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Lucille

Das schwarze Schaf der Auclaires
von

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Prolog

"Wer bist du?", fragte das blasse Mädchen im viel zu großen Strickpullover die Stimme in ihrem Kopf.

Das ist nicht leicht zu beantworten, sagte die Stimme.

"Bist du Gott?", fragte das Mädchen. Sie hatte gehört, dass der manchmal zu Menschen sprach.

Die Stimme lachte. Ganz sicher nicht. Für dich bin ich so viel mehr.

Deine Zukunft. Dein Schicksal. Deine Bestimmung.

Alles, was du tun musst, ist, mich zu finden.

Eine kleine Nachtmusik

"Glaubst du, sie schafft es?"

"Schafft was?"

"Es zu überstehen. Dieses Leben, meine ich."

"Warum sollte sie nicht? Ich meine, es funktioniert doch."

"Ich weiß, aber-"

"Sehr gut sogar."

"Ja, aber-"

"Wir sind der lebende Beweis! Sieh dir doch an, was wir damals durchgemacht haben. Und was heute aus uns geworden ist."

"-aber wenn sie es doch nicht schafft? Sie ist... anders. Anders als wir."

...

"Nicht mehr lange."
 

Eines Tages, da schallte Klaviermusik durch die ehrwürdigen Hallen des Auclaire-Anwesens, das außerhalb der Stadt auf einem Hügel lag. Etwas unbeholfen und unregelmäßig irrten die Töne durch den Saal, der als Musikzimmer diente, aber dennoch war die 'Kleine Nachtmusik' von Mozart deutlich zu erkennen.

Da schlich sich eine kleine Dissonanz in die Tonreihe, statt einem H hallte ein B durch den Saal, für ungeübte Ohren war das Missgeschick fast nicht wahrzunehmen.

Doch plötzlich ertönte ein lautes hölzernes Krachen, gefolgt von einem disharmonischen Misston. Die Nachtmusik brach abrupt ab.

"Schwach", sagte Madame Auclaire kalt und hob den Klavierdeckel wieder von den Fingern ihrer Tochter. Lucille Séraphine Auclaire hielt still und biss sich fest auf die Lippe, um sich am Aufschreien zu hindern.

"Wozu bemühe ich mich eigentlich noch? Du wirst es doch niemals schaffen."

Lucille brauchte nicht nach oben zu sehen, um zu wissen, wie ihre Mutter sie ansah. Den Ausdruck von Kühle und maßloser Enttäuschung in ihrem Gesicht kannte sie nur zu gut.

"Versuchen wir es noch einmal." Die Stimme von Madame Auclaire veränderte sich, wurde beinahe lauernd. "Du willst mich doch stolz machen, oder?"

Lucille nickte, sie kämpfte mit den Tränen. Zu den vielen Blutergüssen auf ihren zitternden Fingern hatte sich soeben ein eingerissener, blutiger Nagel gesellt.

"Das will ich hoffen. Los! Noch einmal von vorne, und diesmal vernünftig!"

Ein Tropfen Blut fiel auf die blütenweißen Tasten des Klaviers, als Lucille das Stück noch einmal anfing.
 

Eines Tages, da schien die Sonne und schickte ihre wundervoll wärmenden Strahlen über den Hügel des Auclaire-Anwesens. In Lucilles Zimmer jedoch waren alle Vorhänge zugezogen, um nicht den geringsten Lichtstrahl durchzulassen.

"Attention, s'il vous plaît!"

Das 30-Zentimeter-Lineal von Monsieur Auclaire sauste pfeifend durch die Luft und traf mit einem ohrenbetäubenden Knall auf die Tischplatte. Obwohl sie nichts anderes erwartet hatte, fuhr Lucille zusammen.

"Alors, le subjonctif. On l'utilise pour exprimer sa volonté- was schreibst du da schon wieder, Lucille?!"

"Nichts", sagte Lucille schnell und bedeckte den Notizzettel auf ihrem Heft mit ihrem Arm. Aber ihr Vater ließ sich nicht so einfach abwimmeln.

"Lüg nicht!", rief er zornig, "Was versteckst du da?" Er trat an Lucilles Schreibtisch und riss den Zettel unter ihrem Arm hervor.

Mit zunehmend gerunzelter Stirn las er die Notiz.
 

Comment s'appelle un chien qui vend des médicaments?

Un pharmaCHIEN!

