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Counting Crows

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
White Camellia - Waiting
Yellow Camellia - Longing
Red Camellia - Love / Bad luck (for warriors) Komplett anzeigen

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Black █ Box

 

 

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One for sorrow

Two for joy

 

 

Beide Hände auf dem schnörkellosen Elfenbeingriff seines Gehstocks abgestützt, stand der alte Mann vor dem durchsichtigen Zylinder und betrachtete sich nachdenklich dessen Inhalt. Sein von der Zeit zerfurchtes Gesicht zeigte dabei keine sichtbare Regung, wie der Rest seiner Haltung, die selbst in seinem Alter nichts an Erhabenheit verloren hatte. Ganz so, wie es sich für jemanden gehörte, der einen großen Konzern führte.

Der Zylinder hatte einen ungefähren Durchmesser von etwa eineinhalb Metern und reichte vom Boden des Labors durchgehend bis knapp unter die Decke hinauf. In der klaren Flüssigkeit, die das Gefäß bis zum Rand füllte, stiegen winzige Luftblasen wie aneinandergereihte Perlen auf. Manche zerplatzten, sobald sie gegen das bewegungslose Hindernis im Zentrum des Zylinders stießen, das sich der Alte von draußen ansah. Er konnte noch immer kaum glauben, dass alles funktioniert hatte. Masakis Bemühungen hatten sich gelohnt und ausgerechnet er war es, der das nicht miterleben konnte.

Motoharu Toujou umfasste den Griff seines Gehstocks fester, während er sich weiter nach vorne beugte, um einen besseren Blick auf das Wesen werfen zu können, das Äußerlich viel zu viel von einem Menschen an sich hatte, als dass man es direkt als die künstliche Kreation ansehen würde, die es war. Er musste es wissen, denn er hatte seine Entwicklung vom ersten Stadium an bis jetzt verfolgt, mitsamt den immer größeren Zylindern, die man für das Wachstum benötigt hatte. Er hatte mit eigenen Augen zugesehen, wie aus sich teilenden Zellen Glieder gewachsen waren, deren Form bald immer mehr denen eines Menschen glichen. Kopf, Arme, Beine, bis hin zu Feinheiten wie Fingernägeln, Wimpern und Augenbrauen.

Als es das erste Mal seine Augen geöffnet hatte, war man im Labor völlig von der Rolle gewesen. Und wie man es von einem Kind erwartete, hatte es sich scheinbar neugierig und staunend umgesehen und versucht, zu begreifen, wo es war und was das bedeutete. Wunschdenken, wie er jetzt wusste. Dabei war es geblieben, denn anders als normale Kinder, hatte Nataku kein weiteres Interesse mehr an seiner Situation gezeigt. Es hatte akzeptiert, wo es sich befand.

An jenem Abend hatte der alte Mann das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder geweint. Es war als hätte er in dem Moment, als sich Natakus Lider langsam öffneten und seine unbeeindruckten Blicke auf die des Menschen trafen, mit dem es verwandt war, endgültig begriffen, dass alles, was bis hierhin geschehen war und alles, was noch folgen würde, nie auf Natakus eigenem Willen basierte, sondern es einfach nur das nachahmte, was von ihm erwartet wurde.

Selbst danach hatte Motoharu noch eine Weile krampfhaft daran festgehalten, dass Nataku ein Kind war. Dass es nur Zeit brauchte, sich seines Selbst und seiner Umgebung bewusst zu werden. Doch irgendwann hatte er aufgehört, sich einzureden, dass Nataku auch die letzte Grenze zum Menschen überwinden werde, indem es etwas in Frage stellte und sei es nur die Form der Erde, die Existenz der Sterne oder ob es richtig war, was es tat und was es dachte.

In der Nährlösung vor ihm befand sich weder Kazuki noch Masaki. Nichts davon, was er kannte und liebte; lediglich Schatten dieser beiden Personen, die sich wie zwei halbtransparente Ebenen überlagerten und so ein völlig anderes Bild darstellten.

Alles, was er seither empfand, war tiefes Mitleid mit diesem Wesen mit den blicklosen Augen, das man in einem undurchschaubaren Labyrinth ausgesetzt hatte, ohne dass es eine Ahnung von der Existenz eben jenes Irrgartens hatte.

Auf dem Gesicht des Gründers von Toujou Pharmaceutical zeigte sich die erste Regung, seit er vor über einer halben Stunde das Labor betreten hatte, um sich das Vermächtnis seines Sohnes und seiner Enkelin zu betrachten. Motoharu Toujou lächelte.

 

 

Rhythmisches Klopfen tröpfelte wie Regen aus einer löchrigen Dachrinne in das Unterbewusstsein des Schlafenden und weckte ihn schließlich nach einigem unwilligen hin- und herwälzens von der einen Seite auf die andere. Nataku blinzelte vorsichtig und schloss seine Augen gleich wieder, als das helle Sonnenlicht auf sie traf. Es musste Mittag sein, was bedeutete, dass er länger geschlafen hatte, als gewollt. Was wiederum hieß, dass er sie verpasst hatte. Hastig warf er die Decke von sich und setzte sich auf. Seine Blicke glitten angstvoll zu dem Tisch hinüber, der neben seinem Bett stand. Er war, bis auf eine einsame, ungefüllte Obstschale, leer. Sie war also doch noch nicht hier gewesen.

Erleichtert atmete Nataku aus. Er schwang die Beine aus dem Bett und ließ sich vorsichtig nach unten gleiten, bis seine nackten Füße den kalten Boden berührten. Ohne den dünnen Bademantel überzuziehen, der am Fußende des Bettes hing, tappte er mit unsicheren, erschöpften Schritten zu dem großen Fenster hinüber. Nataku schob einen der Besucherstühle zum Fenster und kniete sich auf die Sitzfläche. Draußen auf dem Fensterbrett saß sein Wecker: eine Krähe mit glänzend schwarz-blauem Gefieder. Der Vogel, der bis eben mit seinem leicht gebogenen Schnabel unbeirrt gegen die Fensterscheibe gepickt hatte, bis Nataku aus seinem traumlosen Schlaf erwacht war, legte nun den Kopf schief und betrachtete sich gebannt sein breit grinsendes Gegenüber. Die tintenschwarzen Augen maßen jeden Millimeter des fremden, blassen Kindes ab, das staunend hinter der Scheibe saß und die Hände gegen das Glas gedrückt hatte.

Nataku streckte einen Zeigefinger aus und klopfte damit gegen das Fenster. Die Krähe zuckte kurz zusammen, legte dann den Kopf in den Nacken und klopfte auf ihrer Seite antwortend mit dem Schnabel gegen das Glas.

Nataku lachte hell auf.

Die Krähe plusterte das Gefieder auf und stieß ein heiseres, kehliges Krächzen aus. Dann schüttelte sie die Flügel, winkelte sie an, bevor sie sie wieder spreizte und mit kräftigen Flügelschlägen davonflog.

„Bleib hier!“, rief Nataku enttäuscht. Er klopfte gegen das Fenster, doch der Vogel beschrieb einen weiten Bogen in der Luft und war kurz darauf aus Natakus Blickwinkel verschwunden.

Die Stuhlbeine glitten polternd über den Boden, als Nataku tatendurstig aufsprang. Er rannte aus dem Zimmer auf den langen Flur hinaus und folgte der Richtung, in die die Krähe um das Haus herum geflogen sein musste. So lange ihn niemand erwischte, war es gut. Die Schwestern waren sicher noch mit dem Austeilen des Essens beschäftigt und die Visite war auch nicht vor dem Abend. Genug Zeit, um in jedes der etwa zwanzig Zimmer auf der rechten Seite des Flurs zu schauen.

 

Ohne einen Laut zu verursachen schob er die Tür auf. Ein leichter Luftzug streifte das Kindergesicht mit den vor Spannung weit aufgerissenen Augen, die durch den Spalt der sich langsam öffnenden Tür lugten. Er traute sich kaum, zu atmen, vor Angst, den schwarzen Vogel, der vor dem Fenster gegenüber der Tür saß, wieder aufzuschrecken. Fuß um Fuß betrat Nataku das fremde Zimmer, während die Krähe wie erstarrt vor dem Fenster saß und dem kleinen Kind entgegen sah.

