin manchmal solche Blicke zuwarfen. Big in Japan tat es nicht. Aber er war immer so extrem aufmerksam.

Vielleicht war es auch nur asiatische Höflichkeit.

„Keine Brücken“, fasste Lady Di die Diskussion der letzten Minuten schließlich zusammen. Mit einem roten Stift, der die gleiche Farbe wie ihr Lippenstift hatte, strich sie mehrere Gebiete, die vorher eingekreist gewesen waren, durch.

„Wir könnten sie genauso gut gleich selbst umbringen. Auch wenn wir nicht wissen können, was genau dieser Wassergeist kann, wenn es denn einer ist, lieber riskieren wir, dass Liddell Alice im Wasser landet und gleich wieder rausgefischt werden kann, als dass sie von der Brücke springt und nie wiedergefunden wird. Worst Case ist, dass wir Wasserkontakt ohnehin nicht vermeiden können, egal wie wir’s angehen, auch wenn das unser Ziel ist.“

Big in Japan gab ihr Recht, und auch Laci nickte hinter ihrem Kaffee. Sie wollte nicht ertrinken. Aber sie glaubte auch keine Sekunde, dass es so weit kommen würde. Das Team machte einen kompetenten Eindruck auf sie, Lady Di vor allem hatte eine verdammt gute Reputation, was ihre Kompetenzen im Bekämpfen des Übernatürlichen anging und warum sollte Laci an sich oder ihren Kameraden zweifeln? Sie war gezielt für WISP rekrutiert worden, sie hatte die Ausbildung mit sehr guten Noten bestanden. Es konnte nichts schief gehen.

„Liddell Alice, komm her.“

Lady Dis Stimme riss sie aus der Überlegung. Sie trat vor zu der Wand, die voller Fotos und Karten war.

„Wir werden hier operieren“, verkündete ihre Partnerin, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Sie tippte mit der Rückseite ihres Stifts auf ein Foto eines unauffälligen Uferabschnitts, der frei zugänglich war. Er lag etwas außerhalb der Stadt selbst, wenn Laci sich recht erinnerte. „Biggy sagt, er kann jemanden besorgen, der uns ein Rettungsboot ein Stück weiter flussabwärts stationiert, falls wir es brauchen. Aber wie gesagt, unser Ziel ist es, dass du gar nicht erst ins Wasser kommst, kapiert?“

Laci nickte, bemüht, ein Strahlen zu unterdrücken.

„Verstanden, Partnerin!“

Lady Di verdrehte genervt die Augen, aber Laci fühlte sich trotzdem ganz warm. Sie freute sich unbändig auf den ersten Einsatz mit ihrer neuen Partnerin.

 

 

Es war später Abend, es war kalt, und Laci fror trotz des dicken Wintermantels, der schweren Kapuze, der warmen Handschuhe und des langen Schals. Sie spazierte an der Uferböschung entlang. Ihr Einsatzort umfasste eine Strecke von knapp einem Kilometer, die sie entlangspazieren sollte, ehe sie wieder kehrtmachte, zurückkam, und dann ging es wieder von vorn los. Obwohl der Abschnitt relativ abseits lag, waren hier in der Gegend mehrere der Mädchen nachts verschwunden. Laci konnte das sogar nachvollziehen; es war sehr hübsch, hier würde sie auch Abendspaziergänge machen, wenn sie nicht dazu gezwungen war.

Da man damit rechnen musste, dass sie ihre Kleider bald verlieren würde, hatte man ihr keine Waffe gegeben; es war wichtig, dass die Rusálka, wenn sie denn eine war, nicht in Verteidigungshaltung ging, damit Lady Di sie unbeschadet überwältigen konnte. Auch das war ein Grund für die Wahl der Gegend gewesen – in Ufernähe gab es ziemlich viele Bäume, die groß genug waren, dass eine schlanke Frau wie Lady Di sich dahinter verbergen konnte. So konnte sie Laci sofort zur Hilfe eilen, wenn es nötig wurde, und im richtigen Moment die Rusálka überwältigen.

Inzwischen war Laci nervös. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr war ein bisschen übel. Sie klammerte sich an das Futter ihrer Manteltaschen, in die sie ihre behandschuhten Hände geschoben hatte. Lady Di war irgendwo in der Nähe, und Laci glaubte, ihren stechenden Blick im Rücken zu spüren, doch dass sie ihre Partnerin nicht sehen konnte, nahm dem warmen Gefühl von Sicherheit und Zuversicht ein bisschen an Kraft.

Sie spazierte stundenlang in der Nähe des Flusses herum. Fror, zog die Nase hoch, und rubbelte sich über die eisigen Wangen, doch niemand kam. Keine Rusálka, kein Massenmörder, kein anderes Wasserwesen oder sonstiger Übeltäter. Als zum angehenden Arbeitsverkehr so langsam wieder Leben in die Gegend kam, zogen sie sich zurück. Laci schlief den halben Tag, und als Lady Di sie am Nachmittag mit Kaffee und Spiegeleiern weckte, hätte sie am Liebsten weitergeschlafen.

„Es kann sein, dass wir gar nichts finden“, kommentierte Lady Di, während sie selbst eine Tasse Kaffee trank, „So ernüchternd ist es manchmal. Du solltest dir einfach keine so hohen Erwartungen machen, dann wirst du auch nicht enttäuscht.“

 

Sie brauchten fast eine Woche, bis sie auf ihr Zielobjekt trafen.

Inzwischen hatte Laci ganz vergessen, dass sie einmal nervös gewesen war. Der ewige Trott des Nichtspassierens hatte sie in einen seltsamen Zustand der gelangweilten Resignation versetzt, in dem sie schon gar nicht mehr damit rechnete, dass überhaupt irgendetwas anderes passierte, als dass einmal ein nächtliches Auto über die Straße fuhr. Im ersten Moment begriff sie gar nicht, dass sie sich der Rusálka gegenüber sah. Sie hielt die alte, gebuckelte Frau für ein Mütterchen, das einen nächtlichen Spaziergang machte. Laci hatte schließlich schon festgestellt, dass die Gegend sich dafür hervorragend eignete. Besonders jetzt, wo der Himmel klar war und man Mondsichel und Sterne sah, war es wunderschön.