:D :D :D
 

Verständnislos sah Monsieur Auclaire zwischen dem Zettel und seiner Tochter hin und her. "Was soll das denn sein?", blaffte er verärgert.

"Naja, es... ist ein Wortwitz", erklärte Lucille zögernd. "Auf Französisch. Ich... fand es lustig..."

Ihr Vater sah spöttisch auf sie herab.

"Ach, ist es das?", fragte er, riss den Zettel in kleine Fetzen und entsorgte sie in Lucilles Papierkorb. "Durch so etwas lässt du dich vom Französischunterricht ablenken? Schwach, Lucille."

Lucille schwieg.

"Vergeude deine Zeit nicht mit solchem Unsinn! Du hast noch genug zu lernen. Wo waren wir? Ach ja. Le subjonctif."
 

Eines Tages, da hingen schwere graue Wolken über dem Anwesen der Auclaires, die Luft war stickig und schien wie aufgeladen vor Elektrizität. Man konnte das aufziehende Wintergewitter bereits schmecken.

"M-mir ist kalt", sagte Lucille bibbernd. Ihr Atem erschuf weiße Wolken in der Luft, ihre Schritte knirschten auf dem rauhreifbedeckten Rasen und die blassen Finger hatte sie so fest um den Degen in ihrer Hand geschlossen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Die Kälte kroch durch die Maschen ihres viel zu großen Strickpullovers und ergriff langsam Besitz von ihrem Körper, lähmte jeden einzelnen Knochen.

Corinne Genevieve Auclaire, ihre ältere Schwester und ihres Zeichens Olympia-Fechterin, schnalzte verärgert mit der Zunge. "Natürlich ist dir kalt. Du bist ja auch ein untrainiertes, verzogenes Gör, das Sport höchstens aus dem Fernseher kennt."

Lucille schwieg, während Corinne sich die schönen langen blonden Haare zurückband und eine Art Gummihülse auf die Spitze ihres Degens steckte.

"B-brauche ich n-nicht auch so eins?", fragte sie. Ihre Zähne hatten angefangen zu klappern.

Corinne schenkte ihr nur ein spöttisches Lächeln. "Oh, ich könnte dir durchaus eines geben. Aber wozu teures Material verschwenden? Seien wir einmal ehrlich, naive kleine Schwester: Du wirst mich niemals treffen. Los! Versuche es ruhig."

Corinne machte einen Ausfallschritt nach hinten, ging leicht federnd in die Knie und streckte Lucille herausfordernd die Spitze ihres Degens entgegen.

Lucille sah unsicher zwischen der Gummihülse und dem auffordernd blickenden Gesicht ihrer Schwester hin und her. Dann zwang sie ihr unter der dünnen Leggins erstarrtes Bein, sich von seinem Platz zu lösen und einen ungelenken Schritt nach hinten zu tun. Ihre Knie knackten unheilvoll. Als sie ihren Degen hob und ihn mit Corinnes kreuzen wollte, scheiterte sie daran, dass sie die silbern glänzende Spitze keine Sekunde lang still halten konnte. Stattdessen zitterte ihr Degen unkontrolliert in der Luft herum und erzeugte jedes Mal ein metallisches Klirren, wenn er gegen den Degen ihrer Schwester stieß.

Corinne verdrehte resigniert die Augen. "Du bist wirklich hoffnungslos, nicht wahr?"

Und dann griff sie an.

Viel mehr als ein silbernes Aufblitzen und ein leises Zischen, als die Klinge des Degens die Luft zerteilte, bemerkte Lucille nicht, bevor sich die Gummihülse genau zwischen zwei Rippen in ihren Wollpullover bohrte. Vor Überaschung und Schmerz keuchte sie auf und stolperte ein paar Schritte zurück.

"So hoffnungslos", kommentierte Corinne herablassend und startete bereits ihren nächsten Angriff. Diesmal tänzelte sie erst ein paar Schritte auf Lucille zu, ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht.

Sie hatte nie vor, mit mir zu trainieren, dachte Lucille. Sie spielt nur mit mir.

Noch während sie diesen Gedanken fasste, machte ihre Schwester plötzlich einen einen riesigen Ausfallschritt nach vorne. Ihr Arm und der Degen schienen sich für einen kurzen Moment zu verlängern, dann grub sich die silberne Spitze mit der Hülse darauf von unten in Lucilles Achselhöhle.