Nataku freute sich schon darüber, dass der Vogel ihn noch nicht bemerkt hatte, als etwas Dunkles in seinem Augenwinkel seine Konzentration auf sich zog. Auf der linken Seite des Zimmers stand ein Bett, das man erst sah, sobald man das Krankenzimmer ein paar Schritte weit betreten hatte. Ein blickdichter Vorhang umgab das Bett, aus dessen Richtung leises Piepen zu Nataku klang, der nun endgültig die Krähe vor dem Fenster vergessen hatte. Nahezu von alleine wechselte er den Kurs und steuerte auf das Bett zu, von dem nichts außer den Rollen unter dem dichten Stoff zu sehen war. Im nächsten Moment zogen seine Hände den Vorhang auseinander.

Die Ringe, an denen der Vorhang hing, glitten ratternd über die Schiene an der Decke, und der Stoff blähte sich auf, so heftig hatte Nataku den Vorhang aufgerissen. Seine Augen wurden noch ein bisschen größer bei dem Anblick, der sich ihm nun bot.

Unzählige Kabel zogen sich von der Person in dem Bett, die den Kopf von ihm weggedreht hatte, hin zu unterschiedlichen Monitoren und Maschinen. Von den bleichen Händen aus führten dünne Schläuche wie Girlanden zu Ständern neben dem Bett, die wie Garderobenständer aussahen, die aber statt mit Kleidern mit Beuteln voller Flüssigkeit behangen waren. Einer der Beutel war bereits zu zwei Dritteln leer und zog sich wie ein schlapp werdender Luftballon zusammen. Gespannt sah Nataku zu, wie die unbekannte Flüssigkeit aus dem Beutel in den Schlauch darunter tropfte. Seine Augen verfolgten fasziniert den Weg bis hin zu dem Handrücken und von dort weiter zum nächsten interessanten Blickfang. Ein durchsichtiger Schlauch verband den immer noch von ihm abgewandten Kopf mit einer rhythmisch schnaufenden Maschine.

Nataku stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Hand aus, um die hellen Haarsträhnen wegzustreichen, die den Blick auf das Gesicht der Person verdeckten. Im gleichen Moment drehte sich der Kopf des Unbekannten zu ihm hin und Nataku erschrak zu Tode. Statt in ein Gesicht, sah er in einen Spiegel, der sein eigenes panisch erstarrtes Selbst wiedergab.

 

 

Es war heißer als sonst. Die Sonne schien stärker zu brennen und der ganze Sand war dadurch aufgeheizt und reflektierte die Hitze wie ein einziges, riesiges Brennglas. Auch die Wellen schienen heute träger gegen die Felsen zu rollen, die wie Berge im Miniformat den Strand säumten. Der tosende Ozean von sonst, war zu einem müde plätschernden Wasser geworden.

Kakyou streckte eine Hand Richtung wolkenloser Himmel, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. Nach kurzer Zeit kribbelte seine Handfläche und er ließ sie wieder sinken. Durch die Zwischenräume seiner Finger hindurch erblickte er eine Gestalt, die etwas weiter von ihm entfernt saß, und Kakyou hielt erschrocken inne. Auf einem der niedrigeren, flachen Felsen hockte still und ohne sich zu bewegen ein kleines Mädchen und sah zum Meer hinaus, auf dem die Sonne glitzernde Schaumkronen tanzen ließ. Die Kleine trug einen hellen Strohhut und ein dünnes Strandkleid, ganz so, als gehöre sie selbstverständlich hierhin an diesen Ort, den nur er und Hokuto kannten.

Nachdem sich Kakyou wieder gefasst hatte, setzte er sich langsam in Bewegung, um seine kleine Besucherin zu begrüßen, die auf einem ihm unbekannten Weg hierher gefunden haben musste. Der Saum seines Gewands zog Spuren in den Sand und verwischte seine Fußabdrücke. Als er bis auf wenige Meter an das Mädchen, das mittlerweile damit beschäftigt war, kleine spitz nach oben gewundene Muscheln aus dem Felsen zu lösen, herangegangen war und darauf wartete, dass sie ihn endlich bemerken und sich zu ihm umdrehen würde, flimmerte die Luft und Kakyou sah für ein paar Wimpernschläge jemand anderes.

„Wer-“, setzte Kakyou zu seiner Frage an, als das Kind mit dem Sonnenhut auch schon verschwunden war.

 

 

Zitternd lag Nataku in seinem Bett und hatte sich die dünne Decke bis über den Kopf gezogen. War ihm die Person mit dem Spiegelgesicht gefolgt? Nataku horchte in die Stille seines eigenen Krankenzimmers und atmete so flach, dass sich die Decke über ihm kaum hob. Hier würde ihn niemand finden, da war er sich absolut sicher. Er hielt beide Hände fest vor seine Augen und versuchte zu verstehen, was er eben in dem Zimmer gesehen hatte. Er kam immer nur zu dem einen Ergebnis, dass es sein Geist gewesen sein musste.

Er würde nie mehr wieder dieses Zimmer verlassen!

 

 

Er würde nie mehr wieder dieses Zimmer verlassen!

Kakyous Hand, die neben ihm auf der Decke seines Krankenbetts ruhte, ballte sich zur Faust, um sich dann kurz darauf mit zitternden Fingern an den Schläuchen entlangzutasten, die seinen ganzen Körper wie ein Spinnennetz zu umgeben schienen und ihm die Luft zum Atmen abdrückten. Es kostete ihn unmenschliche Kraft, seinen betäubten, zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein schwankenden Geist zu dieser Handlung zu zwingen. Der benommene Teil in ihm wollte einfach weiter in Ruhe gelassen werden, während der wache Teil mit jedem Tag, der verging, diesen zwischen Leben und Tod hin- und herpendelnden Zustand endgültig beenden wollte.

Endlich hatte Kakyou den dicksten der Schläuche in dem Gewirr gefunden. Seine kalten Finger schlossen sich um das geriffelte Plastik, das unter dem unnachgiebigen Druck einknickte. Ein einziger fester Ruck, zu dem er seinen ganzen noch verbliebenen Willen aufbringen musste, genügte und der Schlauch riss mit einem seufzenden Geräusch aus der Halterung der Atemmaske, die von Kakyous lächelndem Mund rutschte.

 

 

Natakus Hand schwebte über dem Fremden mit dem Spiegelgesicht, nur dass es jetzt keine einzige glatte Fläche mehr war, sondern aus unzähligen scharfkantigen Scherben bestand.

Er hatte den Menschen kaputt gemacht und wusste nicht, wie. Wahrscheinlich war das die Strafe dafür, dass er doch wieder aus seinem Zimmer geflüchtet war.

Nach einigem atemlosen Zögern berührte Nataku vorsichtig die Splitter, die nun statt eines einzigen Gesichts mehrere Blickwinkel einer einzigen Person zeigten. Die Scherben waren warm und pulsierten und Nataku strich sachte darüber. Einige wurde von einem Schleier überzogen und als er die Hand hob, sah er die Schnitte, die seine Fingerspitzen überzogen. Blut quoll daraus hervor und tropfte auf das weiße Bettlaken, auf der rote Knospen wuchsen, die schon bald aufblühten, je mehr Blut nachsickerte und sich in den Fasern der Decke ausbreitete.

 

 

Der abgetrennte Beatmungsschlauch lag wie eine wütend zischende Schlange auf dem Krankenbett, während die Überwachungsmonitore ihren schrillen Alarm in das riesige Zimmer hinausschrien. Ihm blieben nur wenige Sekunden, bis man hier war und alles wieder ordentlich anschloss, um ihn für den Rest seines Lebens an eben jenes verhasste Leben zu ketten.

Kakyou hob die Hand, mit der er eben noch den Beatmungsschlauch herausgerissen hatte. Im äußeren Winkel seines sich gerade klärenden Blickes sah er winzige, rote Punkte, die auf dem langen Ärmel seines Gewandes auftauchten und zu großen roten Mohnblüten wurden. Er drehte den Kopf weiter zu dem dürren bleichen Etwas hin, das einer seiner Arme sein sollte, und sah ohne jegliche Angst zu verspüren zu, wie er sich langsam auflöste und

 

Korn für

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Korn

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für Korn

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für Korn

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herabrann, um sich in seiner erwartungsvoll ausgestreckten Handfläche zu sammeln.