Dass es kein altes Mütterchen war, merkte sie erst, als die seltsame Frau mit einem Schrei, der keiner Sprache glich, die sie kannte, auf sie zustürzte.

Und dann ging alles viel zu schnell. Laci schrie, Laci kreischte, schlug um sich und versuchte sich zu wehren, doch alle Selbstverteidigungskurse halfen ihr nicht gegen die unmenschliche Kraft des Geschöpfs. Sie verlor ihren Mantel, ihre Stiefel, den schönen Kaschmirpullover. Unter einer Straßenlaterne erhaschte sie einen Blick auf das Gesicht der Rusálka. Alt, pockennarbig, voller Warzen und mit einer schiefen, krummen Nase. Die teigigen Wangen wirkten aufgedunsen. Die Kleider starrten vor Raureif, und was Laci zuerst für einen Schal gehalten hatte, schienen erschreckend tief hängende Brüste zu sein, die das alte Weib sich über die Schultern geworfen hatte. Die Rusálka gackerte ob Lacis kreideweißem Gesicht, kam näher, die feisten Finger mit den scharfen Krallen nach ihr ausgestreckt.

Laci versuchte, wegzulaufen. Wusste selbst nicht, wohin, aber in ihrer Panik konnte sie den Fluchtreflex nicht mehr unterdrücken. Sie fror, sie hatte Angst, sie schlitterte auf dem gefrorenen, schneebedeckten Boden. Stolperte, fiel hin. Die Alte war wieder hinter hier, grausig gackernd. Laci wirbelte herum, krabbelte fort von der Gestalt, die unaufhaltsam immer näher kam. Näher. Näher. Die Hände der Rusálka streckten sich nach ihr aus, ihr buckliger Oberkörper kam immer näher. Hinter dem Weib türmte ein Schatten auf.

Als klauenbewehrte Hände nach ihrem BH griffen, glitten Lady Dis schlanke Hände lautlos durch die Luft, und mit einem metallischen Klirren legte sich ein silbernes Kreuz auf die Brust des alten Ungetüms. Die Rusálka schrie, Laci schrie, und im nächsten Moment wurde alles schwarz um sie herum.

 

 

Als Laci aufwachte, lag sie zuhause in der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung, die sie mit Lady Di teilte, auf dem Sofa. Sie war unter mehreren Decken eingemümmelt, fühlte sich warm und behaglich, aber noch merklich groggy und erschöpft. Desorientiert raffte sie sich in eine sitzende Position auf, ließ sich sofort schwer gegen die Sofalehne sinken. Sie entdeckte Lady Di auf der breiten Fensterbank sitzend, in einem weiten, cremefarbenen Strickpullover, der unheimlich warm aussah und unheimlich lang war. Unter dem Saum des Pullovers waren ihre langen Beine nackt. Sie nippte an einer Tasse mit Kaffee, während sie hinaus aus dem Fenster sah. Ihr warmer Atem beschlug die Scheibe.

Laci nieste, ehe sie hallo sagen konnte, und Lady Di sah auf, bedachte sie mit einem kurzen, kritischen Blick.

„In der Küche ist Hühnersuppe“, informierte sie dann, wandte den Blick zurück auf Moskaus verschneite Straßen. „Du kannst froh sein, dass das alles so rund gelaufen ist. Wärest du nicht wie ein panisches Tier weggerannt, wären wir vermutlich sogar noch schneller fertig geworden.“

Laci schniefte, zuckte die Schultern. Ihr Blick war halb hilflos, halb trotzig. Sie hatte Angst gehabt! Zu gern hätte sie Lady Di an den Kopf geworfen, dass sie es kaum besser gemacht hätte, aber ihr war selbst bewusst, dass das eine Lüge war. Die ältere Frau seufzte entnervt, glitt elegant vom Fensterbrett herunter.

„Geh dir was Ordentliches anziehen, ich mache uns solange die Suppe warm.“

Laci nickte, kroch unter den Decken hervor. Sie trug ähnlich wie Lady Di nur einen Pullover, der ihr merklich zu groß war – sie erkannte in ihm das weinrote Stück, das sie bereits an Lady Di bewundert hatte. Kurz zögerte sie, bevor sie sich auf den Weg in ihr kleines Zimmer machte. Sie hätte den Pullover gern anbehalten. Als sie ihn auszog, ließ sie ihn auf ihrem Bett liegen. Sie würde ihn waschen, ehe sie ihn Lady Di zurückgab. Eingemümmelt in einen warmen Hausanzug ging sie schließlich in die Küche hinüber, wo Lady Di am Herd stand und in einem Topf mit verführerisch duftender Suppe rührte. Erst jetzt bemerkte Laci, wie hungrig sie eigentlich war.

Ohne sie anzusehen, sprach Lady Di sie an: „Oh, Liddell Alice? Biggys Vermisste ist übrigens tatsächlich wieder aufgetaucht, nach zwei Jahren.“

Laci brauchte einen Moment, aber dann begriff sie – und strahlte. Sie verband mit dem Übernatürlichen immer nur Tod und Zerstörung. Ein Wesen, das einmal vom Übernatürlichen berührt war, blieb beschmutzt und musste getötet werden, wie Lady Di es auch gesagt hatte. So war es bisher immer gewesen.

Dass es auch anders sein konnte, war ein unglaubliches Gefühl. Und noch unglaublicher daran war, dass sie Recht behalten hatte. Dass die Hoffnung sich gelohnt hatte. Es war nicht alles schlecht in der Welt, und Laci war unglaublich glücklich darüber, dass sie hier einen direkten Beweis dafür gefunden hatte.

„Das ist wundervoll!“, erklärte sie ehrlich, ehrlicher als sie diese Worte jemals ausgesprochen haben konnte bisher, und es war das erste Mal, dass sie Lady Di lächeln sah.