Die Getroffene schrie auf. Die Spitze des Degens hatte einen Nerv getroffen, und nun begann Lucilles ganzer Arm, taub zu werden. Hastig nahm sie den Degen in ihre schwächere rechte Hand, um ihn nicht fallenzulassen, denn ihr gesamter linker Arm war innerhalb von wenigen Sekunden nutzlos geworden. Auch ihr verzweifelter Versuch, die Taubheit wegzumassieren, hatte keinen Erfolg.

"Unfähig", flötete Corinne. Sie begann wieder, zu tänzeln.

"Hör auf!", schrie Lucille sie an, sich die gelähmte Schulter haltend und mit den Tränen kämpfend. "Warum tust du das? Hab ich dir was getan?!"

"Hast du nicht." Corinne verzog angewidert das Gesicht. "Schon deine bloße Existenz macht mich krank."

Das reichte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Mit ihrem verbliebenen Arm hob Lucille ihren Degen und rannte mit wütendem Gebrüll auf ihre Schwester zu. Sämtliche Fechtregeln waren ihr egal, alles, was sie jetzt noch wollte, war, Corinne das hübsche Gesicht zu zerkratzen. Diese schien der Angriff allerdings wenig zu beeindrucken, leichtfüßig wich sie Lucilles zornig geschwungenen Degen aus, sprang über einen zweiten Hieb hinweg und duckte sich, sodass Lucilles Degen Luft zerschnitt, wo eben noch ihr Hals gewesen war. Langsam sah Lucille ein, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte, aber der blinde Zorn hielt sie davon ab, einfach aufzugeben. Rasend vor Wut und Verzweiflung stocherte sie weiter Löcher in die Luft.

"Lächerlich", amüsierte sich Corinne und glitt auch unter dem siebten Angriff geschickt hindurch.

Und dann stand sie plötzlich direkt hinter Lucille, das eisige Metall ihres Degens an der Kehle ihrer jüngeren Schwester. Sofort erstarrte diese in ihrem rasenden Angriffsversuch und hörte, wie Corinne ihr mit warmem Atem fünf Worte ins Ohr hauchte.

"Du bist eine. Einzige. Enttäuschung."

Dann holte sie aus und rammte Lucille die gepolsterte Spitze ihres Degens in die Kniekehle.

Ein erstickter Schmerzensschrei stieg als weißer Nebel gen Himmel auf, während eine lähmende Welle aus Schmerzen durch Lucilles Bein fuhren. Der Degen rutschte ihr aus den Fingern. Ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, knickte ihr Knie ein und sie fiel auf den gefrorenen Rasen, wo sie vor Schmerzen und Erschöpfung wimmernd liegen blieb.

"Schwach", ertönte über ihr Corinnes verächtliche Stimme. Dann grollte der erste Donnerschlag über ihre Köpfe hinweg und wie auf ein geheimes Kommando hin öffnete der Himmel seine Schleusen.

Gerade noch rechtzeitig.

Sonst hätte Corinne die Tränen bemerkt, die über Lucilles Wangen strömten.
 

Eines Tages, da saß Lucille allein in ihrem Zimmer. Bis auf einen Tisch, einen Stuhl und ein Bett war es leer, weil Lucille nichts besaß, was man sonst noch hätte hineinstellen können, abgesehen vielleicht von einem Bleistift, auf dem ein Frosch abgebildet war.

Den Bleistift in der rechten Hand, saß sie an ihrem Schreibtisch und starrte auf ein leeres Blatt Papier, als ein Wispern erklang, das nicht von außen, sondern direkt aus ihrem Kopf zu stammen schien.

Hallo, Lucille. Lange nicht gesehen, sagte die Stimme.

Das stimmte. Früher hatten sie sich viel öfter getroffen, um zu reden, aber die Stimme hatte gelernt, Lucilles Familie zu meiden und besuchte sie nur noch, wenn sie alleine war.

Was ist? Begrüßt man so einen alten Freund?

Lucille antwortete nicht. Sie hatte gelernt, die Stimme zu ignorieren, und außerdem war sie sowieso kein angenehmer Gesprächspartner, schadenfroh, wie sie war. Immer und überall hatte sie Lucille früher in Schwierigkeiten gebracht.

Allerdings war die Stimme auch ihr einziger Gesprächspartner.

Was soll ich tun?, fragte sie also stumm. Sie hatte auch gelernt, der Stimme nicht laut zu antworten. Auf die harte Tour.

Brenne, sagte die Stimme.

Ich trau mich nicht, dachte Lucille.

Dann schreib.