Nataku konnte seine Hand kaum noch schließen, die voll von warmem Sand war. Er hob sie hoch über seine nun leere Handfläche und ließ die winzigen Körnchen wieder langsam nach unten rieseln. Der sanfte Wind erfasste ein paar der goldfarbenen Quarzkörner und wehte sie aus dem Strom, um sie weiter mit sich mit zu tragen.

„Ich habe dich erwartet. Gut, nicht ganz.“

Nataku hob den Blick und hielt inne, als die Stimme neben ihm erklang. Er wusste nicht, was er sagen sollte und wartete einfach darauf, dass der lächelnde Mann, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war, von selbst preisgeben würde, wen er denn tatsächlich erwartet hatte.

„Ich hatte ein Kind erwartet“, setzte der auch prompt seine Rede fort. „Etwa so groß“, er hielt seine Hand auf Höhe seiner Hüfte.

„Hier bin nur ich“, sagte Nataku. Er säuberte seine Hand vom Sand und erhob sich aus seiner gehockten Haltung. „Ich soll hier auf Mama und Papa warten.“

Kakyou folgte der erklärend ausgestreckten Hand seines Besuchers, doch außer ihnen beiden war weit und breit kein anderer Mensch zu sehen. Und der junge Mann vor ihm machte auch nicht gerade den Eindruck, als müsste er noch auf seine Eltern warten, immerhin war er sogar ein kleines Stückchen größer als Kakyou.

„Mama und Papa?“, hakte Kakyou dennoch etwas ungläubig nach.

Nataku nickte. Die leicht verwunderten Blicke des Fremden verunsicherten ihn nun doch. Er hatte Muscheln sammeln wollen, um damit die Sandburg zu verzieren, die er mit seinem Papa gebaut hatte, das wusste er noch ganz genau, aber gleichzeitig fehlte in seiner Erinnerung der Moment, dass er überhaupt schon einmal an einem Ort wie diesem gewesen war. Der Geruch und die Geräusche waren ihm auf eine unangenehme Art bekannt und wieder nicht bekannt. Alles, was er zu wissen meinte, waren Bruchstücke, die sich nicht zu einer Einheit mehr zusammenfügen lassen wollten. Ganz so wie der zerbrochene Spiegel. In einigen Scherben hatte er sich selbst gesehen, das, was er von sich kannte – und in anderen ein kleines Mädchen, das den Teil von ihm zu kennen schien, der ihm bis jetzt ein Rätsel war.

Erschöpft hielt sich Nataku die Hände gegen die Schläfen. Hinter ihm toste das Meer und schlug in großen Wellen auf die Felsen.

Kakyous Lächeln wurde sanfter. Sein Gast wirkte verzweifelt.

„Ich war noch nie hier.“ Nataku flüsterte fast. „Ich war noch nie draußen.“ Er suchte weiter nach Worten, die seinen Zwiespalt beschreiben würden, fand aber keine.

Kakyou kannte dieses Gefühl nur zu gut. Das erste Mal, dass er draußen gewesen war, hatte auch anders geendet, als er es sich gewünscht hatte.

„Und gefällt es dir hier?“

Der Unbekannte mit dem hellen kurzen Haar dachte ausführlich nach, kam aber zu keinem Ergebnis.

Kakyou streckte seine Hand aus. „Es gibt noch einen Ort, einen, der nicht so verwirrend voll von Eindrücken ist“, erklärte er seinem Gast. Seine feingliedrigen Finger schwebten einen Augenblick reglos vor Natakus Gesicht, ehe sie herabsanken und sachte wie ein Schmetterling auf seiner Brust landeten. „Komm mit.“

 

Nataku setzte sich in Bewegung und hielt, kaum dass er den ersten Schritt tun konnte, auch schon wieder inne. Das Komm mit war scheinbar nicht als Aktion gemeint, denn er befand sich kurz nach diesen zwei Worten schon ganz wo anders, ohne dass er überhaupt einen Fuß vor den anderen hätte setzen müssen.

Der Fremde, der Bewohner dieses Ortes, wie Nataku annahm, hatte recht behalten. Sie waren jetzt an einem Ort, der tatsächlich nicht im Geringsten mit dem Strand zu vergleichen war. Es war still. Jedenfalls bis auf das leise Rascheln der Kleider des vor ihm Gehenden, der nun stehenblieb und darauf wartete, dass Nataku ihm weiter folgte. Was sein Ziel war, konnte sich Nataku beim besten Willen nicht vorstellen, denn überall um sie herum war alles dunkel und ohne einen einzigen Anhaltspunkt.

„Es ist nicht weit“, klang die sanfte Stimme durch die Stille zu Nataku.

Natakus Füße setzten sich von ganz alleine in Bewegung, bis er neben dem jungen Mann stand, der wieder seine Hand hob und mitten in der Luft eine Geste machte, als wolle er etwas zur Seite schieben.

Eine bis dahin unsichtbare Schiebetür glitt auseinander und Nataku sah sich einem weiteren Raum gegenüber, der nicht mehr ganz so düster war, wie der, in dem er noch immer stand.

„Mein Name ist Kakyou“, sagte Natakus Begleiter lächelnd. Er machte eine einladende Handbewegung zur offen Tür. „Herzlich Willkommen, Nataku“, fügte er hinzu und lächelte schnell die Zweifel seines Besuchers weg, ehe der sich darüber wundern konnte, woher Kakyou seinen Namen kannte.

 

„Was ist das?“ Fasziniert strich Nataku mit einer Hand über den ungewöhnlichen, glänzenden Boden, der wie das Meer wirkte, nur dass die Oberfläche glatt und hart war. Verwundert sah er das dunkle Spiegelbild seiner Hand, die über den ebenfalls dunklen Boden huschte.

„Es ist nicht echt“, antwortete Kakyou, der vor Nataku auf dem Boden kniete und dem jungen Mann amüsiert dabei zusah, wie der eine Welt entdeckte, von deren Existenz er bisher noch gar nicht gewusst hatte.

„Nicht echt?“ Nataku suchte in seinem Wortschatz nach etwas passendem.

„Es existiert nur hier in deinem Traum.“

Nataku hob den Kopf. Er sah Kakyou eine Weile geistesabwesend an. Seine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, bis sich in deren Mitte eine nachdenkliche Falte bildete. „Und was ist ein Traum?“

Kakyou war etwas verwundert über den jungen Mann, der den Eindruck machte, als sei er gerade erst geboren worden und versuche nun die Erde mitsamt ihren sichtbaren und unsichtbaren Bestandteilen zu begreifen. Was wie eine kaum lösbare Aufgabe erschien, noch nicht einmal für jemanden, der bereits hunderte von Jahren gelebt hatte.

„Wenn Tiere oder Menschen schlafen, dann träumen sie und-“

„Ich bin aber kein Mensch“, unterbrach Nataku Kakyou. Er war- ist-

 

 

„Es ist eine Black Box, haben Sie davon schon einmal gehört, Makiko?“ Motoharu Toujou wartete darauf, dass die Frau, die neben ihm saß und auf die flimmernden Monitore sah, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenkte.

„Wenn ich ehrlich bin, kenne ich diesen Begriff nur aus dem Flugverkehr“, antwortete sie und bemühte sich, ihre Stimme nicht so erschöpft klingen zu lassen, wie sie tatsächlich war. Sie schob die Brille kurz hoch und rieb sich über ihre müden Augen. Seit drei Tagen versuchten sie schon herauszufinden, weshalb das Wesen – das ihr Vorgesetzter vor ihrem Team nie Mensch nannte – nie wie erhofft auf die ihm gebotenen Reize reagierte.