Im nächsten Moment nieste sie, kniff die Augen dabei zu, und als sie Lady Di wieder ansah, war das hübsche Gesicht wieder dem Suppentopf zugewandt und Laci sah nur noch ihr dunkles Haar, das in der gelblichen Küchenbeleuchtung warm glänzte.

Drekavac

Die nächsten Aufträge, die sie ereilten, waren entweder nur rachsüchtige Hausgeister, die die neuen Besitzer ihrer Wohnstätten wieder vertreiben wollten, oder blinder Alarm – beides nichts, das Laci irgendwie größer beeindruckt hätte. Mit Hausgeistern hatte sie es schon in der Ausbildung zu tun bekommen, und blinder Alarm bedeutete ohnehin nichts anderes als ein bisschen ungeplante Freizeit.

Bis die Sache mit den Schraten kam, verbrachte Laci eine fast ruhige Zeit voll simpler Aufträge, langen Telefonaten mit Eltern und Freunden, und seltenen Gesprächen mit Lady Di abends am Küchentisch über einer Tasse heißem Kaffee oder Tee. Laci mochte diese Abende wirklich sehr; je mehr sie von Lady Di kennenlernte, desto mehr schloss sie die harsche Frau ins Herz, die selten etwas von sich Preis gab, wenn es nicht nötig war. Auch jetzt, wo sie schon über zwei Monate zusammenarbeiteten, wusste Laci immer noch nicht viel mehr als den Namen ihrer Partnerin. Sie hatte nur dazu gelernt, dass sie eine große Narbe unterhalb der linken Brust hatte. Von einem Einsatz. Die Details wollte Lady Di nicht verraten. Außerdem mochte sie Hunde, aber das hatte sie Laci nicht verraten, sondern das hatte Laci einfach daran gelernt, wie oft Lady Di lächelte, wenn sie Hunde beim Gassigehen sah.

 

Die Schrate waren ein Problem in einer Neubausiedlung, die auf vorher unbebautem, verwildertem Land fertiggestellt worden war. Die dort ansässig gewesenen Schrate, eher einzelgängerische Naturgeister, fanden es überhaupt nicht lustig, ihre Heimat zu verlieren, und begannen, die Bewohner der neuen Wohnsiedlung zu terrorisieren, kaum, dass sie einzogen. In den meisten Fällen waren es keine schweren Vergehen, zumindest nicht auf physischer Ebene. Schrate allerdings erzeugten allein durch ihre Nähe schon heftigste Albträume, weshalb viele der Bewohner unter enormem Stress standen und dringend etwas gegen das Phänomen unternommen werden musste. Aufgrund der hohen Anzahl der Schrate, die sich hier umtrieben, wurde das gesamte Team an aktiven Jägern eingespannt, sowie Paper Boy, der sich hinterher um die Spurenverwischung kümmerte.

Es war eine leidige Arbeit. Schrate waren klein, wendig, und sie hatten schon viel zu viel Zeit gehabt, sich Schlupfwinkel und Verstecke zu finden, in denen sie verschwanden, wenn man ihnen zu nahe kam. Da den Schraten eine positive Wirkung auf die Natur, in der sie lebten, zugesprochen wurde, war die erste Priorität nicht einmal, sie zu eliminieren, sondern schlicht, sie einzufangen und umzusiedeln. Nach zwei Tagen Jagd hatten Laci und Lady Di gerade mal einen Schrat erwischt, während Sasquatch und Bloody Mary noch komplett leer ausgingen. Es dauerte fast eine Woche, bis sich ein effektiver Trott eingestellt hatte, der zumindest sicherstellte, dass jedes Grüppchen am Abend ein bis zwei der kratzbürstigen Naturgeister ins nächste große Wald- und Wiesengebiet fahren konnte.

Am ersten Morgen der zweiten Woche Schrat-Jagd hatte Paper Boy ein Whiteboard aufgestellt, auf dem er mit simplen Strichlisten darstellte, welches Team wie viele Schrate zur Strecke gebracht hatte.

„Wir machen einen Wettbewerb draus. So als Motivation. Wer am Ende die meisten von diesen Kriechtieren erwischt, kriegt… huh. Na, der hat nen Gefallen bei sämtlichen anderen Leuten aus dem Team gut?“

Die Idee schlug ein wie eine Bombe. Es war keine große Sache, aber es als Spiel zu betrachten, machte es Laci viel einfacher, nicht zu frustrieren, wenn eines der kleinen Wesen ihr wieder durch die Lappen ging. Sie stürzte lachend und frohlockend hinterher, und irgendwo in der Ferne hörte sie Bloody Marys glockenhelles Kichern und Splatter fluchte unfeine russische Flüche, die Laci längst zu verstehen gelernt hatte.

Sogar Lady Di lachte, wann immer sie einen Schrat festgesetzt hatte, grinste mit wildem Blick und gebleckten Zähnen zu Laci auf, das sonst so ordentliche, kurze Haar stand ihr wild und zerzaust vom Kopf ab, und sie hatte noch nie schöner ausgesehen.

 

Als es vorbei war, versammelten sie sich in einer hübschen, rustikalen Kneipe, um zu trinken, zu feiern und zu plaudern. Gewinner des Wettbewerbs waren nicht unerwartet Splatter und Gore, die ihre Gefallen gleich ganz unkompliziert einlösten, indem sie sich von jedem einen Drink spendieren ließen – „Wenn wir wirklich mal etwas brauchen, können wir uns sowieso aufs Team verlassen“, erklärte Gore in seinem breiten texaner Dialekt mit einem Grinsen, das eine Lücke zwischen seinen vollzähligen Zähnen entblößte.

Es war ein wunderbarer Abend, voller Gelächter und Fröhlichkeit, der Laci noch lange in Erinnerung blieb. Selten hatte sie sich in einer Gruppe anderer Menschen so wohl gefühlt.

Laci liebte ihre Einheit wirklich.