Warum sollte ich auf dich hören?, fragte Lucille. Seit ich denken kann, hast du alles nur noch schlimmer gemacht.

Definiere 'schlimmer', sagte die Stimme spöttisch.

Lucille zögerte.

Dann nahm sie den Stift in die linke Hand und schrieb.
 

Eines Tages, da rollte eine auf Hochglanz polierte weiße Limousine mit verspiegelten Fenstern und so angeberisch lang, dass eine ganze Schulklasse darin Platz gehabt hätte, aus der Garage des Anwesens und den Hügel hinunter in Richtung der Stadt. Drinnen saß aber keine Schulklasse, sondern nur der zur Zeit angesagteste Modedesigner der gesamten westlichen Welt mit seinem Chauffeur und seiner jüngeren Schwester, die heute zum ersten Mal in ihrem Leben etwas anderes zu sehen bekommen würde als das Auclaire-Anwesen von innen.

"... in Ordnung, dann sag Frances, sie soll die Entwürfe, die ich ihr geschickt habe, direkt nach Paris weiterleiten. Dort werden wir die neue Kollektion zuerst vorstellen. Und sag ihr auch, es eilt. Ich will, dass die Kleider der Welt pünktlich zu Beginn der Sommersaison präsentiert zu werden! ... ja. Ja, genau."

Fabien Raphaël Auclaire nickte, dann schwieg er eine Weile und trommelte mit seinen manikürten Fingernägeln angespannt auf der Armlehne herum.

Lucille, die ihm gegenüber saß, trank die gekühlte Limonade, die sie sich aus der Minibar der Limousine hatte nehmen dürfen, damit sie ihren Bruder nicht bei seinen geschäftlichen Besprechungen störte. Während sie in kleinen Schlucken an der Limonade nippte und unauffällig den Briefumschlag in ihrer Hosentasche zurechtrückte, bewunderte sie heimlich Fabiens Frisur. Sie sah genau so aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen, aber Lucille wusste, dass er den ganzen Morgen im Bad verbracht hatte, um diesen Look hinzukriegen. Lucille verstand nicht ganz, warum das nötig gewesen war, denn hinterher hatte er genauso ausgesehen wie vorher. Dafür war nun vermutlich jedes seiner Haare ein paar Euro teurer geworden. Aber vielleicht war es genau das, worum es im Modebusiness ging: Am Ende genauso auszusehen wie vorher und dafür ein paar Tausend Euro hinzulegen.

Lucille war stolz auf sich. Sie glaubte, einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zum Verstehen der Außenwelt gemacht zu haben.

Plötzlich ging ein Ruck durch Fabien, er fuhr aus seinem Sitz hoch.

"Bitte WAS?!", brüllte er sein Smartphone an. Lucille zuckte zusammen, so sehr, dass sie fast ihre Limonade verschüttete.

Fabien bemerkte das gar nicht. Mit völlig entgeistertem Gesicht ließ er sich in seinen Sitz zurücksinken, als hätte sein Manager ihm soeben das Ende der Welt verkündet.

"Nein! Nein, nein, nein! Auf gar keinen Fall kommt Rosé neben Bordeaux. Willst du mich in den Ruin treiben?! Rosé kommt zu der Schwarz-Weiß-Kombi und Bordeaux kommt neben das maigrüne Kleid. Schreib dir das hinter die Ohren! Wenn ich bei der Premiere Rosé neben Bordeaux sehe, weiß ich, wen ich dafür feuern muss!"

Er fuhr sich durch die Haare und schien sich wieder einigermaßen beruhigt zu haben.

"... ja. Okay. Und sag es auch Frances, nicht, dass sie es noch vergisst. Das wäre dann erst einmal alles, ich melde mich später nochmal. Okay. Bis dann."

Er beendete das Telefonat, seufzte gestresst und steckte sein Smartphone weg. Dann endlich hob er den Blick und sprach mit Lucille, die ersten Worte, die er seit fast zwei Jahren an sie richtete.

"Also, ich nehme an, du weißt Bescheid. Maman hat dir den Grund dieses kleinen Ausflugs mitgeteilt, nicht wahr? Wir sind auf einer Mission. Der Mission streichen wir das schwarze Schaf der Auclaires weiß an. Und du weißt ja, wie das mit Missionen ist, nicht wahr?"

Lucille brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er auf diese Frage tatsächlich eine Antwort erwartete.

"Also... man muss sie erfüllen... ? So schnell wie möglich?"