„Wir kennen die Impulse, die es bekommt und normalerweise müssten wir seine Reaktion darauf kennen, aber wir wissen nicht, was dazwischen passiert. Wie verarbeitet es die Dinge, die wir ihm bieten? Wie kommt es, dass nach dem Input dann doch keine Reaktion erfolgt?“ Der Alte stützte die Arme in die Hüften. Seine Stirn zog tiefe Furchen und er biss die Kiefer fest aufeinander. Warum nur war Nataku so teilnahmslos? „Etwas fehlt. Etwas, was in dieser Black Box zwar ankommt, aber nicht weitergeleitet wird...“

„Wie eine Puppe“, murmelte Makiko.

„Bitte?“ Motoharu sah zu seiner jüngeren Assistentin hin, die ihre Brille nun endgültig abgenommen hatte und ihren Nebenmann mit einem leichten Lächeln betrachtete.

„Kennen Sie diese Puppen, deren Augen sich schließen, sobald man sie waagerecht hält?“ Sie wartete nicht auf Motoharu Toujous Antwort, sondern sprach gleich weiter. „Welches Kind weiß schon, wie das funktioniert? Sie glauben daran, dass die Puppe lebt, dass sie wie ein echtes Baby reagiert und die Augen schließt, sobald es hingelegt wird, weil es meistens das ist, was sie von Geschwistern oder sonst woher kennen. Haben Sie jemals ein Kind erlebt, das die kleine Klappe auf dem Rücken der Puppe öffnet, um nachzuschauen? Nicht? Weil Kinder überhaupt nicht daran zweifeln, wie es funktioniert. Für sie ist es Wirklichkeit, statt Drähte und Schnüre.“ Makiko machte eine kurze Pause, ehe zu ihrem endgültigen Punkt kam. „Wir müssten die Puppe also nur öffnen und reinschauen und die Schnüre reparieren, die gerissen sind.“

Motoharu Toujou nickte verstehend. Er sah zu dem durchsichtigen Zylinder hinüber, in dem ein etwa fünfjähriges Kind, von dem er nicht wusste, wie er es bezeichnen sollte, in einer Lösung schwamm, die es mit allem versorgte, was es für sein Wachstum brauchte. „Öffnen wir die Puppe und schauen uns die Black Box an.“

 

 

Er wusste nicht mehr alles, was in der Zeit im Labor von Toujou Pharmaceuticals alles vorgefallen war, aber manche Dinge waren wie Fixpunkte in Natakus Gedächtnis gespeichert. Unverrückbar wie Berge hatten sie ihren Platz in seiner Erinnerung eingenommen. Das Gluckern der Nährlösung und die Schläuche, die sich wie Schlangen um ihn gewunden hatten. Die Gesichter, die vor ihm auftauchten und verschwanden, und von denen er lange gedacht hatte, dass er das sei. Dass die verschwommenen, verzerrten Fratzen auf der anderen Seite des Zylinders andere Menschen waren, hatte er erst realisiert, als er die Reflektion eines weiteren Gesichts auf der Innenseite seines Behältnisses entdeckt hatte, die ihm ihre Hand entgegenstreckte, im gleichen Moment, als er das auch tat.

Und genau das war er immer noch: eine Reflektion eines anderen Lebens, das er nie gelebt hatte. Er war tatsächlich eine Puppe, der nur ein anderer Leben einhauchen konnte.

Schweigend hatte Kakyou Nataku beobachtet. Kein noch so kleiner Wechsel von dessen Mimik war ihm entgangen. Diese unglaublichen Augen, unerreichbar weit entfernt wie zwei Monde, die noch nie ein Leid hatten mitansehen müssen. Der Mund, über dessen Lippen vermutlich noch kein einziges böses Wort gekommen war. Ein Wesen rein von sämtlichen Empfindungen wie Hass, Trauer und ja, auch Liebe. Nataku war etwas vollkommen anderes als ein Mensch. Er war ein Universum kurz nach seiner Entstehung. Alles rotierte. Alles war möglich und wartete nur darauf, dass es sich finden und einander Formen geben konnte. Nataku war-

„Eine Puppe“, zerschnitt die leise Stimme Kakyous wirbelnde Gedanken und holte den Traumseher augenblicklich wieder auf die Erde zurück.

Ja, er war eine Puppe. Er war wie die Puppe in Herrn Toujous Schublade. Das letzte bisschen, was von Kazuki übrig geblieben war, über die sich alle im Labor unterhielten.

„Eine Puppe?“, wiederholte Kakyou schmunzelnd. Nataku mochte wie eine Puppe erscheinen mit seinem etwas abwesend wirkenden Blick und seiner starren Mimik, die wahrscheinlich daher kam, dass er die Welt um sich herum wohl erst am entdecken war, aber er war kein lebloser Körper ohne Seele. „Und warum bist du dann hier?“

Nataku verstand die Frage nicht sofort. Fand Kakyou, dass er nicht hier sein sollte? Nataku wollte aufstehen, als Kakyou nach seiner Hand griff und ihn wieder nach unten zog.

„So meinte ich das nicht“, beruhigte Kakyou sein Gegenüber. Er wartete, bis Nataku wieder vor ihm auf dem Boden kniete und auf Kakyous Erklärung hoffte. „Wenn du kein Tier bist – und du siehst wirklich nicht wie eines aus –, und auch kein Mensch, warum kannst du dann träumen?“

Beinahe hätte Kakyou über Natakus Gesicht lachen müssen. Er hatte ihm diese Frage absichtlich gestellt, denn Nataku schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, ein leeres Gefäß darzustellen.

 

„Wenn du träumen kannst, dann bist du viel mehr, als nur eine Puppe“, versicherte Kakyou seinem Zuhörer. „Ich habe noch nie erlebt, dass Puppen träumen.“

„Wenn das träumen ist, dann ist es nicht schön“, stellte Nataku sachlich fest. Es hatte ihn verwirrt. Er hatte Sachen empfunden, die er nicht kannte. Nicht einmal, dass man verwirrt sein konnte, hatte er bis dahin gewusst. Als er die seltsame Person mit dem Spiegelgesicht das erste Mal entdeckt hatte, hatten sich die Härchen an seinen Armen aufgerichtet und er hatte daran gedacht, dass er jetzt wegrennen musste. Und als der Spiegelmensch zerbrochen war, hatte er jemand anderes in den Scherben gesehen, als nur sich selbst. Da war wieder dieses kleine Mädchen gewesen, das er schon öfter gesehen hatte – Kazuki. Kazuki, die immer wieder in seinen Gedanken auftauchte, wie ein Schatten, der ihm ständig folgte und nur manches Mal aus dem Augenwinkel heraus vor ihn hin trat. Er war nie in einem Krankenhaus gewesen und dennoch hatte er Bruchstücke davon in seinen Erinnerungen.

Kakyou bekam Mitleid mit seinem Gegenüber. Nataku wurde immer stiller.

„Weißt du, was für mich schlimmer ist, als zu träumen?“

Nataku hob sein gesenktes Gesicht und sah zu Kakyou, dessen aufmunterndes Lächeln wie eine langsam erlöschende Flamme um seine Mundwinkel zuckte. Zögernd schüttelte Nataku den Kopf. Er wusste nicht, was schlimmer sein könnte, als zu träumen. Für ihn waren diese Träume bisher das schlimmste, was er sich vorstellen konnte.

„Zu wissen, was Einsamkeit ist“, fuhr Kakyou fort. Seine Stimme klang brüchig wie altes trockenes Laub und das erste Mal seit ihrer Unterhaltung wich er Natakus Blicken aus. Er hatte Angst vor der Spiegelung in Natakus Augen, die ihm zeigen würden, was er wirklich war. „Weil man erst weiß, was Einsamkeit ist, wenn man jemanden gehabt hatte, der einem zeigte, wie es ist, wenn man nicht alleine ist.“

„Dann will ich weiter träumen“, platzte es aus Nataku heraus. Er würde lieber wieder mit Kazuki in diesem Krankenhausbett liegen und ihre Angst vor dem langen unheimlichen Flur mit den flackernden Deckenlichtern und der Zugluft, die einem kühl um die Knöchel wehte, teilen, als das zu erleben, was selbst Kakyou als noch viel schlimmer empfand.

Ergriffen sah Kakyou, zu Nataku. Er selbst hatte tausende Wörter, das zu umschreiben, was er meinte, aber Nataku hatte die hilfreichsten darunter gefunden und ausgesprochen.