 

 

***

 

 

Big in Japan sah aus, als hätte er ein paar Nächte nicht geschlafen. Dunkle Ringe unter den dunklen Augen, müder Blick, blasse Haut, und die große Tasse Kaffee, die auf seinem Tisch stand, schien nicht zu helfen. Bloody Mary und Sasquatch waren im Außeneinsatz zusammen mit Teilen eines anderen russischen Stützpunkts, von dem sie Unterstützung bekommen hatten, um eine Baba Jaga zu jagen. Splatter und Gore saßen ebenfalls im Besprechungsraum, Paper Boy und Firestarter waren auch da. Niemand sah wirklich wach aus, und auch Laci fühlte sich müde.

Frühlingsanfang. Für die meisten Leute symbolisierte er ein Erwachen, einen Neubeginn, etwas Positives. Laci hingegen fand spätestens in diesem Jahr so gar nichts Positives daran. Die slawische Mythologie war der festen Überzeugung, dass die Zeit um den Frühlingsanfang mitunter die war, zu der die Geister und Dämonen am Stärksten waren – und am Häufigsten vorkamen.

Leider hatte die Mythologie Recht: Im Moment gab sich Fall nach Fall die Klinke in die Hand. Laci war froh, wenn sie eine Nacht durchschlief, ohne zu einem Notruf gerufen zu werden, der sich aktuell leider nur noch sehr selten als falscher Alarm herausstellte.

Sie gähnte, die Hand vor den Mund gehalten. Lady Di, obwohl so elegant und damenhaft, machte sich die Mühe gar nicht, reckte sich beim Gähnen ungeniert auf ihrem Stuhl. Laci lächelte flüchtig. Es mochte Einbildung sein, aber sie wollte sich einreden, dass Lady Di in den Monaten ihrer aller Zusammenarbeit um einiges lockerer geworden war.

„Unser aktuelles Problem ist ein Drekavac. Übersetzt der Schreier genannt ist die wohl prägnanteste  Eigenschaft dieses Wesens der grausige Schrei, den es ausstoßen kann. Wer seinen Schrei hört, den überkommt angeblich großes Unheil bis hin zum Tode. Nun. Leider stimmt das. Ein Drekavac entsteht aus der Seele eines Neugeborenen, das verstorben ist, ehe es getauft wurde. Was seine Erscheinungsform angeht, scheiden sich die Geister. Mal tierisch, mal menschlich, mal ganz anders. Ihr werdet ihn spätestens hören, wenn ihr ihm begegnet.“

Big in Japan seufzte, klopfte auf die Tischplatte. Es war ein klares Zeichen dafür, dass er unzufrieden war.

„Das größte Problem ist – es ist kein normales Geisterwesen. Überlieferungen zufolge kann man den Drekavac nicht töten oder austreiben – man kann nur seiner Seele den Frieden bringen, wenn er die Gestalt eines kleinen Kindes annimmt. Der verbreitetste Glaube ist, dass es einer Taufe bedarf, um ihn zu befreien. Da wir kein entsprechendes Personal haben, haben Firestarter und ich bereits einen Außenstehenden um Hilfe gebeten, der bereits seit einigen Jahrzehnten Kontakt zum Übernatürlichen hat und unsere Sache schon mehrfach unterstützt hat. Der Drekavac, scheinbar noch den Instinkten seines menschlichen Lebens folgend, fühlt sich am Ehesten hingezogen von Familien. Da Bloody Mary und Sasquatch aber noch eine ganze Weile beschäftigt sein werden, müssen wir mit dem Vorlieb nehmen, was noch halbwegs überzeugend ist – Frauen. Es könnte durch den Anblick einer Frau an seine Mutter erinnert werden und sein wahres, verletzliches Ich zeigen, statt in Gestalt eines Monsters daherzukommen.“

Er sah auf, direkt zu Lady Di und Laci hinüber. Lady Di ächzte unbegeistert.

„Ehrlich? Ich soll Mütterchen für ein Dämonenbalg spielen? Na wunderbar.“ – „Bei deiner Einstellung wird sich das Vieh eh Liddell Alice an den Hals schmeißen“, gackerte Paper Boy amüsiert, wofür er einen bösen Blick bekam und einen gezielt gegen seine Schläfe geworfenen Kugelschreiber. Sofort war er wieder still, schob lieber schmollend die Unterlippe vor und begann dann, eifrig auf seinem Smartphone herumzutippen; sobald klar war, dass sein Typ hier nicht verlangt war, stürzte er sich immer in seine Technik.

„Ihr solltet vorsichtig sein“, führte Big in Japan seinen Vortrag fort, als wäre nichts gewesen, „Zwar ist nicht bekannt, ob der Drekavac in seiner Gestalt als Kleinkind auch physischen Schaden anrichten kann, aber im Zweifelsfall solltet ihr ihm nicht einfach zu nahe kommen. Außerdem soll sein Erscheinen Unglück und einen baldigen Tod bringen, also – seid vorsichtig, wirklich.“

 

Der Kommentar des nahenden Todes ließ Laci zu ihrer Partnerin sehen. Sie erinnerte sich noch an die Erzählungen über deren Partnerverschleiß zu Beginn ihrer Zusammenkunft. Lady Di blickte stoisch nach vorn, die roten Lippen zusammengepresst und einen Ausdruck vollkommener Entschlossenheit und Stärke auf dem winterblassen Gesicht.

 

 

Der Drekavac trieb scheinbar sein Unwesen in einem heruntergekommenen, lieblosen Wohnblock mit abblätternder, bröckliger Fassade, langen Rissen im Putz und schmutzigen, schmucklosen Graffiti. Die Flurwände waren vergilbt und lange nicht mehr gestrichen worden, der Boden alt und hatte längst seine schönsten Tage hinter sich. Ein paar Deckenlampen funktionierten nicht, so dass das Licht je nach Stockwerk eher schummrig war.

Es sah schon aus wie mitten aus einem Horrorfilm entnommen. Laci verstand, dass dieses schaurige Wesen sich diesen schaurigen Ort für seinen Spuk ausgesucht hatte. Unwohl zog sie die Schultern hoch, während sie neben Lady Di durch die Gänge lief. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, erzeugten ein unheimliches Echo, als würde ihnen eine Unzahl an seltsamen Wesenheiten auf Schritt und Tritt folgen.