Fabien verdrehte die Augen. "Ja, das sowieso. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, ich kann mir keine Zeitverschwendungen leisten. Nein, das meinte ich nicht. Was weißt du noch über Missionen?"

Lucille runzelte die Stirn. Ihre Mutter hatte ihr nicht gesagt, dass der Ausflug zu einer Quizrunde werden würde.

"Sie... sind geheim?", fragte sie zaghaft.

Ihr Bruder schnippte mit den Fingern. "Korrekt", sagte er. "Sie sind geheim. Und deswegen wirst du auch niemandem sagen, wie du heißt oder wer du bist. Sprich nur mit mir und das auch nur dann, wenn ich dich etwas frage. Verstanden?"

Lucille nickte und nippte an der Limonade. Die Kanten des zusammengefalteten Briefumschlags in ihrer Hosentasche schienen sich plötzlich noch tiefer in ihren Oberschenkel zu bohren. Sie hatte auch eine Mission. Und sie hatte keinesfalls vor, die geheimzuhalten.

Der Wagen blieb stehen.

"Gut." Fabien nutzte die Spiegelung seines Smartphone-Bildschirms, um sich seine Haare noch ein letztes Mal vor dem Aussteigen zurechtzuzupfen. "Wir sind nämlich da."

Die erste Station der Mission war ein schicker Friseursalon. Schon vor der Tür eilten mindestens ein Dutzend Angestellte auf Fabien und Lucille zu, um ihn willkommen zu heißen, um ihm die Hand zu schütteln, um ihn um ein Autogramm zu bitten, um ihn mit Tausenden Fragen zu durchlöchern, die hauptsächlich seine Begleitung betrafen.

"Eins der Werbegesichter für die neue Kampagne", log Fabien mit zuckersüßer Stimme. "Ganz reizend, nur leider sehr schüchtern." Und während er ihre viel zu großen Klamotten naserümpfend musterte, fügte er hinzu: "Gerade erst entdeckt worden. Sie braucht unbedingt ein komplettes Makeover und ich dachte mir, fangen wir bei der Frisur an. Wir haben noch viel vor, also los, worauf wartet ihr noch? Tut das, was ihr am besten könnt! Hopp, hopp!"

Auf sein aufforderndes Händeklatschen hin brach ein wahrer Wirbelsturm aus Friseuren in weißen Kitteln, Scheren und Shampoos über Lucille herein. Er drückte sie in einen Frisierstuhl, schmierte ihre Haare mit duftendem Zeug ein, schob ihr Modekataloge ins Blickfeld, stritt sich lautstark über die am besten passende Frisur, einigte sich, ließ seine Scheren durch Lucilles Haare tanzen, korrigierte letzte Feinheiten, glättete Strähnen, fixierte mit Haarspray, hielt ihr einem Spiegel vor die Nase, zog sie schließlich wieder aus dem Frisierstuhl hinaus und eskortierte sie unter tausend Lob- und Dankesreden zur Tür hinaus.

Kaum eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft stand Lucille wieder an der Limousine und verstand die Welt nicht mehr, ihr Kopf schwirrte immer noch von all den Menschen, all den Farben und all den Gerüchen.

Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild in dem verspiegelten Fenster, zupfte an einer Haarsträhne ihres Ponys herum und erkannte sich nicht.

"Das ging ja erfreulich schnell", meinte Fabien mit einem Blick auf sein Smartphone. Der Chauffeur hielt ihm stumm die Türe auf und Fabien stieg ein. "Vielleicht schaffe ich es heute ja doch noch nach Berlin. Los, Beeilung!"

Lucille riss sich endlich von ihrem fremden Spiegelbild los, nickte und folgte ihm.

Erst, als sie sich wieder hinsetzen wollte, merkte sie, dass der Brief immer noch in ihrer Hosentasche steckte.

Ihr anschließender Besuch in einer von Fabiens eigenen Filialen verlief ähnlich, wenn nicht sogar noch schlimmer. Sobald er das Gebäude betrat, stürzten sich alle Mitarbeiter auf ihn, um hysterisch herumzukreischen, ihn in den höchsten Tönen zu loben, ihn um ein Autogramm oder ein Selfie anzuflehen. Fabien schien das zu genießen. Er gab Autogramme ("Oh mein Gott, ich habe ein Autogramm von Fabien Auclaire!"), schüttelte Hände ("Die wasche ich mir nie wieder!"), machte Selfies ("Das hänge ich bei mir übers Bett!") und wählte ganz nebenbei auch noch drei schicke Kleider für Lucille aus. Ehe sie es sich versah, standen sie schon wieder draußen und Lucille hatte inmitten der Fabien-Anbeter erneut keine Gelegenheit gehabt, jemandem ihren Brief zu geben.