„Dann zeige ich dir, dass Träume auch schön sein können.“ Kakyous Satz hörte sich wie eine Einladung an und Nataku reichte ihm seine Hand. Seine Finger kribbelten als sie die des Traumsehers berührten, der ihn zu sich zog, bis er dicht vor ihm kniete.

 

 

„Kazuki!“

Nataku, der auf der niedrigen Fensterbank am Ende des ewig langen Flur kniete und nach draußen in den Garten schaute, wo zwei Krähen im Gras umher stolzierten, drehte sich zu der Stimme um und lächelte, als er seine Mutter erkannte, die in der Mitte des Gangs stand und den Henkel eines Korbs mit frischen Pfirsichen in ihren Händen hielt. Endlich war sie hier! Er hatte so lange warten müssen.

Nataku musste nicht lange überlegen und rannte auf sie zu, direkt in ihre ausgebreiteten Arme. Er roch die Pfirsiche, die sie ihm wie jeden Tag vorbei brachte und fühlte den seidig weichen Stoff ihrer Bluse an seinem Gesicht. „Mama! Mama!“

 

 

Nataku schrak auf. Er wollte sich aufsetzen, aber etwas hielt ihn in der halbsitzenden Position. Er lag in Kakyous Armen, eine Hand des Traumsehers ruhte auf Natakus Stirn.

„Ich habe geträumt, richtig?“ Nataku sah auf und blickte in Kakyous goldene Augen.

Kakyou nickte. „Mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“ Seine Finger glitten sachte über Natakus Stirn und wischten dort die nachdenklichen Furchen weg. Kakyou beugte sich zu dem jungen Mann in seinen Armen hinab, der wieder die Augen geschlossen hatte und sich an den Traumseher schmiegte, und küsste dessen Stirn.

Anders, als an erzwungene Einsamkeit, gewöhnte man sich auch an schlechte Träume.

 

 

Nach und nach verklangen die schrillen Warntöne der Maschinen wieder, die den blassen Körper am Leben erhalten sollten. Sorgsam wurde die Beatmungsmaske wieder über die halbgeöffneten Lippen gezogen und die verschwitzten Haarsträhnen beiseite gestrichen.

 

 

 

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Tsubaki

 

HIS DESTINY WAS IN HER HANDS
 

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Three for a girl

Four for a boy

 
 

Das war also alles? Mehr als ein ziemlich förmlich wirkendes Auf Wiedersehen mitsamt der Ermahnung, auch lieb zu sein und keinen Unfug anzustellen, war nicht drin gewesen?

Mit offenem Mund starrte Daisuke die Tür an, die sich hinter seiner Familie geschlossen hatte, gleich nachdem seine paar Habseligkeiten im Kofferraum des wartenden Autos verschwunden waren.

Dafür, dass er gerade mal zehn Jahre alt geworden war und man ihm seit er denken konnte, schon eintrichterte, dass er ab dann eine der wichtigsten Aufgaben seines Lebens übernehmen musste, war man bei seiner Verabschiedung ganz schön schnell wieder zu Alltäglichem übergegangen. Wussten sie nicht, dass er das hören konnte? Das flinke Schaben des Besens im Hof direkt hinter dem Eingangstor, vor dem er noch immer stand, obwohl der Fremde, der heute morgen in aller Früh bei ihnen aufgetaucht war, um ihnen zu verkünden, dass heute der besagte Tag war, bereits so langsam ungeduldig wurde. Er hörte seine Mutter mit jemandem über das Essen diskutieren, während etwas zischend im heißen Fett landete. Ausgerechnet sein Lieblingsessen...

Nicht einmal Onkel Seiichiro war wie versprochen gekommen. Und auf ihn hatte er sich blind verlassen.

Enttäuscht ballte Daisuke seine Hände zu Fäusten.

Na schön, dann war das hier sein vorläufiger Abschied.

Er wandte sich von dem Ort ab, an dem er seine bisherige, sichere Kindheit verbracht hatte und bestieg den Wagen, der ihn in eine ungewisse Zukunft bringen würde, von der er überhaupt nicht abschätzen konnte, wie sie verlaufen würde.

Daisuke konnte nur mit Mühe seine Aufregung unterdrücken, während sich der Wagen mit ihm durch den Stadtverkehr quälte. Sie hielten auf einen Gebäudekomplex zu, den Daisuke noch nie im Leben gesehen hatte. Das Haus mit dem stufenförmig nach oben hin spitz zulaufenden Dach stach aus seiner Umgebung hervor und eigentlich fand es Daisuke sogar fast schön, auch wenn er sich das Heim einer Prinzessin ganz anders vorgestellt hatte. Prunkvoller. Wie ein Schloss sah das Gebäude, auf dessen Parkplatz sie in diesem Moment einbogen, nicht gerade aus, da halfen auch die riesigen Steinsäulen am Eingang nichts. Aber das einzige, was ihn wirklich störte, war das winzige Detail, dass er hier ab sofort ganz alleine ohne seine Familie und Freunde wohnen sollte.

Daisuke seufzte kaum hörbar. Er stieg aus dem Auto und wartete geduldig darauf, dass man ihm sein neues Zimmer zeigte.

Der Fahrer, der ihn Zuhause abgeholt und hierher gebracht hatte, führte ihn zu einem vom normalen Personenverkehr abgelegenen Aufzug. Er schien gefühlte zehn Stockwerke tief nach unten zu fahren. Wieder etwas, was bei Daisuke noch mehr Fragen aufwarf. Warum versteckte man die Prinzessin so tief unter der Erde? Aber natürlich, korrigierte er sich selbst. Wahrscheinlich war es für die Prinzessin sicherer, so lange er noch ein kleines Kind war. Später, wenn er so stark und talentiert wie sein Onkel Seiichiro war, durfte sie bestimmt wieder mit nach oben. Aber warum hatte man dann nicht gleich seinen Onkel zum Schutz der Prinzessin hergebracht, sondern ihn?

Sie verließen den Aufzug und schritten einen scheinbar endlosen Flur entlang. Doch gerade, als Daisuke dachte, das Labyrinth als Gängen nehme kein Ende mehr, standen sie vor einer schlichten Holztür, die sein Begleiter nun aufschloss.

„In einer Stunde wirst du zu Prinzessin Hinoto gebracht“, erklärte ihm der Mann. „So lange hast du Zeit, dich frisch zu machen und deine Sachen einzuräumen.“ Er verbeugte sich förmlich vor Daisuke und ließ diesen dann in seinem neuen Zuhause alleine zurück.

Daisuke kam sich in dem Zimmer verloren vor, das fast so groß war wie alle Zimmer bei sich zuhause zusammengenommen. Müde ließ er sich auf einer gepackten Kiste nieder und stützte sein Kinn auf einer Hand ab.

„Hat man dir erklärt, wie du dich vor Prinzessin Hinoto zu benehmen hast?“

Der Fremde, der sich ihm mittlerweile als Herr Harada vorgestellt hatte, war tatsächlich genau eine Stunde nach seinem Weggang wieder vor Daisukes Zimmer aufgetaucht und hatte den Jungen mit sich genommen. Keine Minute zu spät hatte es an der Tür geklopft und Daisuke geweckt, der erschöpft auf dem Bett eingeschlafen war.

„Ja“, antwortete Daisuke höflich. Er trug seine besten Kleider und war bis in die Haarspitzen angespannt. Hoffentlich hatte er nichts von den ganzen Umgangsformen vergessen. Onkel Seiichiro hatte ihm jeden noch so unwichtigen Schritt, den Abstand, den er zu ihr halten musste und jedes einzelne Wort, das er an die Prinzessin richten durfte, bis zum letzten Tag Zuhause eingetrichtert. Es durfte einfach nichts schiefgehen. Er durfte seiner Familie keine Schande machen. Nicht, wenn er nicht wollte, dass er nie wieder zu ihnen zurück durfte.

Daisuke schrak aus seinen Gedanken auf, als Herr Harada vor einer Schiebetür, die mit blickdichtem Papier bespannt war, auf die Knie ging. Schnell tat es ihm der Junge gleich und nur wenige Augenblicke später schoben sich die beiden Türen auseinander. Der Mann erhob sich und betrat den Raum dahinter.