„Wenn wir das Vieh finden, bleibst du ruhig, verstanden?“, blaffte Lady Di schon fast. Laci schürzte beleidigt die Lippen. Seit ihrem Zusammenstoß mit der Rusálka ganz zu Beginn ihrer Partnerschaft war Laci kein einziges Mal mehr in Panik geraten!

Aber wenn sie ehrlich war, hatten sie seitdem auch nur vergleichsweise harmlose Fälle bearbeitet, bei denen nie so etwas Gravierendes wie eine Todesdrohung im Raum gestanden hatte.

 

Lady Di hätte sich die Mahnung allerdings sparen können – Laci hätte nichts anderes tun können, als ruhig – erstarrt – zu verharren, als sie den Drekavac sah, erhellt durch das unstete Licht einer flackernden Leuchtstoffröhre.

Auf den ersten Blick war er ein kleines Kind, ein kleiner Junge mit zotteligem Haar, schmutziger Kleidung und einem unschuldigen Kindergesicht.

Aber seine Augen!

Laci konnte den Blick nicht von ihnen wenden, während Panik ihr die Glieder lähmte und ihr die Kehle zuschnürte. Es war nichts, das man hätte direkt benennen können. Seine Augen waren Kinderaugen, Menschenaugen, dunkle Iris, wacher Blick. Doch es lag eine so abgrundtiefe, schwere Bosheit in ihnen, dass es Laci den Atem verschlug. Mit einem Mal schien es mehrere Grad kälter im Raum zu sein – und waren das Dampfwölkchen, die ihr Atem in der Luft hinterließ? Sie hörte nur am Rande, wie Lady Di kurz in ihr Telefon sprach, um den Geistlichen zu informieren, wo genau im Gebäude sie waren. Innerhalb weniger Minuten würde er hier sein.

Bis dahin mussten sie den Drekavac festhalten.

Und dann begann er zu schreien. Es war das grausigste, abstoßendste Geräusch, das Laci in ihrem ganzen Leben gehört hatte. Wie eine ganze Armee an gequälten, gefolterten Kinderstimmchen, die sich zu einem unheimlichen, unmenschlichen Jaulen hochgeschraubt hatten, dem es an allem fehlte, was es einmal natürlich und menschlich gemacht hatte. Sie schlug die Hände vor den Mund, bebend, ihre Knie drohten nachzugeben, doch noch hielt sie die Schockstarre aufrecht.

Dabei tat ihr dieses kleine, kinderähnliche Wesen fast Leid. Es sah aus wie ein normales, plärrendes Kind, das seine Mutter im Gedränge des Einkaufszentrums nicht fand. Nur die unmenschlichen Laute, die es von sich gab, erinnerten gerade daran, dass dieses Kind hier alles andere als normal und menschlich war.

Hätte Laci nicht so große Angst, sie hätte ihn in den Arm genommen und getröstet.

 

Ehe sie etwas ähnlich Dummes hätte tun können, setzte Lady Di sich in Bewegung. Ungerührt, mit straffen Schultern und entschlossenem Blick. Sie hob eine Hand, um Laci zu signalisieren, dass sie bleiben sollte, wo sie war, und dann trat sie mit langsamen Schritten auf den Drekavac zu, als wäre es das Normalste der Welt.

Sie war so unglaublich stark.

„Shhh. Es ist gut“, sagte sie, gerade laut genug, dass Laci sie noch hören konnte. Lady Di ging vor dem kleinen Jungen in die Hocke, ihre Stimme so unnatürlich sanft, dass es Laci Unbehagen bereitete; es wollte einfach nicht zu der Frau passen, die sie bisher kennengelernt hatte! Sie tätschelte dem Jungen das Haar, begann wortlos ein russisches Kinderlied zu singen, das Liquid Liar oft vor sich hin summte, wenn er sonst nichts zu tun hatte. Zu Lacis Erstaunen beruhigte sich das kleine Wesen tatsächlich. Hörte auf zu schreien. Sofort hatte sie das Gefühl, eine riesige Last sei von ihren Schultern genommen, und langsam löste sich all die Anspannung in ihren Gliedern. Dennoch immer noch mehr als unbehaglich sah sie zu, wie Lady Di den Jungen an sich drückte, dabei heimlich einen kleinen Behälter aus der Manteltasche holte. Er enthielt Salz – selbst wenn der Drekavac kein normales Geistwesen war, so sollte er wie jedes andere Geistwesen mit dem Salz einzufangen sein, zumindest war das ihre Hoffnung. Der Drekavac schien gar nicht zu merken, was Lady Di tat, während sie in fast chirurgischer Präzision einen Kreis um das Wesen und sich selbst zog.

Als sie fertig war, löste sie sich, und mit einem eleganten Satz war sie aus dem Kreis verschwunden. Ein Moment verging, in dem der Drekavac verarbeitete, was geschehen war, dann fletschte er die Zähne, seine Kinderaugen glühten fanatisch vor eiskalter Boshaft und Wut. Und dann schrie er wieder, so laut, so markerschütternd durchdringend, dass selbst Lady Di sich die Ohren zuhielt.

Es war grauenhaft. Laci war nur froh, dass ihre Unterstützung kurz darauf kam, und nach einer recht improvisierten Taufe… verschwand das Wesen einfach. Die plötzliche Stille dröhnte so laut in ihren Ohren, dass es schmerzte, aber noch nie war Laci so froh gewesen, einfach gar nichts zu hören außer den üblichen Hintergrundgeräuschen des Lebens.

Den ganzen Heimweg über schwiegen sie und Lady Di, und auch die nächsten Tage fühlte Laci sich nicht danach, die wohltuende Stille zu durchbrechen.

 

„Mal sehen, wie lange ihr beide noch lebt“, war Paper Boys Willkommensgruß, als sie wieder in die Kommandozentrale kamen. Lady Di warf ihn locker über den Tisch, mit wildem Blick, drückte ihn fest auf den glatten Untergrund hinunter.