Das Herz rutschte ihr in die Hose. Bald war die Shopping-Tour vorbei. Und danach würde vielleicht nie wieder Zeit für die Wahrheit sein.

Aber dann, im Schuhgeschäft, dem letzten Missionskontrollpunkt, machte Fabien einen Fehler und für einen Moment war die Welt wieder in Ordnung. Während er draußen auf dem Gang ein paar Sekunden zu lange mit einer Angestellten plauderte, ergriff Lucille zum ersten Mal in ihrem Leben eine Gelegenheit. Sonst rutschten ihr die glitschigen Dinger immer aus den Fingern.

"Ich bin nicht die, für die Sie mich halten", sagte sie leise zu dem Schuhverkäufer, der gerade dabei war, die Vorzüge von sommerlichen Ballerinas anzupreisen. Ihre Stimme klang heiser, sie hatte sie lange nicht benutzt.

"... und sie passen ganz hervorragend zu leichten Sommerkleidern- äh, was? Was haben Sie gesagt?"

"Ich bin kein Model." Lucille zog den Brief aus ihrer Hosentasche und hielt ihn dem verblüfften Verkäufer entgegen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Finger zitterten, aber er sah freundlich und hilfsbereit aus, etwas überrumpelt, aber trotzdem neugierig, er sah aus, als würde er ihn nehmen, er streckte die Hand aus, Gott sei Dank, bald war alles vorbei-

"Was? Aber natürlich bist du das."

Lucilles Herz setzte einen Schlag aus, als Fabiens Stimme direkt hinter ihr erklang. Sie wagte es nicht, sich zu ihm umzudrehen, sie wagte es nicht, stehenzubleiben, aber sie wagte es auch nicht, wegzulaufen. So stand sie wie erstarrt da, die Faust fest um den mittlerweile zerdrückten Brief in ihrer Hand geschlossen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Ihr Bruder trat neben sie. "Sie müssen verzeihen", entschuldigte er sich lächelnd bei dem Verkäufer. "Es ist ihr erster Tag im Modebusiness." Seine manikürte Hand krallte sich in Lucilles Schulter und zwang sie so, ihn anzusehen.

"Sie kann ihr Glück noch gar nicht fassen." Sein Mund lächelte, aber aus seinen Augen funkelte kalter Zorn.

Doch der Verkäufer ließ sich nicht so leicht abwimmeln. "Entschuldigen Sie, Monsieur Auclaire, aber... warum sagt sie, sie sei kein Model? Wer ist sie? Und was sollte das mit dem Brief?" Er deutete auf Lucilles Hand.

Fabiens Blick zuckte ebenfalls zu dem Brief. Mit einer schnellen, aggressiven Bewegung riss er ihn Lucille aus der Hand und machte einen weiteren Schritt auf den Verkäufer zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten.

"Das braucht Sie überhaupt nicht zu interessieren", erklärte er gefährlich leise. "Für Sie ist dieses Mädchen nichts weiter als eine geistig verwirrte Kundin, verstanden?"

Der Verkäufer schluckte. "Aber-"

"Oh, habe ich da einen Widerspruch gehört? Hoffentlich nicht, denn sollte nur ein einziges Wort über diese Angelegenheit an die Öffentlichkeit kommen, werde ich diese Filiale schließen und alle Mitarbeiter fristlos entlassen. Und glauben Sie mir, ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie nie wieder eine Arbeit finden. Verstanden?"

Der Verkäufer schwieg angsterfüllt.

"Ich. Habe. Sie. Etwas. Gefragt."

"J-ja, ich hab's verstanden, Monsieur", sagte der Verkäufer hastig. "Ganz klar, Monsieur. Entschuldigen Sie vielmals, dass ich gefragt habe, Monsieur." Dann wich er zurück und eilte davon.

"Das überlege ich mir noch", zischte Fabien ihm hinterher, dann wandte er sich zu seiner Schwester um.