Daisuke folgte ihm und staunte nach einigen Schritten nicht schlecht. Der Raum war riesig, nicht nur in der Länge und Breite. Die Decke war so hoch, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um sie zu sehen. Was er nach einem strengen Blick von Herrn Harada lieber sein ließ, obwohl es genaugenommen nicht einmal ein strenger Blick war, sondern lediglich eine kurz zuckende Augenbraue, aber das alleine schien Daisuke bereits streng genug. Beinahe hätte er vor lauter Staunen vergessen, wo er eigentlich hingebracht werden sollte. Er senkte den Kopf etwas und gab sich Mühe, mit Herrn Harada Schritt zu halten.

Ihre Schritte über den blankpolierten Holzboden verklangen nahezu lautlos in dem hohen Raum, als sie sich einer Art Bühne in der Mitte des Zimmers näherten. Der quadratische Bau erinnerte Daisuke an ein Kabukitheater, nur dass die Bühne hier kleiner war und alle vier Seiten mit bis zum Boden herabgelassenen Bambusrollos verschlossen war.

Herr Harada ging gemessenen Schrittes auf die Bühne zu. Zwischen zwei Kerzenleuchtern ging er wieder auf die Knie. Artig folgte Daisuke seinem Beispiel. Die Hände auf den Oberseiten seiner Beine ruhend, wartete er gespannt auf das Erscheinen der Prinzessin, die, wenn er richtig lag, hinter dem Bambusrollo saß.

Eine Weile verging, ohne dass etwas geschah. Die flackernden Flammen in den beiden Leuchtern knisterten. Ihr angenehmer Schein tanzte als Kreis auf dem Boden zu Füßen der Leuchter, blähte sich mal auf oder wurde gleich darauf wieder zu Ovalen, je nachdem, aus welcher Richtung ein Luftzug sie in Bewegung versetzte.

Daisuke spürte jeden noch so winzigen Hauch, der durch den Raum ging, selbst wenn er zu schwach schien, auch nur ein einziges Blatt in Bewegung versetzen zu können. Ihre Familie sei damit gesegnet worden, hatte Onkel Seiichiro es ihm eines Tages erklärt. Es sei eine wertvolle Gabe, die er jeden Tag üben sollte, damit er ihrer würdig sei.

Und wie er geübt hatte. Während seine Freunde in Schulclubs Baseball spielten oder ein Musikinstrument lernten, hatte er alles über den Wind und seine Beherrschung gelernt, was er nur in seinen Kopf hineinbekommen konnte. Angefangen beim einfachen Rufen kleiner Böen, bis hin zu komplizierteren Windmanipulationen. Und auch wenn er nie ein so guter Windmagier wie sein Onkel Seiichiro sein würde, war er der Jüngste ihrer Familie, der je in den Dienst der Prinzessin getreten war. Jener Prinzessin, von der er wenig gehört und bisher noch weniger gesehen hatte. Seine Beine fingen langsam an, unangenehm zu kribbeln und Daisuke verlagerte vorsichtig sein Gewicht.

Ein Blick aus den Augenwinkeln von Herrn Harada genügte und Daisuke saß wieder so unbewegt da, wie zuvor. Er traute sich kaum, tiefer ein und auszuatmen, aus Angst, wieder einen dieser eiskalten Blicke dafür zu ernten. Wie machte der Mann das nur?

Daisuke sah auf seine Hände hinab. Wollte die Prinzessin sie nicht empfangen? Oder war sie vielleicht krank?

Das leise Zischen der sich öffnenden Schiebetüren war wieder zu hören und am liebsten hätte Daisuke sich umgedreht und nachgesehen. Endlich! Ein Schatten, der sich auf ihn und Herrn Harada zubewegte. Daisuke wurde noch nervöser als auch so schon. Seine eingeschlafenen Beine waren vergessen, er wolle endlich die Prinzessin treffen!

Herr Harada wandte sich dem Schatten entgegen und Daisuke dachte darüber nach, es ihm gleichzutun, als ihm einfiel, dass das nicht zu den gelernten Etiketten gehört hatte. Was, wenn es ein Test war? Daisuke blieb unbeweglich auf seinem Platz und starrte die tanzenden Lichtkreise auf dem Boden an. Er hörte eine leise Stimme und wie Herr Harada etwas entgegnete, dann entfernte sich der Schatten und gleich darauf hörte Daisuke zu seinem Entsetzen wie sich die Schiebetüren wieder schlossen. Jetzt war sie weg, ohne dass er sie getroffen hatte. Keinen einzigen Blick hatte er auf die Prinzessin werfen können, die er so lange er lebte, vor Schaden bewahren sollte. Daisuke zuckte kurz zusammen, als er die Hand an seiner Schulter spürte.

„Komm, die Prinzessin ist zur Zeit unpässlich“, sagte Herr Harada zu dem Jungen, der ihn mit riesigen Augen ansah, die dem Mann eine weitere Erklärung abpressten. „Es geht ihr gut, aber sie hat gerade zu tun. Du wirst ihr ein andermal vorgestellt.“

Tapfer nickte Daisuke. Er erhob sich von seinem Platz und folgte Herrn Harada wie er es schon seit Jahren zu tun schien.

Erst als er am Abend alleine in seinem Bett lag spürte Daisuke das erste Mal was Heimweh bedeutete. Er war ja kein Baby mehr, auch wenn er von älteren Kindern schon mal so genannt worden war, aber trotzdem fing er an, seine Familie zu vermissen und sich nach ihr zu sehnen. Kleinigkeiten, wie die Art wie seine Mutter das Essen anrichtete, fielen ihm jetzt besonders stark auf. Hier hatte man ihm heute Abend ein Tablett mit Schüsseln auf den kleinen Esstisch gestellt und Daisuke ging jede Wette ein, dass das mit den anderen Mahlzeiten auch nicht anders aussehen würde.

Er war ab jetzt alleine und er würde auch nie mehr wieder in seinem alten Zuhause wohnen, das hatte man ihm bereits gesagt. Er lebte ab sofort hier unter dem Regierungsgebäude, ohne seine Familie und ohne Fenster, das man öffnen konnte, um wenigstens etwas Luft hineinzulassen oder um Nachrichten zu versenden, die nur andere Windmagier verstanden. Sein Onkel etwa.

Hastig wischte Daisuke die Tränen von seiner Wange. Er zog sich die Decke bis zu den Ohren hoch und schloss die Augen, damit auch keine einzige Träne mehr entweichen konnte.

Die Prinzessin schien längere Zeit unpässlich zu sein, wie Herr Harada es ausgedrückt hatte. Daisuke war nun schon drei Tage hier und man hatte ihn bisher nicht mehr wieder durch den langen Flur in den Raum mit der Bühne in der Mitte gebracht. Er machte sich wirklich langsam Sorgen. Vielleicht war er ja nicht der richtige Beschützer für die Prinzessin und man hatte es erst jetzt gemerkt?

Sein Heimweh war auch schon fast völlig verschwunden. Den Teil des Geländes, den er betreten durfte, kannte er auch schon in und auswendig. Besonders den kleinen Park. Er begann sich langsam wirklich zu langweilen.

Daisuke, der auf der niedrigen Mauer hockte, in die ein hoher Eisenzaun eingelassen war, streckte seinen Zeigefinger aus und malte einige kleine Kreise in die Luft, die er dann mit Zeigefinger und Daumen wegschnipste. Die Krähen in den Bäumen vor Daisuke erschraken, als ein kleiner plötzlicher Windstoß quasi aus dem Nichts kommend ihr Gefieder aufrüttelte. Schimpfend erhoben sich die Vögel in die Luft. Sie drehten eine Runde um den Baum und ließen sich dann wieder darin nieder. Den grinsenden Jungen nicht weit von ihrem Schlafplatz entfernt, sahen sie nicht. Der hob gerade wieder die Hand und malte Kreise in die Luft. Vielleicht noch ein paar mehr, dachte Daisuke und tat dann genau das.