„Mal sehen, wie lange du noch lebst.“

 

 

Wie sich herausstellte, erfreuten sie sich alle noch Monate später bester Gesundheit. Laci dankte allen ihr bekannten und unbekannten Göttern dafür.

Tscherwona Ruta

Mit den Monaten, die kamen und gingen, kam schließlich das Frühlingsgrün und ging der Schnee. Die Sonne wurde zu einem warmen Kitzeln auf der Haut, das aus dem Haus lockte, und sobald man die Innenstadt hinter sich ließ, wurde man überall von den Düften der neu erblühten Pflanzen und Bäume willkommen geheißen.

Nachdem die Zeit des Frühlingsanfangs überstanden war, gingen die Sichtungen des Paranormalen wieder zurück zu einem Maße, in dem sich Arbeit und Freizeit gut die Waage halten konnten.

Im Mai nahm Laci Urlaub, um der Heimat einen Besuch abzustatten, doch sehr zu ihrem eigenen Erstaunen stellte sie in den Staaten angekommen schnell fest, dass sie erst dort Heimweh bekam – nach ihren Kameraden. Sie vermisste die kleine Wohnung in Moskau mit Ausblick auf die Innenstadt, sie vermisste es, jeden Morgen beim Aufstehen Lady Di auf dem Fensterbrett sitzen zu sehen, wo sie umgeben vom Duft ihres Morgenkaffees hinaus auf die Stadt sah. Sie vermisste Paper Boy und seine derben Scherze, Liquid Liar, Gore und Splatter, und natürlich Sasquatch und Bloody Mary, die sie manchmal allesamt zum Essen einluden in das kleine Häuschen, das sie sich inzwischen gekauft hatten. Unter einem hübschen Kronleuchter an einem großen Tisch aß es sich viel schöner als alleine mal schnell in der Küche, wenn gerade die Zeit günstig war. Oder im Auto auf dem Weg zu einem neuen Fall. Sie konnte es kaum erwarten, wieder zurückzukommen.

 

Als sie in Moskau schließlich aus dem Bahnhofsgebäude stolperte, war ihre gesamte Einheit gekommen, um sie zu begrüßen, und während Sasquatch sie noch durch die Luft wirbelte, erhaschte sie einen Blick auf Lady Dis lächelndes Gesicht.

Sie fühlte sich sofort wieder zuhause.

 

 

„Im Grunde sind Sirin Tiere. Große, eulenhafte Vögel, die Brust und Kopf einer Menschenfrau besitzen. Ihr Gesang ist wie der der Sirenen – er lockt die, die ihn hören, in den Tod. Allerdings findet man sie nicht zwingend in Gewässern. Ihre ursprüngliche Heimat liegt um den Euphrat herum, doch heutzutage findet man sie auch in allgemein unbewohnten, häufig gebirgigeren Gebieten. Man kann sie töten. Wir müssen sie töten. Wir vermuten ein Nest im Hochland des Baikalgebirges. Liddell Alice, Lady Di, Bloody Mary, Sasquatch, ihr vier werdet in Zweierteams das abgesteckte Gelände absuchen. Ihr werdet mit Schusswaffen ausgerüstet. Diesmal ist Shadow dafür zuständig, hinter euch aufzuräumen.“

 

Der Auftrag selbst war nicht schwierig – die Sirin waren ziemlich riesig und kaum zu übersehen, wenn man sie einmal entdeckt hatte. Nur das Verständigen mit Ohrenstöpseln in den Ohren und schalldämpfenden Kopfhörern obendrauf, um sich selbst vor dem Gesang der Geschöpfe zu schützen, war recht kompliziert. Laci und Lady Di trennten sich nie weiter als ein paar Meter voneinander, mussten mit Handzeichen kommunizieren. Wenn Bloody Mary oder Sasquatch etwas wollten, mussten sie sich auf den Vibrationsalarm ihrer Telefone verlassen.

Doch trotz der Kommunikationsschwierigkeiten war der Auftrag innerhalb der Spanne eines Halbtages erledigt. Den Abend des 7. Juli, dem Iwan-Kupala-Tag, wie Shadow mit seinem russischen Akzent zu berichten wusste, verbrachten sie irgendwo im Baikalgebirge, ausgerüstet mit Zelten und Campingausrüstung und einem großen, wunderbar warm flackernden Lagerfeuer.

Laci war noch nie campen gewesen, aber an diesem Abend beschloss sie sofort, sie musste es dringend wiederholen. Es war wunderschön! Die Aussicht war atemberaubend, die Umgebung war wunderschön, und es war einfach toll, an einem Feuer mit ihren Kameraden zu sitzen, zu lauschen, wie Sasquatch und Shadow Lieder sangen, zuzusehen, wie Bloody Mary tanzte, als die beiden Männer einen schnelleren Rhythmus anschlugen. Laci klatschte im Takt, und irgendwann ließ sich auch Lady Di dazu mitreißen, sich anzuschließen.

Als sich die Gesellschaft spät abends auflöste, war Laci noch so aufgepeitscht, dass sie an Schlafen nicht denken konnte. Lieber streifte sie durch das wogende Gras, betrachtete Blumen, die zur Nachtruhe ihre Blütenkelche geschlossen hatten. Hinter einem Felsen entdeckte sie eine Blume, die geöffnet war. Im Schein des Mondes war ihre Farbe schwer abzuschätzen, aber Laci tippte auf einen rötlichen Farbton. Sie war wunderschön. Behutsam brach Laci eine der Blumen ab, nahm sie mit zurück zum Lagerfeuer, um sie dort näher betrachten zu können. Shadow, der noch wach war, stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er sie sah.

 

„Du hast Glück, Liddell Alice. Welches Mädchen eine rote Tscherwona Ruta in der Nacht von Iwan Kupala findet, dem ist die große Liebe nicht mehr fern.“

 

 

***

 

 

Zeit verging, die Tage flogen nur so vorbei. Lacis Leben war ein buntes Kaleidoskop aus Unglaublichkeiten und neuen Erkenntnissen, aus Kameradschaft und neuen Freundschaften, Lachen und Bangen, und der Gemeinsamkeit, die man nur erreichte, wenn man ein gemeinsames Geheimnis teilte, wenn man verstand, was der andere durchmachte, wenn er nachts schreiend aufwachte, oder zusammenzuckte vor seinem eigenen Schatten in einer ganz besonders finsteren Nacht.