"Weißt du, ich habe nicht gelogen", sagte er mit kaum unterdrückter Wut in der Stimme. "Wir hatten tatsächlich vor, dich als Gesicht der neuen Werbekampagne vorzustellen. Und als Mitglied der Familie Auclaire. Unter der Bedingung, dass du es schaffst, diese Mission zu erfüllen und uns stolz zu machen. Aber hiermit hast du uns endgültig bewiesen, dass du das wohl nie schaffen wirst. Du wirst nie jemand sein, auf den man stolz sein kann. Du bist und bleibst eine einzige Enttäuschung. Unzuverlässig. Unfähig. Einfach nur schwach. Und das hier", er hielt seiner Schwester den zerknitterten Brief unter die Nase, "ist wohl der beste Beweis dafür."

Nachdem er Lucille einige weitere Sekunden voller Verachtung angesehen hatte, drehte er sich abrupt um und marschierte davon.

"Komm schon", rief er kalt. "Die Schuhe kannst du vergessen. Die Party ist vorbei. Wir fahren nach Hause."

Lucille sah ihm nach, hoffte, dass er ihren Brief einfach in den Abfalleimer werfen würde. Hoffte vergebens.

Sie blinzelte einmal. Dann noch einmal, um die Tränen aus den Augen zu kriegen und keine weitere Schwäche zu zeigen.

Und schließlich schlich sie sich wie ein geprügelter Hund an den verdutzten Verkäufern vorbei, ihrem Bruder hinterher.

Sie wollte nur noch nach Hause.
 

Eines Tages, da war niemand zuhause in dem ehrwürdigen Anwesen. Die Bediensteten hatten ihren freien Tag und die Auclaires waren allesamt in ihrem Privatjet davongeflogen zu ähnlich ehrwürdigen Leuten mit ähnlich ehrwürdigen Anwesen auf Hügeln und ähnlich eleganten französischen Namen.

Nun, zumindest die wichtigen Auclaires.

Lucille hockte im Dinierzimmer vor dem Kamin und starrte mit leeren Augen hinein in das noch glimmende Feuerholz, unter dem ihr Froschbleistift lag.

Und starrte.

Du willst nicht mehr schreiben?

Und starrte.

Nun, du kennst die Alternative.

Und starrte...

Brenne.

Und lächelte.
 

Eines Tages, da brannte es ab, das ehrwürdige Anwesen auf dem Hügel. Flammenzungen schlugen aus den Fenstern und verzehrten heißhungrig alles, was ihnen in den Weg kam. Weder vor Gold noch vor Macht scheute sich das Feuer, wertvolle Gemälde fraß es ebenso wie prunkvolle Teppiche und teure Abendgarderobe. Die reich verzierten Goldbecher und das Silberbesteck schmolzen und verklumpten miteinander zu einer undefinierbaren Masse, Geldscheine brannten lichterloh, die darauf gedruckten Zahlen bedeutungslos geworden.

Weder Angestellte und Bediensteten noch Madame und Monsieur Auclaire und ihre beiden Kinder, niemand konnte dem heißen Atem des Schicksals entrinnen, alle fanden sie ihren feurigen Tod in dem Anwesen.

Und Lucille saß oben im Saal am Klavier, ganz allein, während die Flammen um sie herumtanzten, als wären sie ihre Freunde.

Sie spielte Mozarts Nachtmusik.

Fehlerfrei.

Epilog

"Wer bin ich? Was habe ich getan?", fragte das verbrannte Mädchen im blutigen Krankenhaushemd die Stimme in ihrem Kopf.

Das ist leicht, sagte die Stimme. Du hast dein Haus niedergebrannt und deine ganze Familie ermordet. Du hast Klavier gespielt und lächelnd den alles verzehrenden Flammen bei ihrer Arbeit zugesehen.

Du bist Pyromanin. Sadistin. Mörderin.

Du bist ich.

Und dann, als würde sie mit den Tränen kämpfen, fügte sie hinzu:

Ich bin ja so stolz auf dich.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  TommyGunArts
2016-08-11T13:03:06+00:00 11.08.2016 15:03
And back again!
So, ich muss gleich los, deshalb schaff nur diesen kleinen Prolog.
Stimmen im Kopf sind storytechnisch mein Spezialgebiet. Habe da selbst unglaublich viel zu geschrieben und bin deshalb direkt gespannt was sich hinter Lucille versteckt. Gute, kurze Einleitung, die glücklicher Weise nicht viel verrät, sondern neugierig macht.
Freue mich auf die Hauptgeschichte.
Lg
Antwort von:  AtriaClara
11.08.2016 15:50
Hallo nochmal!
Kein Problem, ich hab Zeit. Sind ja Ferien. ;D
Echt? Ich auch, selbst in meiner allerersten eigenen Geschichte hatte ich eine Protagonistin mit Stimmen im Kopf. Sogar mehreren, nicht nur mit einer wie Lucille. :'D
Alles klar, dann bin ich mal gespannt, was du von der Hauptgeschichte hältst. ^^

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von:  rikku1987
2016-06-23T01:32:47+00:00 23.06.2016 03:32
Omg krass
Antwort von:  AtriaClara
23.06.2016 14:12
Ähm, ich hoffe, das heißt was Gutes... ? :'D
Falls ja: vielen Dank! ^^
Antwort von:  rikku1987
23.06.2016 15:17
In der Tat sehr positiv gemeint
Antwort von:  AtriaClara
23.06.2016 15:19
Na dann bedanke ich mich herzlich! Cool, dass du auch hier mal vorbeischaust! ;)
Antwort von:  rikku1987
23.06.2016 19:02
Pure Langeweile in der Nachtschicht😉hat sich aber gelohnt
Antwort von:  AtriaClara
23.06.2016 20:02
Cool, freut mich, dass es dir gefallen hat! ;D
Von:  Scy
2016-04-18T20:11:37+00:00 18.04.2016 22:11
Hallöchen~!

Eigentlich kann ich dazu nur eins sagen: Die arme Lucille!
Was hat sie den für eine absolut schreckliche Kindheit/Jugend gehabt?!
Ich meine, ich kannte Dreis Vergangenheit ja in den groben Zügen bereits, aber das jetzt noch mal so gut geschirben zu lesen, da tut sie mir gleich noch mal so sehr Leid. (Und ja, sie tat mir schon davor unglaublich Leid, aber das weißt du ja)
Vor allem, was ist denn das für eine absolut kranke Familie? Mit solchen Menschen aufwachsen zu müssen... da ist es ja kein Wunder, dass Lucille zur Mörderin wird, besonders wenn man ihre Shizophrenie mit einrechnet. Eher im Gegenteil, Mord war ja ihr einziger realer Ausweg, entweder ihre Familie oder sich selbst. (Und da bin ich schon sehr froh, dass sie sich für den Tod ihrer Familie entschieden hat ^-^ Verdient haben sie es alle mal)
(Und das es auch keinen der Bediensteten interessiert hat, dass sie jahrelang misshandelt wurde, ist irgendwie genauso traurig. Und zeigt, wie viel Macht Geld eigentlich hat)
Dein Art zu Schreiben ist zwar knapp, aber sehr ausdrucksstark, wodurch man sich trotzdem alles sehr gut vorstellen kann, und angenehme zu lesen, also so wie immer eigentlich :D
Ich hoffe nur, dass Lucille/Drei in deiner nächsten Geschichte mit ihr eine etwas weniger leidende Rolle bekommt. (Vllt. ja eine mit ihrem Straßenkünstler? ;) )

Lg
Scy

Antwort von:  AtriaClara
18.04.2016 22:29
Hallo erstmal und vielen Dank für deinen Kommentar! ^^
Uuh, ganz schön lang ist der geworden. Hattest wohl viel abzuladen, hmm? ;)

Trixie: "Ey, krass, ich krieg hier ja richtig Konkurrenz für den Wer-hatte-die-schlimmste-Vergangenheit-Award!" :'D

Nun, es ist ja nicht so, dass Lucille allein das durchgemacht hat, ihre Geschwister und vermutlich auch ihre Eltern sind genau so aufgewachsen. Nur hatten die eben keine Schizophrenie und waren damit leichter "formbar". Und als sie erkannten, dass es bei Lucille nicht funktioniert, ist es sicher auch etwas eskaliert. X)
Und? Hast du auch erkannt, wer die Stimme ist bzw. wie sie heißt? ;D
Ob ich eine Geschichte mit DreixMat mache, weiß ich noch nicht, da brauche ich noch einen schönen Kontext zu, also bei Ideen immer her damit. ^^
Und nochmal danke für dein Lob an meine Schreibkünste übrigens! Hat mich gefreut, dich hier nochmal zu lesen! ^^

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von:  Newie-Chan15
2016-04-16T10:32:13+00:00 16.04.2016 12:32
Wie immer großartig geschrieben^^
Antwort von:  AtriaClara
16.04.2016 13:18
Vielen Dank! ^^


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