Die Krähen empörten sich weiter lautstark, kehrten aber immer wieder auf ihren Baum zurück, dessen Blätterkrone nun hörbar rauschte.

Daisukes Lachen klang höhnisch zu den schwarzen Vögeln, die Mühe hatten, auf den Ästen zu landen, so sehr schwankten diese nun. Ohne auf seine Umgebung zu achten, streckte Daisuke noch einmal den Finger in die Luft. Ein paar größere Kreise wären sicher lustig. Der Staub um Daisukes Füße erhob sich in die Luft und begann, um den Jungen herum zu kreiseln, der nichts von alledem mitbekam. Er sah erst auf, als er Herrn Harada mit seltsam langsamen Schritten auf sich zukommen sah. Der hielt sich eine Hand schützend vors Gesicht, als wehre er etwas ab, und schien mit der anderen wie ein Seiltänzer die Balance zu halten.

„Was denkst du, was du hier tust?“, rief Herr Harada und seine Stimme klang dabei wie von weit weg.

Verblüfft hielt Daisuke inne. „Ich ärgere nur die Krähen mit etwas Wind“, gestand der Junge.

„Mit ein bisschen Wind?“, spie Herr Harada verärgert aus, der nun einige Meter an Daisuke herangekommen war. Im gleichen Moment, in dem der Junge die Hand sinken gelassen hatte, war auch der Sturm, den der Kleine mit seiner Spielerei heraufbeschworen hatte, abgeklungen.

Herr Harada strich sich ordnend durch sein durcheinandergeratenes Haar und richtete schnell seine Kleidung. Er hatte sich ganz schön durch das bisschen Wind der Stärke 7 kämpfen müssen. Fünf Minuten hatte er für die Strecke benötigt, die man im normalen Schritt in noch nicht einmal zwei Minuten bewältigt hatte.

„Dein bisschen Wind hat riesiges Chaos angerichtet, schau dich doch einmal um!“

Peinlich berührt ließ Daisuke seine Blicke durch den Park schweifen und sah schockiert, was Herr Harada meinte. Die Wege waren voller Laub. Viele Äste in den Bäumen waren abgeknickt und lagen am Boden verstreut herum. Nicht ein einziger Vogel zwitscherte mehr. Da hatte er ja was angerichtet...

„Na wenigstens wissen wir jetzt, dass du offensichtlich doch der Richtige für deinen Posten bist“, stieß Herr Harada zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Daisuke errötete unwillkürlich.

„Los, komm mit, Prinzessin Hinoto möchte dich sehen.“ Mit diesen Worten machte Herr Harada kehrt und stapfte wütend zurück zum Gebäude.

Zum zweiten Mal kniete Daisuke neben Herrn Harada vor dem Podest mit den heruntergelassenen Bambusrollos. Sie warteten seit nahezu zehn Minuten und wie beim ersten Mal, war auch heute kein Lebenszeichen der Prinzessin zu sehen oder hören. Er fühlte, wie seine Beine wieder taub zu kribbeln begannen, doch dieses Mal würde er keinen Blick von Herrn Harada ernten, weil er versuchte, seine Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Dieses Mal würde er so lange sitzen bleiben, bis entweder seine Beine tot waren oder man ihm sagte, dass er sich erheben durfte.

Herr Harada saß wie eine Statue neben Daisuke und würdigte ihn keines Blickes.

Welche Strafe er nun zu erwarten hatte? Auf dem Weg nach unten hatte er die Verwüstungen gesehen, die der Sturm angerichtet hatte, als er durchs Gebäude fegte und es sogar bis nach unten auf ihre Ebene geschafft hatte. Ein leises Rascheln unterbrach Daisukes stumme Vorwürfe.

Zuerst dachte er, dass das Geräusch wieder von der Schiebetür kam, die jemand öffnete, um ihnen auszurichten, dass sie morgen wiederkommen sollten. Heute wäre das sogar seine liebste Variante, aber ausgerechnet heute hob sich der Bambusrollo auf der Vorderseite der Erhöhung. Zentimeter um Zentimeter wurde der Rollo hochgezogen und Zentimeter um Zentimeter senkte Daisuke den Kopf so weit wie möglich, um ja nicht der Prinzessin frech in die Augen zu schauen., was er ohnehin nie wieder zustande bringen würde. Nicht nach dem Sturm heute.

Ob sie sich verletzt hatte?

Atemlos sah Daisuke zu, wie der Lichtstreifen, der unter dem Bambsrollo hervorkam, auf ihn zuwanderte. Gleich würde er seine Hände erreicht haben, die er vor seinem Kopf auf dem Boden ausgestreckt hatte. Sein Kopf hatte unterdessen den Boden erreicht. Er spürte bereits das kalte Holz auf seiner Stirn. Doch statt des Lichts, legte sich Herrn Haradas Hand in Daisukes Nacken und er fühlte, wie er nach oben gezogen wurde.

„Willst du unter dem Holzboden verschwinden?“, flüsterte Herr Harada kaum hörbar.

Nur zu gerne hätte Daisuke mit Ja geantwortet. Am liebsten würde er hier unter dem Boden verschwinden.

In der Zwischenzeit hatte man den Rollo vollständig gehoben und Daisuke tat nun doch, was er eigentlich hatte vermeiden wollen. Er starrte die Prinzessin an, die Puppengleich in der Mitte des Podests in einem kaum entwirrbaren Kleiderberg thronte. Nur ihr Kopf war zu sehen. Der Rest schien nur aus Stoffbahnen, Bändern und den längsten Haaren, die er je gesehen hatte, zu bestehen.

Daisuke spürte Herrn Haradas Blicke auf sich. Sofort senkte der Junge den Blick.

Amüsiert hatte Hinoto die Szene vor sich wahrgenommen. Das war also der Junge, der sie ab sofort beschützen sollte? Sie spürte seine entsetzliche Angst, vor dem, was ihm nun bevorstand, dabei wusste er überhaupt nicht, was ihm alles bevorstand. Hinotos Mundwinkel bogen sich zu einem gütigen Lächeln, das von einem Paar schüchtern zwischen Haarsträhnen hervorblinzelnden Augen gesehen wurde. Am liebsten hätte sie ihn weggeschickt. Hinotos Lächeln verlor sich auf ihrem Gesicht und nun war sie es, die die Lider senkte. Er sollte aufstehen und wegrennen, sich nie mehr wieder umschauen oder gar zurückkommen.

Daisuke, der reglos auf die ersten Worte der Prinzessin wartete, fühlte einen Schauer seine Arme hinaufkriechen. Dann nahm er die Stimme der Prinzessin wahr, die in ihm drin erklang wie ein von der Luft angestoßenes Windspiel. Wie Wellen, die über Wasser zogen wurde ihre Stimme zu ihm gespült, ohne dass sie überhaupt den Mund öffnete, wie Daisuke nach einem erneuten schnellen Blick feststellte.

„Du bist also Daisuke Saiki, der kleine Windmagier?“

Ratlos sah Daisuke zu Herrn Harada hinüber. Musste er seine Antwort laut geben oder verstand sie ihn auch so? Warum sah Herr Harada nicht zu ihm? Ausgerechnet jetzt?

Hinotos Lachen perlte in seine Gedanken und Daisuke fürchtete, dass er sich gerade furchtbar lächerlich machte.

„Ganz und gar nicht“, versicherte ihm Hinoto heiter. Eine kleine Pause entstand, die sich wie Windstille anfühlte. Dann ertönte die Stimme der Prinzessin erneut. „Du hast dich verletzt. Lass es nachher von Herrn Harada behandeln.“

Woher wusste sie das nur? Daisuke hob den Kopf. Nicht einmal Herr Harada hatte etwas davon gemerkt, so gut hatte Daisuke den Schnitt in seinem Nacken unter seiner Kleidung verborgen. Er hatte nicht einmal das Gesicht verzogen, als Herr Harada ihn genau an der Stelle gepackt hatte, um seinen Kopf anzuheben.

„Werde ich tun, Hoheit“, stotterte Daisuke hilflos und verstummte gleich darauf wieder.

„Es freut mich, dich kennenzulernen“, fuhr Hinoto fort. „Vielen Dank für dein Geschenk.“ Sie hob die Hand und Daisuke erstarrte. Wie meinte sie das mit dem Geschenk? Er hatte ihr keines gemacht. Meinte sie das etwa nicht ernst?

Hinoto drehte ihre geschlossene Faust mit der Handfläche nach oben und öffnete ihre Hand. Darin lagen die weißen Blütenblätter einer Kamelie.

„Ich hatte noch nie eine Blüte in der Hand“, setzte Hinoto ihre Rede fort. „Sie sind so weich und duften so herrlich. Und durch dich haben sie ihren Weg bis hierhin zu mir gefunden. Ich bin dir sehr dankbar, mein kleiner Beschützer.“

Daisuke hatte verblüfft geschwiegen. Sein Kopf war vollkommen leer. Er bemerkte nicht einmal Herrn Haradas irritierte Blicke. Daisuke kam sich vor, wie in einer parallelen Welt. Irgendwo auf dem Weg nach unten zu Prinzessin Hinoto musste er in ein Kaninchenloch gefallen und in irgendeinem seltsamen Land gestrandet sein. Und er wollte hier nie wieder weg.
 

„Ich habe dich schon erwartet.“ Hinotos Stimme klang nach einer Mischung aus Belustigung und Aufregung. Aufgeregt war sie in der Tat. Immer zur gleichen Zeit im Jahr. Und belustigt war sie, weil der Windmagier vor ihr auf dem Boden kniete, als wäre es sein erster Tag hier, statt das siebte Jahr. „Warum so förmlich?“, hakte sie nach und lachte über Daisukes prompt errötende Wangen. Ein Vorgang, den er sich nie hatte abgewöhnen können, egal wie lange und gut sie sich nun auch schon kannten.

Insgeheim erleichtert erhob sich Daisuke aus seiner Position. Er hatte ständig den Eindruck, alles, was er besonders gut machen wollte, besonders treffsicher zu verhauen. Vor allem in Hinotos Nähe und sei es nur in seinen Gedanken.

Daisuke trat näher zu Hinoto, die auf ihrem Podest saß und ihm erwartungsvoll ihre Hände entgegenstreckte. Er hob die Hand und legte den mitgebrachten Zweig in ihre ausgebreiteten Hände. Sofort schloss sie ihre zarten Finger um die Pflanze, ohne auch nur ein Blatt zu krümmen. Ihre behutsamen Fingerspitzen tasteten jeden Millimeter des dünnen Astes ab, an dem sich mehrere in verschiedenen Stadien aufgeblühte Blüten und ein paar geschlossene Knospen befanden. So sachte, als könne ihre Berührung ihnen wehtun, strichen Hinotos Finger über jede einzelne Blüte, deren Blätter so samtig weich waren, wie es nicht einmal die beste Seide schaffte.

„Letztes Jahr hast du mir gelbe Kamelien gebracht. Welche Farbe haben sie dieses Jahr?“ Hinoto lächelte. Sie wollte es unbedingt aus Daisukes Mund hören, auch wenn seine Seele es ihr schon längst in dem Moment, als er den Zweig pflückte, verraten hatte.

Daisuke schwieg kurz nachdenklich. Sollte er es ihr wirklich sagen? Sie kannte die Antwort doch schon. Wenn er es aussprach wusste er, dass er diesen Augenblick nie mehr wieder rückgängig machen würde. Sein Herz machte einen aufgeregten Sprung, als sie den Zweig vor ihr Gesicht hielt, an den Blüten roch und sie an ihre Wange schmiegte. Sie waren rot. Rot wie ihre Lippen. Rot wie jeder einzelne Tropfen Blut, den er für sie vergießen würde, um sie zu beschützen, selbst wenn es seinen eigenen Tod bedeuten würde.

„Rot“, entgegnete Daisuke schließlich mit fester Stimme.

Ein liebevolles Lächeln war die Antwort, die er bekam. „Ich finde auch, dass es dieses Jahr Zeit für rote Kamelien ist.“ Ihre Hand ergriff zielsicher Daisukes Hand, den bei dieser Berührung ein heftiger Schmerz durchfuhr, so sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. Widerstandslos ließ er sich von Hinoto auf das Podest ziehen, bis er neben ihr saß. Ihre kleine schmale Hand, die nun über seine Wange glitt, strich mit jeder einzelnen Berührung sämtliche seiner Ängste hinweg und ließ sie unumkehrbar verschwinden. Und ihre Lippen, die sich sachte und warm wie der erste Frühlingswind nach einem strengen Winter auf seine legten, heilten jeden einzelnen Zweifel.

 
 

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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _Natsumi_Ann_
2017-10-15T23:02:14+00:00 16.10.2017 01:02
Oha ich habe hier gar nicht kommentiert !!!!!!!!!!
Oh Schreck... tut mir Leid o.O
Das Kapi war soooooooooooooo süß <3333333333 Und sie küsst ihn <3333333333333
Ohman ich schmilz weg vor Zucker *_*

Sorry nochmal, dass ich das Kapi vergessen hatte ><
:)
Antwort von:  Ixtli
12.11.2017 11:20
_Natsumi_Ann_ Ach was, nur kein Stress ^^ Ich habe hier auch irgendwie den Faden beim Weiterschreiben verloren ._.

Vielen Dank für deinen Kommentar :D
Von:  _Natsumi_Ann_
2015-07-21T17:25:19+00:00 21.07.2015 19:25
Sooo nun erstmal zum ersten Kap :)
Finde die Idee dass es mit Träumen zusammen hängt alles wo sich die beiden treffen einfach super :)Ist auch einfach logisch, wo sollte man den armen Kakyou sonst treffen ._.

Achja ein seltsames Paar und ich mag es wie du dir darüber gedanken gemacht hast, es ist schließlich auch der Reiz wenn Erd und himmelsdrache sich näher kommen, und du hast das ganz dezent gelöst, immerhin ist nataku ja im kopf "eigentlich" auch noch ein Kind... und weiblich @.@ das war eh immer verwirrend xD Jetzt hat er einen männlichen körper :3 zumindest so in etwa XD


Ein schöner Satz überrings "„Zu wissen, was Einsamkeit ist“, fuhr Kakyou fort. Seine Stimme klang brüchig wie altes trockenes Laub und das erste Mal seit ihrer Unterhaltung wich er Natakus Blicken aus. Er hatte Angst vor der Spiegelung in Natakus Augen, die ihm zeigen würden, was er wirklich war. „Weil man erst weiß, was Einsamkeit ist, wenn man jemanden gehabt hatte, der einem zeigte, wie es ist, wenn man nicht alleine ist.“

Danke für diesen süßen OneShot und ich lese bald weiter ^^
Hut ab für die Länge der Geschichten O.O Das haut mich um!!

;3

<3

Antwort von:  _Natsumi_Ann_
21.07.2015 19:26
*lol* ich Doof xD Nicht Erd und Himmelsdrache :D Sind ja beide Erddrachen *haha* Man wird alt ;)
Von:  _Natsumi_Ann_
2015-07-14T18:40:56+00:00 14.07.2015 20:40
Hey Liebe Wichtelmama!!!
Da ist sie ja doch schon online <333

Wie gesagt ich lese die Story noch genauer nochmal :3 Aber habe mich sehr gefreut und war tierisch überrascht O.O
Subaru & Seishirō war zwar bei meinen NO Go paaren aber naja :D Ich lasse es mal gelten weil du drei andere paare meine liste genommen hat *höhö*

VIELEN VIELEN DANK NOCHMALS!!!!
Ausführliches Kommi folgt :-*

DEIN WICHTELKIND
NATSU <3<3<3<3<3
Antwort von:  Ixtli
14.07.2015 21:38
_Natsumi_Ann_
Kein Problem, dachte nur, die Story wäre nicht gut angekommen, weil ich nichts gehört habe. ^^°
Und Subaru und Seishiro sind ja nicht unbedingt ein Paar in ihrem Kapitel. Habe da schon deinen Wunsch berücksichtigt. xD
Antwort von:  _Natsumi_Ann_
14.07.2015 21:42
nein keine Sorge ich hätte gar nicht mit X gerechnet, dass war schon mal ein WoW Effekt ♥


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