Laci bereute keine Sekunde, dass sie hergekommen war. Ihr Tagebuch hatte sie immer noch, doch mit jedem Monat wurden die Einträge weniger und weniger, während Laci zu begreifen begann, dass die wirklich wichtigen Erinnerungen viel eher in ihrem Herzen weiterleben würden als auf cremefarbenem Papier.

Der Herbst kam, buntes Laub bedeckte die Straßen, knisterte unter den Füßen, Regenschauer trommelten geheime Melodien auf den Asphalt. Lady Dis tiefroter Regenschirm wurde ein bunter Anker in der grau verregneten Welt, und schließlich wich der Regen der Winterkälte, die die Wangen rötete und den Atem kondensieren ließ. Schnee fiel. Bedeckte die Welt mit einer weißen Schicht aus Geheimnis und Endgültigkeit, eine Decke, die die Welt vor sich selbst verbarg, bis der Frühling sie schließlich neu zum Leben erweckte.

In der Einsatzzentrale hing bereits im Flur hinter der Eingangstür ein riesiger Kalender, auf dem jeder weitere Tag mit rotem Marker durchgestrichen wurde.

Noch _ Tage bis zum Jubiläum! stand darüber geschrieben, und es war Splatter mit seiner Krakelschrift, der jeden Tag die Zahl anpasste. Laci mochte es, beim Hereinkommen vor dem Kalender stehen zu bleiben. Einige der durchgestrichenen Tage enthielten Kommentare – Sasquatch hat den Kaffee verschüttet. Gore schon wieder verschlafen – wir sollten ihm einen Wecker kaufen! Schande über den, der die Donuts aufgefuttert hat.

Dass sie ihr Jubiläum gemeinsam feiern würde, war längst beschlossene Sache. Bloody Mary wollte sich um die Party kümmern – es würde eine Überraschung werden, hatte sie breit strahlend verkündet. So richtig stören tat das niemanden; die Männer waren ohnehin keine Party-Organisationstalente ihren eigenen Aussagen nach, und Laci war noch viel zu beschäftigt damit, ihr wunderbar spannendes Leben zu verarbeiten, als dass sie sich darauf hätte konzentrieren können. Und Lady Di – war Lady Di. Sie war allgemein ein Partymuffel.

 

 

Noch 10 Tage bis zum Jubiläum! verkündete die Schrift über dem Kalender, als Laci an diesem Morgen an der Seite ihrer Partnerin die Kommandozentrale betrat. Dieses Mal war es aber nicht Splatters Gekrakel. Sie erkannte Big in Japans säuberlich akkurate Schrift.

„Splatter ist nicht da!“, rief Paper Boy hinüber, als er mit ein paar Kaffeebechern aus der Küche kam, „Er und Gore mussten kurzfristig zu einem Einsatz in der Nacht los. Deshalb hat Biggy übernommen.“

Er grinste, hob die Kaffeetassen auffordernd hoch.

„Los kommt, die sind für euch, Besprechung geht gleich los! Notfall und so.“

 

Der Notfall und so entpuppte sich als ein ziemlich großes Problem: Mindestens ein Dwojeduschnik suchte eine Siedlung am Rande von Moskau auf und tötete dort auf recht typisch vampirische Art des Nachts die Anwohner. Splatter und Gore, die bereits Erfahrung mit Vampirwesen hatten, waren bereits losgeschickt worden, um die Situation in Augenschein zu nehmen. Ihr erster, vorläufiger Bericht bestätigte die Vermutung, dass es sich um einen Dwojeduschnik handelte – nur einen, scheinbar. Was nicht hieß, dass es dadurch einfacher wurde.

„Diese Viecher haben eine ganz abartige Eigenheit: Sie verfügen über zwei Seelen, sagt man. Eine menschliche, eine dämonische. Ob das so stimmt… na ja. Jedenfalls verfügen sie über zwei Lebensquellen, von denen sie eine außerhalb ihres Körpers verstecken können. Meist geschieht das an möglichst unauffälligen Orten. Früher unter Steinen, heute sind sie wahrscheinlich ein wenig mehr an heutige Lebenssituationen angepasst und nutzen auch andere Verstecke, die man nicht oder nur schwer finden kann. Wenn man diese zweite Seele nicht zerstört, kann man die Viecher noch so oft abknallen, es passiert nichts. Sie kommen einfach wieder. Gores Bericht zufolge hat der Dwojeduschnik sich einfach wieder zusammengesetzt, kurz nachdem sie ihm die Birne weggepustet haben. Das war ein Zitat. Wir haben Unterstützung einer anderen Einheit bekommen, sie sind bereits unterwegs. Wir werden alle verfügbaren Kräfte, Operationseinheit wie Organisationseinheit, brauchen, um diese zweite Seele ausfindig zu machen. In den letzten zwei Wochen gab es bereits zehn Todesfälle. Wir müssen schnell handeln.“

 

Ein weiterer Haken der ganzen Geschichte war, dass die Seele des Dwojeduschnik nur gefunden werden konnte, solange er aktiv war – also nachts. Außerdem musste er sie nicht wieder zu sich holen, wenn er sich zur Ruhe bettete, sonst hätte man ihm wohl einfach zu seinem Versteck folgen können und hoffen, dass man ihn mit gutem Timing überwältigen konnte.

Sie mussten tatsächlich suchen.

Es war das frustrierendste, ermüdendste und zermürbendste, das Laci jemals erlebt hatte. Jeden Abend nach Sonnenuntergang zogen sie los, dick eingepackt in warme Kleidung, behindert durch Schnee und Eis, wühlten sich durch jeden Ort, der ihnen auffällig unauffällig erschien – Mülltonnen, Container, Steine und kahles, dicht verästeltes Gebüsch. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde umgedreht, noch einmal umgedreht. Es war, als suchten sie die Nadel im Heuhaufen. Immer zu zweit unterwegs, zur Sicherheit, und fast jeden Morgen fanden sie neue Todesmeldungen in der Zeitung.

Eine Woche verging – nichts passierte. Es war wie damals bei der Rusálka. Zwischen aller Resignation und allem Frust stellte sich bei Laci unbedachte Unbekümmertheit ein. Die Gewissheit, dass sie nichts finden, dass nichts passieren würde, wurde mit jedem Tag stärker, Laci sah sich schon bald nicht mehr nach jedem Schatten um.

 

Hätte sie es getan, hätte es auch keinen Unterschied gemacht. Er erschien völlig aus dem Nichts. Ein Wesen, menschenähnlich, aber nicht ganz menschlich, in der trüben Beleuchtung größtenteils ausgefallener Straßenbeleuchtung kaum zu erkennen. Der Dwojeduschnik war von einem Moment auf den anderen einfach da, ohne Laut, ohne Hinweis auf sein Kommen.

Er stand da, die Zähne gebleckt, blutbeschmiert und gefährlich fauchend. Irgendwo weit hinten am Horizont war ein erster Streifen herannahender Helligkeit zu erahnen. Die Nacht war bald vorbei.

„Wir haben ihn“, flüsterte Lady Di atemlos. „Hier irgendwo muss es sein. Liddell Alice! Such!“

Und damit war sie vorgeprescht, ihr roter Schal peitschte hinter ihr her, als sie ihre Waffe zog. Mit einem ohrenbetäubenden Knall fetzte das Geschoss das halbe Gesicht des Monsters weg – es lachte nur, zumindest schien das gurgelnde Geräusch ein Lachen zu sein, und noch während Laci zusah, setzte sich das kaputte Gewebe einfach wieder zusammen.

„BEWEG DICH, LIDDELL ALICE!“

Lady Dis Schrei riss sie aus ihrer Trance, und sofort stürmte sie los. Hinter sich hörte sie die Geräusche des Kampfes, knallende Pistolenschüsse, Fauchen und Fluchen, Lady Dis Stimme, Schreie, Flüche – sie sah nicht zurück. Durfte nicht zurücksehen. Sie stolperte, doch sie lief weiter.

Sie musste diese Seele finden.

Wieder stolperte sie. Ein loser Pflasterstein. Laci fluchte – dann erstarrte sie.

„Ich hab sie!“, rief sie laut aus, fiel vor dem Stein auf die Knie und zerrte ihn mit behandschuhten Fingern hoch. Mit einem dumpfen Aufschlag kam der Stein auf seinen Artgenossen zum Liegen, brachte nicht nur eine Lücke im Pflaster zum Vorschein, sondern auch… ein schlagendes Herz. Laci überkam Übelkeit, die sie mühsam niederrang, während sie nach ihrem kleinen Silberdolch griff. Ein Stich, und das körperlose Organ zerplatzte wie eine überreife Tomate, verspritzte eine dunkle, dampfende Flüssigkeit um sich herum.

Mit einem ohrenbetäubenden, gequälten Kreischen verging der Dwojeduschnik. Laci nahm sich keine Sekunde, um sich ihrer Erleichterung hinzugeben. Sofort eilte sie zu ihrer Partnerin hinüber, die sie mit müdem Blick angrinste. Sie war verletzt, überall voller blutiger Kratzer, und zwei kleine, blutige Punkte an ihrem Hals zeigten den Flecken, wo das Monster sich hatte verbeißen wollen, ehe es zugrunde ging.

„Gerade noch rechtzeitig“, kommentierte Lady Di, trotz ihrer Erscheinung völlig trocken und locker. Sie straffte die Schultern wieder, brachte mit einem Kopfschütteln ihr Haar wieder in Form und sah Laci dann abschätzend an.

„Vielleicht wird doch noch was aus dir.“

 

Laci strahlte. Es war das größte Lob, das sie bisher bekommen hatte.

 

 

„Wir haben unsere eigene Jubiläumsparty verpasst“, verkündete Bloody Mary enttäuscht, als sie endlich zurück in ihrer Einsatzzentrale waren. Splatter hatte bereits in der Lücke auf dem Plakat am Kalender eine -3 notiert. Sie waren drei Tage zu spät.

„Nächstes Jahr“, beschloss Bloody Mary lachend, „Wir haben ja noch einiges an Zeit vor uns hier! Nicht wahr?“

Big in Japan bejahte, Gore verkündete ächzend, dass er nächstes Jahr schon im Ruhestand sein wollte, doch niemand glaubte ihm so recht.

Es ging einfach weiter.

Laci war enttäuscht, dass sie ihr Jubiläum völlig vergessen hatten. Es war ein wichtiges Datum gewesen.

 

„Ich verstehe nicht einmal, wieso wir feiern müssen, dass wir es ausgehalten haben, so und so lange aufeinander zu hängen.“

Lady Di saß wieder auf ihrem Lieblingsplatz auf der Fensterbank, als Laci mit zwei Tassen Kaffee und einem betrübten Kommentar aus der Küche kam. Sie hob eine elegant geschwungene Augenbraue und schwang die Beine ebenso elegant von dem breiten Fensterbrett. Sie trat zu Laci hinüber, nahm ihr eine Kaffeetasse aus der Hand, beugte sich zu ihr hinab.

„Feiern wir lieber, wie viel gemeinsame Zeit noch vor uns liegt. Und dafür brauchen wir nun wirklich kein Datum.“

Mit diesen Worten beugte sie sich weiter vor, bis ihre roten Lippen Lacis streiften. Ehe das perplexe Mädchen hätte reagieren können, war Lady Di mit wiegenden Hüften in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Erst Minuten später kam wieder Regung in Laci, ein sanftes, seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
 

Die rote Blume, die sie einst in der Nacht der Sommersonnenwende gefunden hatte, lag getrocknet immer noch auf ihrem Schreibtisch.

 

Sie hatte Recht behalten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück