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Ego

(LokiXOC)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo!
Bitte um Entschuldigung für die Verzögerung! Ich war berufsbedingt eine Weile ähm...weg.
Es wird jetzt wieder regelmäßig weitergehen. Wünsche Euch viel Spaß und freue mich - wie immer - über Kritik.
Alles Liebe
Scarlet Komplett anzeigen

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Meet Eve

Es war schon in den frühen Morgenstunden, als Tony Stark sich die müden Augen rieb. Er war gerade damit beschäftigt, auf einer virtuellen Tastatur die neuen Kalibrierungen einzugeben, als er hinter sich ein leises Fluchen hörte. Die junge Frau, die gerade an einem der Schubregler das Mark herumdokterte, lies das lötkolbenartige Gerät auf den Tisch fallen und schüttelte ihre Hand. Der Dummy, der ihre Arbeit protokollieren sollte, beäugte ihre Hand. "Ist schon ok." Sie lächelte in die Kameralinse über dem Greifarm.

"Alles ok, Eve?" Tony drehte sich zu ihr um. Ihr langes dunkelbraunes Haar war zu einem Zopf gebunden. Sie trug Jeans und ein Stark-Industries-T-Shirt. "Ja. Allerdings möchte Mister MARK nicht so, wie wir das gerne hätten." Tony zog eine Braue hoch und setzte sich neben sie, um die Platine zu begutachten, an der sie eben gebastelt hatte. "Warum lassen wir ihn nicht so?" Tony war trotz allem von dem Ergebnis überzeugt. Seit Monaten waren sie mit der Verbesserung des MARK-Systems beschäftigt, aber der Durchbruch lies immer noch auf sich warten. Seit dem Tabula-Rasa-Protokoll hinkte das MARK-Projekt hinterher.

Kleine Verbesserungen an dem Anzug plätscherten mit enormem Arbeitsaufwand dahin und ließen beide meist eher frustriert zurück. Der MARK sollte endlich nicht mehr nur zeitgemäß sein, sondern Zukunftsmusik spielen. Immer einen Schritt voraus, wie Eve es gerne ausdrückte. Allerdings stießen beide mit der Zeit auf immer größer werdende Hindernisse durch die momentane Beschaffenheit des MARK.

"Mit dieser Einstellung wird die Schubregelung wesentlich einfacher", bemerkte Tony.

"Ich weiß." Eve schob die Lupe ein Stück von der Platine in der Halterung weg, um einen Kleineren Bereich zu vergrößern. "Aber die Schnittstelle hier," Sie zeigte mit einem Bleistift auf einen Knotenpunkt. "die gefällt mir nicht. Das ist eine potentielle Fehlerquelle im System mit der jetzigen Kalibrierung." Tony schürzte die Lippen und spähte zu dem holographischen Display neben sich. "Dann ändern wir sie eben." Eve Seufzte. "Tony..."

"Was?" - "So wird das nichts." Sie stand auf und ging zu dem zerpflückten Anzug, der im Labor aufgestellt war. "Der MARK ist zu träge, nicht agil genug."

"Bitte?" Tony Stark mimte Empörung, worauf ihm die Ingenieurin ein schiefes Lächeln schenkte. "Wir können ihn nicht so lassen. Design und Material stehen dem ganzen Konzept im Weg. Wenn Du ihn wirklich so haben willst, wie Du sagtest, müssen wir an Waffensystemen einsparen." Eve klopfte auf die Schulter des Stahl-Mannequins, als ob sie sich bei ihm entschuldigen wollte.

"Ist ja gut." Tony hob beschwichtigend die Hände. "Ich geb auf."

Beide lächelten Wehmütig. Tonys alter Freund würde wohl bald außer Dienst gestellt.

"Mister Stark, Miss Potts ist für Sie auf Leitung eins." J.A.V.I.S.' angenehme digitale Stimme erfüllte den Raum. "Stell sie durch." - "Sehr wohl, Sir."

"Na, ihr zwei?" Pepper's Stimme hatte die des Systems ersetzt. "Hallo, mein Liebling."

"Hallo, Pepper!" Die Frauenstimme lachte. "Seid Ihr schon weiter mit eurem Projekt?" Tony setzte zu einer Antwort an, aber Eve kam ihm zuvor. "Dein Gatte zeigt sich stur, wie eh und je." Genannter Gatte streckte ihr die Zunge heraus.

"Kann ich mir vorstellen."

"Bist Du schon wieder in New York?" - "Nein, meine Maschine geht erst in einer Stunde. Ich wollte nur sehen, ob Eve schon weggelaufen ist." Die Belustigung in Pepper's Stimme war klar zu hören. "Wirklich witzig. So schlimm bin ich nun wirklich nicht."

"Sir, wenn ich dazu etwas sagen durfte..." - "Nein, JAVIS, darfst Du nicht."

Eve hätte am liebsten in die Tischkante gebissen, um nicht lauthals loslachen zu müssen. Sie liebte den unverschämten Humor der KI.

"Ich muss dann wieder weiter. Bis nachher." - "Bis nachher." Ein leises Klicken, Pepper hatte aufgelegt.

"Nachdem wir das nun geklärt hätten", begann Tony schließlich und wandte sich an seine grinsende Ingenieurin. "hätte ich gerne gewusst, wie du Dir das vorstellst."

"Tony, auf diese Frage habe ich seit Wochen gewartet." Tony war völlig perplex von dieser Antwort. Eve ging zu ihrem eigenen Arbeitsplatz und zog aus einer ihrer Jackentaschen einen kleinen unauffälligen Datenstick. Als das System die Daten verifiziert hatte, drehte sie sich zu Tony um. "JAVIS, Visuelle Simulation starten." - "Sehr wohl Ma'am." Der Raum dunkelte plötzlich ab. Tony blickte erwartungsvoll um sich. In kürzester Zeit wurde eine Blaupause eines MARK-ähnlichen Anzuges in den Raum projiziert und zusammengesetzt. Die Outlines leuchteten in einem hellen Blau. Tony setzte sich und beobachtete die junge Frau aufmerksam. Das Modell wirkte filigraner als der MARK. Die Struktur wich von der Typischen partiellen Struktur ab. Der Anzug hatte eine interessante Membranenstruktur, die an die Haut eines Reptils erinnerte. Vitale Punkte sowie Gelenke waren separat unterstützt. Entlang des Unterschenkels waren eindeutig Schubmodule sichtbar, Stabilisatoren, die der Mark im Handbereich hatte, konnte er nicht ausmachen. Im zentralen Brustbereich verzeichnete sich eine prismenförmige Lücke. Der Helm war an die Kopfform angepasst und war das letzte Detail, das an den MARK erinnerte. Schließlich trat Eve vor und begann ihre Präsentation. Tony Stark hörte aufmerksam zu, während sie jeden Bereich und jedes Feature erklärte. Zur Verdeutlichung tippte sie das im Raum schwebende, langsam rotierende Modell an der Gewünschten Stelle an, was wiederum ein virtuelles File öffnete. Daraus entnahm sie eine Detailansicht mit Zerlegung der Baugruppen und einer anschließenden Simulation. Als sie mit ihren Ausführungen geendet hatte, tippte sie in der Simulation auf eine Taste. Mit dem Befehl "Deactivate" schloss sich die Simulation und die Beleuchtung des Raumes kehrte zu ihrem Ursprungszustand zurück. Eve lehnte sich gegen den Schreibtisch. "Was sagst Du?"

Tony brauchte ein wenig. "Seit wann entwickelst Du dieses Konzept?"

"Seit etwa einem halben Jahr."

"Und Du sagst mir nichts davon?" Sein Tonfall wirkte gekränkt.

"Ich wollte Dich nicht überrumpeln", begann Eve entschuldigend.

"Aber das hast Du gerade."

"Sorry." Eve biss sich auf die Unterlippe. Der Philanthrop seufzte. "Dein Konzept klingt nicht schlecht. Ich wurde es gerne in Realität sehen."

"Danke, Tony." doch ihr Lächeln starb sehr schnell. "Es gibt nur ein Problem."

Stark hob fragend die Brauen. "Energie."

"Nun, ich denke, das lässt sich lösen. JAVIS?" - "Ja, Sir?" - "Ruf doch bitte nochmal die Simulation von eben auf." - "Sehr gerne." Der Raum wurde erneut abgedunkelt und die virtuellen Blaupausen des neuen Anzuges setzten sich wieder zusammen. Er stand auf, und trat prüfend an das schwebende Bild heran, umkreiste es. "Wie willst Du es nennen?"

Eve hatte sich drüber noch keine Gedanken gemacht. "Schlag was vor."

"Nein. Deactivate." Die Simulation schaltete sich ab. Er trat auf sie zu und legte beide Hände auf ihre Schultern. "Das ist dein Baby, Eve. Du solltest ihm einen Namen geben."

"Soll das heißen, ich bekomme zwölf Prozent?"

Tony musterte sie. "Das hat sie Dir erzählt?"

"Sie hat mir eine ganze Menge erzählt." Eve grinste. Der Philanthrop blies die Wangen auf und wandte sich an JAVIS. "JAVIS, ich möchte, dass du für Eve's neues Projekt eine Sicherheitsdatei anlegst. Wir... Eve!"

Die junge Frau versuchte, sich am Tisch festzuhalten, rutschte aber ab und fiel von einigen Equipmentteilen begleitet zu Boden. Tony lief zu ihr und richtete sie wieder auf. Sie war kreidebleich im Gesicht. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn und ihr Atem ging schwer. Er lehnte sie gegen den Sockel des nächsten Stützpfeilers. "Hey, Dummy! Organisier ein Glas Wasser!" Der tollpatschige Roboter rollte sofort fiepsend davon. "Soll ich einen Arzt verständigen, Sir?"

"Ist schon gut", keuchte Eve. "Ich brauch keinen Arzt. Mir geht's gut."

Tony legte besorgt eine Hand an ihre Wange. "Bist Du sicher?" Sie nickte. "Ich hab die Zeit vergessen, tut mir leid." "Ich hab sie selbst vergessen." Von der Seite näherte sich hydraulisch surrend ein Greifarm mit einem Glas Wasser. "Danke, kleiner." Eve nahm ihm das Glas ab und trank einen Schluck. "Kannst Du aufstehen?" Sie hob die Hand. "Gib mir noch eine Sekunde... geht die Sonne wirklich schon auf?" sie sah auf die Uhr: 05: 27. Tatsächlich.

Nach ein paar Minuten war alles vorbei. Wie jeden Tag.

"Soll ich Dich nach Hause bringen?"

"Schon ok, ich steh unten in der Garage." Eve schlüpfte in ihre Jacke und packte ihr Equipment zusammen. Tony fuhr das Labor herunter und verriegelte hinter Eve die Tür. "Und Du bist sicher, dass..." - "Tony." Sie lächelte aufmunternd und warf sich den Riemen der Tasche über die Schulter.

"Ma'am, ihr Fahrzeug ist bereit.", verkündete JAVIS. "Dankeschön." Im selben Moment öffnete sich hinter Eve die Aufzugtür. "Weißt Du was, nimm Dir doch heute frei." Sie stieg in den Aufzug. "Ist nicht so, dass ich zu Hause nicht genug Arbeit hätte." Tony verdrehte wissentlich die Augen und zog eine Grimasse. "Bis morgen." Sie hob die Hand zum Gruß, als sich die Türen schlossen.

Eve lehnte sich seufzend an die Wand des Aufzuges und beobachtete die digitale Anzeige über den Panel. Als sich die Türen wieder öffneten, stand bereits ihr mit Werbeanzeigen beklebter blauer Golf vor ihr. Sie stieg in das ehemalige Rallye-Fahrzeug und lies den Motor an. Geräuschvoll jagte sie die Auffahrt hoch und reihte sich zurück im Tageslicht in den bereits dichter werdenden Stadtverkehr ein.

A Thousand-Dollar-Suit

Sie lauschte kurz an der Tür, dann richtete sie ihr Kostüm und platzte unvermittelt in das Meeting. "Guten Morgen, Mister Stark. Gentlemen" Noch bevor eben genannte Gentlemen sich beschweren konnten, händigte sie dem Inhaber der STARK Industries ein Portfolio aus, das er kurz durchblätterte. "Alle wichtigen Informationen sind auf Seite vier zusammengefasst." Tony Stark schlug die Seite auf und begann diese zu überfliegen. Er hob anerkennend die Augenbrauen. "Vielen Dank, Eve. Bitte richten sie Miss Potts aus-" er wollte Ihr die Mappen eben wiedergeben, als sie lächelnd den Kopf schüttelte. "Miss Potts liegt bereits eine Kopie vor, Sir." Stark Lächelte. "Was würde ich nur ohne Sie machen, Eve. Ist für heute Abend alles vorbereitet?"

"Selbstverständlich. Um 18:00 Uhr die Pressekonferenz, anschließend Sektempfang. Wie gewünscht."

"Hervorragend. Das wäre vorerst alles." Mister Stark entließ seine Managerin mit einem freundlichen Nicken.

Sie war noch nicht ganz aus der Tür, da beschwerte sich einer der wegignorierten Meetingteilnehmer lautstark. "Eine Unverschämtheit! Mister Stark, dass ihre Mitarbeiter einfach so in ein Meeting platzen."

"Lassen sie doch das Tun meiner Mitarbeiter meine Sorge sein. Wo waren wir?"

Seit Tony Eve vor etwa einem Jahr für seine Firma abgeworben hatte, war für ihn und Stark-Industries einiges leichter geworden.
 

Der Tag verging. Mittagessen mit einem Korrespondenten, Videokonferenz für das Human-Ressource-Management und natürlich die Vorbereitungen für die abendliche Pressekonferenz und die Party danach. Vor allem die Gästeliste der Charity-Veranstaltung ließ sie die Nase rümpfen. Eine Menge Militärs würden anwesend sein. Unter anderem auch Tonys neuer Busenfreund Captain Rogers.

Unzählige Telefonate später traf die Crew und das Catering ein. Es wurde später.

Nervös sah Eve auf ihre Armbanduhr. Wo blieb Pepper? Sie hatte ihr Ablöse versprochen.

"Eve! Entschuldige, die Presse." Die Rothaarige eilte zu ihr. Sie sah umwerfend aus, in dem cremefarbenen Hosenanzug. "Kein Problem. Zum Empfang bin ich wieder da." Eve wirkte immer so hektisch zum Abend hin. Was hatte sie nur?

Eve schlug hinter sich die Tür zu und schloss ab. Erleichtert rutschte sie an dem kühlen Holz hinunter. Durch die breite Fensterfront zeichnete sich Manhattans Skyline nahezu schwarz vom Licht der untergehenden Sonne ab. Es war merkwürdig. Die Wolken drängten sich immer dichter am Himmel und vom Hudson her zog ein Unwetter heran. Vielleicht ein Meteoritenschauer heute Nacht? Bei derartigen Anomalien war es manchmal stärker, mal schwächer. Am bevorstehenden Gewitter konnte es kaum liegen. Es wurde stärker. "Nicht...jetzt." Eve presste verzweifelt die Hände an ihre Schläfen. Dann fing es an.

Stille. Das unerträglich laute Pochen ihres Pulses. Donner. Sie stand im Regen, doch wurde sie nicht nass. So stark war es noch nie gewesen.

"Ok, Eve! Reiß dich zusammen!" mahnte sie sich selbst. Ihre Stimme war weit weg. Wie ein Echo hallten die Worte wieder.

Die Menschen auf den Straßen beeilten sich, aus dem Sturm zu kommen. Der Wind zerrte an ihren Mänteln und Regenschirmen. Sie spürte keinen Hauch. Die Leute wichen ihr aus, ohne sie zu sehen. Alles geschah wie in Zeitlupe. Der Regenschirm, den ein Windstoß einer Frau aus den Händen riss und an ihr vorbei auf die Straße geweht wurde. Hupen und quietschende Reifen auf nassem Asphalt. Der Regen wurde zum Wolkenbruch. Mit jedem Blitz zuckten Bilder durch ihren Verstand. Bilder, die sie nicht kannte. Menschen, denen sie nie begegnet war.

Wie ferngesteuert setzte sie einen Fuß vor den anderen, immer schneller. Die Straße hinunter, durch die ihr entgegen strömenden Massen. Schneller. Eve blieb stehen. Völlig außer Atem versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen. Dann wurde ihr plötzlich klar, dass sie etwas suchte. Als ob man an einem Seil ziehen würde, das um ihre Brust gebunden war, wie ein Magnet von seinem Gegenpol wurde sie von irgendetwas angezogen.

Eve hatte lange aufgegeben. Doch jetzt. Vielleicht?

Ein harter Schlag rief sie zurück.

Ihr Mund war trocken und ihr Atem ging so schnell, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Das schweißnasse dunkelbraune Haar klebte an ihrer Stirn. Sie war wieder in ihrem Büro, die Tür abgeschlossen. Draußen war es bereits dunkel. Der Regen klopfte ungeduldig mit vielen kleinen Fingern an die Fenster, am Horizont unheilvolles Wetterleuchten.

"Verdammt." Sie zog sich an der Garderobe neben der Tür hoch. Ihre Beine zitterten. "Was war das?" Sie schleppte sich in das angrenzende Badezimmer und drehte kaltes Wasser auf. Es war ein angenehmes Gefühl, als mit der Kälte die Klarheit zurück in ihren Verstand sickerte. Aus dem Spiegel sah ihr ein gespenstisches Abbild ihrer selbst entgegen. Ihre Haut war kreidebleich, die Augen rot unterlaufen. "Du siehst aus, wie ein Junkie." Ihr Spiegelbild grinste sie an. Meine Güte. Du bringst kleine Kinder zum Weinen, Eve.

Sie musste duschen. So konnte sie kaum auf die tolle Stark-Party gehen.

Also stellte sie das Wasser in der Dusche an. Bluse, Rock und Strümpfe landeten unachtsam in einer Ecke. Aus der Kabine schlug ihr eine Dampfwolke entgegen, als sie die Schiebetür öffnete.

Erst war es unangenehm heiß. Dann entspannte sich langsam jeder Muskel in ihrem Körper. Ein Schauer durchfuhr sie. Seufzend rutschte Eve an den nassen Fliesen entlang auf den Boden des Duschbeckens und zog die Knie an. Die Arme auf den Knien verschränkt, das Kinn auf ihren Armen ruhend und das heiße Wasser auf ihren Rücken trommelnd starrte sie in die Dampfgebilde vor sich. Immer wieder landete sie vor ihrem inneren Auge auf der Straße im Regen mit diesem merkwürdigen Gefühl in der Brust. Entnervt wischte sie sich über die Augen und griff nach der Shampooflasche.
 

Steve Rogers war seit langem einmal wieder in Uniform zu einem solchen Event gekommen. Vermutlich weil diverse militärische Würdenträger heute anwesend waren. Er lehnte mit dem Rücken an einem der vielen Bartresen, die in dem Saal aufgestellt waren. Nach den Endlosen Reden und Verleihungen wurde die Party von Mister Stark persönlich eröffnet. Der Saal war nun nur noch in einem Blauschimmer beleuchtet und buntes Laserlicht wanderte in verschiedenen Mustern durch den künstlichen Nebel um die Tanzfläche und an den Wänden entlang. Diese Veranstaltungen waren sehr steif und nicht wirklich reizvoll für ihn. Er wirkte für einen kurzen Moment erleichtert, als er eine bekannte Silhouette zwischen den vielen Menschen ausmachen konnte. Sie trug ein dunkles schlichtes Cocktailkleid und hohe Schuhe. Das lange etwas lockige Haar viel offen über ihre Schultern. An ihrer linken Seite baumelte an einem funkelnden Kettchen eine kleine Tasche. Sie schob sich kokettierend durch die Menge, immer wieder händeschüttelnd, lächelnd, prostend, trinkend. Steve hatte sie schon länger nicht mehr gesehen. Es war interessant sie zu beobachten, wie sie souverän ihren Pflichten nachging, indem sie jedem Geldgeber mit etwas Charme noch ein wenig mehr aus dem Kreuz leierte. Während des Gesprächs wanderten ihre Augen durch den Raum, als sie den Captain sah, fuhr er unmerklich zusammen. Eve lächelte und Verabschiedete sich vom Konsul.

Steve nahm einen größeren Schluck von seinem Drink, als sie auf ihn zu kam.

"Captain Rogers." Eve begrüßte den ersten Avenger mit einem Nicken.

"Major." Der junge Mann nickte zurück und prostete ihr zu.

"Ich bin außer Dienst getreten, Captain." Sie trank einen Schluck. Steve tat es ihr nach.

"Verzeihung, Eve." Plötzlich spürte sie ein leichtes Ziehen in der Brust, rief sich aber sofort wieder zur Ordnung. Das konnte nicht sein.

"Wo haben Sie Natascha gelassen?", fragte sie schließlich.

"Sie ist soweit ich weiß gerade in der Ukraine."

"Grüßen Sie sie bitte bei nächster Gelegenheit von mir."

"Selbstverständlich. Ich-" Steve Rogers wollte eben eine Frage stellen, als eine kleine Gruppe seiner offenbar schon im Alkoholkonsum etwas fortgeschrittenen Kameraden auf ihn zugestürmt kam.

"Rogers! Da sind Sie ja!" Als er sich zu Eve umdrehen wollte, war sie verschwunden.

"Eve!" Tony lies den Journalisten mitten im Interview stehen, als er Eve in Mantel und Schal davonschleichen sah. "Wollen Sie schon gehen?"

"Es tut mir leid, Tony. Heute geht es mir nicht besonders."

"Pepper sagte schon so etwas", meinte er gedankenverloren und legte die Hände an ihre Arme. "Sie sehen wirklich nicht gut aus. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen lassen?"

Eve schüttelte lächelnd den Kopf. "Frische Luft wird mir gut tun. Ich hab's ja nicht weit." "Draußen regnet es in Strömen, Eve. Seien Sie nicht albern." Tony Stark machte sich tatsächlich sorgen um seinen Schützling.

"Ist schon in Ordnung, Tony. Morgen früh steh' ich wieder auf der Matte." Sie ließ sich nicht davon abbringen. "Also schön", sagte Tony gespielt beleidigt. "Dann lass Dir aber wenigstens einen Schirm geben." Er lächelte schief.

"Danke." Sie machte Anstalten zu gehen. "Gute Nacht." Tony hob die Hand zum Gruß und widmete sich wieder dem nervtötenden Journalisten-Mob.
 

Tony sollte Recht behalten. Es regnete tatsächlich -immer noch- in Strömen. Bevor sie aus dem Gebäude trat, spannte sie den überdimensionalen Stark-Industries Regenschirm auf. Eve nahm einen tiefen Atemzug von der feuchten kühlen Luft. Es war eine Wohltat im Vergleich zu der Stickigen unruhigen Atmosphäre drinnen. Bis auf einige Taxen war kaum noch etwas auf den Straßen los. Doch trotz der Dunkelheit war es dank der erleuchteten Fassaden, Laternen und Leuchtreklamen in den Straßen beinahe taghell. Es war doch kühler als erwartet, unweigerlich zog sie den Mantel etwas enger um sich. Während sie dem Prasseln des Regens auf der Bespannung des Schirms lauschte, packte sie allmählich die Neugier. Bedächtig, um mit Ihren Highheels nicht auszurutschen, ging sie die Straße in die entgegengesetzte Richtung , in der ihr Apartment lag, hinunter. Wenn sie sich recht erinnerte, war es an der Sechsundfünfzigsten gewesen.

Schließlich fand sie die Stelle. Der spärlich beleuchtete Eingang eines Hotels an der Straße. Ein Obdachloser hatte sich in der angrenzenden Seitengasse unter einem Balkon mit Kartonagen zugedeckt. Eve griff ohne nachzudenken in ihre Manteltasche und holte Benjamin Franklin aus ihrem Portemonnaie. "Du bist zu gutmütig, Eve.", hörte sie Tony in ihrem Hinterkopf lachen. "Ja, vielleicht." Den Schein steckte sie dem Schlafenden in die Jackentasche und trat zurück ins Licht der Großstadt.

Ein Pochen. Da war es wieder, dieses Gefühl in ihrer Brust. Jedoch lange nicht so stark, wie zuvor in der Dämmerung. Sie folgte dem Gefühl. Wieder den gleichen Weg entlang durch ein Wirrwarr aus Seitenstraßen und Bürokomplexen. Und dann war es plötzlich weg. Der Regen prasselte immer noch unermüdlich auf den Schirm über ihr. Eve schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Sie lachte leise über sich selbst. Sowas dämliches konnte auch nur ihr passieren. Am Ende hatte sie sich das nur eingebildet und war einem Hirngespinst hinterhergelaufen. Großartig, Eve. Wirklich großartig.

Eine unbestimmte Richtung einschlagend lief sie an der Fassade eines riesigen Glaskomplexes entlang in der Hoffnung, wieder zurück in die Zivilisation finden zu können. Zu allem Überfluss hatte sie nämlich keine Ahnung, wo in dieser Verdammten Stadt sie gerade war.

Tatsächlich führte sie die Glasfassade wieder auf eine der Hauptschlagadern New Yorks. Erleichtert stieß sie einen Seufzer aus. Ihr nächster Gedanke war ein Taxi nach Hause in ihr warmes Bett, hinaus aus dem kalten Regen.

Ihr Blick wanderte über die breite Straße und blieb an einer ungewöhnlichen Szene hängen. An einem Laternensockel saß jemand. Der Regen schien ihn nicht zu stören. Als sie etwas näher trat , lies sich dieser Jemand eindeutig als männlich identifizieren. Er hatte die Unterarme locker auf die Oberschenkel gelegt und starrte unverwandt ins Leere. Der offensichtlich teure Anzug, den er trug und seine halblangen schwarzen Haare waren triefnass, als ob er schon seit Stunden hier sitzen würde. Seufzend fasste sie sich ein Herz und ging zu ihm. Selbst als sie sich an den Laternenmast lehnte und den Schirm über ihn hielt, schien er sie nicht zu bemerken. "Schlechten Tag gehabt?"

Von oben herab konnte sie sehen, wie er blinzelte. Als ob er sich nicht sicher wäre ob er gemeint war, drehte er den Kopf zur Seite und sah dann unter dem Schirm zu ihr hoch. Ein sanftes nebliges Grün sah ihr aus einem markant geschnittenen Gesicht entgegen. Sie sah ihn abwartend an. Er sah fragend zurück. Schließlich konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Oder macht es Dir Spaß, alleine mitten in der Nacht im strömenden Regen herumzusitzen?" Verwirrt blinzelnd runzelte er die Stirn und sah zu Boden, als ob sie ihn in einer fremden Sprache angesprochen hätte, die er nur zum Teil verstand. Dann sah er wieder zu ihr auf. "Um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher."

Er hatte eine angenehme klare Stimme. Nun konnte sie zumindest ausschließen, dass er betrunken war.

"Nicht sicher?" Eve war tatsächlich an seiner Geschichte interessiert. Als er mit ihr sprach, sah er ihr in die Augen. Eine Eigenschaft, die sie bei zu vielen Menschen misste.

"Nun", begann er, "ich weiß nicht, wie ich hier hergekommen bin. Noch weiß ich, wo ich bin."

"Da haben wir zumindest eine Sache gemeinsam." Er sah Eve verständnislos an.

"Ich habe auch keine Ahnung, wo ich bin. Ich habe mich gerade komplett verlaufen." Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. Es war ein ehrliches lächeln. Sie empfand unerwarteter Weise so etwas wie Sympathie für den nassen Herren im Tausend-Dollar-Anzug.

Plötzlich sprang er etwas peinlich berührt auf - er war trotz der Highheels einen guten Kopf größer als sie, was sie zwang, den Schirm nun um einiges höher zu halten- und richtete sein triefendes Jackett. "Ich bitte um Verzeihung, ich habe mich nicht vorgestellt." Er lächelte entschuldigend und Eve ergriff mit einem etwas ungläubigen Gesichtsausdruck die ihr dargereichte Hand. Der hatte Probleme...

Lange schlanke Finger schlossen sich um ihren Handrücken als er sie leicht drückte und ein Schütteln andeutete. "Loki." Eve fuhr hoch und sah ihm prüfend ins Gesicht. Scheinbar erinnerte er sich wenigstens an seinen Namen - der zugegebenermaßen äußerst merkwürdig war. Andererseits hatte sie einen Arbeitskollegen der auf den Namen Merlin hörte. Warum also nicht auch ein Loki?

"Eve", stellte sie sich vor. Er ließ ihre Hand los und vergrub die eigenen in seinen nassen Hosentaschen. "Freut mich sehr." Loki schien der unorthodoxen Situation wegen etwas unsicher, was seinem Lächeln allerdings keinen Abbruch tat.

Nach einer peinlich langen Pause ergriff Eve wieder das Wort. "Also, Loki." Der Name ging ihr erstaunlich leicht über die Lippen. "Du erzählst mir, Du kannst dich an nichts erinnern?"

Sein Lächeln starb. Er wirkte ungemein nervös und sah sich immer wieder um, blieb mit dem Blick in der Ferne hängen. Angestrengt, seine Stirn in Falten gelegt versuchte er sich zu erinnern. Aber bis auf das Gewitter, den Regen, die Stadt, diese Nacht brachte sein Verstand nichts ans Tageslicht. Die Realität sickerte mit der Erkenntnis langsam durch ihn hindurch. "Ja." Seine Antwort war sanft, nur ein Hauch. Es klang nach einer bedingungslosen Kapitulation.

Eve kramte ihr Handy aus der Manteltasche, um zu sehen, wie spät es war: 00:51 Uhr. Sie tippte auf dem Display herum und hielt sich das Gerät ans Ohr. Mit den Lippen formte sie ein lautloses "Moment." und bedeutete ihrem etwas verwirrt dreinschauenden Gegenüber damit, zu warten.

Es klingelte.

"Hallo, Piérre."...

Loki verstand diese junge Frau namens Eve nicht recht. Während des Gewitters hatten sich die Straßen rasend schnell geleert. Keiner hatte Notiz von ihm genommen, bis sie plötzlich bei ihm stand und den Schirm über ihn hielt. Sie beendete das kurze Telefongespräch und lies das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden. "Halt mal bitte kurz." Sie drückte ihm den Schirm in die Hand und lief durch den Regen bis zum Rand des Bürgersteigs. Eve sah sich kurz um. Als sie ein freies Taxi entdeckt hatte, legte sie Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen lauten schrillen Pfiff aus. Loki zuckte zusammen. Sie streckte einen Arm aus und kurz darauf hielt ein Fahrzeug am Straßenrand. Ungeduldig winkte sie ihn heran. Als sie Anstalten machte einzusteigen, hielt ihr Loki die Tür auf. Etwas verwundert sah sie zu ihm auf, aber es schien für ihn selbstverständlich zu sein. Schließlich zog sie ihn ebenfalls ins Auto, gefolgt von dem überdimensionalen Stark Industries Regenschirm.

"827, 5th Ave", wies sie den Fahrer freundlich an, der aufgrund ihres triefenden Begleiters einen argwöhnischen Blick in den Rückspiegel warf, bevor er losfuhr.

Im Taxi war es angenehm warm- und Trocken. Loki konnte leider nichts daran ändern, dass er bis auf die Haut klatschnass war. Unruhig wischte er sich eine tropfende Haarsträhne aus dem Gesicht und sah aus dem Fenster. Hinter der von kleinen Tropfen und Rinnsalen übersäten Scheibe zog die Stadt beiläufig an ihm vorbei. Nichts von dem, was er sah, wollte ihm bekannt vorkommen. Schließlich wandte er sich an Eve. Sie lehnte entspannt mit dem Kopf an der Tür und sah ebenfalls hinaus.

"Eh...Eve?" sie drehte den Kopf und sah ihn aufmerksam an. "Wo fahren wir hin?"

"Zu einem Freund.", war die schlichte Antwort, mit der er sich offenbar zufrieden geben musste, da sie sich wieder dem Fenster zuwandte.

Das Schweigen wurde nur von der leisen Radiomusik unterbrochen. Offenbar hatte der Fahrer, den das an der Trennscheibe angebrachte Dokument des Taxiunternehmens als Viggo Gonzales auswies, ein Fable für Jazz-Musik. Loki's Blick wanderte willkürlich durch den Innenraum des Fahrzeuges, dann sah er wieder zu Eve. Ein einzelner kleiner Regentropfen hatte sich vehement in ihrer Haarsträhne gehalten und wanderte nun glitzernd an der dunklen Welle hinab.

Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich am Straßenrand vor einem hell erleuchteten Hauseingang. Eve öffnete die Tür auf ihrer Seite und hielt prüfend die Hand hinaus. Es hatte aufgehört. Sie stieg aus. Loki tat es ihr nach. Eve bezahlte den Fahrer und wünschte einen schönen Abend. Loki folgte ihr mit dem Schirm im Gepäck in den Eingang, aus dem leise fröhliche Geigenmusik an seine Ohren drang. "Vorsicht, Stufe." sagte sie beiläufig und öffnete die breite Holztür. Er hätte sie tatsächlich übersehen.

Die Räumlichkeit war von gelblichem Licht durchflutet, dass die niedrig über den Tischen hängenden Lampen an die von alten Bildern und Holztäfelungen übersäten Wände warf. Der Boden bestand ebenfalls aus dunklem abgeschliffenem Parkett. Hinter der Bar verteilten die vielen bunten Flaschen und Gläser einen unwirklichen Schimmer. Bis auf die Musik waren sie alleine in der Lokalität.

" Piérre?" Eve hängte ihren Mantel an die Garderobe neben dem Tresen und fuhr sich durch das feuchte Haar. Aus dem Hinterzimmer war ein Poltern zu hören. Anschließend kam ein alter gut gekleideter Herr mit schlohweißem Schnurrbart aus der Tür hinter der Bar getreten. "Eve! Wie schön, Dich zu sehen!" Er schlängelte sich durch den kleinen Durchgang am Tresen und umarmte die junge Frau herzlich. "Ich freue mich auch, Euch zu sehen." Er gab ihr links und rechts einen Kuss auf die Wange. "Wo ist Yetta?", fragte sie und lugte durch Tür, aus der er eben gekommen war.

"Ach, du kennst sie doch." Er zuckte mit den Schultern und wandte sich an Eve' s Begleiter. "Guten Abend, Freut mich." Sie schüttelten die Hände.

"Freut mich auch." Loki wollte sich dem freundlichen Herren eben vorstellen als man hinter der Tür jemanden eine Treppe hinuntereilen hörte. "Oh, je." seufzte Piérre wissend.

"Eve! Liebes!", trällerte die alte zierliche Frau und begrüßte Eve auf dieselbe Weise, wie ihr Ehemann. Allerdings waren ihre Küsse mehr liebevolle Schmatzer. Und wie befürchtet, wie es eben Yetta' s Art war, begrüßte sie Loki auf eben dieselbe stürmische Art und Weise. "Herrje, Schätzchen! Du bist ja nass bis auf die Knochen. Das haben wir gleich. Ich bin übrigens Yetta, das ist mein Mann Piérre..." Unaufhörlich plappernd schob sie den sich hilfesuchend nach Eve umsehenden Loki hinter den Tresen und verschwand mit ihm hinter der Tür. "Der Arme." Mitleidig sah Piérre den beiden nach.

"Du siehst aus, als könntest Du einen Drink vertragen." Der alte Herr musterte Eve in ihrem bezaubernden Cocktailkleid und den hohen Schuhen. "Einen?" Eve sah ihren Freund etwas verzweifelt an und ging dann zu ihrem Lieblingsplatz in Sullivan' s old English Pub.

In einem etwas abgeschiedenen Bereich stand eine wuchtige lederne Couchgarnitur neben einem antik wirkenden Billardtisch. Im gehen zog Eve ihre Heels aus und warf sich längs auf das Sofa in das sie darauf leicht einsank. Sie seufzte. "Meine Füße bringen mich um."

Während sich das junge Gemüse, wie Piérre Eve stets zu nennen pflegte, auf der Couch ausstreckte, schloss er den Laden ab. Er wollte zu so später Stunde nicht mehr gestört werden. Anschließend bereitete er zwei Gläser vor. "Heute Scotch?" fragte er sie durch den Raum hindurch. "Brandy."

"Ach herrje.", murmelte der rüstige Barkeeper leise und machte für sich, seine Frau und Eve die Drinks fertig. "Was trinkt...? Äh...?" "Loki", beendete sie seinen Satz. "Keine Ahnung, was Starkes."

"Brandy", seufzte er und trat mit einem Tablett voller Gläser hinter dem Tresen hervor. Gemächlich setzte er sich in den Sessel, der Eve gegenüber stand. In der Zwischenzeit hatte sie sich wiedermal aus seiner Sammlung bedient. Hinter der Couch stand ein rustikales Bücherregal voller alter englischer Lyrik, an dem sich seine Stammgäste während ihres Aufenthalts, neben der diversen Daly-News-Blätter bedienen konnten. "Immer Shakespeare." Er lachte und Stellte ihr neben den Brandy ein großes Glas Wasser hin. "Danke." Eve richtete sich auf und nippte an dem Brandy, während sie ein paar Zeilen in dem Buch überflog.

"Und wo hast Du ihn aufgelesen? für einen Streuner ist er ziemlich gut gekleidet." Piérre lehnte sich gemütlich in seinen Ohrensessel und schwenkte sein Cognacglas. "Ich habe ihn auf der Straße getroffen. Er saß allein irgendwo mitten in Manhattan im strömenden Regen." Eve antwortete ohne vom Shakespeare aufzusehen und nippte ein weiteres Mal an dem Glas bevor sie es auf einen Vlies-Untersetzer stellte, welchen Piérre wohlweißlich auf den Tisch gelegt hatte. "Eve?" Sie sah in die dunklen gütigen Augen ihres alten Freundes, als sie seinen besorgten Tonfall wahrnahm. "Warum warst Du mitten in der Nacht im strömenden Regen in Manhattan unterwegs?"

Er kannte die Antwort bereits. Mit einem Vorwurfsvollen Blick über den Buchrücken hinweg wandte sie sich wieder der schönen Porzia zu, als Yetta hinter sich die Tür sanft schloss.

"Ich muss sagen, Liebes", begann sie und setzte sich neben Eve, die ihre Beine anzog, um ihr Platz auf der Couch zu machen. Yetta nahm ihren Whiskey Soda vom Tisch und nahm einen untypisch großen Schluck davon. "Dein Streuner sieht unglaublich gut aus. Aber mehr habe ich leider nicht rausgefunden."

Ihr Mann und die junge Frau sahen sie skeptisch an. "Gar nichts. Ich habe seinen Anzug durchsucht es ist ein sehr edler Stoff, soviel kann ich sagen. Kein Label, keine Etiketten. Die Taschen waren allesamt leer. Keine ID, keine Kreditkarten, nichts." "Bist Du dir sicher?", fragte Eve beinahe verzweifelt nach.

"Herzchen, der Junge hat nicht mal einen Cent Bargeld bei sich." Entschuldigend legte sie eine Hand auf den Oberschenkel der jungen Frau. Diese klappte seufzend das Buch zu und legte es auf ihren Schoß. "Kann er heute in eurer Gaststube bleiben? Bis morgen hab ich spätestens seine ID und sollte er sich dann immer noch nicht erinnern, bringe ich ihn in ein Krankenhaus."

Piérre schüttelte nachdenklich den Kopf. "Unsere Zimmer sind alle mit Studenten belegt. Im Moment sind recht viele in der Stadt."

"Tut uns leid, Liebes." Yetta drückte Eve's Hand, die auf dem Shakespeare-Band lag. Diese rieb sich seufzend die Stirn und griff schließlich wieder nach dem Brandy. Der Schluck war etwas zu groß, sodass es in der Kehle trocken brannte. Sie verzog das Gesicht und unterdrückte ein Husten. In ein Hotel kann ich ihn nicht bringen, dachte sie. Direkt in ein Krankenhaus, würde die Polizei auf den Plan rufen - und wenn sie etwas nicht mochte, dann waren es diese NewYorker Freizeitcops, die sich grundsätzlich für die Größten hielten. Nein, keine Cops. Dass Yetta nichts gefunden hatte, machte sie stutzig. Es war gerade so, als wäre er über Nacht in der Stadt einfach aufgeploppt, wie ein Fliegenpilz im Wald. Sie fasste sich an den Kopf. "Wie komme ich denn jetzt bitte auf Fliegenpilze?"

"Fliegenpilze?" Piérre musste laut lachen. "Manchmal würde ich gerne Deine Gedanken lesen können, Eve. Fliegenpilze." Lächelnd prostete er in die kleine Runde. "Glaub mir, besser nicht." Eve stieß mit Yetta an und trank diesmal etwas vorsichtiger. "Warum hast Du ihn mitgenommen?" fragte Yetta unvermittelt ernst.

Eve holte zu einer Antwort aus, aber da war keine. Sie stockte und sah hinunter auf den abgewetzten Einband des Buches, als ob die Antwort dort geschrieben stünde.

"Ich-" In dem Moment wurde die Tür hinter der Bar vorsichtig geöffnet und Loki trat in den Raum. "Herzchen!" Yetta schlug unvermittelt die Hände vor der Brust zusammen. Eve und Piérre hätten sich am liebsten die Hände vor den Kopf geschlagen. Geht das schon wieder los! "Du siehst großartig aus.", bestärkte sie ihn, als er etwas unsicher an seinem dunklen Hemd zupfte. "Setz Dich." Yetta klopfte einladend auf den Sessel zu ihrer Linken. Sein bis eben noch glattes Haar begann sich von seinem Nacken nach oben hin leicht zu locken. Sie sah keinen Farbansatz.

Als er sich setzte, stellte Pièrre ihm den Brandy vor die Nase. "Trink, Junge."

Unsicher nahm Loki das Glas in die Hand und roch an der goldfarbenen Flüssigkeit. Er verzog das Gesicht und hob anschließend etwas wiederwillig sein Glas. "Nun, auf Euer Wohl." Er prostete in die Runde und schüttete den kompletten Inhalt des kleinen Glases hinunter. Er fletschte die Zähne und hustete leise. "Vielen Dank, für die Kleider", sagte er an Yetta gewandt und schob die Ärmel ein Stückchen weiter über seinen Ellbogen. "Aber ich fürchte, ich kann sie nicht bezahlen."

"Keine Sorge, Herzchen." Yetta klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel. "Bis Du wieder auf den Beinen bist kannst du sie behalten. Wir schulden der lieben Eve noch einen Gefallen." Sie lächelte die junge Frau herzlich an; und auch Pièrre schenkte ihr einen dankbaren Blick und hob sein Glas in ihre Richtung.

"Ich danke Euch." Loki lächelte verhalten. Eve ließ sich kaum etwas anmerken und nippte wieder an ihrem Brandy. Schon als sie ihn angesprochen hatte, war ihr seine Ausdrucksweise aufgefallen. Seine Sprache wirkte etwas veraltet; höfliche Noblesse.

"Ihr habt sicher ein wenig Hunger. Ich mache uns ein paar Sandwiches." Yetta stand geschäftig auf und huschte hinter den Tresen in die Küche. "Yetta..." Eve streckte den Arm aus, um die ältere Dame aufzuhalten, aber diese war bereits außerhalb ihrer Reichweite. "Lass ihr doch die Freude." sagte Pièrre ruhig und lachte leise bevor er aufstand, um seiner Frau bei den Sandwiches zu assistieren. Schließlich richtete sich Eve auf und entdeckte Loki, wie er den Einband des Buches auf ihrem Schoß studierte. Unvermittelt hielt sie es ihm hin. Zögernd nahm er das Buch in die Hand und strich mit einer Hand über das Alte leder, bevor er es öffnete und zu lesen begann.

"Kommt es Dir bekannt vor?", fragte Eve nach einer Weile.

"Nein." Er blätterte um. "Aber ich erinnere mich an ähnliche Art der Poesie, die ich schon gelesen habe." Er sah neugierig zu ihr auf. "Was ist das?"

"Shakespeare. Ein berühmter Britischer Autor aus dem sechzehnten Jahrhundert.", erklärte Eve geduldig in der Hoffnung, dass er sich zumindest langsam wieder erinnern konnte. "Welches Jahr haben wir jetzt?" -Hoffnung zerstört.

"2014. Heute ist der 16. September. Hilft Dir das vielleicht?" Etwas unschlüssig sah er wieder auf die vergilbten Seiten des Buches, dann schüttelte er den Kopf. "Eve?" Er klappte den alten Shakespeare zu und legte den Einband auf einen Beistelltisch neben seinem Sessel. Dann beugte er sich ein Stück nach vorn und sah sie fest an. "Warum hast Du Dich meiner angenommen?"

Die gleiche Frage, auf die sie schon bei Yetta keine richtige Antwort fand. Sie seufzte und sah ihn ebenfalls fest an. "Du hast mich an jemanden erinnert." Eine Lüge.

"Was geschieht jetzt?", fragte er weiter. "Ich habe ein Gästezimmer. Wenn Du keinen anderen Ort hast, kannst du über Nacht dort bleiben. Ich versuche in der Zwischenzeit, etwas über Dich herauszufinden. Mit etwas Glück erinnerst Du Dich morgen wieder." Loki schluckte und wirkte plötzlich wieder so unsicher, wie zuvor im strömenden Regen. "Ich danke Dir vielmals für Deine Hilfe. Wenn ich mich irgendwie revan -"

"Bedank' Dich, wenn das alles hier vorbei ist.", fuhr sie ihm dazwischen und leerte ihren Drink. "Nimmst Du mein Angebot an?" Er nickte.

"Sandwiches!", rief Yetta fröhlich und kam mit einem großen Teller voller kleiner dreieckiger Schnitten zurück an den Tisch. Loki lachte leise, als Eve bei Yettas trällerndem Tonfall die Augen verdrehte.

Sie aßen die kleinen Portionen schnell auf. Pièrre gab noch ein paar seiner Geschichten aus Großbritannien zum besten, die zur allgemeinen Belustigung beitrugen. Es folgten noch einige Irish Coffee, bis Yetta ein Taxi rief, dass die beiden nach Hause bringen sollte.

A new life

Ein Sonnenstrahl kitzelte seine Nase. Grummelnd öffnete Loki ein Auge. Er hatte das Gefühl, ihm wäre über Nacht ein zweiter Kopf gewachsen. Er schlug die Decke zurück und setzte die Füße auf den Boden. Gedämpfter Verkehrslärm drang durch das gekippte Fenster. Die Jalousie war halb offen und warf gestreiftes Licht in den Raum. Als er sich streckte, wanderten seine Rückenwirbel geräuschvoll in ihre Ausgangsposition zurück. Seufzend griff er nach der Jeans, die über dem Fußende des Bettes lag und schlüpfte hinein.

Loki trat ans Fenster und spähte mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Aluminiumstreben hindurch. Die Stadt, er erinnerte sich; doch an mehr auch nicht. Er fuhr sich durch das zerzauste Haar und sah sich im Raum um. Das Zimmer war schlicht eingerichtet: Ein Wandschrank, eine Kommode, ein Schreibtisch mit Drehstuhl, das voluminöse Bett mit zwei Nachttischen.

Über dem Bett hing ein breites Bild: Eine Flaschenpost im Sand, dahinter unscharf die Brandung zu erkennen. Auf dem Weg zur Tür erhaschte er den Schatten einer Bewegung: Sein Spiegelbild. An der Schranktür hing ein schmaler Ganzkörperspiegel. Bei dem Anblick verzog er spöttisch das Gesicht. Er sah unmöglich aus. Vergeblich versuchte er, seine Haare zu ordnen und gab sich resignierend mit einer -seiner Meinung nach- unzureichenden Zwischenlösung einer Frisur zufrieden, bevor er das dunkelblaue Hemd überzog. mit einem weiteren prüfenden Blick befand er sein Spiegelbild für hinreichend salonfähig und öffnete die Tür. Ein kleiner Flur führte nach rechts zur Wohnungstür, schräg gegenüber war das Bad. Er wandte sich nach links und trat in den offenen Wohnbereich. Rechts eine große monochrom gehaltene Wohnküche, links eine Schrankwand mit diversen Büchern, ein Fernsehbildschirm und noch ein Paar Gerätschaften, die er nicht zuordnen konnte. Gegenüber an der Wand stand eine breite schwarze Couch, zu beiden Seiten ein passender Sessel. Ein niedriger gläserner Tisch mit Zeitungen beladen stand davor auf einem hellbraunen Bastteppich. Nicht zu übersehen war die meterhohe Fensterfront, die sich über die volle Breite des Raumes erstreckte und von diversen transparenten Stoffbahnen in verschiedenen Farbnuancen verdeckt wurde.

So monochrom und steril die Einrichtung wirkte, umso mehr Farbe brachten die vielen Bilder an den Wänden in den Raum. Loki griff sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentresen und schlenderte die Regalwand entlang, studierte die Titel der Bücher. Nichts kam ihm bekannt vor. Doch! Immer wieder las er den Namen Shakespeare. Er hatte das Buch geschrieben, das Eve gestern im Pub auf dem Schoß hatte. Er sah sich die Bilder an. Auf manchen war Eve zu sehen, mit anderen Menschen. Meist mit zwei Mädchen, die eine noch ein kleines Kind, die Andere gerade ein paar Jahre älter. Eve mit einem jungen Mann. Beide trugen die selbe gefleckte Kleidung. Ein etwas größeres Bild: Wieder alle im gleichen Anzug. Auf einem Regal stand ein Portrait des jungen Mannes mit einem schwarzen Band über der oberen Ecke, daneben ein Glas mit ein paar bunten Blumen. Der Mann im T-Shirt auf dem nächsten Bild kam ihm bekannt vor. Aber es wollte ihm kein Zusammenhang einfallen, geschweige denn eine Name. Er hatte kurzes dunkles Haar, und trug den Bart nur um Mund und Kinn. Er schien mit Eve gerade an etwas zu arbeiten und beide hielten lachend einen Daumen nach oben. Woher kannte er diesen Mann? Frustriert biss er ein weiteres Mal in seinen Apfel und sah sich weiter um. Küche und Wohnzimmer teilte eine unauffällige Wendeltreppe den Raum, die nach oben an eine weitere Tür führte. Eve war gestern dort hinauf verschwunden.

Am Treppengeländer hing sein Anzug mit einer Nachricht. Er riss den Zettel vom Bügel und begann zu lesen.

 

Guten Morgen!

Deine Sachen hast Du ja schon gefunden.

Ich bin um ca. 16:00 wieder da. Bis dahin fühl Dich wie zu Hause.

Mach in der Zeit bitte nichts dummes und geh nicht ans Telefon.

Eve

 

Er zog eine Braue hoch und biss in das Kerngehäuse. Nichts dummes? Was dachte diese Frau von ihm?

 

Das Telefon klingelte.

 

Eve spielte geduldig mit der Telefonschnur an dem Apparat, der auf dem Schreibtisch ihrer nicht vorhandenen Vorzimmerdame installiert war und wartete.

"Ja?"

Hast du die Nachricht nicht gefunden?

"Eve - Ähm. Doch natürlich."

"Warum gehst du dann ans Telefon?"

"Es hat geklingelt." Eve verdrehte die Augen. Die Logik war bestechend.

Zumindest wusste sie nun, dass er noch da war.

"Wie geht es Dir?"

"Gut, denke ich." Sie war nicht sicher was sie von dieser Antwort halten sollte

"Denkst Du..." Als sich am anderen Ende der Leitung nichts hörte, fuhr sie fort. "Worauf hast du nachher Lust? - Zu Essen meine ich."

"Nun, was umfasst denn die hiesige Küche?"

"Nahezu alles... Italienisch, Asiatisch, Griechisch..."

"Ich bin nicht sicher...?"

"Sagt Dir Pizza was?" Das musste funktionieren. Pizza kannte jeder!

"Nein." Und wieder Lud die Tischplatte zur Kollision mit ihrer Stirn.

"Gut, ich...denke mir was aus. Brauchst Du sonst noch etwas?"

"Ich denke nicht."

"Ok, dann bis später." Eve legte auf.

 

Im Büro war nicht viel los gewesen. Die wenigen Arbeiten hatte sie mit ein paar Telefonaten delegiert, und sie sich somit vom Hals geschafft. Den Rest des Tages hatte sie sich mit Jarvis beschäftigt. - Und den weltweiten Registrierungskarteien:

Vorname Loki, geschätztes Alter Anfang dreißig, Körpergröße ca. 1,90, schlanke Figur. Haarfarbe schwarz, Augenfarbe grün-grau. Herkunft dem Akzent nach zu urteilen britisch, Sucherweiterung Großraum Europa.

Nichts. Nada, Niente, Nothing!

Nicht in den Staaten, nicht in Europa und auch der Rest der Welt kannte keinen Loki, der auf diese Beschreibung oder zumindest einen zufriedenstellenden Teil davon passte.

Eve seufzte und streckte sich. Das passte doch alles nicht zusammen. Nicht den Hauch einer Spur hatte sie gefunden. Sie ließ den Algorithmus weiter laufen, in der Hoffnung, bei Zeiten würde ihr das Programm ein Ergebnis ausspucken. Vielleicht wenn sie etwas mehr wusste, und die Suchdaten anpassen, Radien reduzieren konnte... Leute vielen nicht einfach vom Himmel. Es sei denn, sie hießen Tony Stark und/oder steckten in einem Blech-Smoking.

Ihr Telefon klingelte, sie drückte auf den Knopf. "Was?"

"Eve? Alles Ok?" Die Stimme hatte eine beruhigende Wirkung.

"Entschuldige, Pepper. Ich... Was gibt's?"

"Könntest Du bitte kurz in mein Büro kommen?"

"Klar. Bin gleich da."

Eve klemmte sich ihre Mappe unter den Arm und eilte aus ihrem Büro zum Aufzug.

Pepper's Büro war etwas größer als das Ihre. Der Schreibtisch elegant-puristisch in Glas und Edelstahl, wie die restlichen Einrichtungsgegenstände auch. Tony's Verlobte hatte viel Gemüse, also Grünpflanzen in ihrem Büro verteilt, was den Raum freundlicher wirken ließ und die sonst gähnende Leere wunderbar kompensierte.

"Miss Potts, Sie haben geläutet?" Pepper grinste, als Eve zur Tür hereinkam und drückte ihrer Assistentin einen Stapel Unterlagen in die Hand, mit der sie rasch -ohne Eve eines Blickes zu würdigen- den Raum verlies. Eve legte die Mappe ab und lies sich in einen lederbezogenen Wippsessel gegenüber ihrer Chefin fallen. Diese seufzte, als sie sich ihrer Freundin und Mitarbeiterin zuwandte.

"Es hat Beschwerden gegeben." stellte sie fest.

"Wow. Was hab ich diesmal angestellt?" Eve hasste es.

"Deinen Mitarbeitern, gefällt nicht was du sagst."

"Stell Dir vor, die wüssten, was ich denke." Eve's Stimme triefte vor Sarkasmus.

"Eve..." ein leidender Ausdruck huschte über Pepper's Züge.

"Was?! Ich bin nur ehrlich. Entschuldige bitte, dass ich nicht jedem dieser Arschkriecher Honig ums Maul schmiere."

"Das sollst Du doch gar nicht."

"Sondern? Pepper, das hatten wir doch schon oft genug. Diese heuchlerische Art, die leider Gottes ein Großteil der Leute an den Tag legt - am besten noch mit Inkompetenz gepaart - geht mir einfach auf den Keks."

Pepper schwieg und versuchte in den dunklen Augen ihres Gegenübers Verständnis zu finden.

"Warum seid ihr ehrlich zu mir?"

Pepper war im ersten Moment etwas perplex.

"Tony und Du.", erklärte Eve schließlich. "Ist es nur weil ihr beide wisst, dass ich es merke?"

Die Rothaarige wusste keine Antwort. Vielleicht ja. Andererseits hätte sie Eve ihr Leben anvertraut. Es war schwierig.

Eve stand auf und trat an die Fensterfront um Pepper's Blicken zu entgehen. Von hier oben war der Anblick der Stadt noch beeindruckender. Direkt über dem Büro befand sich die Spitze des STARK-Towers mit Tony's Penthouse. "Ich versuche nur meinen Job, den Ihr beide mir gegeben habt so gut ich kann auszuführen, und zwar auf meine Weise. Wenn es denen nicht passt, Bitte. Ich bin froh, wenn ich keinen sehen Muss. Wo ist denn das Problem? Ich verstehe es nicht."

"Es gibt kein Problem." Pepper stand nun neben ihr und legte besänftigend eine Hand an Eve's Oberarm. "Es ist nur... Du hast immer Mehr zu tun. Und - um deine Kollegen zu zitieren - du wirst immer unausstehlicher." Pepper versuchte es mit ein wenig Humor. "Tony hat mir von eurem neuen Projekt erzählt.", begann sie und schlenderte durch den Raum. "Der neue MARK."

"Hat er Dir auch von den zwölf Prozent erzählt?" Pepper fing an zu lachen, als Eve ihr vom Fenster her einen vielsagenden Blick schenkte. "Nein, hat er nicht." Pepper machte Anstalten, sich wieder zu setzen. Also ging Eve schmunzelnd zurück an ihren Platz. "Was ich damit sagen wollte, Tony und ich hatten eine Idee."

Eve hob gespannt die Brauen. "Ein Personal-Assistant." Die Bombe war geplatzt. Eve saß einige Sekunden regungslos da und starrte ihr Gegenüber ungläubig an. "Ein WAS?"

"Ein Personal-Assistant. Du weißt schon. Jemand, der Dir das Leben leichter macht; einen Großteil Deiner Arbeit und der Organisation erledigt, damit Du Dich auf die wichtigen Dinge konzentrieren kannst." Pepper war offensichtlich total begeistert von der Idee und lächelte erwartungsvoll. Eve offensichtlich eher nicht.

"Ein Personal-Assistant.", wiederholte sie ungläubig. "Und wer auf dieser großen weiten Welt würde diesen Job bitte freiwillig machen?"

"Wir schreiben die Stelle aus."

"Gute Idee." Eve sah auf die Uhr, 15:37. Als Pepper zu einer Diskussion ansetzen wollte, schnitt Eve ihr wissentlich das Wort ab: "Nein. Auf gar keinen Fall!"

"Aber..."

"Kein Aber, Pepper. Findet!Nicht!Statt! By the way, es ist Freitag und ich hab' seit einer halben Stunde Feierabend. Wenn Du mich jetzt also entschuldigen würdest?" Eve nahm ihre Mappe und ergriff die Flucht.

"Eve! Versuch es doch wenigstens!"

"Ich überleg's mir. Schönes Wochenende, Bye!"

Tür zu.

 

Loki überraschte das Klingeln an der Tür während er sich im TV Nachrichten ansah. Er stand auf und spähte durch den Türspion. Er sah nur eine hellbraune Wand.

"Ich bin's, mach die Tür auf." Eve's gedämpfte Stimme drang durch die Tür. Er öffnete. Die hellbraune Wand entpuppte sich als Papiertüte mit Einkäufen, die sie im Arm hielt. Im anderen hielt sie einen Sixpack schwarzer Dosen mit goldenem Emblem. darauf balancierte sie zwei unterschiedlich große Kartons. Und es duftete herrlich nach einer warmen Mahlzeit.

"Könntest Du...?"

"Natürlich." Er nahm ihr die Tüte und die Kartons ab und ging in die Küche.

"Du bist spät.", stellte er fest, während Eve noch die Wohnungstür hinter sich schloss.

"Sorry. Im Büro hat es etwas länger gedauert." Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und die Schuhe ausgezogen hatte, gesellte sie sich zu ihrem Gast und beobachtete, wie er jeden Artikel genau studierte, als er ihn aus der Tüte auf dem Küchentresen ausräumte. Eve schmunzelte und beschränkte sich darauf, die Einkäufe, die Loki untersucht hatte zu verstauen und vier der Dosen kühlzustellen.

"Was ist das?" Er deutete auf die Kartons.

"Pizza." An das Wort konnte er sich erinnern, aber die Bedeutung lag ihm immer noch fern. Er spekulierte, dass es sich um eine Speise handeln musste. "Unser Abendessen.", fügte Eve hinzu und gab ihm den größeren von beiden Kartons. Eve nahm den anderen und griff in die Besteckschublade. "Setz dich." Sie deutete auf die Couch.

"Wäre es nicht angebracht, am Tisch zu essen?"

Sie schubste die Schublade zu und griff sich mit einer freien Hand beide Dosen. "Wäre es sicherlich.", begann sie und lies sich seufzend auf die Couch fallen. "Aber mein Tag hat gestern Morgen um fünf Uhr angefangen und Pizza isst sich wunderbar auf der Couch."

Loki zuckte mit den Schultern und setzte sich neben sie. Das nennt sich also Pizza, dachte er, als ihm aus dem geöffneten Karton ein belegter Teigfladen mit Käse überbacken entgegensah. Er ließ sich nicht lange lumpen und griff sich- das Besteck ignorierend - das erste Stück.

Nach dem Newsflash riskierte er schließlich einen Blick auf Eve's Abendessen. "Was ist das?"

"Quattro Fromaggi mit extra Käse." Loki runzelte die Stirn und wühlte in seinem Gedächtnis, fand allerdings nicht dergleichen.

Der leicht dämliche Gesichtsausdruck ihres Gegenübers sprach Bände. "Das ist 'ne Calzone. Im Grunde genommen nichts anderes als eine Pizza, nur Zusammengefaltet. Dann passt mehr rein. Quattro Fromaggi ist die Art. Übersetzt Vier Käse. Ich hab Dir Speziale mitgebracht: Salami, Pilze, Schinken."

"Vier Käse mit Extra Käse?"

"Ich liebe Käse." Sie reichte ihm eine der Dosen. Eve klopfte ein paar Mal mit der Fingerspitze auf den Deckel, bevor sie ihre öffnete.

"Auf Dich und Deine Gesundheit." Eve war zunächst etwas perplex wegen des Trinkspruchs, erwiderte aber dann Loki's Lächeln und stieß an. "Auf Deine baldige Genesung".

"Das kenne ich." Stellte er nach dem ersten Schluck fest. Eve machte innerlich einen freudigen Hüpfer. Yay! Bald bist du ihn los!

Eve mochte keine Menschen; allgemein. Ausnahmen bestätigten die Regel. Es gibt immer solche und solche. Und gutes Personal war heutzutage schwer zu finden. Sie konnte es selbst noch nicht glauben, dass jemand, den sie erst vor weniger als 24 unter äußerst unorthodoxen Umständen kennengelernt hatte, jetzt neben ihr saß und die Pizza verschlang, als hätte er seit Wochen nur Wasser und Brot bekommen. Er hatte etwas faszinierendes an sich. Sie musste sich keinerlei Mühe geben, seine Taten und aussagen zu analysieren. Es war merkwürdig.

Noch merkwürdiger war Pepper's Idee. Es war zweifellos Pepper's Idee, Tony wäre es vielleicht eingefallen aber er hätte es sofort wieder verworfen. Er wusste genau, wie Eve tickte, wenn es um ihre Arbeit ging.

Sie schalt sich, ihr kurzes Wochenende zu genießen, so gut es ging. Also leerte sie ihre Dose Cider und nahm die Überbleibsel des Abendessens mit in die Küche. "Willst Du auch noch was?" Als Loki den Kopf drehte, ragte hinter der geöffneten Kühlschranktür nur noch Eve's Arm mit einer Dose in der Hand hervor. "Gerne."

Als sie mit der nächsten Runde anstießen, schaltete sie den Fernseher auf Lautlos. "Loki," begann sie unsicher und drehte sich zu ihm. "Nein.", beantwortete er ihre ungestellte Frage und trank. "Ich bin so klug, wie zuvor. Zumindest was meine eigene Person betrifft."

"Was mach ich nur mit Dir, Loki?", seufzte sie und nippte an der Dose. Loki zog eine Braue hoch und musterte sie aus dem Augenwinkel während er die zweite Dose leerte. "Mehr davon?"

Eve musste schmunzeln. "Ich habe auch noch guten Whiskey." Ein einladendes Lächeln war die

Antwort. "Da vorn im Schrank sind die Gläser.", erklärte Eve während sie hinter dem Tresen eine bauchige Flasche hervorzauberte.

"Halt!" Bevor Loki mit ihr anstoßen konnte, zog sie ihr Glas weg. "Vorher musst Du mir noch ein paar Fragen beantworten."

"Wie Du willst."

"Bist Du Dir sicher, dass Dein Name Loki ist?"

"Nichts bin ich mir mehr sicher."

"Du musst wissen, ich konnte nichts über Dich herausfinden. Gar nichts. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen bis gestern hast Du einfach nicht existiert. Du bist nirgends registriert, nicht mal Dein Fingerabdruck hat etwas genützt."

"Mein Fingerabdruck."

"Gestern im Pub hab ich eines Deiner Gläser mitgenommen. In der Hoffnung, mit deinem Fingerabdruck hätte ich Deine Identität in ein paar Sekunden, aber weit gefehlt. Ich entschuldige mich dafür. Der Abdruck ist vernichtet, Du musst mich also nicht wegen Datenmissbrauchs verklagen."

Loki lachte laut. "Nichts Läge mir ferner, als Dich vor Gericht zu bringen, Eve."

"Da bin ich ja beruhigt.", sie sah ihm wieder in die Augen. "Du kannst Dich immer noch nicht an Deine Vergangenheit erinnern?"

"Ich wünschte, es wäre so. Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Alles wirkt vertraut auf mich in irgendeiner Weise. Aber ich kann mich an nichts erinnern, was vor Gestern Nacht passiert ist."

"Ok." Mit einem Gesichtsausdruck, den Loki nicht recht zu deuten wusste - er erkannte den Hauch eines Lächelns darin - stieß sie mit ihm an. "Auf Dich. Wir haben heute noch eine Menge zu tun."

Loki leerte sein Glas mit einem skeptischen Blick. "Haben wir?"

"In der Tat." Eve stieg eilig die Wendeltreppe neben der Couch hinauf, öffnete die Tür am Absatz und verschwand. Loki unterdrückte den Drang, ihr nach oben zu Folgen. Es musste einen Grund geben, warum sie diese Tür verschlossen zurückgelassen hatte.

 Kurze Zeit Später kam sie  mit einem Aktenkoffer bewaffnet zurück und setzte sich wieder neben Loki, der gerade nachschenkte, auf die Couch.

Sie öffnete den Koffer auf ihrem Schoß und begann auf der Tastatur des darin befindlichen Laptops herumzutippen.

"Du brauchst eine Identität. Am besten einen Gleichklang mit Loki."

"Was ist falsch an meinem Namen?", fragte er etwas verärgert.

"Loki ist im Moment ein bisschen negativ behaftet, seit vor ein paar Jahren so ein Irrer mit dem gleichen Namen New York beinahe in Schutt und Asche gelegt hätte." Sie sagte das, als wäre es eine völlig beiläufige Feststellung. Ähnlich, wie : "Hey, Deine Schnürsenkel sind offen."

"Da magst Du Recht haben...", lenkte er ein.

Währenddessen sinnierte Eve leise vor sich hin: "Loki...Loki...Lo...Luke!" Sie sah ihn Fragend an. "Luke? Kannst du damit leben?" Loki überlegte kurz, nickte aber dann. "Ein klingender Nachname wäre angebracht.", stellte er fest und nippte an dem samtig schmeckenden Whiskey.

"Skywalker!" Eve lachte und schüttelte den Kopf. "Entschuldige, das musste sein."

"Was ist so lustig? Ich finde den Namen durchaus passend."

Verdammt. Das war ja fast so schlimm, wie mit Rogers. Nur hatte dieser Mittlerweile alle Star Wars-Filme gesehen. "Vergiss es."

Sie überlegte nach Namen aus ihrer Schulzeit oder beim Militär. "Danbroock, Sandford, Kalloway?" Loki brachte seine Meinung meist lediglich durch seinen variierenden Gesichtsausdruck zum Ausdruck. Dieser schwankte zwischen einem Anerkennenden Nicken, einer abwägend hochgezogenen Braue und einem etwas verstörten Gesichtsausdruck hin und her. "Ebsworth, Knotsford, Hiddleston- Ne, das klingt zu sehr nach Harrington. Sinckclare, Desborough, Sheffeild- Obwohl, nein Sheffield war der Idiot in meiner Grundausbildung." Und so weiter und so fort.

Loki entschied sich schließlich für Saulsbury - Nachdem er Eve über ihre Grundausbildung ausgefragt hatte. Eve beschränkte sich auf eine allgemeine Zusammenfassung: Ausbildung bei den Royal Engineers, dann zur Royal Navy, mehrere Einsätze bei Joint Operations, dann die Nato-Verwendung in den USA, Austritt aus dem aktiven Dienst, Festanstellung bei Stark-Industries.

 

 

"Befinden sich dort oben Deine Gemächer?", fragte er plötzlich.

Eve blinzelte verwirrt. "Meine... Ja, Mein Schlafzimmer und mein Büro...Gemächer." Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. "Du solltest Deine Ausdrucksweise noch etwas anpassen. Sonst gucken Dich die Leute schief an."

"Ich versuche daran zu denken. Was genau tust Du da?" Er rutschte zu ihr und spähte auf das Display. Ein schwarzes Fenster mit weißer Eckiger Schrift war geöffnet, in das sie zügig die Daten einhakte. "Ich bastel Dir eine Identität." Nachdem sie die Enter-Taste gedrückt hatte, Klappte sie unvermittelt das Display zu, schloss den Koffer und leerte das Glas wieder in einem Zug. "Schade drum. Ich muss nochmal weg.", sagte sie und sprang auf.

"Wo willst du denn hin?" Loki sah ihr perplex dabei zu, wie sie in ihren Mantel schlüpfte und stand auf. "Das weißt du besser nicht." Sie nahm den Schlüssel vom Küchentresen. "Es ist im Moment alles furchtbar kompliziert. Es tut mir leid."

Es tat ihr wirklich leid. Sie hätte ihm gerne mehr gesagt, aber es war ihr simpel nicht möglich. Noch nicht. Sie konnte sich nur ansatzweise vorstellen, wie er sich fühlte. Eve hasste es selbst wie die Pest, wenn man ihr Informationen vorenthielt.

"Du erwartest jetzt hoffentlich nicht von mir, dass ich hier untätig sitzen bleibe, während Du ständig verschwindest?" Loki war kurz davor sich aufzuregen. Gestern Abend hatte er angefangen, etwas Sympathie für Eve zu entwickeln und die Unsicherheit verflog. Vielleicht lag es am Alkohol? Er verstand allerdings immer noch nicht, warum sie das alles tat. Menschen taten solche großzügigen Dinge nicht; zumindest nicht ohne Hintergedanken und das plagte ihn.

"Es bleibt Dir leider vorerst nichts anderes übrig, Loki." Sie hatte Recht. Was sollte er tun? Wo sollte er hin? Er hatte keine Papiere, kein Geld, keinen Ort, an den er gehen konnte. "Der Laptop. Du kannst ihn haben, bis Du etwas eigenes hast." In Windeseile hatte sie ihre Stiefel angezogen und war aus der Tür.

"Du könntest mir zumindest mitteilen wann Du" -Tür zu- "zurück kommst..." Wut kochte in ihm hoch. Am liebsten hätte er das Whiskeyglas an die Wand geschmettert doch dann erinnerte er sich, dass es Eve gehörte, und nicht ihm. "Verdammt!" Ärgerlich schüttete er den Inhalt des Glases hinunter, setzte sich wieder auf die Couch und schenkte sich erneut ein.

 

Die Stunden vergingen. Kein Anruf, nichts. Eve war - wieder einmal - verschwunden. Loki spähte immer wieder  zwischen den Vorhängen nach unten auf die Straßen in der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, doch weit gefehlt. Er stemmte die Hände in die Hüften und wanderte durch den Raum. Diese Machtlosigkeit machte ihn wahnsinnig. Warum konnte er sich an nichts erinnern? Loki goss sich ein weiteres Glas ein. Er versuchte sich abzulenken und nahm Eines der Bücher aus dem Regal, die ihm heute Morgen aufgefallen waren: Shakespeare.

Er schlug es auf und begann zu lesen. Diese Art der Lyrik hatte etwas vertrautes, das ihn ruhiger werden ließ. Zuerst schritt er noch lesend die Fensterfront ab, dann setzte er sich wieder auf die Couch. Es wurde später, dann früh.

 

Als Loki erwachte, fand er das Buch auf dem Couchtisch neben einer Flasche Wasser, einem Glas und ein paar weißer Tabletten. Auch der Aktenkoffer lag auf dem Tisch, darauf ein großer A-4-Umschlag. Er schlug die Decke zurück und hielt inne. Er konnte sich nicht erinnern, sich eine Decke geholt zu haben. Unter dem Glas klemmte ein Zettel:

 

Gegen die Kopfschmerzen.

Der Umschlag ist für Dich.

 

Eve

 

Er war dankbar für die Medizin. Er hätte es nicht als Schmerz bezeichnet, aber sein Kopf fühlte sich tatsächlich sonderbar an. Er hatte gestern die Flasche Whiskey geleert und versucht, die aufkeimende Verzweiflung damit zu ertränken.

"Eve?" Er bekam keine Antwort. Vielleicht schlief sie? Doch als er zur Garderobe spähte, und weder ihr Mantel noch ihre Schuhe ausfindig machen konnte, vermutete er, dass sie - schon wieder - weg war.

Loki nahm den Umschlag an sich, auf dem in geschwungener Handschrift sein Name stand, und öffnete ihn.

Er zog einen dicken Stapel Dokumente heraus und drehte den Umschlag, sodass sein restlicher Inhalt auf die Tischplatte viel. Er nahm die Plastikkarten in die Hand und zog verblüfft die Augenbrauen hoch. Versicherungskarte, ID, Greencard; alle mit einem Passbild von ihm, und alle auf den Namen Lukas Saulsbury. Der Dokumentenstapel enthielt einen -seinen- Lebenslauf und eine Menge Instruktionen.

Loki betrachtete mit gemischten Gefühlen das, was vor ihm Lag : Ein neues Leben

Lie to me

"Lucy, I'm home!"

"Würdest Du es bitte endlich unterlassen, mich Lucy zu nennen, wenn Du nach Hause kommst?"

"Entschuldige bitte, Macht der Gewohnheit." Eve zog die Schuhe aus und warf ihren Mantel über die Garderobe. Sie folgte einem herrlichen Geruch in die Küche. "Gibt es etwas zu feiern?" Der Esstisch war gedeckt, und auf einem Tablett war frisch gebackenes Brot aufgeschnitten.

"Nein, ich hatte Langeweile." Loki öffnete den Ofen und wedelte den Dampf mit einem Küchentuch beiseite.

"Das kommt dabei raus, wenn Du Langeweile hast? Was ist das?", fragte sie, als sie den Deckel des heißen Bräters vorsichtig mit einem Topflappen hob. "Boef Bourignon."

"Oh, haute cuisine francaise." Eve nickte anerkennend und besah sich die Weinflasche, die auf dem Tisch stand, während sie ein Stück Brot naschte. "Ich hab' doch gar keine Französischen Weine im Schrank."

"Den habe auch ich gekauft.", er reichte ihr den Dekanter.

"Wie sieht's mit Deinem Job aus?", fragte sie, als sie den Wein in das Glasgefäß goss.

"Noch nichts." Eve seufzte. Loki suchte schon seit über einem Monat nach einer Arbeitsstelle, hatte aber bis jetzt nur wenige Einladungen, zahllose Absagen oder gar keine Antwort erhalten. Und ohne Anstellung war es nahezu unmöglich, in New York City eine Wohnung zu finden, was Loki zu ihrem Mitbewohner machte. Bis vor kurzem hatte sie sich noch zu Tode erschreckt, wenn sie nach Hause kam und begrüßt wurde.

Er nahm ihr den Dekanter aus der Hand und füllte ihre Gläser. "Setz Dich."

 

"Kompliment an den Küchenchef." Sie lehnte sich zurück und nahm das Weinglas an sich. Loki lächelte und machte Anstalten abzuräumen.

"Lass nur, Du hast gekocht. Ich mach' das nachher."

"Wie Du wünschst.", er  schenkte beiden nach. "Wie war Dein Tag im Büro?"

Eve schnaubte. "Frag nicht. Ich habe das Gefühl, so viele kann ich gar nicht rausschmeißen, wie Pepper mir nachliefert." Loki lachte herzlich, als Eve die Augen verdrehte. "Hör auf, zu lachen, das ist nicht komisch."

"Oh doch, das ist äußerst amüsant!" Loki trank noch einen Schluck. "Pepper und Du, ihr seid beide gleichermaßen stur. Sie will nicht von ihrem Einfall ablassen und Du willst Dich nicht fügen. Frauen." Er lachte wieder.

"Ach Du!" Am liebsten hätte sie etwas nach ihm geworfen. Stattdessen biss sie frustriert in ein Stück Brot.

Am Montag vor drei Wochen war sie arglos zur Arbeit erschienen und ahnte nichts Böses, als sie wie jeden Morgen in ihr Büro verschwand und sich zunächst eine Kanne Tee kochte -wie jeden Tag- und hoffte, niemanden sehen zu müssen. Da klopfte es an der Tür.

"Ja?!" Es klang harsch. Viele Leute meinten, seinen Morgenkaffee genieße man am liebsten in aller Ruhe, alleine. Das gleiche galt für Eve: Streiche Kaffee, setze Tee. Auch wenn Loki ihr seit kurzem jeden Morgen, wenn sie aus dem Haus ging, einen To-Go-Becher kräftigen Schwarztee mit ein wenig Sahne in die Hand drückte; es ging ums Prinzip.

Unsicher trat ein junger Mann herein. Etwa 1,80 groß, schlank, blondes Haar, hübsches Gesicht; sicher war er der Schwarm aller Girlies auf der High-School gewesen. Er konnte kaum älter als achtzehn sein. Sie musterte ihn argwöhnisch, während sie sich mit einem kleinen Tablett, auf dem das Ein-Personen-Service stand, wieder an ihren Schreibtisch setzte.

"Guten Morgen, Miss Harrington. Heute ist mein erster Probetag und ich möchte mich Ihnen vorstellen."

Eve runzelte Die Stirn. "Sicher haben sich ihre Kollegen einen Streich erlaubt. Ich bin die Letzte, bei der sie sich vorstellen sollten." Hin und wieder schickte man Praktikanten zu ihr, um die armen Wesen ins offene Messer laufen zu lassen. Gelassen goss sie sich eine Tasse ein und kippte etwas Sahne dazu. "Ich glaube, Sie verstehen mich nicht, Miss Harrington." Eve's Augenbraue zuckte gefährlich. "Ich Denke, ich verstehe Sie sehr wohl, Mister...?" Sie Hob die Tasse an ihre Lippen und wollte gerade einen Schluck trinken, als sie die Antwort des jungen Mannes beinahe die Fasson verlieren lies: "Jenkins, Eugene Jenkins, ich bin ihr Personal Assistant." Ungläubig sah sie in das Gesicht ihres Gegenübers. Es war sein voller ernst.

Eve setzte ein zauberhaftes lächeln auf. "Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?" Sie stand auf und verließ ihr Büro, ohne Eugene eines weiteren Blickes zu würdigen.

 

Es klopfte.

"Ja, bitte?"

Eve trat in Pepper's Büro und schloss leise die Tür hinter sich. "Pepper", begann sie ruhig und trat auf den Schreibtisch zu, "Kannst du mir erklären, warum da jemand noch vor meiner ersten Tasse Tee in meinem Büro steht und behauptet, er sei mein Personal Assistant?"

"Selbstverständlich, kann ich das, ich habe ihn eingestellt. Der Junge hat einen hervorragenden Abschluss und beste Referenzen."

Eve viel seufzend in den Ledersessel. "Dann kannst Du ihn ja auch wieder entlassen."

"Warum, was hat er gemacht?"

"Du hast die Stelle schon vor Wochen ausgeschrieben, richtig?"

Pepper lächelte ertappt und hob entschuldigend die Hände. "Wir wissen doch beide, dass Du nie von Dir aus eingewilligt hättest."

"Ich hab gesagt, ich überleg's mir." Die rothaarige schenkte ihr einen vielsagenden Blick. Ich überleg's mir hieß in 99Prozent der Fälle Nein.

"Pepper, ich kann so nicht arbeiten!"

"Eve, das letzte Mal, als Du und Tony ein Projekt laufen hatten und Du noch weiter in der Firma gearbeitet hast, hattest du danach Mangelerscheinungen und musstest ins Krankenhaus und - "

"Ich hatte Augenringe bis zu den Nasenlöchern.", beendete Eve Pepper's Satz und beugte sich über den Tisch. "Ich weiß. Die Dinger habe ich nach jeder Reservistenübung, wenn die in der Biskaya Joint Operations fahren."

"Was hat das damit zu tun?"

"Ach, Du bist unmöglich!"

"Und Du hörst mir nicht zu!"

Eve hielt inne und schenkte Pepper ein gequältes Lächeln. Mit einem sanften Nicken forderte sie ihr Gegenüber auf, fortzufahren.

"Er soll nicht mit Dir arbeiten, sondern für Dich. Er soll Dir Arbeit abnehmen. Schau ihn Dir an. Und wenn es nicht passt, dann sehen wir weiter." Pepper drehte sich guten Mutes auf ihrem Drehstuhl hin und her.

Das Problem: Eve war Perfektionistin. Und sie vertrat den Grundsatz: Wenn man etwas richtig gemacht haben will, muss man es selber machen.

"Du weißt, dass das für das arme präpubertäre Milchbrötchen in meinem Büro ein Höllentrip werden kann?"

Pepper nickte gelassen. "Er wurde vorgewarnt."

Eve's Mundwinkel zuckten und eine Augenbraue hob sich etwas unheilvoll. "Fein, dann starten wir auf Deine Verantwortung aus rein wissenschaftlicher Neugierde jetzt eine Versuchsreihe."

Damit nahm die Misere ihren Lauf.

Allerdings schien Pepper potentielle Anwärter auf den Job als Verbrauchsgüter zu horten, wie Papiertaschentücher in einer Peep-Show.

Den ersten war sie losgeworden, als sie ihn dabei erwischte, wie er Gerüchte bei den Mädels aus der Personalabteilung verbreitete. Der zweite hatte seinen Schulabschluss gefälscht. Die Nächste hatte scheinbar noch nie an einem Rechner gearbeitet: Ein-Finger-System-Tipper. Nummer Drei machte sich anfangs recht gut, hat aber dann ein wichtiges Telefonat verpeilt. Die Bewerber waren zu jung.

Doch Pepper wäre nicht Pepper, hätte sie nicht auch daran gedacht. Allerdings taten sich mit der neuen Altersgruppe neue Probleme auf.

Die Sparte reichte vom eingeschüchterten Nerd, der zwar seine Arbeit gut machte, aber Schweißausbrüche bekam, wenn man ihn ansprach; über den Sekretärinnen-Stereotypen: aufblondiert, IQ irgendwo zwischen Nesseltierchen und Amöbe und den ganzen Tag mit Nägellackieren und privaten Telefonaten beschäftigt; bis zu Mr. Loverboy aka. Casanova.

Zwischenzeitlich war ein recht ambitioniertes Mädel am Start, das allerdings bereits am ersten Tag "Verbesserungsvorschläge" hatte. Weitere sollten folgen... Nach der dritten stumpfen Anmache hatte sie die Nase gestrichen voll. Doch Pepper fuhr schwere Geschütze auf und feuerte mit allem, was sie hatte. Kein Ende in Sicht.

 

"Und wie bist Du ihn diesmal losgeworden?" Loki schwenkte amüsiert den Wein in seinem Glas und sah neugierig zu ihr herüber.

"Ich habe Ihm gesagt, er solle für die Aero-Space-Abteilung Kompassrosenwasser organisieren."

"Kompassrosenwasser?"

"Der Gag ist alt. Zumindest in der Navy. Den hat man früher mit den Schiffsjungen durchgezogen. Der arme Junge hat mich tatsächlich für Voll genommen und hat angefangen in der Weltgeschichte nach Kompassrosenwasser herumzutelefonieren. Er tat mir fast ein bisschen leid."

"Fast." Loki lachte und trank das Glas leer. "Möchtest Du noch?" Eve schüttelte energisch den Kopf und hielt ihre Hand über das Glas, als er nach dem Dekanter griff.

"Ja fast. Pepper hätte mich fast in der Luft zerrissen, als sie davon Wind bekommen hat."

"Zurecht, wie ich meine."

"Ach komm schon, dem Jungen hätte ich auch ein mit Schnur beklebtes Fernglas in die Hand drücken können, und er hätte geglaubt, es wär die Äquatorlinie wenn er durch schaut."

Loki schüttelte den Kopf und stand auf. "Ich möchte, dass Du Dir etwas ansiehst."

"Augenblick." Eve räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine während Loki seinen Laptop auf dem Tisch aufklappte und ihn zu ihr hindrehte. "Was ist das?" Sie setzte sich und scrollte über das Editor-File. Als sie den Debugger durchlaufen lies, hellte sich ihr Blick auf und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. "Du hast meine Firewall umprogrammiert. Loki, das ist genial!" Ein etwas überheblicher, selbstgefälliger Gesichtsausdruck lag auf Lokis Zügen, als sie aufblickte. "Guck nicht so, du elender Streber." Sie klappte den Rechner zu. "Du solltest Dich wirklich für einen Job im Programming bewerben."

"Meine bisherigen Versuche waren nicht unbedingt mit Erfolg gekrönt."

Eve seufzte. Das konnte doch nicht wahr sein, dass es in dieser Stadt nicht eine einzige Stelle für ihn gab. "Da fällt mir ein, ich bin nächste Woche zu mehreren Terminen eingeladen."

"Na bitte, geht doch." Sie sah auf die Uhr. "Mist."

"Was ist?" Loki beobachtete verwirrt, wie sie aufsprang und die Treppe hinauf hastete.

"Vor einer Viertelstunde hatte ich einen Skype-Termin." Sie verschwand hinter der Tür und Loki setzte sich Kopfschüttelnd an sein Notebook, um nach weiteren Jobangeboten zu suchen.

Eve hatte ungefähr einmal in der Woche einen Skype-Termin mit ihren Nichten Amber und Alice. Alice war die Jüngere von beiden mit vier Jahren, Amber war zwölf. Beide lebten mit ihrer Mutter Celine bei ihrem Großvater. Sie hatte es ihm erzählt, als er nach den vielen Bildern im Wohnzimmer gefragt hatte. Eve sprach nicht gerne über ihre Familie. Loki hatte bemerkt, wie sie jede Antwort so kurz, wie möglich hielt und manchen Fragen völlig auswich.

Er hatte aufgehört, zu fragen; war aber nicht weniger interessiert.

Er hatte sich gut eingelebt. Während er auf Arbeitssuche war, versuchte er als Dankeschön Eve so viel wie möglich abzunehmen. Er hatte angefangen zu kochen, erledigte die Einkäufe und versuchte so viel wie nur irgend möglich an Informationen zu sammeln, um seine Gedächtnislücken zu schließen. Nachdem er sich sämtliches Wissen angeeignet hatte, das Eves Konzept voraussetzte, hatte er sich an neuen Dingen versucht. Er hatte eine Schwäche für Programming entwickelt und machte rasante Fortschritte, was Eve unglaublich begeisterte.

Tagsüber, wenn nichts zu tun war, erkundete Loki die Stadt. New York schien ihm so überdimensioniert. Möglichst viel auf kleinstem Raum, je höher und schneller, desto besser. Er spazierte gerne durch den Central Park, wenn er in seinem Gedächtnis kramte. Doch immer wieder saß er im strömenden Regen auf der Straße, bis Eve plötzlich da war.

In der kurzen Zeit war sie ihm ans Herz gewachsen; was wohl auch daran lag, dass sie seine einzige Bezugsperson war. Doch er mochte ihre etwas chaotisch sarkastische Art.

Es schien ihm immer noch so surreal, doch es störte ihn von Tag zu Tag weniger. Er notierte sich alle Kosten, die er ihr verursachte. Nachdem er endlich einen Job und ein Apartment hatte, wollte er ihr alles zurückzahlen. Er hatte sich furchtbar gefühlt, als sie ihn für die Jobsuche zum Einkaufen geschleppt und ihm mehrere Garnituren gekauft hatte. Loki hatte Eve die ganze Zeit über davon überzeugen wollen, dass ein Anzug völlig genügte, während zwei Angestellte um ihn herumtanzten und die Kleidungsstücke passend absteckten.

Eve saß in einem Sessel etwas abseits, trank wie immer ihren Tee und knabberte an einem Cookie. Eine weitere Angestellte präsentierte ihnen ein paar weitere Modelle und Eve musste ihm einen sehr guten aber leider teuren Geschmack zugestehen.

"Eve, das ist wirklich nicht nötig..."

"Doch, Luke, das ist es." Sie hatte sich in der Öffentlichkeit angewöhnt ihn Luke zu nennen, so viel es nicht auf, wenn ihr versehentlich ein Loki herausrutschte. "Ich war lange genug im Human-Ressource-Management tätig, um zu wissen wie die ticken. Wenn Du sie nicht schon umhaust, wenn Du zur Tür herein kommst, kannst Du den Job vergessen. Zumindest hier in New York."

"Was soll das heißen?"

"Wir gehen auf Nummer sicher und sorgen für eine Reizüberflutung." Loki hätte sich am liebsten zu ihr gesetzt, aber er war gezwungen, still zu halten, um nicht den zahllosen Stecknadeln zum Opfer zu fallen, die in seiner Kleidung steckten. "Du kommst zur Tür rein", fuhr Eve fort und lehnte sich auf ihre Oberschenkel. Sie war direkt vom Büro hergekommen und trug einen schwarzen eleganten Hosenanzug, darunter ein cremefarbener Rollkragenpulli, die Haare hochgedreht. "Luke?" sie schnippte mit dem Finger um seine Aufmerksamkeit zurück zu erlangen.

"Du kommst herein und löst Reize aus. Optik, Akustik, Haptik. In der Reihenfolge. Um die letzteren Beiden brauchen wir uns keine Gedanken machen. Der Klang Deiner Stimme und Eloquenz sind optimal, was die Haptik betrifft, reicht ein bestimmter Händedruck und dass Du Dir ab und an die Hände eincremst. An der Optik arbeiten wir gerade."

"Faszinierend, wie man ein Thema zu Tode analysieren kann.-Au!" Gestikulieren war tatsächlich eine dumme Idee.

"Das ist einfachste Verhaltensbiologie." Sie griff nach einem Keks in der schale auf dem Beistelltischchen. "Beziehungsweise -psychologie." Als sie hineinbiss, verzog sie das Gesicht. "Gibt es denn nirgends außerhalb der britischen Hoheitsgewässer anständiges Short-Bread?" Loki musste lachen. Die letzte Packung, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, war vor zwei Wochen leer gewesen, seit den suchte sie verzweifelt nach einem guten Fabrikat des englischen Teegebäcks.

"Sie sind fertig, Mister Saulsbury.", verkündete der untersetzte Herr mit Brille, der bis eben noch an ihm herumgezupft hatte. Loki begutachtete sein Werk im Spiegel. "Eve?"

Eve war kurz abgelenkt und sah auf, als sie ihren Namen hörte. "Macht einen tollen Hintern." Loki sah sie skeptisch über die Schulter an.

Sie hob beschwichtigend die Hände: "Was? Du wolltest meine Meinung hören."

 

Loki runzelte die Stirn, als die Türglocke schellte. Normalerweise sagte Eve, wenn sie noch etwas oder jemanden erwartete. Zu dem war es recht spät für einen Kurier. Er ging zur Tür und hob den Hörer ab. "Ja bitte?"

"Guten Abend, Mr. Saulsbury." Es war der Portier. "Ist Miss Harrington zu sprechen?"

"Moment." Loki legte den Hörer auf das Schlüsselbrett und stieg die Wendeltreppe hinauf. "Eve?!" Er klopfte an der Tür und ging hinein. Nach links ging es in Eves Bad, angrenzend zu ihrem Schlafzimmer. Rechts war das große Büro. Er klopfte noch einmal und öffnete die Tür einen Spalt. "Eve?"

"Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um. "Was ist denn?" Auf dem Bildschirm war das Skype-Fenster geöffnet und zwei Mädchen waren zu sehen. Die kleinere hatte rote Locken und braune Augen: Alice. Die ältere von Beiden war blond und hatte dieselbe Augenfarbe. Beide versuchten offenbar zu erkennen, wer gerade den Kopf zu Eves Bürotür hereinsteckte.

"Da ist jemand für Dich an der Tür." Sie seufzte.

"Sag, ich bin gleich da." Loki nickte und schloss die Tür, als sie sich wieder zum Bildschirm umdrehte.

"Mädels, ich muss Schluss machen."

"Evie! War das Dein Freund?", fragte Amber neugierig.

"Evie hat nen Freund?" Alice sah ihre Schwester geschockt an und hielt sich die Hände vor den Mund.

Eve lachte. "Nein Ladies, das war nicht mein Freund und ich muss jetzt wirklich los. Arbeit ruft. Ich hab euch lieb." Sie machte einen Kussmund und winkte in die Webcam.

"Wir haben Dich auch lieb, Evie!" Amber winkte zurück, während Alice unzählige Luftküsse fabrizierte.

"Bis bald!" Eve beendete die Übertragung und ging hinunter zur Tür.

"Was ist denn, Dave?" -Dave war der Portier.

"Hier sind zwei Herren vom Police-Department für Sie." Es rauschte kurz, dann hörte sie eine Vertraute stimme.

"Miss Harrington, guten Abend. Detective Smith, NYPD. Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen." Eve lehnte sich seufzend an die Wohnungstür und verdrehte für Loki sichtbar die Augen, der mit einem fragenden Gesichtsausdruck in einigem Abstand hinter ihr stand.

"Hätten Sie nicht vorher anrufen können, Detective?"

"Tut uns leid, es ist sehr dringend."

"Geben Sie mir zwei Minuten." Sie hing den Hörer auf und griff demotiviert nach ihrer Jacke.

"Was ist passiert?"

"Ich muss nochmal weg. Unten stehen zwei Bullen. Nichts schlimmes, keine Sorge.", fügte sie hinzu, als sie Lokis Gesichtsausdruck bemerkte. "In ein paar Stunden bin ich wieder da." Sie schlüpfte in ihre Schuhe und steckte den Schlüssel ein. "Bis nachher."

Loki fuhr sich seufzend durch das Haar und setzte sich auf die Couch. Eve gab ihm immer wieder neue Rätsel auf. Nicht nur, dass Sie außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit öfter "Arbeiten" musste, und manchmal für Tage nicht nach Hause kam, jetzt stand auch noch die Polizei vor der Tür und sie erklärte ihm, sie sei bald wieder da und er solle sich keine Gedanken machen? Was wollte das NYPD von Eve? Kaffekränzchen halten? Unwahrscheinlich.

 

Eve stand hinter dem Spiegelfenster. In dem Raum saß ein junges Mädchen -keine Sechzehn, wenn sie schätzen sollte- allein an einem Tisch und sah sich immer wieder um.

"Ist sie das?", fragte Eve den Detective, der sie abgeholt und gebrieft hatte. Sie Kannte Aron Smith schon länger. Er war groß, hatte kurzes hellblondes Haar und sanfte blaue Augen. Aron war ein sehr sympathischer Mensch und ein Arbeitstier. Allerdings nahm er sich seine Arbeit oft zu sehr zu Herzen, was ihm schon in seinen jungen Jahren einige Sorgenfalten ins Gesicht gegraben hatte.

Der Name des Mädchens war Roxanne Morton. Eine wichtige Zeugin im Falle eines Serienvergewaltigers.

"Ich weiß nicht mehr, was wir noch tun können. Alle Psychologen sind ratlos."

"Wie haben Sie sich das vorgestellt?"

"Wir gehen rein, sie kennt mich. Mir hat sie zumindest ein bisschen erzählt. Ich möchte, dass Sie sie beobachten und mir danach alles sagen, was sie gesehen haben. Wir müssen sie zum Reden bringen, dann können wir weitere Zwischenfälle vielleicht verhindern."

"Bevor ich da rein gehe: Ist alles-?."

Er nickte. "Es ist für alles gesorgt. Der Boss und die Richterin wissen Bescheid und Ihre Konsultierung ist über Richterlichen Beschluss erfolgt."

"OK. Bereit, wenn Sie es sind."

Er lächelte bitter und öffnete die Tür zum verhörraum. "Roxanne, ich möchte Dir jemanden vorstellen.", begann er sanft und setzte sich ihr gegenüber hin. "Das ist Special Agent Harrington. Sie wird während der Befragung bei mir sitzen."

Eve trat aus dem Schatten der Tür und nahm wortlos neben dem Detective Platz. Es war eine Lüge. Eve war kein Special Agent. Aber Menschen fassten leichter Vertrauen, wenn man sie in Sicherheit wiegte. Roxanne war ein sehr hübsches Mädchen. Sie hatte glattes dunkles Haar, ebenmäßige Züge und haselnussbraune Augen. Aus ihr sollte in ein paar Jahren eine wunderschöne junge Frau werden.

Während Aaron dem Mädchen diverse Fragen zu dem Vorfall stellte, beobachtete Eve sie mit einem Sanften Gesichtsausdruck. Solange, bis Aron sich entschuldigte, und mit Eve wieder nach draußen verschwand.

Als die Tür zu war, schenkte er Eve einen hoffnungsvollen Blick.

"Sie lügt."

"Was?!" Er war geschockt. "Aber, warum? Ich meine..."

"Haben Sie gesehen, wie sie die Augenbrauen zusammenzieht und sie ihre Augen krampfhaft offen hält? Sie sieht ständig nach oben, bevor sie eine Frage beantwortet und blinzelt mehr als nötig, selbst wenn sie die Tränen zurückhalten wollte."

"Eve, bitte hören Sie auf, in Rätseln mit mir zu sprechen."

Sie schenkte ihm einen mitleidigen Seitenblick und sah dann wieder durch den Spiegel zu Roxanne. "Das arme Ding hat panische Angst, und deshalb lügt sie. Sie hat Angst vor ihren Erinnerungen. Deshalb behauptet sie, sich an nichts erinnern zu können. Damit sie sich nicht erinnern muss. Wenn sie es nicht schon verdrängt hat."

"Das war auch die Vermutung der Psychologen."

"Und warum bin ich dann hier?"

"Sie haben alles Mögliche versucht. Wir haben auf sie eingeredet, ihr Bilder der anderen Opfer gezeigt, sie unter Druck gesetzt. Sie ist bereits mit ihrer Familie im Zeugenschutzprogramm."

"Das heißt, Roxanne ist gar nicht ihr Name?" Aron schüttelte den Kopf.

Eve sah ihn ernst an."Bin ich frei?"

"Tun Sie, was Sie tun müssen. Wir brauchen ihre Aussage, auch vor Gericht." Genau das wollte Eve unbedingt vermeiden. "Wie heißt sie wirklich?"

"Tracy Kingsley."

"Leihen Sie mir Ihre Handschellen?"

Aron Smith entgleiste der Gesichtsausdruck. "Wofür?"

"Vertrauen Sie mir?" Resignierend löste er das Etui von seinem Gürtel und legte es wiederwillig in Eves ausgestreckte Hand.

"Sorgen Sie dafür, dass Sie das hier auf Band haben. Und egal, was da drin passiert-"

"Nicht reinkommen.", beendete Aron wissend den Satz. Sie befestigte die Handschellen an ihrem eigenen Gürtel. Bevor sie den Raum betrat, atmete sie tief durch und nickte Aron zu.

"Hallo, Roxie." Sie setzte sich.

"Wo ist Aron?" Die Stimme des Mädchens zitterte.

"Aron musste weg. Bis er wieder da ist werde ich mit Dir sprechen."

"Aber ich habe doch schon alles gesagt..."

"Ich weiß." Eves Stimme war sehr sanft und ruhig, als sie mit ihr sprach.

"Sie sehen überhaupt nicht aus, wie ein Special Agent.", bemerkte das Mädchen und musterte sie. Ihr Gegenüber trug einen schwarzen Strickpulli unter einer Lederjacke und eine Jeans und ihre Haare waren zu einem schlampigen Knoten hochgedreht.

Eve lachte. "Und wie sehen Special Agents Deiner Meinung nach aus?"

"Naja." Sie war unglaublich unsicher und wusste nicht, ob sie Eve trauen konnte. "Sie tragen Anzüge, sehen wichtig aus und fahren in schwarzen SUVs herum." Sie sah sie fragend an.

"Und vermutlich denkst Du, dass dieser Kugelschreiber hier", sie zog aus der Innentasche ihrer Jacke einen Kugelschreiber und spielte damit. "gar kein Kugelschreiber ist, sondern ein Aufnahmegerät, oder eine Rauchgranate, oder ein Zünder für einen Sprengsatz." Mit jeder Aufzählung lächelte das Mädchen mehr und lachte schließlich. "In Hollywood vielleicht, ja. Aber nicht in echt. Das wäre doch viel zu auffällig, denkst Du nicht?"

Roxanne nickte.

"Roxie, Wie ist Dein richtiger Name?" Als das Mädchen unsicher auf ihrem Stuhl herumrutschte, fuhr sie lächelnd fort. "Ich bin übrigens Eve."

"Tracy.", kam es schließlich zögernd.

"Tracy?", Eve tat überrascht und holte ihr Portemonnaie aus der Hosentasche. "Meine Nichte heißt auch Tracy." Sie holte ein Bild von Amber heraus und gab es dem Mädchen. "Das ist sie."

Tracy wischte sich mit dem Ärmel über die gereizten Augen und lächelte kurz, als sie  Eve das Bild zurückgab. "Wie alt ist sie?"

"Sie wird nächstes Jahr dreizehn. Und ihretwegen brauche ich Deine Hilfe."

"Meine?" Sie blickte sie hoffnungsvoll aus den vom vielen Weinen geschwollenen Augen an.

"Ja. Du musst mir helfen zu verhindern, dass ihr das Gleiche passiert, wie Dir. Sag mir alles, was Du weißt, damit ich ihn finden Kann."

"Ich kann nicht." Tracy begann zu schluchzen. Fast hatte sie sie soweit.

"Wie sah er aus? Wie ist es passiert?"

"Ich weiß es nicht mehr!" Tracy zog die Knie an und verbarg das Gesicht in ihren Händen, als sie die Tränen nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.

"Gerade eben hast Du noch gesagt, Du kannst nicht." Eve beugte sich nach vorne, um jeden Ausdruck des Mädchens besser erkennen zu können.

"Ich kann nicht."

Eve seufzte. "Du lässt mir keine andere Wahl, Tracy. Da du den Täter offenbar zu decken versuchst..." Sie stand auf und zückte die Handschellen. Aron Stand draußen und raufte sich die Haare. Was zur Hölle tat sie da?

"Tracy Kingsley, Sie sind verhaftet wegen des dringenden Tatverdachts auf Beihilfe zu schwerer Körperverletzung in mehreren Fällen." Aron fiel die Kinnlade herunter. Eve packte das Mädchen harsch am Arm und zog sie vom Stuhl. "Nein! Nein, Bitte! Ich habe nichts getan!"

"Sie haben das Recht, zu schweigen." Eve legte dem Mädchen die Handschellen an. "Alles, was Sie sagen kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden." Sie machte Anstalten, das Mädchen aus dem Raum zu bringen.

"Nein! Miss Eve! Ich habe ihm nicht geholfen! Ich erzähle alles! Ich sage Ihnen alles."

Sie warf einen für Aron undeutbaren Blick in den Spiegel und half Tracy auf einen Stuhl nachdem Sie die Handschellen gelöst hatte und verließ den Raum.

"Ihre Zeugin, Detective." Eve warf ihm die Handschellen zu und wandte sich zum Gehen.

"Was sollte das?!" Aron war außer sich. "Beihilfe zur schweren Körperverletzung?! Das gibt es überhaupt nicht!"

"Sie wollten, dass die Kleine redet, oder?" Eve drehte sich um und sah ihn unverwandt an.

"Ja, aber doch nicht so!" Dass er sich schuldig fühlte, war ihm ins Gesicht geschrieben. Genauso, wie ihn die Verständnislosigkeit plagte, die er ihr gegenüber empfand.

"Sie hat von sich alleine die Kraft gefunden, darüber zu sprechen. Sie hat nur den richtigen Anreiz gebraucht. Als sie bemerkt hat, dass sie dem Täter mit ihrem schweigen hilft, wollte sie reden."

"Sie sind grausam, Eve."

"Danke, ich finde allein hinaus." Sie lächelte halbherzig und lies den Detective stehen. "Kümmern sie sich um Tracy."

 

Eve nahm ein Taxi nach Hause. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und war hundemüde.

Vor ihrem Apartment lehnte sie sich gegen die Tür und hatte Mühe, mit dem Schlüssel das Schloss zu treffen. Als Loki aufgrund der kratzenden Laute, die ihre Versuche draußen verursachten von innen öffnete, viel sie ihm wie ein nasser Wäschesack entgegen.

"Ist mit Dir alles in Ordnung?" Er hielt sie mit einem Arm fest und schloss die Tür.

"Bestens. Danke." Sie löste sich abrupt aus seinem Griff und wankte in die Küche. "Willst Du auch einen Drink?"

"Danke, nein." Loki setzte sich wieder an seinen Laptop. "Was wollte die Polizei von Dir?"

"Sie haben mich zu einem Überfall hier in der Nachbarschaft befragt." Sie nahm einen ungewöhnlich großen Schluck aus dem Glas, das sie zuvor mit Whiskey gefüllt hatte.

"Du solltest Dich hinlegen, Du siehst furchtbar aus." Bemerkte er beiläufig und tippte weiter auf der Tastatur herum.

"Na vielen Dank auch." Sie stellte das Glas hin und öffnete den Kühlschrank. "Bist Du bei den Bewerbungsgesprächen auch so charmant?"

"Nein, nur Dir gegenüber."

"Aber Du hast Recht. Ich sollte ins Bett gehen." Sie nahm eine Flasche Mineralwasser und ging die Treppe hinauf. "Gute Nacht."

"Gute Nacht, Eve."

 

Eve lag noch lange wach. Dachte an Tracy und was ihr widerfahren war; dachte daran, was Aron Smith gesagt hatte. Sie sind grausam, Eve.

Sie stand auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging hinaus auf die Dachterrasse. Die Luft roch nach Schnee und jeder Atemzug lies kleine Geister vor ihr tanzen. War sie wirklich grausam? Was bedeutete denn grausam wirklich? Grausamer als die Realität in der wir alle leben, als die Wahrheit mit der sich keiner so recht anfreunden Will oder kann?

Dann war es wohl auch grausam, dass sie es sehen konnte. Jeder Mensch erzählt unbewusst viel mehr, als er für Möglich halten würde; ein Blick, ein Schritt, eine Kopfwendung, die kleinste Regung der Gesichtsmuskulatur sprach Bände. Sie sah alles, ob sie wollte oder nicht. Es war ein automatischer Prozess, wie ein normaler Mensch auf der Straße Schilder liest, ohne es bewusst zu tun. Aber da war noch mehr. Eve hatte die Fähigkeit in das Bewusstsein eines Individuums oder in die Materie eines Gegenstandes eindringen zu können. Lediglich eine Berührung reichte aus. Erst als Teenager hatte sie die Kontrolle darüber erlangt. Es war ein langer mühsamer und schmerzhafter Weg. Und dann diese Aussetzter, die sich niemand erklären konnte.

Eve lehnte sich an die Brüstung und sah zum Himmel. Die Nacht war sternenklar. Nacht...

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Heute Morgen hatte sie den ersten Wecker verschlafen und war gerade so pünktlich im Büro. Am Wochenende hatte sie bis um elf Uhr Vormittag geschlafen. Sie dachte Tag für Tag zurück, so gut sie konnte. Die alltäglichen Aussetzer waren ausgeblieben.

Der letzte war an dem Abend gewesen, an dem es in Strömen geregnet hatte. Als sie...

Das war unmöglich. Wie sollte das etwas mit ihm zu tun haben? Das konnte nur ein Zufall sein... Oder doch nicht?

Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf.

Es war absurd...

Good Job

Eve hastete die Treppe hinunter. Verschlafen, großartig! Sie schloss den Deckel ihrer Umhängetasche und griff nach dem Becher der auf dem Tresen stand. Beziehungsweise, nach dem Imaginären Becher, der normalerweise auf dem Tresen stand. Sie blickte verwirrt auf ihre leere Hand und schien erst jetzt zu bemerken, dass sowohl die Küche, als auch der Wohnbereich leer war.

"Loki?" Sie spähte in das Gästezimmer. Das Bett war gemacht, der Raum gelüftet. Plötzlich fiel ihr ein, dass Er einige Termine erwähnt hatte. Er war schon weg. Sie hätte auch einfach zur Garderobe spähen können und ihr wäre aufgefallen, dass sein Mantel und seine Anzugschuhe fehlten. Aber es war Montagmorgen, sie hatte verschlafen und war drauf und dran, ein wichtiges Meeting zu verpassen.

Auf der Straße war bereits die Hölle los. Schwärme aus Anzugträgern und Touristen wuselten bereits durch die Stadt, der Berufsverkehr ebbte schon wieder ab. Sie sah auf die Uhr. Taxi?-Nein, die brauchten zu lange. Zu Fuß?- In Anbetracht ihres Schuhwerks und des bevorstehenden Meetings war es keine gute Idee, einen Sprint einzulegen. Blieb nur noch ihr Golf. Sie hastete zurück ins Gebäude und nahm den Aufzug in die Tiefgarage.

Mit etwas erhöhtem Adrenalinspiegel jagte sie den übermotorisierten Kleinwagen durch den New Yorker Stadtverkehr. Ihre morgendliche Tasse Tee würde wohl bis nach dem Meeting warten müssen. Normalerweise sorgte Loki bereits für eine Befriedigung ihres Koffein- beziehungsweise Teein-Spiegels. Am liebsten hätte sie jemanden fürs Pace-Reading neben sich sitzen gehabt, aber auch dieser Luxus war ihr versagt. Sie quälte das sequenzielle Getriebe, um sich mit der Dreistigkeit eines Taxifahrers in jeden Sicherheitsabstand zu drängeln, der ihr gelegen kam. Sie lachte in sich hinein, als in ihrem Hinterkopf bekannte Stimmen über ihre Fahrerei schimpften. Schließlich kam die Einfahrt zum Firmenparkplaz in Sicht. Mit der momentanen Geschwindigkeit würde sie es nie normal um die Kurve schaffen. Also zog sie die Handbremse und riss das Lenkrad herum. Das Fahrwerk ächzte bei dem Manöver und die Reifen quietschten fürchterlich. Schließlich schnurrte das Fahrzeug in das Parkhaus und ließ den Motor auf einem der Chef-Parkplätze abkühlen. Sogar noch fünf Minuten vor der Zeit; Bravo, Eve.

 

Das Meeting war furchtbar. Im Rüstungsbereich drängten die Investoren aus allen Richtungen mit utopischen Forderungen. Ungefähr zeitgleich mit Eves Einstellung hatte Stark-Industries einen Vertrag für den Bau eines neuen Jagdflugzeuges unterschrieben. Die Prototypen befanden sich bereits im Bau. Ständig wollte man etwas anderes. Und was man wollte, sei ja begründet. Hohe, ständig wechselnde Anforderungen im Einsatz, Bla. Bla. Diese Hohlköpfe wussten alle drei Wochen aufs Neue ganz genau, was sie wollten. Aber was sie wirklich brauchten oder vielmehr was ihre Leute im Einsatz brauchten, davon hatten die feinen Herren -wie Üblich-  keine Ahnung.

Eve war überglücklich, dass Tony in diesen Fällen den selben Grundsatz verfolgte, wie sie selbst: Nicken, Lächeln und am Ende das tun, was man sowieso getan hätte.

Trotzdem war dieses "Ja und Amen" unglaublich anstrengend. Während des Gesprächs mit den hohen Herren vom Verteidigungsministerium war Tony die meiste Zeit damit beschäftigt, Eve unter dem Tisch auf den Fuß zu treten, damit sie nicht versehentlich laut aussprach, was sie dachte. Das ganze funktionierte allerdings auch nur so lange, bis Tony der Kragen platzte und er einen der Privatinvestoren kurzerhand mit der Aussage:"Da, wo Sie gerade sitzen, könnte ich mir auch gut eine Zimmerpflanze vorstellen." entfernte.

Nun musste sie sich um einen neuen Investor kümmern, da sonst die finanziellen Mittel gerade für die Prototypen ausreichen würden. Einen zu finden war nicht die Schwierigkeit. Den richtigen zu finden war die Crux. Der Aufzug öffnete seine Türen mit einem Ping. In dem Moment fragte sie sich, welche Überraschung Pepper heute an dem Arbeitsplatz vor ihrem Büro platziert haben mochte und beschloss, diese kurzerhand wegzuignorieren. Mit imaginären Scheuklappen ging sie in ihr Büro und warf die Tür schwungvoll in ihre geschlossene Ausgangsposition zurück.

Ihr erster Gedanke, war die verzweifelt herbeigesehnte Tasse Tee. Offenbar hatte ihre Verzweiflung in der Zwischenzeit tatsächlich eine kleine Kanne duftenden Schwarztees auf ihrem Schreibtisch generiert. Faszinierend.

Neben der Kanne stand eine Tasse umgedreht auf ihrer Untertasse nebst einem Löffel und einem Sahnekännchen; das Ganze säuberlich auf einem kleinen Tableau platziert. Argwöhnisch legte Eve die Mappen aus dem Meeting ab und setzte sich. Sie machte sich eine Tasse fertig und roch daran. Kein Gift, das war schon mal eine erfreuliche Erkenntnis. Der Tee schmeckte überraschend gut. Und diese Ruhe, traumhaft.

Es vergingen etwa zehn Minuten, bevor es kurz aber bestimmt klopfte und Loki mit einem Klemmbrett bewaffnet vor ihren Schreibtisch trat.

"Guten Morgen, Miss Harrington. Luke Saulsbury."Nach der knappen Vorstellung fuhr er ungehindert fort, während Eve sich eine weitere Tasse Tee eingoss. "Heute sind zwei weitere Termine angesetzt. Nach der Mittagspause hat Mister Stark eine private Besprechung anberaumt und um 16:00 Telefonkonferenz mit Ihrem Korrespondenten in Kyoto. Weiterhin soll ein Prüftermin bei Lockheed vereinbart werden. Während das Meetings hat Mister Greenburg angerufen, er bräuchte einige Unterschriften für die erweiterte Freigabe." Er überreichte ihr das Klemmbrett mit den zu unterscheibenden Dokumenten. "Sobald Sie fertig sind, schicke ich sie unverzüglich raus. Eine Wochenübersicht ihrer Termine ist in Arbeit. Kann ich bis weilen noch etwas für Sie tun?"

Eve nippte indes an ihrer Tasse und versuchte das aufkommende Zucken in ihrer rechten Augenbraue zu unterdrücken. "Ja. Machen Sie, dass Sie raus kommen, Saulsbury und organisieren Sie mir ein Stück Zitrone."

Loki nickte höflich und verließ das Büro.

Dieser... Sie stellte vorsichtshalber die Tasse ab um sie nicht versehentlich aus einem Impuls heraus gegen die Bürotür zu schmettern. Diese Dreistigkeit! Er musste es gewusst haben, als er den Job angenommen hatte.

Er wirkte selbstsicher, elegant und die Aktion von eben ließ sich durchaus als effizient bezeichnen. So viel musste man ihm Zugestehen. Na fein, dachte sie und massierte sich die Nasenwurzel. Drei Tage. Wenn er den Job nach drei Tagen nicht hingeschmissen haben sollte, soll er ihn haben. Eve löste die Dokumente aus der Halterung des Klemmbretts und sah sie durch. Zwischenzeitlich stellte Luke ihr wortlos eine filettierte Zitrone auf einem Teller auf den Schreibtisch und verschwand wieder an seinen Arbeitsplatz. In den Dokumenten ging es um die Testfreigabe der Prototypen. Verwunderlicherweise, war es heute sehr ruhig. Kein Telefon klingelte, keine nervigen Menschen, die einfach unangekündigt in ihr Büro platzten. Es war angenehm. Unglaublich angenehm. In der Mittagspause brühte sie sich eine weitere Tasse Tee auf und legte eine Scheibe Zitrone in die Tasse. Sie ging ihre Mails durch und beantwortete das nötigste. Nach der Tasse sammelte sie die Unterlagen für das Meeting mit Tony zusammen. Als sie das Büro verlies hielt sie erstaunt inne. Luke saß an seinem Arbeitsplatz und tippte auf seiner Tastatur herum. "Saulsbury, was machen Sie hier? Sie haben noch 17 Minuten Mittagspause."

"Die Übersicht ist noch nicht fertig. Außerdem habe ich keinen Hunger."

"Wie dem auch sei. Ich bin jetzt bei Stark. Falls-"

"Sie sind nicht da. Selbstverständlich." Luke lächelte kurz und wand sich wieder seiner Arbeit zu.

Eve biss sich auf die Unterlippe und ging zum Aufzug. Effizient.

 

"Also Tony, die Nummer mit der Zimmerpflanze war zwar zum schreien, aber gebracht hat sie uns nichts."

"Du musst gerade reden." Eve grinste. Sie hatte gebrüllt vor lachen, worauf der Zimmerpflanzenersatz empört die Szenerie verlies.

Tony bot ihr einen Platz in dem Besprechungsraum neben seinem Büro an. "Es ist halb so schlimm. Die Investoren stehen Schlange. Und wer könnte besser auswählen, als Du?"

"Auswählen?" Eve schenkte ihm einen ungläubigen Blick.

"Allerdings." Tony zauberte einen Aktenordner hervor und setzte sich neben Eve. "Die Investoren stehen Schlange. Es ist ein sehr rentables Projekt. Hoher Absatz, staatliche Förderung. Kriegsmaschinerie kurbelt die Wirtschaft an."

Ihre Rückenmuskulatur verspannte sich. "Tony, Du weißt, dass ich da der falsche Ansprechpartner bin." Eve hatte immer versucht, diesem Projekt bis auf die Ingenieursarbeiten so gut wie Möglich aus dem Weg zu gehen. Tony schluckte schuldbewusst und schob ihr wortlos den geöffneten Ordner hin. "Hier." Der Ordner beinhaltete unzählige Personenprofile. "Ich möchte nur einen neuen vertrauenswürdigen Investor. Nichts großes." Er bemerkte, wie sich Eve merklich entspannte.

"Ok. Ich werd sie überprüfen." Tony presste die Lippen zusammen und nickte dankbar bevor er das Thema wechselte. "Wegen dem Anzug..." Sie hob interessiert die Brauen, als sie Tony sein Lächeln zu verbergen versuchte. "Wie wäre es mit einem vorläufigen Testlauf?" Eves Grinsen war ihm Antwort genug. "Heute Abend?"

"Ach!" Sie verdrehte die Augen. "Tony, die Investorsache geht vor. Und für die Überprüfung hiervon brauche ich mindestens zwei Tage." sie schenkte dem Ordner einen abfälligen Blick.

"Aber Du brauchst doch sicher nicht 24 Stunden vom Tag dafür?"

"Essen und Schlafen darf ich noch, oder."

"Schlaf wird völlig überbewertet." Er hob herausfordernd die Brauen.

"Fein, heute Abend."

"Hervorragend." Tony klopfte geschäftig auf den Tisch und stand auf. "Das wäre dann soweit alles, Eve. Wir sehen uns dann später."

Eve ergriff etwas demotiviert den Ordner. "Sie hätten mir wenigstens eine Vorauswahl geben können, Mister Stark.", bemerkte sie, als sie durch die aufgehaltene Tür trat.

"Das ist die Vorauswahl. Ach ja, zieh am besten bequemere Schuhe an." Er deutete kurz auf ihre Pumps und schloss die Tür hinter ihr.

"Na großartig." murmelte sie leise und stapfte zurück zum Aufzug. "Ich hasse meinen Job."

 

"Die Lockheed-Dokumente." Sie legte ihm das Klemmbrett hin und lehnte sich gegen den Tresen hinter dem sich sein Arbeitsplatz befand. "Ich bin morgen nur kurz im Büro. Merlin aus der Personalabteilung braucht morgen einige Akten. Die sind in der grünen Mappe im Schrank neben meinem Schreibtisch. Sagen Sie an sonsten für morgen alle Termine ab. Nachdem sie mich mit Kyoto verbunden haben, können Sie Feierabend machen." Sie verschwand wieder in ihr Büro während Luke sich um die Dokumente kümmerte. Offenbar hatte sie bemerkt, dass er alle Anrufe für sie entgegengenommen und den Großteil abgewürgt hatte. Er hatte es sich anders vorgestellt, für Eve zu arbeiten. Schlimmer. Die professionelle Distanz war etwas merkwürdig. Aber er würde sich daran gewöhnen. Eve hatte Recht. Ein Großteil der Leute, mit denen man hier arbeitete waren einfach nur anstrengend. Er machte die Dokumente Versandfertig und ging dann in den Konferenzraum, um sich mit dem Korrespondenten in Japan in Verbindung zu setzen.

 

 

"Ich habe mich eben gefragt, wo Du bleibst." Tony lächelte süffisant, als sich die Aufzugtüren öffneten.

"Mein Japanisch ist etwas eingerostet. Hat also länger gedauert." Sie folgte Tony in seine "Werkstadt" und wandte sich an Jarvis. "J! ich verhungere, könntest du mir was zu essen auftreiben?"

"Ich könnte etwas ordern..."

"Quattro Frommagi mit extra Käse." Innerlich freute sie sich bereits unglaublich darauf.

"Sie wissen schon, dass das überläuft?" -Das sagte Jarvis jedes Mal.

"Für mich wie immer, Jarvis. Pepper ist nicht da.", begann Tony, als er einige überdimensionierte Equipmentkoffer heranrollte.

"Weiß ich doch. Oh! Alles für mich?" Eve schlug die Hände zusammen und mimte überschwängliche Freude. "Das wär doch nicht nötig gewesen."

"Hast Du 'ne Ahnung." Sie half ihm mit den Koffern und räumte die Arbeitstische mit ihm zur Seite.

"Was ist das alles?"

"Die Schubmodule."

Eve stutzte. "Nur die Schubmodule?"

"Ja richtig!" Mit diebischer Freude im Gesicht präsentierte er ihr ein kleineres Modell des Kofferensembles in geöffnetem Zustand. "Und zwar in Einzelteilen!" Tony grinste bis über beide Ohren. Eve beäugte die polierten Metallteile und filigranen Platinen mit offensichtlichem Widerwillen und sah dann wieder zu Tony, der sich das Grinsen mittlerweile bildlich im Gesicht festgetackert hatte. "Fast so schön wie Weihnachten.", bemerkte sie sarkastisch.

Sein Lächeln starb. "Hat nicht geklappt?" Eve presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

"Schade." Er stellte den Koffer auf einen der Arbeitstische. "Aber Du wirst sehen, in zwei bis drei Stunden sind wir fertig."

 

Sechs Stunden und eine Calzone später: "Hättest du die Teile nicht wenigstens schon in Baugruppen liefern lassen können?", fragte Eve entnervt und legte den Schraubendreher zur Seite.

"Damit Du wieder was zu meckern hast?"

"Ich finde immer was zu meckern, Tony. Auch an meiner eigenen Arbeit."

"Immer was zu meckern, Tony...", äffte er sie nach und bekam eines der polsternden Verpackungselemente an den Kopf. "Anthony!"

"Eve, lass das!" Sie lachte. Eve hatte es einmal versehentlich in einer ähnlichen Situation geschafft, den tadelnden Tonfall seiner Mutter perfekt zu imitieren.

Sie nahm einige der zusammengesetzten Baugruppen auf und platzierte sie auf der großen Arbeitsplatte. "Die Einsätze sind fertig. Vorne links," Sie lief zurück und kam mit einem weiteren Schwung wieder. "Vorne rechts, hinten links, hinten rechts. Sind die Control-Panels fertig?"

"Gleich. Setz die Teile schon mal in den Cage." Tony lötete unter einer Lupe an einer kleinen Platine herum.

Mit dem Cage war das Grundgerüst der Schubmodule gemeint: Die Hand-und Fußelemente des Anzuges. Diese Hatte Tony zu Anfang zusammengefügt. Für jemanden, der die Konstruktionspläne nicht kannte, mussten sie wie die Trümmerteile eines Roboters aussehen, den eine Explosion kürzlich in seine Bestandteile zerfetzt hatte.

Eve setzte die filigranen Baugruppen in den zugehörigen Cage und begann, die Kabelbäumchen zu pflanzen.

Nachdem Tony die Steuerungselemente online geschaltet und kalibriert hatte, ging es endlich an den Test.

"Okay...", meinte Tony. "Ich denke, wir sind soweit."

"Dann mal los." Eve machte Anstalten, sich an das virtuelle Keyboard zu setzen, um bei dem Test die Funktionen zu überwachen.

"Ähm, Eve?" Sie drehte sich um. "Sehe ich aus, als hätte ich Schuhgröße 39?"

Es dauerte einen kurzen Augenblick bis Eve realisiert hatte, was er damit sagen wollte. "Nicht. Dein. Ernst."

"Dein Baby, Dein Testflug."

"Tony, ich weiß nicht mal, wie ich die Dinger anschmeißen soll."

Aber der Millionär wäre nicht der Philanthrop, hätte er nicht schon eine Antwort auf ihre passive Frage. Er verschwand hinter einem der Pulte und kam mit einem silbernen Aktenkoffer zurück. Darin befand sich ein sehr interessantes Konstrukt, das dem im Mark verbauten Arc-Reaktor sehr ähnlich schien. "Du erinnerst Dich an die Tesserakt-Problematik?" Sie nickte und trat näher, um Tony auf die Finger sehen zu können. Es war eine Transparente Kugel in etwa so groß, wie ein Apfel. Darin umspannten filigrane Metallringe eine blau meliert schimmernde Kugel. Wie ein kleiner Planet dessen mit Wasser bedeckte Oberfläche von Stürmen gepeitscht wurde; und die Metallringe darum gleich zweier koaxial zueinander verlaufenden planetaren Ringsystemen. Sie nahm die Kugel aus der Halterung im Koffer und drehte sie in der Hand. "Wir haben das Zepter und den Tesserakt weiter analysiert und festgestellt, dass der Tesserakt einen molekularen Empfänger mit Energie speisen kann. Also haben wir so lange herumexperimentiert bis es uns möglich war,  einen Synthetischen Empfänger herzustellen. Das ist das Ergebnis."

Eve sah verträumt ins schimmernde Innere der Kugel. "Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll." Sie sah auf und gab ihm den kleinen Planeten zurück.

 Tony spannte ihn in die externe Konsole, die darauf ein virtuelles Display projizierte.

"Und wie genau löst es jetzt unser Energieproblem?", fragte Eve und beäugte interessiert die Daten auf dem Display.

"In den Schubmodulen sind kleine Zellen verbaut, die die Discokugel hier anzapfen und das System so mit Energie versorgen."

Bevor Eve etwas weiteres sagen konnte, schob er sie zur arbeitsplatte, auf der die fertigen Schubmodule lagen. Tony half ihr in die Millionenschweren Carbonfaser-Stiefel und anschließend in die dazu passenden Handschuhe, nachdem sie unterarmlange Handschuhe aus dünnem neoprenartigen Material angezogen hatte.

"Und jetzt?" Eve stand etwas verwirrt in der Mitte des Raumes und beobachtete mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, wie ein Dum-E mit einem Feuerlöscher bewaffnet heranrollte. "Wehe, wenn Du mich löschst."

Tony aktivierte die Kameras im Raum zur Aufnahme des ersten Tests. "Versuch eins, 21. Oktober 2014." er wand sich an sein Versuchskaninchen. "OK, Du aktivierst die Module mit Deinen Absätzen. Versuch es mit einem hohlen Tritt."

Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Ballen und trat bestimmt mit der Ferse auf. Mit einem kleinen klicken startete die Energieeinspeisung und wanderte in Form von blau leuchtenden geometrischen Äderchen den Stiefelschaft hinauf und lief dann weiter in die Handschuhe. Sie spürte kleine Taster, die leicht gegen ihre Hosenbeine und das Neopren an ihren Armen drückten und sich der Form ihrer Gliedmaßen anpassten. Fasziniert betrachtete sie ihre Hände, oder viel mehr das, worin sie steckten und bewegte vorsichtig ihre Finger. Das Carbonmaterial der Module war unglaublich leicht und die Übersetzung ihrer Bewegungen war absolut akkurat. "Das ist der Wahnsinn."

"Kannst Du Deine Hände uneingeschränkt bewegen?"

Sie  wackelte mit den Handgelenken. "Ja, völlig problemlos."

"Ok, jetzt die Füße. Geh' mal ein paar Schritte." Während Tony die Anweisungen gab, überwachte er die Funktionsparameter auf mehreren Displays.

Vorsichtig setzte Eve einen Fuß vor den anderen und testete den Spielraum ihrer Gelenke.

"Wie ist es?"

"Nicht ganz so Einfach, wie mit den Handschuhen. Es ist ein Bisschen wie mit neuen Kampfstiefeln." Sie streckte die Füße, soweit möglich und balancierte auf ihren Ballen. "Das geht." Sie ging in die Hocke. "Das geht auch. Ich muss mich erst noch dran gewöhnen. Aber insgesamt, scheint alles so zu funktionieren, wie's soll."

"Sehr gut.", kommentierte Tony und tippte etwas ins Protokoll. "Okay, jetzt schweb mal." er sah sie erwartungsvoll an.

"Wie, schweb mal?"

"Na..." Er hob die Hände schwungvoll nach oben, um ihr zu signalisieren, dass sie abheben sollte. "Ich hab sie auf 20% Schub gedrosselt. Du steuerst einfach mit Händen und Füßen. Wie im Wasser, wenn du nicht untergehen willst."

Eve schenkte ihren Carbonstiefeln einen skeptischen blick.

"Ist ganz einfach. Wie Fahrradfahren."

Das nächste, woran sich Eve erinnerte, waren höllische Schmerzen im kompletten Gestell und ein Eisbeutel auf ihrem Kopf.

"Fahrradfahren am Arsch.", stöhnte sie, und richtete sich auf.

"Sorry, ich hätte Dich vorwarnen sollen."

"Ach, was!" Sie saß auf der niedrigen Couch, auf die sie Tony verfrachtet hatte auf und hielt den Eisbeutel auf ihrem Kopf fest. Sie steckte immer noch mit Händen und Füßen in den Schubmodulen.

"Ich dachte 20% würden ausreichen, um so etwas zu verhindern. Mir ist das gleiche bei den ersten Versuchen mit dem MARK passiert."

"20% von wie viel?"

Er lächelte entschuldigend. "Offensichtlich mehr, als ich erwartet hatte. Hey, wenigstens hat Dich der Dum-E nicht gelöscht."

Sie seufzte und legte den Eisbeutel zur Seite. "Versuchen wir's nochmal." Sie stand auf und schaltete die Kameras im Vorbeigehen wieder auf Aufnahme "Versuch zwei. Drosselung auf 5%."

Tony trat wieder hinter die virtuellen Displays und änderte die Kalibrierung. "Bist Du Dir sicher, dass Du weitermachen willst?"

"Zeit ist Geld, Tony. Also los."

"Ok, das gleiche nochmal, diesmal aber nicht so stürmisch."

"Du redest Dich leicht. Du fliegst mit den Dingern ja auch schon seit Jahren."

Sie atmete tief durch und setzte den Schubempuls. Wieder schoss sie direkt in die Höhe, schaffte es aber nach etwa zwei Metern, abzubremsen und sich mit den Modulen in ihren Handschuhen auszubalancieren. Das ganze sah noch sehr wackelig und unbeholfen aus; wie ein Rehkitz, das bei den ersten Schritten Gefahr läuft, über die eigenen Beine zu stolpern.

"Und jetzt?"

"Probier die Steuerung aus. Bisschen nach links, bisschen nach rechts..."

Eve schwebte im Raum hin und her. Die Bewegungen wurden schnell einfacher.

"Super und jetzt komm runter."

Aber der Versuch, den Schub weiter zu drosseln ging in die Hose, was dazu führte, dass sie unsanft auf ihrem Hintern Landete. "Verdammt!"

"Alles ok?" Tony eilte zu ihr.

"Ich glaub, ich hab mir was gebrochen." Sie kam etwas schwergängig wieder auf die Beine und rieb sich über die lädierten Gliedmaßen. "Was hältst Du nächstes Mal von 'ner Matte auf dem Boden, oder wenigstens ein Paar Protektoren, damit ich mir nicht versehentlich das Genick breche?"

Tony seufzte. "Wir sollten Schluss machen. Du musst noch ins Büro."

"Wie spät ist es?"

"Kurz nach Acht."

"Morgens? Na Großartig." Eve unterdrückte ein Gähnen. "Ich geh Duschen und fahre dann ins Büro."

"Apropos, wie läuft's mit der Assistentensuche?" fragte Tony mit einem schelmischen Grinsen.

"Willst Du das wirklich wissen? Wie zur Hölle komme ich aus den Dingern eigentlich wieder raus?"

"Warte." Er fuhr die Einspeisung der Discokugel herunter und half ihr zunächst aus den Handschuhen und dann aus den Stiefeln. "Wenn der Anzug fertig ist, läuft das automatisch ab. Können wir heute Nachmittag weitermachen?" Sie begann, ihre Sachen zusammenzusuchen.

"Ich muss die Investorenliste noch prüfen, Tony."

"Kann das nicht einer von den anderen übernehmen?"

Eve seufzte und warf sich die Umhängetasche über. "Ich muss zumindest dabei sein."

Tony wirkte enttäuscht. "Willst Du noch was essen oder so?"

"Danke, ich hol mir in der Cafeteria irgendwas." Sie stieg in den Aufzug. "Jarvis?"

"Ihr Wagen steht wie gewohnt bereit, Ma'am."

"Ok, dann bis später."

"Bis dann."

 

Das Büro war recht groß, wirkte aber immer noch sehr klein gegen das von Miss Potts, bei der er Vorgesprochen hatte. Der U-Förmige Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes und öffnete sich nach hinten zum Fenster. Dieses Streckte sich vom Boden bis zur Decke über fast zwei Drittel des Raumes. Auf der linken Seite schloss ein kleines Badezimmer an. In der rechten Hälfte des Raumes stand ein niedriges puristisches Ledersofa in schwarz. In der Ecke eine kleine Pantry, die sich auf einen kleinen Kühlschrank und eine Tee-Bar beschränkte. Die Wände waren größtenteils von Regalen bedeckt, in denen sich die Ordner und Dokumentmappen wie Sardinen in einer Konserve drängelten.

Luke ging zu dem Aktenschrank, der neben Eves Schreibtisch stand und suchte die grüne Mappe.

Plötzlich flog die Tür auf. "Guten Morgen." Es dauerte eine Weile, bis sie den sprechenden Haarschopf hinter dem Aktenschrank identifiziert hatte.

"Guten Morgen. Was-" Sie erinnerte sich. "Richtig, die Mappe." Eve legte ihre Tasche ab. "War Merlin schon da?"

"Nein, noch nicht. Luke tauchte hinterm Schreibtisch auf und musterte sie. "Heute haben Sie ja wieder ihre schönsten Augenringe aufgesetzt, Miss Harrington." Sie war heute Nacht nicht im Apartment gewesen, also hatte sie wohl mal wieder eine lange Nacht gehabt.

"Das ist nicht witzig. Termine?"

"Sie wollten, dass ich für heute alles absage."

"Da war ja was.", murmelte sie und kramte in ihren Manteltaschen. "Haben Sie schon gefrühstückt, Luke?"

"Nein." Er runzelte die Stirn aufgrund der ungewöhnlichen Frage.

"Um die Ecke gibt es ein nettes Café mit einem annehmbaren Frühstück." Es war offensichtlich eine Einladung.

"Sehr gerne."

"Nehmen Sie die Mappe mit." Sie verließ das Büro.

"Was ist mit Merlin?"

"Ich hab' ihm eine Nachricht geschickt."

Luke schlüpfte in seine Lacke und folgte ihr an dem Tresen der Kaffeküche vorbei zum Aufzug. Als sich die Türen schlossen und sich die Kabine langsam abseilte seufzte Eve und lehnte sich gegen die Wand. "Wie geht es Deinem Fanclub?"

"Meinem was?"

"Dein Fanclub. Die Ladies aus der Personalabteilung. Sag bloß, Du hast sie nicht bemerkt?"

Die Aufzugtüren öffneten sich und Luke folgte Eve aus dem Gebäude. "Nein, ich habe nichts bemerkt."

Es war ein erstaunlich milder Tag für Ende Oktober, der Himmel war leicht bedeckt und ließ ab und an ein paar wärmende Sonnenstrahlen durch.

"Eve, wo warst Du letzte Nacht?"

"Arbeiten."

Er setzte zu einer Erwiderung an, aber sie brachte ihn mit einem sanften Lächeln zum schweigen. "Ich hab's Dir schon mal gesagt, Loki. Je weniger du weißt, desto weniger kannst Du beim Verhör erzählen." Sie bogen nach links ab und überquerten die Park-Avenue. Loki hob nur die Augenbraue und schnaubte leise.

Das Cafè gehörte zu einem Hotel und war mediterran eingerichtet. Eve manövrierte zwischen den Stühlen mit geschwungenen Lehnen und Sitzkissen und den kleinen runden Marmortischchen hindurch und nahm an einem größeren der Tische Platz. An allen Tischen war bereits eingedeckt. Rasch kam eine junge Kellnerin zu ihnen und zückte aus einer an ihrem pastellgelben Kleid befindlichen Tasche Zettel und Stift. "Guten Morgen!" Sie strahlte die beiden an. "Was darf Ich ihnen bringen?"

"Für mich erst einmal eine Kanne Tee, englisch bitte.", bestellte Eve. Das Mädchen hieß Stella, das sagte zumindest das kleine Namensschild an ihrer Brust. Sie war Jung, vermutlich ein Ferienjob. Das gepflegte lange blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ein Frecher Pony fiel ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren angenehm geschminkt, kein Lippenstift, ihre Hände manikürt. In Kombination mit ihrer stetig wunderbaren Laune, ließ alles darauf schließen, dass Stella frisch verliebt war.

Sie sah Loki freundlich an. "Für mich das gleiche bitte."

"Und die Karte für's Frühstück."

"Sehr gerne." Stella verließ den Tisch und huschte in die Küche. Kurz darauf erschien sie wieder und drückte jedem der beiden die auf Elefantenhaut gedruckte Frühstückskarte in die Hand. Dann legte sie noch, wie es im Hause üblich war, eine frisch gedruckte Ausgabe der New-York-Times auf den Tisch gefolgt von einem blauen Aktenordner.

"Danke, Stella." Eve lächelte und schlug die Times auf.

Loki blickte verwirrt auf den Ordner und versuchte, durch die Schlagzeile hindurch Eve's Aufmerksamkeit zu erregen.

Stella kam mit Einem Tablett zurück, auf dem die beiden Kannen standen und stellte diese nebst einer Zuckerdose und einem Kännchen sahne auf den Tisch.

"Zwei Croissants bitte." Eve sah von den Times auf und zwinkerte dem Mädchen zu.

"Ich nehme den Lachsbagel." Stella nickte und verschwand - lächelnd.

"Eve, was macht der Aktenordner hier?"

"Lass mich bitte erst meinen Tee trinken."

Sie legte die Times zur Seite und drehte die Tasse um, die auf ihrem Platz eingedeckt verkehrt herum auf ihrer Untertasse stand und machte sich in aller Ruhe ihren Tee. Loki tat es ihr gleich und rührte einen Löffel zucker in seine Tasse; keine Sahne.

Nach dem ersten Schluck entspannte sich Eve merklich und griff schließlich zu dem Aktenordner. "Gestern ist uns leider einer unserer Investoren abgesprungen und jetzt benötigen wir schnellstens Ersatz. Hier-" Sie schlug den Ordner auf. "sind die Kandidaten aufgelistet, die Mister Stark in Betracht zieht." Eve drehte ihn zu Loki um. "Die Herren und Damen hier drin sind bereits überprüft. Alle Daten befinden sich in dem Ordner." Loki blätterte durch die minutiös angefertigten Profile. "Warum erzählst Du mir das? Und wie zur Hölle kommt der Aktenordner hier her?"

Aus dem Nichts stand Stella vor den Beiden, stellte das Frühstück auf den Tisch und verschwand wieder. Eve biss ein Stück von ihrem Croissant ab und nippte an ihrer Tasse bevor sie fortfuhr. "Ganz einfach. Du suchst mit mir drei Kandidaten aus, wirst die Interviews durchführen und den Geeigneten Kandidaten auswählen." Sie leerte ihre Tasse und wartete Die Reaktion ihres Gegenübers ab. Er  sah sie ungläubig an.

"Du lässt mich frei in Dein Büro; lässt mich die Terminarbeit machen, ohne auch nur einmal nachzuhaken und jetzt soll ich klassifizierte Daten durchsehen?" Zur Antwort bekam er ein Zauberhaftes Lächeln und anschließend erneut die Schlagzeile der Times zu sehen. Loki schnaubte und biss frustriert von seinem Bagel ab.

 

Während er sich Notizen machte und die Akten durchsah, beobachtete er belustigt, wie ab und an Eves Hand hinter der Zeitung hervortastete und entweder nach einem Stück Croissant oder der Teetasse fischte. Irgendwann - Stella hatte in der Zwischenzeit das Mittagsmenü auf den Tisch gelegt - legte Eve die Zeitung weg und beugte sich nach vorn um sich Lokis Arbeit anzusehen.

"Und?"

"Ich bin bald soweit.", sagte er ohne aufzusehen und blätterte auf eines der letzten Profile. Eve lehnte sich entspannt zurück und bedeutete Stella für Loki eine Tasse Kaffee und noch etwas Tee zu bringen.

Während sie die Times gelesen und ihren Tee geschlurft hatte, konnte sie ihn wunderbar bei der Arbeit beobachten. Er war erst den zweiten Tag hier und schon lief alles wie von selbst. Sie musste sich kaum um etwas kümmern außer ihrer tatsächlich eigenen Aufgaben. Jetzt wollte sie sehen, wie er sich damit schlug.

Schließlich klappte er den Ordner zu und nippte von dem Cappuccino, den Stella gebracht hatte. Innerlich fragte sich Eve, welcher Typ Mann Cappuccino trank. Dann wurde sie kurz von seiner Zunge abgelenkt, die den Schaumrest von seiner Oberlippe entfernte. Das war immer das Problem, wenn man mit Attraktiven Menschen arbeitete.

Er räusperte sich und nahm seine Notizen zur Hand.

"Insgesamt kommen neun in Frage, den Rest kannst Du direkt schreddern." Eve hob überrascht die Augenbrauen und stützte das Kinn auf ihre verschränkten Hände während sie seinen Ausführungen lauschte.

"... haben genügend Ressourcen sind aber meist etwas indiskret, vor allem der jetzige Vorstandsvorsitzende. Das würdest Du nicht wollen, also bleiben nur noch Anderson, Hughes und die Virgin Firmentochter übrig."

"Dann haben wir morgen einen engen Zeitplan vor uns. Hughes sitzt in Philadelphia und Anderson Wohnt irgendwo in der Pampa auf einem alten Gutshof." Loki kniff die Augen zusammen und versuchte irgendetwas in Eves Mimik zu finden, dass auf einen Trick hindeutete. Es war ihm nicht geheuer nach all dem was sie erzählt hatte, wie sie seine Vorgänger losgeworden war. Sie ließ ihn unter Garantie gerade ins offene Messer laufen. Er nippte von seinem Cappuccino. Eve schickte sich selbst ein imaginäres Memo, dass sie daran erinnern sollte, sich nie wieder in seiner Nähe aufzuhalten, wen er Cappuccino trank. Dieser scheiß Cappuccino! Warum kein Espresso, oder stinknormaler Kaffee?! Nein, Cappuccino! Himmelnocheins.
 

Loki stand vor dem Firmengebäude und sah auf die Uhr. Eve war heute Nacht wieder nicht nach Hause gekommen. Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt, jemand aus der Pers-Abteilung würde zur Protokollierung vor Ort sein. Er sah nach wie vor niemanden. Als die Pünktlichkeit es forderte, ging er hinein und meldete sich an der Rezeption an. Die Empfangsdame brachte ihn freundlich lächelnd in einen edel eingerichteten Warteraum und bat ihn, noch einen Augenblick Platz zu nehmen. Nachdem Eve gestern sang- und klanglos seiner Auswahl stattgegeben und Stella ein dickes Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, war sie Direkt vom Café aus in eine andere Richtung verschwunden und hatte ihn ins Büro geschickt, um die Termine zu vereinbaren.

Die Glastür schwang nahezu lautlos auf und jemand setzte sich. Luke schenkte der Person, deren Schritte sich als die einer Frau identifizieren ließen, keine weitere Beachtung und sah noch einmal seine Unterlagen durch.

Lieber Himmel, hatte er sich aufgebrezelt. Das glänzende schwarze Haar sauber nach hinten gekämmt, wacher Blick, frisch rasiert, der Anzug saß makellos und seine Hände wirkten wie frisch manikürt, nebenbei ging ein angenehm frisch-herber Geruch von ihm aus. Er sah aus, als wäre er eben aus einem Hochglanz-Modemagazin gehüpft. -Und das ganz ohne Photoshop. Schließlich räusperte sie sich und erlangte so seine Aufmerksamkeit.

Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis er sie erkannte. Eve trug ein edles schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse darunter. Ihr langes dunkles Haar war hochgesteckt und sie trug eine Brille mit markantem Gestell. "Guten Morgen, Mister Saulsbury.", begann sie und hatte sichtlich Mühe, nicht über seinen entgleisten Gesichtsausdruck zu lachen. "Ich werde Sie heute begleiten und Protokoll führen."

"E-" Er besann sich auf seine Rolle. "Ok, aber warum die Brille?"

"Wirkt authentischer, finden Sie nicht?" Sie grinste und rückte das Gestell auf ihrer Nase zu Recht. Ihm entkam ein Lächeln.

"Mister Grayham erwartet Sie." Die Empfangsdame stand in der Tür und geleitete die Beiden zum Chefbüro. Eve spielte brav die Assistentin und reichte dem potentiellen Investor die Dokumente, während Luke Saulsbury die Geschäfte machte.

Auf dem Rückflug von ihrem letzten Termin in Philadelphia hielt es Loki nicht mehr aus.

"Eve, wie ist der Aktenordner am Dienstag in des Café gekommen?"

Sie hätte sich vor Lachen beinahe an ihrem Saft verschluckt. "Das wurmt Dich immer noch?"

"Ja!"

Sie schüttelte den Kopf und lächelte. "Betriebsgeheimnis." Loki schnaubte und sah aus dem Fenster. Draußen war der Dunkle Himmel von den Lichtkegeln der umliegenden Städte erhellt. Sein Blick schweifte durch das teure Interieur des Stark-Industries-Privatjets. Helle Verkleidungen und moderate beleuchtung machten die breiten mit beigem Leder bezogenen Sessel noch bequemer. Ihm gegenüber saß Eve. Sie hatte sich auf die Armlehne gestützt und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Die stärkelose Brille hatte sie abgelegt, als sie den Hughes-Komplex verlassen hatten. Trotz des Makeups war ihre Müdigkeit für ihn klar ersichtlich. Immer noch zeichneten sich leichte Schatten unter ihren Augen ab. Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb sanft hebte und senkte. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen Geschlossen. Sie war eingeschlafen. Als er ihre Züge studierte, keimte in ihm wieder die Frage nach dem Warum auf. Er erinnerte sich wieder an die Nacht in der es in Strömen geregnet hatte, bis plötzlich sie mit dem völlig überdimensionierten Regenschirm dastand. Obwohl er seit geraumer Zeit mit ihr unter einem Dach lebte und sie ihm jetzt gerade keinen Meter entfernt gegenüber saß, hatte er das Gefühl, als wäre sie unglaublich weit entfernt.  Ihr schlaf war nur von kurzer Dauer. Als der Flugbegleiter die Kabinentür öffnete, um die Passagiere über die bevorstehende Landung zu informieren, schlug sie die Augen auf und unterdrückte ein Gähnen.

"Sind wir schon da?" fragte sie mehr sich selbst und streckte sich, bevor sie den Sicherheitsgurt für die Landung anlegte.

Am Terminal stiegen die Beiden in ein Taxi - nicht das selbe. Während Loki nach Hause fuhr, ließ Eve sich zum Avengers-Tower bringen, wo Tony sie bereits mit einer Kanne Tee und einer Calzone erwartete.

 

Es klopfte. Sie kannte dieses Klopfen. "Ja?" Luke schob sich mit einem Tablett, auf dem sich ihre morgendliche Portion Tee befand, durch die Tür und stellte es neben ihr auf ihren Schreibtisch.

"Vielen Dank." Nach ein paar Stunden Schlaf auf Tonys Couch in der Werkstatt war sie froh über diese routinemäßige Geste ihres Assistenten.

Sie tippte die letzten Zeilen auf der Tastatur und ließ das Dokument drucken, während Luke die Morgenlage vortrug. Es war fast, wie vor ein paar Jahren, als sie noch in der Nato-Base gearbeitet hatte. Jeden Morgen eine kurze Besprechung zu den Tagesordnungspunkten: Die Morgenlage.

Sie unterschrieb das mehrseitige Dokument und legte es in eine schwarze Mappe. "Ist der Vertrag für Houghes raus?"

"Schon bei Merlin."

"Wunderbar." Sie reichte ihm die Mappe. "Bringen sie das bitte direkt zu Miss Potts. Sie wartet darauf." Er nickte höflich und verließ das Büro. Kaum war er verschwunden, machte sich Eve grinsend ihre Tasse Tee fertig.

 

"Ja, bitte?" Eves Assistent betrat das Büro und reichte der Geschäftsführerin die Mappe. "Miss Harrington meinte, es sei eilig." Er machte gerade Anstalten, wieder zu gehen, als Pepper ihn aufhielt.

"Bitte, Mister Saulsbury. Setzen sie sich einen Augenblick." Er kam ihrer Bitte nach und nahm etwas unschlüssig Platz. Miss Potts öffnete die Mappe und schien die Blätter durchzuzählen. "Es geht um ihre Stelle.", begann sie und ordnete das Papier wieder. "Miss Harrington hat mir einen Bericht vorgelegt. Sie hält sie für qualifiziert und vertrauenswürdig Außerdem hat sie Ihren Vertrag bereits unterschrieben. Ich würde sagen, sie haben den Job." Sie lächelte und reichte ihm die Dokumente. "Lassen Sie sich ruhig Zeit, alles durchzulesen." Luke war für einen kurzen Moment sprachlos. Er hatte den Job. Nachdem er die Wichtigen Seiten gelesen hatte, nahm er den Angebotenen Kugelschreiber und setzte seine Unterschrift unter Eve's. Anschließend unterschrieb Pepper das Dokument und schickte ihre Assistentin los um die Duplikate anzufertigen. Sie reichte ihm einen Umschlag mit weiteren Dokumenten und seinem ersten Gehaltscheck.

"Na dann." Pepper reichte ihm die Hand. "Willkommen bei Stark Industries."

Family

02:43 >Eve?

 

   WTF?< 02:45

 

02:45 > ;p

 

   Loki, hast Du ne Ahnung, wie spät es auf dieser Seite des Atlantiks ist? <02:46

 

02:47 >...

 

   Was ist denn? <02:47

 

Als Nächstes bekam sie ein Bild im Chat. Eve setzte sich auf und wischte sich über die Augen, bevor sie die Datei öffnete. Das Bild zeigte einen schwarzen Roadster mit New-Yorker Kennzeichen auf einem der Parkplätze vor dem Stark-Tower. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, als sie ihre Antwort tippte.

 

   Du hast Dir nen MX5 gekauft? O.o <02:50

 

02:51 > Ich wusste, dass Du mich auslachen würdest. -.-

 

   ?

   Warum auslachen, n MX5 ist n genialer Roadster...

   Aber Dir ist klar, dass wir Dezember haben... <02:52

 

02:53> Selbstverständlich :)

 

   XD <02:53

 

02:58 > Eine Runde Schach?

 

   LOKI! <02:58

 

02:59> ?

 

Sie hatte gerade ihr Handy weggelegt und wollte sich wieder schlafen Legen. Aber was sollt's, sie war eh schon wach.

 

Eve tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Tablet. Kaum hatte sie die Anwendung geöffnet, war eine Anfrage in ihrem Postkasten.

"Spielkind", murmelte sie und nahm an. Das Gerät projizierte auf seinem Display das 3D-Bild eines Schachspieles. Eine kleine Spielerei.

Mit einem leisen Ploppen machte eine Meldung auf sich aufmerksam: Ein internetanruf. Eve klemmte sich das filigrane Haedset ins Ohr und nahm den Anruf an.

"Guten Morgen.", gähnte sie.

"Morgen! Weiß zieht zu erst." Eve ergriff die digitale Figur eines weißen Bauern und machte den Eröffnungszug.

"Was gibt's neues aus New York?"

Loki seufzte und machte seinen Zug. Auf Eve's Darstellung bewegte sich ein schwarzer Bauer. "Die Küche ist endlich fertig."

"Hat auch lange genug gedauert." Mitte November hatte Luke mit etwas Nachhelfen endlich ein nettes Appartement in der Upper West Side gefunden und war bei Eve ausgezogen.

"Und in der Firma?"

"Es ist öde. Der Großteil ist glücklicherweise schon im Urlaub, das macht es erträglicher. Springer schlägt Läufer." Der genannte weiße Läufer machte einen Abflug vom Spielfeld, woraufhin das schwarze Pferd durch ein weißes ersetzt wurde.

"Anfang nächsten Jahres sollen die Testflüge starten. Lockheed nervt seit Tagen wegen einer Vorab-Inspektion.", erklärte Loki weiterhin. "Ich habe stapelweise Papierwerk für Dich erhalten."

"Ich weiß...Och nö." Eve seufzte, als der Springer ihre Dame schlug.

"Entschuldige bitte, aber Dein letzter Zug grenzte an eine förmliche Einladung." Loki machte eine kurze Pause, und ließ ihr Zeit für ihren nächsten Zug, bevor er zurück zum Geschäftlichen kam. "Hättest Du Zeit, das die nächsten Tage durchzusehen? Die Unterlagen müssen noch vor Weihnachten raus."

Eve rieb sich resignierend die Nasenwurzel und stürzte dann mit der Fingerspitze ihren König. Das Spielfeld verschwand.

"Was war das?", fragte Loki verwirrt.

"Ich bin nicht in Form." Sie wischte auf dem Display herum und tippte Daten in diverse Programme. "Ich hatte gehofft, dass ich zumindest bis Silvester meinen Urlaub genießen könnte."

"Ich habe alles versucht, aber es scheint, Stark will keinen anderen an diesen Akten haben außer Dir."

Er hörte ein leises Fluchen. "Hast Du über die Feiertage schon was vor?"

Loki überlegte kurz. "Nicht, soweit ich mich erinnere."

"Gut. Wäre möglich, dass Du die Feiertage in Großbritannien verbringst. Ich melde mich morgen nochmal." Sie unterdrückte ein Gähnen und streckte sich unwillkürlich. "Bis morgen dann."

Loki wünschte ihr eine gute Nacht und beendete das Gespräch. Auf der Suche nach einer Erfrischung in seiner neuen Küche fand er den Shakespeare-Band, den Eve ihm zum Einzug geschenkt hatte. Solang er noch bei Eve wohnte, hatte er beinahe jeden Tag daraus gelesen. Willkürlich schlug er eine Seite auf und begann auf dem Weg ins Schlafzimmer zu Lesen.

 

Sonnet LXXVI

Why is my verse so barren of new pride,

So far from variation or quick change?

Why with the time do I not glance aside

To new-found methods and to compounds strange?

Why write I still all one, ever the same,

And keep invention in a noted weed,

That every word doth almost tell my name,

Showing their birth and where they did proceed?

O, know, sweet love, I always write of you,

And you and love are still my argument;

So all my best is dressing old words new,

Spending again what is already spent:

For as the sun is daily new and old,

So is my love still telling what is told.

 

Luke Saulsbury stand am Gepäckband und hörte  ein Ensemble an klassischer Musik, während er auf seinen Koffer aus New York wartete. 

Am Morgen nach der missglückten Schachpartie hatte er das Online-Flugticket nebst Instruktionen in seinem Email-Postfach gefunden. Er würde Abgeholt und in einem Hotel nahe Eve's Heimatort untergebracht. Morgen, nach Ausgleich des Jetlags, würden sie sich treffen.

Als Loki das Terminal in London Heathrow verließ schlug er den Kragen seines Mantels hoch. Es war unglaublich windig und kalt. Die Kälte war nicht das Problem. Wäre es danach gegangen, hätte er sich den Mantel sparen können. Nur der Wind war widerlich. Mit dem Koffer in der Hand und der Aktentasche um die Schulter lief er den langen Gehweg entlang der Parkbuchten hinauf und wurde schnell auf eine unglaublich unauffällige schwarze Oberklasselimousine aufmerksam. Der Fahrer lehnte an der Beifahrertür und hatte ebenfalls den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und rauchte eine Zigarette. Dabei die Hände zu benutzen, schien er aufgrund der beißenden Kälte tunlichst zu vermeiden, denn er hatte sie tief in den Hosentaschen vergraben. Als er ihn bemerkte, stieß er sich vom Fahrzeug ab und nickte in seine Richtung. "Mister Saulsbury?" Loki nickte. "Willkommen in London." Nach wie vor die Zigarette im Mund nahm der Fahrer Loki seinen Koffer ab und verstaute ihn im Kofferraum, während sein Fahrgast einstieg.

Auf den kargen schmalen Grünflächen neben der Fahrbahn lagen vereinzelt kleine Flecken vereisten Schnees, der Rest war grau, oder vom Nebel verschluckt. Vor ihm stand eine beinahe vierstündige Fahrt bevor. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass er aufgrund der Wetterlage nicht viel zu sehen bekommen würde. ein leises Piepen erregte seine Aufmerksamkeit und der zog das Handy aus der Innentasche seines Sakkos. Eine Nachricht von Eve.

 

11:29> Gute Fahrt! Sehen uns morgen Vormittag.

                Schlaf Dich aus.

                Eve

 

"Sir, wenn Sie eine Kleinigkeit zu essen wünschen..."

"Nein, Danke." Erwiederte Loki Freundlich. "Ich habe keinen Hunger." Der Fahrer Nickte, und wand sich wieder der Fahrbahn zu. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er ziemlich großen Hunger, doch die Müdigkeit überwiegte. Seit seinem Umzug hatte er abends allein zu viel Zeit zu grübeln über all das, was vor dem Abend des 16. September gewesen sein könnte. Er freute sich auf ein Bett. Und er freute sich darauf, Eve wiederzusehen, nachdem er sie seit mehreren Wochen nicht zu Gesicht bekommen hatte.

 

Das Taxi rief Loki mit einem Hupen aus der Lobby des Hotels. Das Frühstück war zwar üppig, doch leider sehr Englisch geprägt, allerdings war der Kaffee recht annehmbar. Loki stieg mit seiner Aktentasche bewaffnet ein und nannte dem Fahrer das Ziel. Dieses lag ein Stückchen außerhalb von Freathy, einem kleinen Ort an der Küste nahe Plymouth. Hier im Süden der Insel so nahe am Meer lag kaum noch Schnee. Die kalte Seeluft tat ihr übriges. Das Taxi war offenbar bereits bezahlt.

Kurz war er sich nicht sicher, ob er an der richtigen Adresse abgesetzt wurde. Er befand sich mitten im Nirgendwo. Eine niedrige Mauer umzäunte das Grundstück. Hinter einem schmiedeeisernen Gatter verschwand hinter einer Kurve der Kiesweg zwischen kahlem Gebüsch und Bäumen. Etwas unschlüssig trat er an das Gatter und fand zu seiner Erleichterung den richtigen Namen an dem seitlich angebrachten Briefkasten. Harrington. Quietschend gab das Eisentor nach und Loki schlüpfte hindurch. Gedämpftes Hundegebell drang an sein Ohr. Nach einigen schritten gab das Gebüsch den Blick auf ein altes gepflegtes Bauernhaus frei. Das Fachwerk im Obergeschoß war weiß gestrichen, während im Untergeschoß die roten Ziegel blank lagen. Auf der Südseite hatte sich eine Kletterpflanze über der Fassade ausgebreitet und aus dem Schornstein quollen muntere Rauchschwaden. Drei Stufen führten zur Haustür und waren von brach liegenden Blumenbeeten umsäumt, welche jetzt im Winter einen recht kläglichen Anblick darboten. Das Gebell wurde lauter. Als sich die Tür einen Spalt öffnete, stürzte die wilde Bestie schwanzwedelnd die Stufen hinunter, um den Fremden in Augenschein zu nehmen. Ein Beagle trabte ein paarmal um Loki herum und blieb dann neben ihm sitzen.

"Charlie!" Eve Stand in der Tür und beobachtete amüsiert die beiden Herren im Vorgarten. Charlie, der Beagle rührte sich nicht vom Fleck und sah den Gast erwartungsvoll an.

"Was genau soll ich nun tun?", rief er Eve zu und beobachtete das Verhalten des Tieres.

"Komm rein, es ist kalt." Eve legte die Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf sich Charlie nach kurzem Zögern in Bewegung setzte und zurück zum Haus lief. "Normalerweise bekommt er von Besuchern immer ein Leckerchen." Sie kraulte kurz Charlies Ohren und stand dann auf, um Loki zu begrüßen.

"Schön, Dich zu sehen." Er umarmte Eve.

"Ich freu‘ mich auch. Was ist denn mit deinen Haaren passiert?" Sie schloss die Tür hinter ihnen und nahm ihm den Wollmantel ab. „Gefällt es dir nicht?“ Er betastete probeweise seine Frisur. Vor zwei Tagen hatte er sich die Haare kurz schneiden lassen. „Doch. Ich mag die Locken. Ist nur so überraschend.“ Im Haus war es schön warm und es roch nach altem Holz. Die weitläufige Diele mündete zur Linken in eine offene Küche. Geradeaus gelangte man unter einem steinernen Bogen hindurch ins Wohnzimmer, wo der Kamin leise prasselte. Zur rechten führte eine Treppe hinauf ins Obergeschoß, daneben ein schmaler Flur, aus dem Eve grade wiederkam. "Tut mir leid, die sind ein bisschen groß, befürchte ich.", sagte sie und stellte ihm graue Gästepantoffeln hin während Loki seine Schuhe zu den übrigen neben der Tür stellte. Prompt saß Charlie wieder mit erwartungsvollem Blick vor ihm. Loki seufzte.

"Er muss Guten Tag sagen." Sie drückte ihm  einen Hundekeks in die Hand.

"Na schön." Loki hockte sich hin. "Sag Guten Tag." Charlie bellte und hob die Rechte Pfote gegen Lokis Hand. "Guter Junge." Er gab ihm den Keks und kraulte ihm über den Kopf.

"Ist das Dein Haus?" fragte er und schlüpfte in die Pantoffeln.

"So halb. Wir haben's zusammen gekauft und renoviert vor fünf Jahren. Kann ich Dir etwas anbieten, Tee, Kaffee, Glühpunsch?"

"Glüh-Was?"  Eve schenkte ihm einen skeptischen Blick, doch dann dämmerte es ihr wieder.

"Ich mach Punsch warm. Setz Dich schon mal." Als er sich etwas unschlüssig umsah, bedeutete sie ihm den Weg. Er trat ins Wohnzimmer und ging nach links in den Essbereich. Der Raum war Riesig. in der vorderen Ecke stand der große Kamin, vor dem es sich der Hund auf einem Vorleger bequem gemacht hatte und über beinahe die gesamte lange Front erstreckten sich Fenster, die den Blick in den Garten freigaben. Auf dem Esstisch stand bereits Eves Laptop. Loki packte die Dokumente aus und legte alles zurecht bis Eve den Punsch in zwei Tassen brachte. Es war ungewohnt, sie wieder so vertraut zu sehen. Sie trug Strickpullover, Schal, Jogginghosen und an den Füßen völlig überdimensionierte Wollsocken. Dazu waren ihre Haare in einem schlampigen Knoten hochgedreht. Es erinnerte ihn an die Zeit als er sich in dieser merkwürdigen Welt, die er vergessen hatte, eingewöhnen musste.

"Hast Du dich schon eingelebt in Deiner Wohnung?" Sie reichte ihm die Tasse.

"Es ist immer noch recht gewöhnungsbedürftig." Er nahm probeweise einen Schluck des würzig duftenden Getränks und befand es für gut.

"Also, was hast Du mir mitgebracht?"

Die nächsten zwei Stunden und fünf Tassen Glühpunsch verbrachten beide damit, die Dokumente zu überprüfen, als Charlie unvermittelt eines seiner braunen Schlappohren hob  und eilig zur Tür rannte. Kurz darauf öffnete sich die Tür. "Hallo, Charlie!" man hörte das Halsband des Tieres klimpern und das Tapsen der Pfoten auf dem dunklen Holzboden, während er fleißig mit begrüßen beschäftigt war.

"Eve?" Eine Dunkle Männerstimme drang aus der Diele.

"Wir sind hier." Antwortete Eve und legte die Papiere zur Seite.

"Evie!" Ein kleines rothaariges Mädchen lief durchs Wohnzimmer direkt in Eves Arme und wurde hochgehoben. "Hallo, mein Schatz. Wie war die Ballettstunde?" Doch die kleine Alice ignorierte die Frage und bekam große Augen, als sie Über die Schulter ihrer Tante hinweg Loki sah.

"Evie, ist das dein Freund?" flüsterte sie aufgeregt in Eves Ohr. Sie drehte sich lachend herum.

"Aber nein. Wir arbeiten zusammen."

„Evie! Du hast gesagt, keine Arbeit, wenn du zu Hause bist!“ Alice zog einen Flunsch.

„Ich weiß, mein Schatz. Aber mit Unterstützung geht das ganz schnell, versprochen.“

„Na gut.“ Sie musterte wieder den großen schwarzhaarigen Mann, der neben dem Esstisch stand.

„Das ist übrigens Loki…“ Eve biss sich ertappt auf die Lippe und schenkte ihm einen schuldbewussten Blick.

„Das ist aber ein komischer Name“, stellte Alice fest.

„Nur ein Spitzname.“, kam Loki zur Hilfe. „Mein Name ist Lucas.“

Nach kurzem Überlegen lächelte die Kleine, immer noch auf Eves Arm sitzend, und winkte fröhlich. „Hallo, Loki! Ich bin Alice!“

„Soso, sie sind also der Herr, der meiner Tochter Arbeit ins Haus bringt.“ Ein hochgewachsener älterer Herr mit wettergegerbtem Gesicht trat schmunzelnd auf ihn zu und streckte die Hand aus. „James Harrington, freut mich. – „Luke Saulsbury.“

„Alice heben Sie ja bereits kennengelernt. Das ist meine Enkeltochter Amber.“ Er wies zu dem zweiten rothaarigen Mädchen das etwas abseits stand und Loki nur mit einem kurzen „Hallo“ bedachte, bevor sie nach oben verschwand. James seufzte und wandte sich zu Eve um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Ich geh‘ ein Bisschen raus und lass‘ euch in Ruhe arbeiten, Liebes.“ Luke fiel auf, wie sehr die beeindruckende Statur von Eves Vater im Kontrast zu seiner sanften dunklen Stimme stand. „Danke, Dad.“ Sie setzte Alice ab.

„Grandpa? Darf ich mit raus zu Daisy?“ James lächelte. „Sicher, aber vorher musst du dich umziehen.“ Alice nickte, ergriff die Hand ihres Großvaters und winkte den beiden. „Bis später, Evie! Bis später, Loki.“

Eve winkte zurück. „Sieh’s Amber bitte nach. Sie kommt jetzt in dieses schwierige Alter.“ Sie bedeutete Loki, wieder Platz zu nehmen. „Kein rund dazu.“ Loki zögerte kurz. „Dein Vater scheint ziemlich gut in Form zu sein.“

„Du hättest ihn vor zehn Jahren sehen sollen.“ Sie trank den letzten Rest aus ihrer Tasse und beantwortete schließlich seinen fragenden Blick. „Dad sollte eigentlich schon im Ruhestand sein, aber er kann es nicht lassen. Er ist immer noch Ausbilder bei den Royal Marines in Plymouth.“

„Beeindruckend.“ Eve sah widerwillig auf den angefangenen Papierkram.

„Wir müssen wohl weitermachen.“

 

„Ihr arbeitet ja immer noch.“ James Harrington spähte ungläubig ins Wohnzimmer, nachdem er Alice ins Badezimmer geschickt hatte. Draußen war es bereits dunkel.

„Wir müssen wohl noch etwas länger machen.“, seufzte Eve. „Wir sind noch nicht mal bis zur Hälfte durch.“

„Macht doch morgen weiter“, schlug James vor und ging in die Küche.

Loki stand auf und streckte sich. „Das wäre wohl wirklich besser. Vor morgen sind wir nie fertig, wenn wir jetzt weitermachen.“ Er ordnete die Dokumente wieder zusammen. „Ich lasse die hier, wenn das in Ordnung ist.“ – „Na klar. Ich ruf‘ dir ein Taxi.“

„Taxi? Sie bleiben nicht hier?“ James sah von seinem Tee auf, den er sich gerade aufgebrüht hatte. Inzwischen war eine viel zu klein wirkende Brille auf seine Nase gewandert, über deren Rand hinweg er Loki musterte.

„Nein, ich habe ein Hotelzimmer in Freathy.“ James hob skeptisch eine Braue – eine Eigenheit, die Eve wohl geerbt haben musste. „Eve meinte, sie seien über die Feiertage alleine?“

„Ja, das ist richtig.“ Loki schlüpfte in den Mantel und machte Anstalten, sich zu verabschieden.

„Wir haben noch ein freies Gästezimmer“, kam das unvermittelte Angebot.

Bitte, das ist nicht nötig, ich…“ „Man sollte die Feiertage nicht alleine verbringen. Sie sind herzlich eingeladen.“ Loki sah hilfesuchend zu Eve, die nur lächelnd mit den Schultern zuckte.

„Überlegen sie es sich. Bis morgen.“ Die Herren verabschiedeten sich.

Das Taxi verkündete mit einem Hupen seine Ankunft.

„Bis morgen, Eve.“ Er nahm sie kurz in den Arm. „Überleg’s dir. Ich würd‘ mich freuen.“

„Mach‘ ich.“ Als er nach draußen trat, betätigte Eve den Schalter für die Außenbeleuchtung. Ein weiteres Hupen. Loki sprang die Stufen hinunter und eilte den von kleinen Laternen gesäumten Weg entlang. Kurz bevor der Weg in das Wäldchen führte, drehte er sich noch einmal um. Eve stand immer noch in der Tür; er hob die Hand zum Abschied und verschwand im Dickicht. Kurz darauf hörte man eine Autotür ein sich rasch entfernendes Motorengeräusch.

Als Eve die Tür hinter sich geschlossen hatte, bedachte ihr Vater sie mit einem vielsagenden Blick.

„Was?“

A Christmas Carol

Vielleicht war das mit den kurzen Haaren doch keine so gute Idee. Am Morgen vor dem Spiegel hatte er feststellen müssen, dass ihn allein seine Haarfarbe vor dem Erscheinungsbild eines Goldenretrievers bewahrt hatte. Loki drückte ein weiteres Mal auf die Türklingel, deren Ton gedämpft durch die Tür schallte. Nichts geschah. Merkwürdig, er hatte sich doch angekündigt.  Als sich auch nach einem weiteren Klingeln nichts tat, nahm er seine Reisetasche und ging vorsichtig ums Haus. Der Schnee, der über Nacht gefallen war, knarrte leise unter seinen Schuhen. Er spähte über den niedrigen Gartenzaun, konnte aber außer einigen schneebedeckten Laubhaufen nichts entdecken. „Eve?!“ Hundegebell. In Windeseile stürmte Charlie aus dem Nichts hinter dem Dickicht hervor und sprang am Zaun hoch um den Gast zu begrüßen und zu prüfen, ob man ihm ordnungsgemäß eine Belohnung mitgebracht hatte. Kurz darauf erschien Eve dick eingepackt in Stiefeln, Daunenjacke, quietschbunter Mütze nebst passendem Schal und Handschuhen. „Hey! Komm rein, das Gatter ist offen.“ Also trat er in den Garten  und kraulte Charlie kurz am Kopf. Der Beagle  schnupperte neugierig an der Reisetasche.

„Du hast es Dir überlegt.“, stellte Eve lächelnd fest.

„Das Hotel ist zwar schön, aber alleine recht öde.“ Aus der Manteltasche zog er eine kleine Salami, die er beim Frühstück im Hotel in eine Serviette gewickelt hatte und warf sie Charlie zu.

„Hallo, Eve.“ Er trat auf sie zu und nahm sie wieder kurz in den Arm. „Du bist so bunt.“ Er zupfte an ihrem Schal.

„Ach so, ja. Die hat mir Amber vor ein paar Jahren zu Weihnachten gestrickt.“

“Evie! Daisy macht nicht was ich ihr sage!“

Beide spähten hinter das Dickicht, wo Alice auf ihrem gescheckten Pony saß und verzweifelt versuchte, das Tier von den offenbar recht schmackhaften Flechten abzulenken.

„Ich würde sagen, Daisy hat keinen Bock mehr“, murmelte Eve und wand sich wieder an Loki. „Geh schon mal rein, ich komm gleich nach. Fühl dich wie zu Hause.“ Sie wies auf die Hintertür und lief zu Alice.

Sonst war niemand im Haus. Auf dem Esstisch lagen bereits die restlichen Unterlagen. Er brühte in der Zwischenzeit eine Kanne Tee auf, nachdem er auf der Suche nach der Teedose jeden einzelnen Schrank in der Küche durchsucht hatte. Mit der dampfenden Tasse wollte er sich an den Kamin setzen, wurde aber von Charlies Gebell und lautem kindlichem Quietschen abgelenkt. Er trat ans Fenster und sah, wie Eve Alice recht langsam hinterherjagte und beide sich lachend mit Schneebällen bewarfen, während Alice offensichtlich so schnell rannte wie sie konnte. Charlie tobte bellend um die beiden herum. Schließlich hatte Eve das Mädchen eingeholt, packte sie und wirbelte sie durch die Luft.

"Ich hab dich lieb, Evie!", verkündete Alice, als sie auf dem Arm ihrer Tante saß.

"Ich hab dich auch lieb, mein Schatz. Lass uns reingehen."

"Musst du wieder arbeiten?", fragte sie mit einem kleinen Schmollmund.

"Ja, allerdings nicht mehr viel. Und nachher mach ich uns Pfannkuchen." Alice strahlte. "Au ja!"

Kaum hatte Eve die Tür geöffnet, trabte Charlie herein und setzte sich demonstrativ vor den Kamin.

"Eve?" Loki stand im Türrahmen und hielt ihr eine Tasse mit dampfendem Inhalt entgegen. "Ein Traum, Dankeschön."

"Loki!" Alice hatte den Kampf mit ihren dicken Winterstiefelchen aufgegeben und gab sich alle Mühe, ihn mit ihrem stürmischen Angriff umzuwerfen. Indes hatte Loki das Gefühl, ihn würde eine Fliege rammen. "Hallo, Alice."

"Alice, du sollst doch nicht mit den nassen Schuhen ins Haus", sagte Eve tadelnd und nippte an der Tasse.

"Ich krieg die nicht auf", protestierte Alice, stapfte zurück in die Diele und hinterließ kleine Pfützen auf dem Parkett. "Ich hol nen Lappen." Eve Stellte die Tasse ab und verschwand im Flur.

"Loki! Das geht nicht!" Etwas unschlüssig trat Loki in die Diele, wo Alice an dem Knoten herumfingerte. "Der Knoten geht nicht auf."

Er seufzte. "Ich helf‘ dir."

 

"Ich hab keinen Bock mehr." Stöhnend ließ Eve den Kopf auf die Tischplatte sinken. "Ich hab Urlaub."

"Wir sind fast durch." Lokis Motivation war ebenfalls schon lange im Urlaub. "Wenn wir jetzt weitermachen, kann ich das heute Nacht fertig machen und fliege morgen zurück nach New York."

"Was willst Du denn in New York." Eves Kopf tauchte langsam hinter dem Laptop auf.

Loki blinzelte verwirrt. Das war doch offensichtlich.

"Dad hat Dich eingeladen. Ich dachte, du wolltest bleiben?"

"Aber das muss-" - "Du glaubst doch wohl nicht, dass bei Lockheed zwei Tage vor Weihnachten noch irgendjemand freiwillig arbeitet." Sie schenkte ihm einen vielsagenden Blick. Loki blieb stumm.

"Evie?" Alice lugte vorsichtig hinter dem Mauerbogen hervor.

"Ja, Mäuschen?" Eve drehte sich  um und beobachtete, wie der kleine Rotschopf hinter dem Bogen hervortrat, um ihr Anliegen kundzutun. "Grandpa hat gesagt, ich soll euch nicht beim Arbeiten stören, aber du hast versprochen, dass du Pfannkuchen machst."

"Pfannkuchen?"

"In der Tat. Pfannkuchen!" Eve sprang vom Stuhl angesichts der willkommenen Ablenkung und klemmte sich die fröhlich quietschende Alice auf dem Weg in die Küche unter den Arm.

Loki fasste sich seufzend an den Kopf. Die Aufstellung für den Prototyp der Lockheed-Maschine schien endlos. Und Eve zeigte sich nicht unbedingt kooperativ. Er streckte sich und folgte den beiden in die Küche, wo Alice bereits auf der Anrichte saß; mit der großen Rührschüssel auf dem Schoß und einem Schneebesen in der Hand. Eve suchte indes  die Zutaten nebst Bratpfanne aus den Schränken zusammen. Loki setzte sich auf einen der Barhocker vor dem Tresen an der Anrichte und Legte das Kinn auf die verschränkten Arme.

„Warum schaust du so böse? Magst du keine Pfannkuchen?“ Alice versuchte seinen Gesichtsausdruck zu imitieren. Eve kippte das Mehl in die Schüssel.

„Was?“ Gedanklich war er immer noch beim letzten Punkt der Liste: Durchführung 1. Testlauf. Pfannkuchen. „Nein, ich…Nun…“ Nein, noch keine Pfannkuchen.

„Du hast noch nie Pfannkuchen gegessen?“ Alice zeigte sich äußerst bestürzt.

„Pass auf, sonst macht die Schüssel gleich nen Abflug.“, mahnte Eve und schlug die Eier auf.

Alice rührte vorsichtig den Teig um, damit nichts herausplatschte.

„Fertig!“, verkündete sie, als sie mit der Konsistenz des Teiges zufrieden zu sein schien und reichte ihrer Tante die Schüssel. Innerhalb kürzester Zeit begann es im ganzen Haus herrlich zu duften.

„Hier, probier‘.“ Eve stellte einen der gebackenen Teigfladen auf einem Teller vor Lokis Nase.

„Ich will auch!“, protestierte Alice, worauf sie von ihrer Tante auf den Tresen umgepflanzt wurde. „Teilt ihn euch.“ Eve legte Messer und Gabel neben den Teller. Loki zuckte mit den Schultern und schnitt den Pfannkuchen entzwei. „Da muss noch Marmelade drauf.“ Alice versuchte das Glas mit der dunkelroten Marmelade von der Anrichte zu angeln, doch ihr Arm war zu kurz. Loki griff nach dem Glas. „Tust du mir auch was drauf?“

Eve beobachtete die beiden lächelnd aus dem Augenwinkel, während sie nacheinander die heißen Pfannkuchen auf einem Teller stapelte. Alice war ein sehr fröhliches Mädchen, aber Fremden gegenüber sehr misstrauisch. Doch Loki schien die Ausnahme darzustellen.

„Nachschlag?“ Als Eve sich umdrehte, streckte ihr Loki süffisant grinsend den leeren Teller entgegen. Alice saß daneben und strahlte über das ganze marmeladenbekleckste Gesicht. Eve seufzte und legte nach.
 

 „Du, Loki?“

„Ja, Alice?“ Die Kleine wollte sich gerade mit Hilfe ihres Ärmels der Marmeladenreste auf ihrem Gesicht entledigen, als Eve ihr gerade rechtzeitig eine Serviette vor die Nase hielt. Sie wischte sich den Mund ab. „Kannst Du reiten?“

Er schenkte Eve einen kurzen Seitenblick. Sie zuckte nur vielsagend mit den Schultern.

„Vielleicht?“, antwortete er vorsichtig.

Dass Alice anschließend darauf bestand, am Nachmittag noch auszureiten, war absehbar. Loki begleitete Eve mit gemischten Gefühlen durch den Schneebedeckten Garten. Charlie war schon lange mit Alice hinter den Schuppen verschwunden, der an den Stall angrenzte. „…ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass mir der Reitsport nicht geläufig ist.“,  beendete er den Satz.

„Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht möchtest. Aber die Tiere müssen bewegt werden.“

„Ich will es versuchen. Du meintest Cinnamon sei ein umgängliches Tier.“

Eve öffnete die Tür zum Schuppen. Drinnen brannte bereits Licht, das von einer einfachen herabhängenden Baulampe ausging. Es roch nach Heu, altem Holz und natürlich nach Ross. Es war überraschenderweise angenehm warm.

Eve öffnete einen der dunkelgrün lackierten Spinde an der Wand und beförderte aus einer Plastiktüte ein eingestaubtes Paar schwarzer Reitstiefel zu Tage. Sie hielt sie nacheinander ins Licht, sodass sie prüfen konnte, ob sich nicht doch trotz der Tüte eine Spinne oder anderes Kleingetier darin eingenistet hatte. „Die könnten Dir passen.“ Er nahm die Stiefel entgegen. Auf den hinteren Schlaufen waren die Initialen J.H. Eingestickt. Die Stiefel mussten James gehören, machten allerdings den Eindruck als seien sie seit Jahren nicht getragen worden. Er setzte sich auf einen der Strohballen in der Ecke und schlüpfte probeweise in einen der Stiefel während Eve ebenfalls ihr Schuhwerk wechselte. Aus dem Stall drang das leise Stampfen der Hufe auf dem Stroh und vereinzelt ein Schnauben. Des Weiteren war Alice zu hören, wie sie mit dem Sattelzeug kämpfte. „Wenn du Hilfe brauchst, musst du’s sagen.“, rief Eve in den Stall worauf ein etwas gequältes „Ich kann das schon alleine!“ zurückkam. Eve musste lachen.

„Sturheit liegt wohl bei euch in der Familie.“, stellte Loki fest und stand auf.

„Passen sie?“ Eve überging den Kommentar.

„Sie sind etwas groß, aber sie werden genügen.“

„Da bin ich aber erleichtert, eure Hoheit.“ Mit einer hervorragenden Parodie eines Hofknickses verschwand Eve in den Stall und öffnete die Boxen. „Na, mein Großer?“ sie wuschelte dem Tier durch die dunkle Mähne. Mein Großer war durchaus passend. Das Pferd war riesig und breit gebaut mit langen dunklen Fransen an den Fesseln. Sie führte den grauen Riesen mit einer sanften Berührung am Kinn aus der Box. Der Wallach war dieses Procedere offenbar gewohnt und ging gemächlich zur gegenüberliegenden Stallmauer, um gesattelt zu werden.

„Keine Sorge“, sagte Eve angesichts der Überraschung auf Lokis Zügen und schubste das zweite Pferd mit der gleichen Bewegung hinaus aus seiner Box. „Das hier ist Cinnamon.“ Cinnamon mit der gleichnamigen Fellfarbe von Zimt trat etwas zögerlicher aus der Box. Die Stute war etwas kleiner, was ihrer Größe allerdings nichts abtat angesichts des eher schlanken drahtigen Körperbaus. Aus dem Eimer in der Ecke holte Eve ein Werkzeug. Der Graue scharrte ungeduldig mit den Hufen. „Jaja. Hetz mich nicht.“  Loki sah sich um. Dieser Geruch, die Tiere. Es schien ihm alles irgendwie vertraut. Er ging langsam zu Cinnamon; näherte sich seitlich, sodass sie ihn sehen konnte und streichelte ihr über den Hals. „Ein wunderschönes Tier.“

„Gunpowder! Lass das!“ Amüsiert beobachtete Loki, wie Eve -bei dem Versuch den Vorderhuf, den Gunpowder bereitwillig auf ihrem Oberschenkel abgelegt hatte, auszukratzen- den riesigen Kopf des Pferdes wegzudrücken versuchte, da er ihren Haarknoten offenbar für etwas Schmackhaftes zu halten schien.  Angesichts ihrer Absicht kräuselte er eine Augenbraue. „Eve, das ist Arbeit für einen Stallknecht.“

Eve hielt inne und sah verwirrt zu ihm auf. Dann stöhnte sie genervt und packte die Schnauze des Leckermauls mit beiden Händen. „Ist gut jetzt!“ aus der Westentasche zog sie einen kleinen Haferkeks. „Da hast du.“ Gunpowder wandte sich zufrieden dem Leckerchen zu.

„Was war das denn gerade?“ fragte Eve und drückte Loki einen Haferkeks für Cinnamon in die Hand.

„Was meinst du?“ Er überreichte der zutraulichen Stute den Keks.

„Ein Stallknecht?“ – „Nun, ich… kann mich nicht daran erinnern einen zu kennen, falls du darauf anspielst.“

„Vielleicht hast du ja blaues Blut und ihr hattet daheim einen Stallknecht.“, mutmaßte Eve und drückte Loki grinsend den Hufkratzer in die Hand. „Du hast gesehen, wie’s geht. Viel Spaß.“

„Aber du warst noch gar nicht fertig.“

„Ich weiß.“ Eve ging zurück zu dem Eimer. „Aber wir haben mehrere von den Dingern.“

 

„Willst Du ihn denn nicht satteln?“ Loki passte gerade Cinnamons Steigbügel an, als er sich über den scheinbar nicht vorhandenen Sattel wunderte.

„Er braucht keinen.“ Der große Graue ließ sich das einfache Halfter überziehen. Auch für Cinnamon gab es kein übliches Zaumzeug mit Gebissstange, allerdings gab es einen passenden Sattel für die Stute. Gunpowder war wohl einfach zu groß. Über seinem Rücken lag lediglich eine dick abgesteppte Decke. Aus einem Automatismus heraus stieg er in den Sattel und lenkte das Tier hinaus ins Freie, wo Alice schon ungeduldig auf ihrem Pony saß. Kaum, dass er das Hufgetrappel auf dem gepflasterten Vorhof hörte, sprang Charlie aus dem Gebüsch und tanzte um die wenig beeindruckte Stute herum. Als er Alice so auf dem kleinen gescheckten Tier sah, aufgrund der Kälte dick eingepackt wie ein Michelin-Männchen, keimte in ihm die Frage auf, wie das kleine Mädchen auf das verhältnismäßig große Pony hochgekommen war. Die Steigbügel schienen zu hoch, um aus dem Stand aufsitzen zu können. Aus dem Stall war das schwere Traben von Gunpowder  zu hören. Eve musste den Kopf einziehen, um auf dem Rücken des Tieres nicht mit dem Torbogen zu kollidieren. Instantan fragte Loki sich bei ihr dasselbe.

„Da seid ihr ja endlich!“ Alice ergriff die Zügel.

Gunpowder schnaubte, dass heiße Dampfwölkchen von seinen Nüstern aufstiegen und scharrte ungeduldig mit den Hufen. „Geduld, mein Großer.“ Eve tätschelte den Hals des Tieres.

„Kommt ihr?“ Alice hatte bereits einen Teil des verschneiten Feldweges zurückgelegt und drehte sich im Sattel zu ihnen um. „Du kannst das Gatter schon mal aufmachen.“ Eve lächelte verschmitzt, als Alice eine Schnute zog und beleidigt davontrabte.

„Willst du dir nicht noch etwas überziehen?“ Eve sah etwas skeptisch zu Loki hinüber der sich zum Rausgehen nur mit seinem schwarzen Pullover begnügt hatte. Eve hingegen trug unter ihrer Steppweste drei lagen Funktionswäsche nebst der dicksten Wollsocken, die sie hatte finden können.

„Nein, weshalb?“, fragte er scheinbar überrascht.

Eve runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob du‘s schon weißt, aber wir haben Dezember, befinden uns an der Nordatlantikküste und es hat geschneit.“

„Ich weiß.“ Loki lächelte.

„Ist dir denn nie kalt?“

Er überlegte kurz. „Nicht dass ich mich erinnern könnte.“ Eve machte gedanklich eine Notiz auf der Liste der vielen Mysterien des Luke Saulsbury. „Wollen wir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten preschte Loki davon. Eve fügte eine weitere Notiz hinzu.

Am Gatter angekommen demonstrierte Alice die Antwort auf Lokis ungestellte Frage. Nachdem sie das Gatter geöffnet hatte, musste sie ja irgendwie zurück in den Sattel kommen. Sie hielt sich gleichzeitig am Halfter und der Mähne fest und wartete, bis das Pony den Kopf und damit das Mädchen vom Boden hob. Anschließend hakte sie sich mit einem Bein am Sattelknauf ein und zog sich mit Schwung in den Sattel. Das Pony schien der ganze Hokuspokus dabei wenig zu interessieren.

Alice folgte dem Feldweg ungerührt weiter während der Beagle die Umgebung erkundete. Gunpowder holte auf. Der Weg führte über die Küstenstraße an einer steilen Klippe entlang hinunter zum endlos erscheinenden Strand. Dieser war teilweise von Schnee bedeckt, vereinzelt lugten braun gewordene Grasbüschel hervor. Zum Wasser hin ging der feste Boden in feiner werdenden Kies über. Der Wind blies kräftig von Seeseite her. Schon nach kurzer Zeit konnte man das Salz auf den Lippen schmecken. Die Wellen brachen sich mit leisem Donnergrollen an einer vorgelagerten Felskante, sodass das Wasser nur in sanften Wogen über den Kies schwappte. Unten hatte Charlie ein

überdimensioniertes Treibholz herbeigezerrt und Alice vor die Füße gelegt. Nach kurzer Zeit war ein Stöckchen gefunden, dass der kleine Rotschopf auch werfen konnte.

Cinnamon wurde nun auch unruhig und begann mit den Hufen zu scharren und zu schnauben. „Was hat sie?“

„Sie will laufen.“ Eve lächelte und sah die Küste entlang.

„Dann lassen wir sie laufen.“ Und wieder preschte er davon, diesmal im Galopp.

„Hey! So nicht.“ Eve ließ die Zügel los und drückte die Beine gegen die Flanken des Tieres. „Lauf!“

Darauf schien Gunpowder die ganze Zeit über gewartet zu haben. Nach kurzer Zeit hatte der große Graue die Stute eingeholt und zog an ihr vorbei. Eve ließ ihn laufen, bis er keine Lust mehr hatte und an einer Anhöhe auf der Suche nach einem Snack die Nüstern in den Schnee steckte. Eve schwang ein Bein über die Kruppe und sprang ab. Loki kam nach kurzer Zeit hinzugetrabt. „Ich muss gestehen, dich unterschätzt zu haben, Eve.“

„Mich, oder das Pferd?“ Sie hob ein paar Kiesel auf und warf sie in die Brandung.

„Sowohl, als auch“, gab er zu und sprang elegant aus dem Sattel.

„Hast du dich in der ganzen Zeit an etwas erinnert?“

„Nein, nichts.“ Loki seufzte und hob seinerseits ein paar Kiesel auf, um sie im Meer zu versenken. „Egal was ich versuche, ich kann mich an nichts erinnern.“

Ein Schnauben. Gunpowder hatte offenbar die Suche aufgegeben und fieselte nun von hinten an ihre Westentasche, in der sich die Haferkekse versteckten. Eve seufzte und drückte die große dunkelgraue Schnauze weg. „Manchmal glaub‘ ich, du bist einfach nur ein viel zu groß geratener Hund.“ Sie zog einen Keks aus der Tasche und stellte sich vor das Tier. „Mach sitz.“ Doch anstatt sich hinzusetzen reckte Gunpowder den Kopf nach vorn und nahm den Keks vorsichtig mit einer kussmundähnlichen Bewegung aus ihrer Hand. „Doch eher ein Maultier.“

Ein Steinchen flog in einem frustrierten Bogen ins Wasser. „Zumindest wissen wir jetzt, dass ihr daheim Pferdeknechte hattet, eure Hoheit.“ Loki verzog das Gesicht. „Das eilt mir wohl noch ewig nach.“

„Jup.“  Eve warf ihren letzten Kiesel in die Brandung. Über dem Himmel im Osten breitete sich bereits langsam die Nacht aus. „Wir sollten langsam wieder zurück.“ Sie nahm ihr Pferd beim Halfter und begann gemütlich zurück über den Strand zu wandern. Loki spazierte mit Cinnamon bei den Zügeln nebenher.

"Bist du hier aufgewachsen?"

Eve bedachte ihn mit offener Verwunderung. "Warum fragst du das?"

"Nun" Ihm entkam ein kurzes Lachen, da er die Antwort für selbstverständlich hielt. "es interessiert mich. Ich möchte mehr erfahren über die geheimnisvolle Eve, von der ich nichts weiß, außer dass sie keine Menschen mag, dafür aber Käse vergöttert." Den letzten Teil verpackte er mit einem humorvollen Sarkasmus-Schleifchen, was Eve kurz zum Stutzen brachte.

"Lass doch den Unsinn. Vorsicht." Sie sprang zur Seite, um von der anrollenden Brandung keine nassen Füße zu bekommen und rempelte Loki dabei beinahe um. "Wir kommen vom Thema ab.", stellte er auffordernd fest.

"Ich bin hier aufgewachsen, seit ich sieben war. Davor war ich bei meiner Großmutter in Deutschland."

"War dein Bruder auch dort?" Eve setzte zu einer Antwort an, hielt dann aber abrupt inne, als sie Alice sah, die sich gerade nach Charlies Stöckchen bückte. Plötzlich war sie unsicher. Ein ungewöhnlich lautes Donnern von der Felskante kündigte die Flut an, hallte an der Klippe wieder und erschreckte die Kleine. "Loki, ich..."

"Schon gut." Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und saß auf. Als er davon ritt, hätte sie am liebsten den Schädel gegen eine der Felswände geschlagen. Verbockt. Konversation war in familiärer Hinsicht nicht sonderlich ihre Stärke. -Nett ausgedrückt. Eve seufzte und nahm Gunpowder sanft an der Schnauze, drückte sie hinunter. Von außen sah es beinahe wie eine Verbeugung aus. Das Tier beugte folgsam ein Knie. Eve packte die Mähne und saß mit einem schwungvollen Satz auf. "Gehen wir nach Hause, mein Großer." Sie tätschelte ihm den Hals und lenkte ihn zum Weg zurück, wo sich Alice ebenfalls zum Aufbruch bereit gemacht hatte. Als sie zu ihrer Nichte aufgeschlossen hatte, bedachte diese sie mit einem neugierigen Blick. "Loki hat doch gesagt, er kann nicht reiten."

"Vielleicht hat er geschwindelt?" Gunpowder versuchte, den feuerroten Zopf des Mädchens anzuknabbern. "Schwindeln darf man nicht.", beschwerte sie sich und drückte die weichen grauen Nüstern weg. "Und Jungs können normal nicht reiten."

"Vielleicht ist er ja kein normaler Junge", begann Eve geheimnisvoll und beugte sich verschwörerisch zu ihr hinunter, "vielleicht ist er ja ein Prinz." Alice stand der Mund offen. Der entgleiste Gesichtsausdruck des Mädchens brachte Eve zum Lachen. "Na los, wir müssen heim, sonst macht Grandpa sich noch sorgen." Sie trieb den Großen Grauen an.

Alice, ihrer selbst indes wieder gewahr, trat eilig in die Seiten ihres Ponys. "Du schwindelst, Evie!"

 

 „Da seid ihr ja.“ James Harrington sah über die minimalistische Sehhilfe hinweg und musterte die drei Neuankömmlinge. Er war gerade dabei im Kochbuch ein Rezept nachzuschlagen.

„Hi, Dad!“ Eve gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Was hast du denn vor?“ Offenbar war das aufgeschlagene Rezept etwas opulenter. „Für morgen.“, erklärte er und machte kurzerhand ein Eselsohr in die Seite.

„Mister Harrington.“ James schob die Brille ein Stück Richtung Nasenwurzel und ergriff die Ausgestreckte Hand. „James bitte.“ – „Gerne.“

„Hallo, Grandpa!“ Alice versuchte James zu umarmen, musste sich aber ähnlich wie bei Loki mit einem Bein begnügen.

„Hallo, Schätzchen.“ Er beugte sich hinunter und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Habt ihr euch schon arrangiert?“

„Ich schlaf‘ auf der Couch.“, verkündete Eve beiläufig, betätigte den Schalter am Wasserkocher und suchte in der Küche nach der Teedose. „Luke schläft oben und Celine entweder bei Amber oder Alice.“

„Celine ist meine Mama.“, erklärte Alice für Loki und sprang die Treppe hinauf.

Das war nicht nötig er konnte auf der Couch schlafen. Doch Eve ließ ihm keine Gelegenheit zum Protest.

„Wo ist Amber?“ Eve drückte den Herren eine Tasse Tee in die Hand. James nippte kurz daran und hob die Augenbrauen. „Darüber wollte ich mit Dir…“

In dem Augenblick wandten alle angesichts des Tumultes den Blick die Treppe hinauf. „Geh raus! Lass mich in Ruhe!“ Oben wurde eine Tür zugeschlagen. Alice begann zu weinen.

„…reden.“, beendete er den Satz und nahm mit wehleidigem Blick einen weiteren Schluck aus der Tasse.

„Wie lange geht das schon so?“ Eve stellte die Tasse auf den Tresen und machte sich auf den Weg nach oben.

„Eine ganze Weile.“
 

"Oh, Schätzchen." Oben angekommen hob Eve die heulende Alice auf den Arm und streichelte ihr über den Rücken bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. "Amber hat's doch nicht so gemeint."

"Warum ist sie immer so gemein?!", beschwerte sie sich. "Hat Amber mich nicht mehr lieb, Evie?"  

Eve seufzte und schenkte dem Mädchen ein sanftes Lächeln. "Natürlich hat sie dich lieb."

"Aber warum ist sie dann so gemein?" Eve setzte sich auf den Treppenabsatz und setzte Alice rittlings auf ihren Schoß.

"Ich verrat' dir jetzt was." Eves Flüsterton lies den kleinen Rotschopf aufhorchen. "Wenn Mädchen älter werden, dann werden die irgendwann komisch."

Alice machte große Augen. "Komisch?" Eve nickte.

"Plötzlich ist dann alles blöd und uncool und man will unbedingt erwachsen sein, es geht aber nicht schnell genug. Deine Familie ist dann auch blöd."

"Unsere Familie ist nicht blöd!", empörte sich Alice.

"Natürlich nicht, aber so kommt es Amber vielleicht gerade vor. Bei dir ist das bestimmt auch irgendwann mal so."

Alice schüttelte energisch den Kopf. "Ganz bestimmt nicht. Ich will nicht komisch werden."

Eve lachte. "Ich fürchte, dagegen lässt sich nichts machen, meine Süße."

"Das ist doof." Die Kleine zog eine Schnute. "Aber dann kann Amber ja gar nichts dafür, dass sie so doof ist?"

Ihre Tante tippte ihr breit lächelnd auf die Nasenspitze. "Kluges Mädchen. Genauso ist es. Und deswegen dürfen wir deiner Schwester nicht böse sein. Okay?"

"Okay!" Alice lächelte wieder.

"Ich rede mit Amber. Geh schon mal runter und hilf den Jungs beim Abendessen, ja?" Sie drückte einen Kuss auf die Wange des Mädchens.

Als Alice unten ins Wohnzimmer gelaufen war, ging Eve zurück über den Flur.
 

„Es ist schön, dass Sie sich entschieden haben  über die Feiertage hierzubleiben.“ James machte eine einladende Geste in den Wohnraum und setzte sich auf die Couch vor dem Kamin, wo es sich Charlie bereits auf dem Teppich gemütlich gemacht hatte. „Vielen Dank für die Einladung.“ Charlie hob ein Schlappohr und bewegte sich dann zu seinem Herrchen um sich den Kopf kraulen zu lassen.

„Ich muss zugeben, Luke, die Einladung war nicht wirklich uneigennützig.“ Loki wurde hellhörig. „Sie arbeiten mit Eve zusammen, richtig?“

„Ja?“ er war sich nicht sicher, worauf der Hausherr abzielte.

„Wie lange arbeiten Sie schon bei Stark Industries?“

„Ein paar Monate.“ Diese Antwort brachte James zum Lächeln. „Dacht‘ ich mir.“ Er nippte wieder an seinem Tee. „In letzter Zeit wirkt sie ausgeglichener und es ist sehr selten das Eve sich mit jemandem so gut versteht.“

Dachte er etwa, dass er…dass Eve… Du lieber Himmel, das war ausgeschlossen! „Sir, Ich…“

„Das ist nur einer der Gründe, warum ich Sie eingeladen habe.“, schnitt James ihm das Wort ab und lächelte, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. „Eve erwähnte, sie wären sonst über Weihnachten allein in New York. Und Freunde sind uns jederzeit willkommen.“

"Grandpa?" James und Loki wandten sich um, als Alice wieder so fröhlich wie zuvor ins Wohnzimmer gestürmt kam. "Evie hat gesagt, ich soll euch beim Kochen helfen." Die beiden Männer sahen sich erstaunt an. "Kochen?"

 
 

"Amber?" Sie klopfte vorsichtig an die Tür, auf der ein handgekritzelter Zettel KEEP OUT mahnte und horchte.

"Geh weg." Ein ersticktes Schniefen. Eve drückte vorsichtig die Klinke hinunter und öffnete die Tür einen Spalt breit, sodass sie gerade den Kopf ins Zimmer stecken konnte. Ein Kissen traf sie mitten ins Gesicht. "Ich hab gesagt, geh weg!" Amber saß in eine Decke gewickelt auf dem Bett, wie eine Schnecke, die nicht mehr aus ihrem Haus wollte. "Na hör mal..." Als nächstes kam ein zerfledderter Teddybär geflogen und nahm Eve kurz den Wind aus den Segeln, als sie das Bärchen so auf dem Boden liegen sah. Es war Mr.Kuddles, Ambers erstes Kuscheltier. Sie hatte keine Ahnung, wie oft sie den Bären hatte operieren müssen, weil er wieder einem ihrer Kleinkinder-Unfälle zum Opfer gefallen war. Seinen Hals zierte ein ausgewaschenes dunkelgrünes Halstuch. Es gehörte Ambers Vater. Sie hob ihn an einem der braunen filzigen Beinchen hoch und befreite sein Ohr von einem Fussel. "Der arme Mr.Kuddles.“ Kurz sah sie ihren Bruder vor sich, wie er im Krankenhaus kaum stillsitzen konnte und aufgeregt den Kuschelbären für seine neugeborene Tochter im Wartebereich spazieren trug.  Als sie die Nachricht erreicht hatte, Celine sei soweit, waren beide vom Dienst befreit worden und ins Hospital gefahren. Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Eve lächelte. Es war eine schöne Erinnerung. Leise schloss sie die Tür und setzte sich aufs Bett neben den Deckenhaufen, in den sich Amber nun gänzlich zurückgezogen hatte. "Willst du da nicht rauskommen, kleine Schnecke?"

Wieder ein Schniefen, dann regte sich etwas unter der Decke und zeigte ein rotes sommersprossiges vom Weinen leicht geschwollenes Gesicht. "Was ist denn da los, hm?" Eve wischte dem Mädchen die Tränen von der Wange. Amber rollte sich ein, sodass nur ihr zerzauster Kopf herausschaute und versuchte den Schnodder durch ein heftiges Schniefen loszuwerden. Eve lächelte und fischte aus der Nachttischschublade eine Packung Taschentücher. Sie hielt ihr eins vors Gesicht. "Erstmal Nase putzen." Amber nahm widerwillig das Taschentuch und trompetete hinein. "So." Eve rutschte näher heran und legte einen Arm um das Deckenknäuel. "Besser?" Das Mädchen nickte und trompetete ein weiteres Mal in das Taschentuch. Eve wartete.

"Ich will nicht mehr zur Schule, Evie." sie schniefte wieder.

"Warum denn nicht?"

Schließlich begann die Kleine zu erzählen. Celine konnte sich nicht viel leisten, aber sie tat alles für ihre Mädchen. Die Familie hatte es Amber ermöglicht, die beste Schule der Region zu besuchen, dass dort allerdings meist nur reiche Kinder mit anderen Standards unterwegs waren, erschwerte es ihr, Anschluss in ihrer Klasse zu finden. Keine teuren Klamotten oder nicht das neuste Handy zu haben machten einen dort scheinbar zum Außenseiter. Dazu kam auch noch ihre Haarfarbe und die Sommersprossen.

"Letzte Woche sollten wir entweder unsere Mama oder Papa mit zur Schule bringen. Mama musste wieder arbeiten. Ich war die Einzige, die niemanden mitgebracht hatte." Sie schniefte wieder und sah zu Mr.Kuddles der geduldig mit offenen Armen auf Eves Schoß saß. Sie drückte den Bären an sich und schälte sich aus der Decke um sich an ihre Tante zu kuscheln, die sie fest in die Arme nahm. "Ich vermiss' Daddy so sehr, Evie." sie begann wieder zu schluchzen. "Ich vermiss' ihn doch auch, mein Schatz." Eve tat einen tiefen Atemzug und blinzelte heftig. Sie durfte vor der Kleinen nicht weinen. "Wir vermissen ihn alle."

"Mommy will immer nicht drüber reden. Dann geht sie immer weg, und macht die Tür zu. Sie muss immer arbeiten und Grandpa versteht das nicht."

"Ich glaube schon, dass Grandpa das versteht. Er kann nur seine Gefühle nicht so zeigen." Sie legte eine Wange auf den weichen roten Schopf. "Und eure Mama arbeitet nur so viel, damit es euch beiden gut geht. Sie vermisst euren Daddy genauso sehr, wie ihr."

"Mir wär' lieber, sie wär' öfter zu Hause. Und dass wir über Daddy reden könnten." Eve löste die Umarmung ein wenig und sah ihrer Nichte ins Gesicht. "Hast du mal versucht, ihr das so zu sagen?"

"Wie denn? Sie will das nicht hören. Und wenn sie weg ist, rennt Alice mir ständig hinterher und fragt mir Löcher in den Bauch."

"Was fragt sie dich denn?"

Amber wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullis über die Augen. "Warum Mommy immer weggeht und sie fragt mich Sachen über Daddy und überhaupt, sie nervt einfach so!"

"Hey," Eves Stimme war sanft. "Sie ist doch erst vier und weiß es nicht besser. Und du bist ihre große Schwester, sie sieht zu dir auf."

"Echt?"

"Klar! Ich hab' auch zu meinem großen Bruder aufgesehen. Das ist immer so." Amber wandte nachdenklich den Blick ab. "Sei nicht so streng mit Alice. Ihr seid Schwestern, ihr sollt zusammenhalten und euch nicht ständig zanken."

"Ich versuch's", seufzte Amber schließlich. "Kannst du nicht mal mit Mommy reden?"

Eve seufzte. "Ok, ich versuch's." Sie drückte ihre Nichte noch einmal an sich und stand auf. "Kommst du dann runter?"

"Ja." Amber rollte lächelnd mit den Augen.

"Sicher? Nicht so, wie gestern?" Eve begann zu grinsen.

"Ja, jetzt geh raus."

"Versprochen?"

Amber stöhnte und versuchte, ihre Tante aus dem Zimmer zu schieben, doch Eve hatte zu viel Kraft. "Jetzt geh schon!" Mit viel Mühe schaffte Amber es bis zur Türschwelle.

"Oh, Nein! Die Schwerkraft reißt mich zu Boden!" hörte man Eve theatralisch von oben rufen, während Amber eher angestrengt klang. "Evie, lass den Quatsch!"

"Ich schwör's dir! Ist genau, wie letztes Mal!" Es polterte.

"Evie! Geh' runter von mir!"

"Du hast mich fallen lassen!"

"Du bist doof!"

Der Heilige Abend begann mit einem weiteren Ausritt an der Küste am Morgen und den Vorbereitungen für das Abendessen, die sich bis in die späten Nachmittagsstunden zogen. In der Zwischenzeit war Celine auch am Haus ihres Schwiegervaters angekommen. Alice war ihr in die Arme gesprungen, während Amber sich eher verhalten zeigte. Celine war eine Frau, die man klassisch als hübsch bezeichnen würde. Sie musste in etwa so alt sein wie Eve, war allerdings einen knappen Kopf kleiner, hatte aschblondes schulterlanges Haar, blaue Augen und eine schlanke Figur. James begrüßte sie mit einem obligatorischen Wangenkuss und Luke stellte sich ordnungsgemäß vor. Nur Eve erhielt keine Begrüßung.

Anschließend wurde der Weihnachtsbaum geschmückt Eve hatte ein Paar Kisten aus dem Schuppen geholt, aus denen die Mädchen mit ihrer Mutter nun bunte Anhänger und Glaskugeln an den Tannenbaum hängten, den James und Luke im Laufe des Vormittags angeschleppt hatten. Eve und James waren gerade dabei, die Küche vom Erscheinungsbild eines Schlachtfeldes zu befreien, als Alice mit einem großen goldenen Stern bewaffnet zu Loki lief, der gerade den Tisch für das Abendessen deckte. „Loki! Kannst du mir bitte helfen?“ Sie hielt den Stern demonstrativ in die Höhe und zeigte auf den beinahe fertiggeschmückten Weihnachtsbaum. „Der muss da ganz oben drauf.“

Loki überlegte kurz und ignorierte den überraschten Seitenblick von Celine. Dann hob er Alice auf den Arm und trug sie zum Baum, damit sie den Stern auf die Tannenspitze setzen konnte. „Danke, Loki!“, sagte sie, als er sie wieder abgesetzt hatte. „Bitteschön.“

 

„Warum nennt die Kleine sie Loki?“, fragte Celine, als die Familie beim Nachtisch saß: Brotpudding mit Karamell. „Es ist ein Spitzname.“, sagte er automatisch und nahm einen weiteren Löffel in dem Mund. Er wusste zwar nicht im Geringsten wie Brotpudding zu Stande kam, befand das etwas labbrige Gebilde mit Karamellsoße allerdings für gut. Im Laufe des Tages hatten Eve und Celine kein einziges Wort miteinander gewechselt. Es überraschte Loki, da Eve mit ihrer Familie einen sehr herzlichen Umgang pflegte. Es war ein Ruhiger Abend, alle saßen auf der Couch um den Weihnachtsbaum der neben dem Kamin stand, und tranken Glühwein oder Punsch - bis Amber etwas verunsichert eine Gitarre ins Wohnzimmer brachte. Sie klammerte sich am Hals des Instrumentes fest, das offensichtlich schon einiges durchgemacht hatte. „Ich hab‘ sie schon gestimmt.“, begann sie zögerlich. „Wir haben früher immer an Weihnachten gesungen.“ Loki bemerkte, wie sich die Luft augenblicklich mit Spannung aufgeladen hatte, und alle mit unterschiedlichen ausdrücken das Mädchen betrachteten. Alice schien sich über den Vorschlag ihrer Schwester zu freuen. Celine allerdings war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung ins Gesicht gezeichnet. Aus seiner Position heraus konnte er James‘ und Eves Ausdruck nicht sehen. Es wurde totenstill im Raum. James Harrington seufzte schließlich und nahm seiner Enkelin die Gitarre aus der Hand. „Na schön. Und was wollen wir singen?“

Alice wünschte sich Weihnachtslieder, und sang so laut und schief, wie es nur möglich war und zauberte Loki ein lächeln aufs Gesicht, der die Texte nicht kannte und sich währenddessen mit dem Glühwein beschäftigte. Eve sah ihn mehrmals halb entschuldigend halb wehleidig an, was ihn nur noch mehr zum Lachen brachte und James war völlig mit Singen und Gitarrespielen beschäftigt. Celine brachte keinen Ton heraus und betrachtete beinahe Apathisch ihre Töchter.

„So, nun ist’s aber genug.“ James machte Anstalten, die Gitarre wegzulegen.

„Nein! Eins noch! Bitte!“ Damit hatte Alice die Playlist bereits mehrmals erweitert. „Was denn noch?“ James lachte die Kleine an. „Es gibt doch schon gar kein Weihnachtslied mehr, das wir noch nicht gesungen haben.“ Alice holte Luft um zu protestieren aber offensichtlich viel auch ihr kein Lied mehr ein.

I have seen the rain.“, sagte Amber plötzlich. „Das haben wir immer mit Daddy gesungen.“

Celine Stand unvermittelt auf und verließ das Wohnzimmer. „Mom! Bitte bleib hier!“

Damit sich die Situation nicht verschlimmerte, schlug James die ersten Akkorde des Liedes an. Alice lauschte gespannt, da sie das Lied offenbar nicht kannte.

 

I have seen the rain

I’ve felt the pain.

I don’t know, where I’ll be tomorrow.

IDon’t know, where I’m goin‘,

I don’t even know, where I’ve been.

But i know, I’d like to see them again.

 

Spend my day just searchin‘,

spend my nights and dreams.

Stop lookin‘ over my shoulder,Baby!

I’ve stopped wonderin‘, what it means.

 

Drop out, burn out, sold your hope.

Oh, they say I schould have been more.

Probably so, if I hadn’t been in that crazy damn Vietnam-War.

 

I have seen the rain.

I’ve survved the pain.

Oh, I’ve been home thirty years or so

And I’m just steppin‘ off on that plane.

 

Spend my day just serchin‘,

spend my nights and dreams.

Stop lookin‘ over my schoulder,Baby!

I’ve stopped wonderin‘, what it means.

 

Drop out, burn out, sold your hope.

Oh, they say I schould have been more.

Probably so, if I hadn’t been in that crazy damn Vietnam-War.

 

We have seen the rain together.

We’ve survived the pain forever.

Oh, it’s good to be home again!

It’s good to be with my friends.

 

Oh, it’s good to be home again.

It’s good to feel the rain…

 

Als der letzte Akkord verklungen war, begann Alice begeistert zu applaudieren. „Toll! Ein schönes Lied!“

Loki hatte den Glühwein in seiner Tasse völlig vergessen. Es war in der Tat ein schönes Lied und es hatte unweigerlich eine Geschichte erzählt. Für jeden der drei eine andere. Eve lächelte ihn unsicher an und zuckte dann mit den Schultern. Ihre Augen glänzten.

Happy New Year

Es war kurz vor Mitternacht im Starktower. Die oberen Stockwerke waren zum Jahreswechsel in eine Party-Area verwandelt worden. Tony’s Silvesterparties waren legendär und man rühmte sich gerne unter der Prominenz, dabei gewesen zu sein.

„Wann seh‘ ich dich endlich wieder in meiner Werkstadt?“ Tony Stark grinste süffisant und schlurfte seinen Drink.

„Wann seh‘ ich dich endlich mal wieder in der Firma?“ Eve nahm einen Schluck von dem überfüllten Glas Whiskey, den ihr Stark zuvor in die Hand gedrückt hatte.

"Dieses Jahr sicher nicht mehr." Er grinste wieder und schob sie in eine etwas ruhigere Ecke, um sich besser unterhalten zu können. "Wo..." Er sah sich unglaublich auffällig um. "ist jetzt eigentlich dein Assistent, von dem Pepper so begeistert ist?"

"Sie hat dir von dem Dilemma erzählt?" Er nickte und fischte kurz etwas ungeschickt mit der Zunge nach dem Strohhalm. Die Party war schon seit ein paar Stunden im Gange und dies war nicht sein erster Drink. "Also, wo ist der Glückspilz?"

Eve zuckte mit den Schultern. "Er hat vorhin kurz Hallo gesagt und dann hat ihn irgendeine vollbusige angetrunkene Blondine auf die Tanzfläche gezerrt." Sie musste grinsen. Die erwähnte Szene war herrlich gewesen. Mit den Worten "Hey, Handsome!" hatte sie ihn aus dem Nichts an der Krawatte gepackt und davongezerrt. Für Lukes Gesichtsausdruck hatte sie sich in dem Moment eine Kamera gewünscht. Tony lachte. "Vielleicht sehe ich ihn ja später noch." Dann wechselte er plötzlich den Tonfall und legte einen Arm um sie. "Die...Discokugel ist fast fertig.", flüsterte er und lehnte sich leicht gegen sie. "Du müsstest dann nochmal ne Runde dreh'n. Mit dem...Ding."

"Tony, das mit dem Anzug..."

"Schschscht!" er legte den Finger an die Lippen. Tony wackelte ein wenig und zeigte sich durchaus kuschelbedürftig. "Nicht so laut!" Eve begann, sich hilfesuchend nach Pepper umzusehen. "Solltest du nicht langsam nach deinem Schätzchen suchen?" Sie wand sich aus seiner Umarmung und hielt ihn am Oberarm fest, als er wieder zu wanken begann. "Mein Schätzchen?" Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

"Pepper! Du weißt schon, die hübsche Rothaarige mit der du verlobt bist!"

"Ich bin verlobt?" Eve stöhnte und war unglaublich dankbar, als sie James Rhodes in der Nähe der Bar erblickte. Sie winkte ihn zu sich. "Colonel, könnten sie kurz mal übernehmen?"

Rhodes ließ die Zähne blitzen und nahm ihr den angetrunkenen Milliardär ab. "Ich bin verlobt, wusstest du das?"

Der Colonel lachte und verfrachtete Tony auf einen freien Barhocker. "Wie viele von den Dingern hattest du schon, Tony?"
 

Eve entfernte sich unauffällig. Der Jahreswechsel rückte unaufhaltsam näher, genauso wie der Höhepunkt des durchschnittlichen Alkoholpegels. Es war unglaublich laut und stickig. Jeder versuchte im Gespräch die wummernden Bässe der Musik zu übertönen oder grölte zu Songtextfragmenten auf der Tanzfläche. Endlich erreichte sie ihre Fluchtmöglichkeit. Hinter der großen Bar im Fond führte ein beinahe unsichtbares post-modernes Gebilde aus Edelstahl und Glas, das -mit etwas Phantasie- tatsächlich eine Treppe darstellte, nach oben auf eine Galerie im gleichen Design.  Von dort aus konnte man wunderbar die Party beobachten; ohne Gefahr zu laufen entdeckt zu werden. Auf der Tanzfläche entdeckte sie einen platinblonden Schopf in Kombination mit einem Ausladenden Dekolletee. Luke jedoch war weit und breit nicht zu sehen. Offenbar hatte er sich von der Dame, die vor kurzem noch an seiner Krawatte hing, befreien können. Tony saß immer noch mit Colonel Rhodes an der Bar. Mittlerweile hielt er Pepper im Arm, die scheinbar Mühe hatte ihren Verlobten auf dem Barhocker zu halten. Captain Rogers hatte auch eine Einladung erhalten. Allerdings scheute er derartige Veranstaltungen beinahe so sehr, wie Eve selbst. Natasha wäre gern zur Party gekommen, war aber immer noch in Kiev beschäftigt. Eve hätte sich tatsächlich gefreut, sie wiederzusehen. Beide verstanden sich prächtig miteinander und eine Party mit Natasha Romanov wurde nie langweilig. Was den Rest des Avenger-Clubs betraf: Professor Banner hielt sich von Großstädten grundsätzlich fern und von diesem ominösen Thor - bei dem es sich angeblich tatsächlich um den nordischen Donnergott handelte - hatte sie bis jetzt nur schwer glaubhafte Geschichten gehört. Sie seufzte und sah von dem ausgelassenen Party-Mob zu der großen digitalen Anzeige, die die verbleibende Zeit zum Jahreswechsel herunter zählte. Ein paar Minuten nur noch. Sie drückte eines der Fenster auf und trat nach draußen auf den schmalen gesicherten Steg, der sich über die ganze Front des Obergeschosses erstreckte. In dem Moment fiel ihr auf, dass ein Cocktailkleid um die Jahreszeit nicht gerade die Idealste Art der Bekleidung für draußen darstellte. Ihr Mantel war irgendwo in der Garderobe im Foyer. Ein kräftiger Schluck aus dem Whiskeyglas half kurzzeitig. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die stählerne Brüstung und stützte die Ellenbogen auf. Ein paar in der Stadt konnten es offenbar nicht erwarten und begannen bereits jetzt zu böllern und vereinzelt sauste eine Rakete in die Luft. Ein Kälteschauer durchfuhr sie. Sie nahm einen weiteren Schluck, um die Wärme nicht zu verlieren und lehnte sich nach vorn mit verschränkten Armen aufs Geländer. Die Stadt war bis auf die paar Ungeduldigen wie ausgestorben. Nur im Zentrum auf dem Time Square tummelten sich wie jedes Jahr die Leute und warteten auf das riesige Feuerwerk. Gedanklich ließ sie das Jahr Revue passieren. Sie dachte an die Geburtstage, die Wehrübung in Dartmouth, den Sommer in Maine mit ihren Nichten und ihrem Vater, an die Besuche bei ihrer Großmutter in Deutschland, an die durchgearbeiteten Nächte in Tonys Werkstadt und an den sechzehnten September, der sie irgendwie aus der normalen Bahn geschubst hatte.

"Hier bist du ja." Luke trat durch die Glastür zu ihr hinaus. "Was machst du hier draußen? Es ist kalt."

Sie lachte. "Sagst ausgerechnet du."

"Du holst dir den Tod." Er zog sein Sakko aus und legte es ihr um die Schultern. Eve wollte widersprechen, aber der Stoff war wunderbar warm und weich. Es war eines der maßgeschneiderten Sakkos, die sie gemeinsam gekauft hatten. "Es ist schön hier", bemerkte er, als er sich neben ihr auf dem Geländer abstützte. Sie nippte an ihrem Glas und hielt es ihm anschließend hin. "Willst du?"

"Was ist das?" Er nahm das Glas und roch daran.

"Whisky." Loki nahm einen Schluck und verzog kurz das Gesicht. Es war ein sehr gutes Destillat. Die goldfarbene Flüssigkeit schmeckte herb mit einer blumigen Note, brannte kaum und hatte eine samtige Konsistenz. Er gab ihr das Glas zurück.

"Ich habe etwas für dich.", sagte er plötzlich und griff in seine Hosentasche. „Ich wollte es dir schon früher geben, aber ich hatte keine Gelegenheit." Er hielt ihr eine kleine dunkle Schatulle entgegen.

Eve sah verwirrt auf das Kästchen und dann zu ihm auf. "Loki, wir haben gesagt, wir schenken uns nichts.", sagte sie vorwurfsvoll.

"Ich weiß." Er grinste. "Nun nimm es schon." Egal, was sich in diesem unauffälligen Ding verbarg, das diskrete Emblem des Juweliers, das im Restlicht der Stadt leicht glitzerte verriet: Es war teuer. Verdammt teuer.

Eve schüttelte kaum merklich den Kopf, trat vorsichtig einen Schritt zurück. "Das ist sehr lieb, aber das kann ich nicht annehmen."

Die Stadt begann, den Countdown zu zählen.

Loki runzelte die Stirn und lies den Arm sinken. "Was soll das heißen? Natürlich kannst du." Mit einem langen Schritt hatte er die Distanz zu ihr vernichtet. Er nahm ihre freie Hand und legte die Schatulle hinein. Verharrte; abwartend leicht verwirrt und überrascht von der Situation, die er selbst herbeigeführt hatte und sah sie an.

Jubel brach aus. Es knallte und krachte in der ganzen Stadt. Der Himmel wurde von den hellen bunten Strahlen und Funken erleuchtet. Loki ließ augenblicklich Eves Hand los, wich aber nicht von ihrer Seite. Unermüdlich schossen die Raketen pfeifend in die Luft und verteilten ihre leuchtende Ladung über New York. Menschen kamen in Grüppchen auf die Straße; fielen einander um den Hals, obwohl sie sich nicht kannten, kreischten, jubelten. Keiner der beiden wagte es, etwas zu sagen; aus Angst den Moment zu zerstören, den sie beide so sehr genossen.

Plötzlich wurde es wärmer um ihre Schultern; eine sanfte Berührung an der Wange, kurz unter der Schläfe -ein Kuss. "Happy New Year, Eve."

Es dauerte einen Augenblick bis sie realisiert hatte, was gerade passiert war. Sie berührte geistesabwesend die Stelle am Wangenknochen und drehte sich ungläubig um. Die Glastür fiel mit einem leisen klicken zu.

Entgegen des ersten Impulses ärgerte sie sich nicht über ihn, sondern betrachtete weiter das Feuerwerk, das nicht abebben wollte. Angesichts ihrer albernen Situation musste sie über sich selbst lachen und drehte die kleine Schatulle in der Hand. hier draußen hatte glücklicherweise auch niemand ihren leicht grenzdebilen Gesichtsausdruck bis eben bemerken können. "Happy New Year.", seufzte sie und öffnete das Kästchen. "Heilige Scheiße."

A Night in February

Luke Saulsbury nippte an seiner Kaffeetasse und beobachtete, wie Eve die Dokumente durchblätterte, die er ihr im Rahmen der Morgenlage auf den Tisch gelegt hatte.

Die allmorgendliche Besprechung war entspannter geworden. Von einem Kurzvortrag waren sie dazu übergegangen, die Tagesordnungspunkte gemeinsam in Eves Büro durchzusprechen. Er saß ihr gegenüber entspannt in einem dieser neumodischen Wippsessel und sinnierte, während er sein Gegenüber studierte. Sie hatte die Ohrringe kein einziges Mal getragen. Er hatte mit den Edelsteinen vermutlich doch übertrieben. Womöglich gefielen sie ihr gar nicht. Die falsche Farbe? Er wusste nicht mal, ob sie grün mochte. Und warum, verdammt nochmal, gab es in der Teeküche keinen Vollautomaten, der Cappuccino machte? Der Milchkaffee hing ihm zum Halse raus. Er besah verärgert den hellbraunen Inhalt seiner Tasse.

"Stark-Liner" Eve schnaubte abfällig und riss ihn damit aus den Gedanken. "Was ist damit?" Luke stellte die Tasse weg.

"Das klingt, finde ich, so nach Dickschiff; wie diese Kraft-durch-Freude-Dampfer Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Hoffentlich ist das nicht der endgültige Name." Sie gab ihm den mitgezeichneten Stapel Papier.

"Solange es sich verkauft..." Luke heftete die Blätter zurück in den Ordner. "Was ist eigentlich mit dem Kampf-Jet?"

Eve winkte ab. "Ach hör auf, das Ding wird nie fertig, wenn das so weiter geht. Die ändern ständig die Anforderungen für das Teil." Sie goss sich eine weitere Tasse Tee aus der Kanne auf dem Beistelltisch ein. "Du auch?"

"Hab' Kaffee, Danke."

"Sorry. Jedenfalls“, Sie genoss den ersten Schluck. " Bei der Vorstellung müssen wir die Dinger so in Szene setzen, dass jede Fluggesellschaft zuerst einen haben will und wir dann direkt in Serienproduktion gehen können."

Bei den Dingern handelte es sich nicht, wie der Name erahnen ließ, um einen Ozeanriesen, sondern um einen Überschall-Linienjet. Nach dem Scheitern der Concorde in den Neunzigern war dies der erste Versuch, das Konzept der Personenbeförderung im Überschallbereich wieder aufzugreifen. Nach den gravierenden Unfällen beim französischen Vorgängermodell musste der STARK-Liner  einschlagen, wie eine Bombe. -Im positiven Sinn natürlich. Es war ein gewagtes Projekt angesichts dieser Vorgeschichte, jedoch wurden bei der Konstruktion der Maschine alle Kausalitäten berücksichtigt und die Kinderkrankheiten der Concorde waren ausgemerzt. Seit Silvester hatte Eve  nur noch für die Fertigstellung dieser Maschine gearbeitet und nach knapp zwei Monaten war sie reif, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Luke hatte indes alle anfallenden Arbeiten übernommen.

"Sonst noch etwas?"

Luke klemmte sich den Ordner unter den Arm und griff sich seine Tasse, bevor er aufstand. "Alles andere hatten wir soweit besprochen... Nein, ich denke nicht." Dass er den kalten Milchkaffee hatte trinken wollen, bereute er instantan und verzog das Gesicht. "Das ist ja scheußlich."

Eve lachte. "Das sagst du jedes Mal, wenn du deinen Kaffee zu lange hast stehen lassen." Luke schnitt eine weitere Grimasse und verließ das Büro. Solang sie sich in diesem Raum befanden, duzten sie einander. Außerhalb des Büros nannten sie sich mittlerweile zwar beim Vornamen, siezten sich aber nach wie vor. Der professionelle Umgangston hielt das Arbeitsklima in Ordnung.

 

Das Lämpchen am Telefonapparat blinkte. Sie hatte ihn lautlos gestellt um nicht gestört zu werden drückte aber dennoch auf den Annahmeknopf. "Ja?"

"Äh, Eve?" Es war Luke. "Debby vom Empfang ist dran, sie ist ganz aufgelöst."

"Stell sie durch." Eve runzelte die Stirn. Debby ließ sich doch fast nie aus der Ruhe bringen. Es klickte kurz in der Leitung. "Miss Harrington?" Sie klang tatsächlich etwas aufgeregt.

"Lieber Himmel, Debby, was ist denn?" Eve war in der Tat etwas amüsiert über den Gemütszustand der sonst so stoischen Empfangsdame aus der Lobby.

"Hier ist ein Herr, der behauptet, sie würden ihn erwarten. Ich habe nachgesehen, er hat keinen Termin und außerhalb soll ich niemanden hochlassen, haben sie gesagt und..."

"Ganz ruhig, keine Panik.", unterbrach sie Eve ruhig. "Wer ist denn der penetrante Herr?" Nun war sie wirklich neugierig.

Sie hörte Debby seufzen. "Keine Ahnung, irgendein Luciano oder so..."

"Porca Miseria! Nicht Luciano, Nucci di Milano! Nucci, wie Gucci, nur mit N!"

Wären die Ohren nicht gewesen, hätte Eve in dem Moment wohl im Kreis gegrinst. "Schicken sie ihn hoch."

"Aber..." Debby stockte.

"Ist schon ok. Schicken Sie ihn rauf." Eve drückte auf das Knöpfchen und lehnte sich entspannt in ihrem Schreibtisch zurück. Es dauerte nicht lange, da war das leise Ping des Aufzuges zu vernehmen. Gedanklich zählte sie herunter: Fünf, vier, drei, zwo, eins, die Tür flog schwungvoll auf. "Bon Giorno, Commandante!"

Die Tür flog ebenso schwungvoll zurück in die Angeln, wie sie aufgestoßen wurde. Eve würde ihm den Kopf abreißen. Sie hasste unangekündigten Besuch. Luke hatte nur  das Geräusch schneller Schritte in teuren Schuhen wahrgenommen und im Augenwinkel nur für den Bruchteil einer Sekunde den großen schlanken Herren im dunkelblauen Anzug wahrgenommen, bevor er in Eves Büro gewalzt war. Bis er aufspringen konnte, war die Tür bereits wieder zugeflogen gewesen. Er lauschte in der Bewegung innehaltend. Es war verdächtig ruhig da drin. Plötzlich sprang die Tür erneut auf. Luke sprang zurück in der Erwartung des eben hereingeplatzten Herren im Mental labilen Zustand, aber stattdessen trat eben dieser freundlich auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Ah, Sprezzatura! Bon Giorno, Signore. Alfredo Nucci.“, stellte er sich vor. Er war in etwa so groß wie Luke, hatte eine schlanke Statur und musste um die Fünfzig sein. Sein schulterlanges Haar, das im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden war, hatte eine silbrige Farbe und seine Augen waren erschreckend lebendig und stechend durch das Stahlgrau. Seine Haut wirkte immer noch jung und war leicht gebräunt. Des Weiteren waren Schuhe und Anzug eindeutig auf Maß und Handgemacht. Als er lächelte ließ er strahlendweiße Zähne blitzen.

„Luke Saulsbury.“, sagte Loki knapp.

„Sie trinken Cappuccino?“, fragte er unvermittelt.

Luke runzelte verwirrt die Stirn. „Ja?“

„Brava.“ Er wand sich durch die immer noch offen stehende Tür an Eve. „Cara, mia, ich bin gleich zurück.“ Ohne ein weiteres Wort verschwand er eleganten Schrittes in Richtung Teeküche. Dort gab es allerdings keinen Cappuccino.

Ungläubig ging Luke in Eves Büro und schloss die Tür hinter sich. Auf dem Schreibtisch stand ein riesiger Strauß bunter Feldblumen. „Wer zum Henker ist das?“

„Signore Alfredo Nucci di Milano. Und der macht uns jetzt Kaffee.“

Luke runzelte die Stirn. „Du magst überhaupt keinen Kaffee.“

„Diesen schon. Ich hab‘  keine Ahnung, wie er das macht, aber sein Kaffee schmeckt göttlich.“

Wieder hörte man Alfredo Nucci fluchen. Diesmal in der Teeküche. „Porca Puttana!“

„Und was meinte er mit Spress… Spritz…“

„Sprezzatura.“

„Ja, was heißt das?“

„Das war ein Kompliment.“

Alfredo kam zurück ins Büro gewalzt. „Wo ist denn bei euch der Kaffee?“

Eve zuckte entschuldigend die Achseln. „Das war er gerade.“

Signore Nucci schnaubte abfällig. „Spühlbrühe. Entschuldigt mich bitte.“

Es dauerte keine Viertelstunde, bis Alfredo wieder mit einem eleganten Köfferchen bewaffnet auftauchte und in der Pantry des Büros den versprochenen Cappuccino gezaubert hatte. Eve sollte Recht behalten, ein herrlicher Genuss.

„Ich nehme an, Signore Stark nimmt nicht an der Charity-Gala morgen Abend teil?“ Alfredo rührte in der kleinen Tasse. Er hatte sich mit einem doppelten Espresso begnügt.

„Welche Charity-Gala?“, fragte Eve überrascht und sah Luke fragend an.

Der zuckte gleichgültig mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der bauchigen Cappuccinotasse. „Die, von der ich dir seit einem Monat regelmäßig Erinnerungen von Tony Stark weiterleite.“  Er stellte die Tasse zurück auf ihr Gegenstück und entfernte mit der Zungenspitze den Milchschaumrest von seiner Oberlippe.

Mit zusammengekniffenen Augen quittierte Eve die bekannte Cappuccino-Problematik.

„Du hast es verdrängt, gib’s zu.“ Alfredo lächelte amüsiert. Er wusste genau, wie gern sich Eve vor derartigen Veranstaltungen drückte.

„Ich geh‘ da nicht hin.“, sagte sie dann und versuchte, sich hinter ihrer Tasse zu verstecken.

Luke war völlig vom Kaffee okkupiert und schaltete sich aus dem Gespräch aus.

„Aber natürlich wirst du da hingehen, Cara mia.“ Der selbstsichere Ausdruck auf den Zügen des Italieners war beunruhigend. Dennoch versuchte Eve weiter, sich rauszureden. „Ich kann gar nicht.“

Alfredo hob auffordernd die Brauen.

„Ich bin nicht im Besitz der passenden Garderobe.“ Sie hielt ihm die leere Tasse hin. Er stand mit demselben selbstsicheren Gesichtsausdruck auf und machte sich daran, eine zweite Runde Cappuccino zuzubereiten. „Bist du dir da sicher?“, sagte er schließlich mit dem Rücken zu ihnen gewandt. Eve ignorierte die Frage und rieb sich angesichts einer schrecklichen Vorahnung die Nasenwurzel. Alfredo indes nahm Luke seine leere Tasse ab und verabschiedete sich, nachdem er den Cappuccino serviert hatte. „Signore Saulsbury, ich freue mich, sie bald wieder zu sehen. Cara mia.“ Er nahm galant Eves Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. „Wir sehen uns später.“ Seit die Sprache auf Eves Abendgarderobe gekommen war, hatte sie versucht, ihn mit Blicken aufzuspießen. Alfredo hatte sich davon erstaunlich unbeeindruckt gezeigt und schloss nach seiner Verabschiedung einfach die Tür hinter sich.

„Stronzo!“, brüllte Eve durch die Tür hindurch.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Stupida oca!“

 

"Und wie hast du diesen Nucci kennengelernt?" Luke stellte die Tasse ab und wunderte sich nach wie vor über das eben erfahrene Kaffee-Phänomen.

Eve stützte das Kinn auf die verschränkten Hände und überlegte kurz. "Das...ist ewig her. Da war ich gerade mit meiner ersten Einsatzvorbereitung fertig." Sie sah gedankenverloren zu dem Voluminösen Blumenstrauß und fragte sich kurz, wo Alfredo Anfang Februar die vielen Feldblumen herbekommen hatte. Wer verschenkte in New York schon Feldblumen, wenn er Rosen und Lilien bekommen konnte. „Das muss schon zehn Jahre her sein.“ Loki schenkte ihr einen neugierigen Blick. „Wir lagen im gleichen Hafen. Also meine Einheit und sein… naja, nennen wir es mal Boot.“ Anhand des Gesichtsausdrucks seines Gegenübers ließ sich die Preisklasse des Bootes erahnen. „Er lag mit ‘nem Motorschaden an der Pier. Ich hab ihn repariert.“ Sie leerte die Cappuccinotasse.

„Und dann?“

„Eve seufzte. Dann hatte ich ein wundervolles Wochenende.“

Loki hielt in der Bewegung inne und besah Eve mit einem Skeptischen Blick über den Tassenrand hinweg. „Soll das heißen, du… Ich meine ihr beide seid…?“

„Freunde.“, beendete sie süffisant lächelnd seinen Satz und die im Raum stehende Vermutung.
 

Als Eve aus dem Aufzug trat kam ihr der einladende Geruch eines frisch gekochten Abendessens entgegen. Die Nachbarn legten sich wohl recht ins Zeug. Sie seufzte und kramte ihren Schlüssel aus der Manteltasche. Ihr Kühlschrank war so gut wie leer, das wusste sie. Seit Luke Ausgezogen war, hatte sich ihr Essverhalten auf die alten Gewohnheiten eines Studenten zurückentwickelt, weil niemand mehr einkaufte und aus Langeweile opulente Gerichte auf den Tisch zauberte.

Exakt die eben beschriebene Person hatte sich offenbar unangemeldet Zugang zu Eves Wohnung verschafft und ging dort seiner perversen Neigung des Kochens aus Langeweile nach. Der Geruch kam, wie sie feststellte -nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte- aus ihrer eigenen Wohnung. Kurz dachte sie an Loki. Sie hatte ihn heute etwas früher nach Hause geschickt, doch der hatte schon lange keinen Schlüssel mehr. Vorsichtig schloss sie die Tür und schlich den Flur entlang. Als sie eine melodiöse Stimme ein italienisches Volkslied trällern hörte entspannte sie sich auf der Stelle. „Du hättest mir ‘ne Nachricht schreiben können.“ Sagte sie vorwurfsvoll.

„Wollte ich.“ Alfredo Nucci wendete den Inhalt einer Pfanne mit einer schwungvollen Bewegung aus dem Handgelenk. „Aber dann musste ich feststellen, dass quasi nichts zu essen im Haus ist und bis sofort losgefahren.“

Eve seufzte. „Also was gibt’s?“ Sie trat an die Anrichte und wollte nachsehen, was Alfredo gezaubert hatte, wurde aber von einer raschen Geste abgewehrt. „No, no, no! Du setzt dich hin und kümmerst Dich um den Wein.“ Dieser stand bereits auf dem Tisch: Toscanischer Brunello. Eve entledigte sich ihres Mantels und holte Weingläser und den Dekanter aus dem Schrank. „Ach übrigens“, begann Alfredo während Eve den Flascheninhalt in den Dekanter umfüllte. „Oben liegt etwas mit ganz lieben grüßen von Francesca.“ Eve hätte am liebsten den restlichen Wein aus der Flasche hinunter gestürzt. Francesca Giulia Nucci di Milano, Alfredos Tochter, war in die Modebranche eingestiegen und bereits jetzt mit neunzehn eine Ikone der italienischen Modeschöpfung. „Es wäre gut, wenn du es vor dem Essen anprobierst.“ Er zwinkerte ihr vielsagend zu und öffnete den Ofen worauf ein betörender Duft von Italienischen Gewürzen den Rum flutete.

Ohne ein weiteres Wort sprang Eve die Wendeltreppe nach oben. Im Schlafzimmer auf dem Bett lag eine große schwarze Schachtel mit dem diskreten Logo Francesca’ s Lable’s. Auf dem Seidenpapier, in das der Inhalt geschlagen war lag ein Brief auf Italienisch in schwungvoller Handschrift.

 

Ciao, Eve!

Papa sagte, du bräuchtest etwas für die Charity-Gala.

Die Größe musste Passen. Es ist aus meiner neuen Kollektion, hoffe es gefällt Dir!

Con amore

Francesca

 

Eve Lächelte. Sie Hatte Francesca kennengelernt, da hatte sie noch aus Stoffresten Kleider für ihre Puppen genäht. Sehr hübsche Kleider. Sie löste vorsichtig den Aufkleber vom Seidenpapier und zog das Kleid aus der Schachtel. Es war ein eleganter langer schulterfreier Schnitt aus Chiffon und Seide in Nachtschwarz. Eve trat vor den Spiegel und hielt es an sich; dann schüttelte sie den Kopf und warf das Kleid zurück aufs Bett.

 

„Mama, mia! Bella!“, rief Alfredo, als er sie am Treppenabsatz stehen sah. „Komm herunter lass Dich ansehen.“ Eve raffte das Kleid und stieg vorsichtig die Treppe hinunter um nicht irgendwo mit dem zarten Chiffon hängenzubleiben. Unten angekommen ließ sie den Stoff fallen, der ohne Schuhe auf dem Boden kleine Falten warf. Alfredo legte die Hand ans Kinn und musterte sie unter einem skeptischen blick. Das Kleid war absolut schmucklos und schmeichelte ihrer Figur; das hohe Dekolletee saß gerade geschnitten keine Handbreit unter dem Brustbein. Der gerade Schnitt verlief in kleine Ärmel die wie ein Breites Band um die Oberarme liefen. Nach unten fiel es in eine leichte A-Linie ab. „Hmmm. Etwas fehlt noch.“ Grinsend nahm er Eves Hand und führte sie in eine lange Drehung wie beim Tanz. „Dreh dich, Püppchen, dreh dich.“

„Hör auf! Mir wird schwindlig!“ Eve begann zu lachen. Er fing sie geschickt und setzte sie wieder auf die Füße. „Viel besser so.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Und jetzt zieh Dich wieder um, sonst wird das Risotto kalt.“

 

Das Abendessen zog sich in südeuropäischer Manier bis in die Späten Abendstunden. Anders wären die drei opulenten Gänge nicht zu schaffen gewesen.

Nachdem Alfredo die zweite Flasche geöffnet hatte, rief er plötzlich „Dolci!“ und holte zwei kleine Teller mit einem Sturz von Panna Cotta aus dem Kühlschrank. Der etwas Wabbelige Zylinder stand auf einem Spiegel aus Zitronen- und Johannisbeersauce. Der Geschmack der sauren Früchte mit der weichen Süße der Panna Cotta rief Erinnerungen an die vielen schönen italienischen Wochenenden wach. „Wer ist denn nun der Glückliche, dessen Sakko du entwendet hast?“, fragte Alfredo plötzlich völlig unverblümt. Eve hätte sich beinahe am Rest der Zitronensauce verschluckt. „Bitte?“

„Über deinem Schreibtischstuhl hing ein maßgeschneidertes Sakko, schwarz, teuer, nicht ganz meine Größe. Von dem eindeutigen Geruch nach Herrenparfüme ganz zu schweigen. Zu einem Anderen Zeitpunkt in einem anderen Leben wäre Eve in diesem Moment knallrot angelaufen. Doch dem war nicht so. Sie sah Alfredo überrascht an und ließ den Löffel baumeln. „Verdammt! Das hab‘ ich völlig vergessen.“, log sie und kratzte den letzten Rest vom Tellerchen.

„Du magst ihn, nicht wahr?“ Es war beinahe unmöglich Alfredo Nucci zu Täuschen. Diese Eugenschaft schätzte sie sehr bei ihm, verfluchte sie aber auch in manchen Situationen. Diese war eine davon. „Wir arbeiten zusammen, was soll der Mist?“ Ihr gegenüber kniff die Augen zusammen und schwieg eine Weile. Schließlich schenkte er Wein nach. „Perdono, cara mia. Ich war zu voreilig; genug davon.“ Er hob das Glas. „Auf einen schönen Abend.“ Er lächelte als sich Eves Gesichtszüge entspannten und sie mit ihm anstieß. Schließlich bestand er darauf, abzuräumen und die Küche aufzuklaren, während Eve sich nach oben zurückzog.

 

Bereits Bettfertig sah sie noch ein paar Papiere durch, die für das morgige Briefing relevant sein sollten. Schließlich hörte sie gedämpft die Wohnungstür. Als sie nachsah, war Alfredo verschwunden. Wie eine gute Fee, die ihr zur Freude ein schönes Abendessen mit Gesellschaft gezaubert hatte. Sie seufzte und schloss die Tür am Treppenabsatz. Die Papiere packte sie im Büro zurück in ihre Aktentasche. Über der Stuhllehne hing Loki’s Sakko. Innerlich fragte sie sich, warum sie es immer noch hatte. Sie hob es hoch, fuhr mit dem Daumen über den feinen Stoff. Fast zwei Monate war es her. Er hatte es nicht zurückverlangt. Sie drückte das Kleidungsstück an sich und roch verträumt am Kragen. Plötzlich war es wieder da. Dasselbe Gefühl, das sie in der Silvesternacht hatte. Wärme. Nähe. Gedankenverloren berührte sie die Stelle am Wangenknochen kurz unter der Schläfe und schloss die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, empfand sie etwas, das sie nicht recht zu deuten wusste. War es Selbstironie, Belustigung oder Bitterkeit; sie wusste es nicht. Es tat weh. Achtlos flog das teure Sakko zurück auf den Stuhl. Noch lange lag sie wach und starrte an die Wand. Alfredo hatte Recht gehabt; mehr gewusst - erkannt- als sie selbst. Sie mochte Loki. Sehr sogar. Aber es fühlte sich falsch an. I don’t fuck my own business, dachte sie. Aber das war es nicht, was ihr das drückende Gefühl in der Brust versetzte. Es war etwas anderes, das sie lange vergraben hatte irgendwo weit, weit fort, wo es bleiben und nicht wiederkommen sollte. Doch das tat es.

 

Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert und versuchte vergeblich, die dunklen Ringe unter den Augen abzudecken. Das Ergebnis war horrorfilmtauglich. Im Büro angekommen klebte ein kleiner Zettel an der Teekanne auf ihrem Schreibtisch; Luke’s Handschrift.

Guten Morgen!

Musste dringend weg.

Keine Ahnung, wann ich wieder da bin.

Der Plan liegt bei Dir im Fach.

 

Grüße

Loki

Eve zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Dringend weg, soso. Egal, die Arbeit für heute lag bereits säuberlich sortiert auf ihrem Schreibtisch und frisch gebrühter Tee stand auf dem Tisch.

 

Der Tag ging zur Neige ohne besondere Vorkommnisse. Der Stark-Liner war bis zur Fertigstellung der Vorführmodelle ein Selbstläufer und bedurfte nur noch ab und an einen Schubser in die richtige Richtung. Das Telefon klingelte.

„Chief Engineering, Stark-Industries?“

„Ciao, Eve!“

„Alfredo! Was gibt’s?“

„Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich Dich um 19:00Uhr abhole.“

Ich kann wirklich nicht, ich sehe aus, wie Scheiße. –wollte sie sagen. Doch dann seufzte sie resigniert. „Was muss ich mitnehmen?“

„Deine Einladungen und das Lächeln von gestern Abend.“

„Schleimer.“

„Ich liebe Dich auch!“, trällerte er und legte auf.

Eve schnaubte amüsiert. Diesem alten Vollidioten konnte sie einfach nicht böse sein. Wo Luke wohl abgeblieben war? Den ganzen Tag nicht eine Nachricht, das war nicht seine Art. Andererseits war es gut, dass er nicht nur für den Job lebte und endlich einmal unter Leute kam. Soll er ruhig unterwegs sein, dachte sie.

 

Das, was die Rückbank des Maserati in dem Alfredo sie abgeholt hatte darstellte, hatten viele Menschen nicht einmal im Wohnzimmer als Couch stehen. Cremefarbenes Echtleder mit weißen Ziernähten und mit dem Maserati-Dreizack bestickten Kopfstützen. Die Fahrgäste der Limousine trennte eine getönte Scheibe von den Frontsitzen und dem Fahrer. In der Mittelkonsole zwischen den Rücksitzen befand sich eine Halterung für Champagner und die passenden Gläser. Nobel geht die Welt zu Grunde. Eve stürzte das dritte Glas des Schaumweins hinunter. Alfredo nahm es ihr sanft ab und verschränkte seine Finger mit ihren. „Du bist nervös, Cara mia.“

Es war eine vergleichsweise weite Strecke zum Veranstaltungsort: Ein Landgut außerhalb der Stadt. Von der Straße aus konnte man bereits die Lichter hinter der niedrigen Hecke erkennen.

„Können wir nicht wieder nach Hause fahren?“

„Ganz ruhig. Du wirst dich amüsieren.“ Ein liebevoller Kuss auf den Handrücken. Der Wagen bog in die bekieste Einfahrt ein.

Eve wand sich vom Fenster ab und sah ihm direkt in die Stechend grauen Augen. Man musste kein geübter Beobachter sein, um zu erkennen, dass sie sich unwohl fühlte. Das Fahrzeug hielt vor dem überdachten hell erleuchteten Eingang. „Was macht Dich so sicher?“

Alfredo lächelte. „Vertrau mir.“ Die Wagentür wurde geöffnet. Eve ergriff die weiß behandschuhte Hand, die ihr dargereicht wurde, um ihr aus dem Wagen zu helfen. Lange schlanke Finger schlossen sich um ihren Handrücken. Als sie aufsah blieb für einen Herzschlag die Zeit stehen bis sie realisiert hatte, wer plötzlich vor ihr stand und ihr aus dem Wagen geholfen hatte.

„Guten Abend, Eve.“ Loki lächelte und verbeugte sich leicht, bevor er ihre Hand -die er immer noch hielt- diskret küsste. Was zur Hölle machst du hier, wollte sie ihn fragen, verwarf diesen Impuls aber sofort angesichts der aufkommenden Freude. „Guten Abend.“, sagte sie schließlich. Über dem Mantel trug er klassisch einen weißen Schal der zum Zweck der Zierde neben dem Revers herabhing. Das rabenschwarze Haar sauber zurückgestrichen. Diese Frisur brachte seine Wangenknochen und Kinnlinie unglaublich gut zur Geltung. „Ich habe ihm meine Eintrittskarte gegeben in der Hoffnung, dass du mir deine zweite gibst?“ Alfredo Zwinkerte. Nun wusste Eve auch, wo Loki gestern den ganzen Tag abgeblieben war. Der Italiener hatte ihren Assistenten gekidnappt, eingekleidet und vermutlich mit Etikette terrorisiert. Fast hätte es ihr leidgetan. „Los gehen wir, bevor wir hier draußen festfrieren.“ Signore Nucci schob die beiden hinein.

An der Garderobe herrschte reger Andrang, da sich dort nur zwei Damen befanden, um die Kleidungsstücke anzunehmen. Als Loki sich umdrehte, um Eve den Umhang abzunehmen, waren weder sie noch Alfredo mehr zu sehen. Also gab er seinen Mantel ab und machte sich auf die Suche. Weit konnten sie ja nicht gekommen sein.

 

„Hab‘ ich’s dir nicht gesagt?“ fragte Alfredo amüsiert, worauf Eve ihm spielerisch eins mit dem Ellenbogen in die Seite versetzte. Er hatte sie eben unauffällig bei Seite genommen. Und seinen Mantel mit ihrem Umhang abgegeben. Er legte einen Arm um ihre Taille und führte sie ins Foyer wo eine breite Marmortreppe mit dunkelrotem Teppich nach oben auf eine Galerie führte.  „Tu mir den Gefallen und genieß‘ den Abend einfach, ja?“ Eve seufzte resigniert und musste lächeln. „Fein.“

 

Loki hatte Alfredos silbernen Haarschopf in der Menge ausmachen können und war ihm gefolgt. Vor der gewaltigen Treppe lichtete sich die Masse aus Smokings und Abendkleidern ein wenig. Rechts neben dem Treppenabsatz stand Alfredo Nucci; eine eindrucksvolle Gestalt, so elegant im Smoking mit dem individuellen marineblauen Kummerbund nebst passender Seidenflige. Sogar der zierstreifen seitlich an der Hose schimmerte in der gleichen markanten Farbe. Er lächelte, erzählte und gestikulierte auf typisch italienische weise im Gespräch mit einer eleganten jungen Frau. Sie trug ein schlichtes schwarzes Abendkleid, das den Blich auf die Schultern frei ließ. Das dunkle lockige Haar war locker am Hinterkopf zusammengesteckt und einzelne Strähnen wanden sich aus dem Knoten. In der Hand hielt sie eine kleine Tasche gerade so groß, wie ein Briefumschlag. Sie trug keinen Schmuck. Bei einer Charity schmückte man sich nicht übermäßig, das wusste er. Aber gar kein Schmuck war beinahe auffallend. Auf einmal machte etwas klick und er schämte sich fast. Dort bei Alfredo stand Eve. Und sie trug doch etwas. An ihren Ohren funkelten kleine grüne Steine in Gold gefasst.

Plötzlich wand sie sich um. Zunächst schweifte ihr Blick ziellos durch den Raum; als sie ihn in der Menge ausmachte Erkennen dann lächelte sie, freute sich, ihn zu sehen.

 

Der Smoking, den Loki trug, war elegant geschnitten und ließ sogar noch etwas vom seidig schwarz schimmernden Kummerbund sehen. Seitlich an der Hose schimmerte der klassisch schwarze Zierstreifen und die polierten Lackschuhe zogen den Blick auf sich. Er sah zum Anbeißen aus.

„Es geht bald los, wir sollten nach oben gehen.“, schlug Alfredo vor, als Loki zu ihnen aufgeschlossen hatte und machte eine einladende Geste. Loki bot Eve wortlos seinen Arm an. Sie zögerte, hakte sich schließlich bei ihm unter, als sie die Treppen hinauf stiegen. Oben  an den Säulen neben dem Treppenabsatz standen Kellner mit Tabletts voller Champagnerflöten. Alfredo reichte zunächst dem Paar, bediente sich dann selbst. Die Galerie ließ hinunter in einen Ballsaal blicken. Seitlich gab es Logen, die –mit Cafétischen und –stühlen bestückt- zum Sitzen einluden. Einige der Gäste hatten bereits Platz genommen. An der Rückwand des Saales war eine große Leinwand angebracht worden, auf die der Titel der Veranstaltung und der Name des Gastgebers geworfen wurde; davor auf einem Podest ein Rednerpult. Manche Gäste verblieben auf der Galerie an einem der Stehtische. So auch Loki, Eve und Alfredo. Es wurde ruhiger im Saal. Der Redner, eine Frau mittleren Alters in einem dunkelblauen Hosenanzug trat hinter der Leinwand hervor und bekam höflichen Applaus seitens der Gäste. Während sie ihre Unterlagen hinter dem Pult sortierte und das Mikrophon auf die passende Höhe einstellte, trat Stille ein, die nur von gelegentlichem Stühlerücken, Husten und dem rascheln von Kleidung unterbrochen wurde. Plötzlich hatte sie ein Deja Vu. Loki hatte sie an der Schulter etwas näher zu sich gezogen. Sie spürte seine Nähe, nahm seinen Geruch wahr. Es war alles wie an Silvester, nur die Berührung blieb aus. „Ich hatte schon Angst, sie würden dir nicht gefallen“, flüsterte er. Bis Eve in der Situation begriff, dass er die Ohrstecker meinte und etwas erwidern wollte, begann die Dame in Blau mit ihrer Begrüßungsrede.

„Guten Abend Ladies und Gentlemen.“, begrüßte sie die Gäste und bedankte sich zunächst für das zahlreiche Erscheinen, bevor sie den Anlass der Spendengala zu erläutern begann. Die Gäste lauschten mehr oder minder Aufmerksam und nippten an den Champagnerflöten. Eve hatte bis jetzt nichts von dem edlen Getränk zu sich genommen. Loki beobachtete sie mit einiger Verwunderung. Seine sonst so stoische Eve wirkte angespannt und lies den Blick immer wieder im Raum hin und her schweifen, wie ein gefangenes Tier, das nach einem Loch im Käfig suchte, dabei aber nicht auffallen wollte. Lag es an ihm? Er fragte sich kurz, ob er sie in Verlegenheit gebracht haben könnte, verwarf aber diese Vermutung sofort. So zart besaitet war sie nicht und wäre er ihr zu nahe gekommen, hätte sie ihn selbiges spüren lassen-klar und deutlich. Es musste etwas anderes sein. Eve mied grundsätzlich große Menschenansammlungen und begab sich nie ohne Vorbereitung in ein unbekanntes Gelände. Wie auch immer sich dieses Gelände zeigen sollte. Es gab so viele Eigenarten an dieser Frau die er nicht verstand –noch nicht. Es lag in seiner Absicht jede einzelne zu ergründen.

Eves Rückgrat fühlte sich an, wie eine gespannte Stahlfeder und Lokis nähe machte es nicht besser, da sich nun auch noch ein undefinierbares Kribbeln zwischen ihre Schulterblätter gesetzt hatte.

Als Loki plötzlich ihre Hand nahm und mit dem Daumen beruhigend über den Handrücken streichelte, stellten sich ihre Nackenhärchen auf. Sie hatte Angst, seinem Blick, den sie von der Seite Spürte, zu begegnen. Also sah sie stur hinunter auf die Bilder, die nacheinander hinter der Rednerin an die Leinwand geworfen wurden, drückte aber kurz seine Hand als Zeichen des stummen Dankes.

Alfredo hielt sich an diesem Abend sehr zurück. Der alte Kuppler, dachte sie. Aber Sie war ihm nicht böse.

…und wünsche ihnen allen einen angenehmen Abend.“ Begleitet von dem Anstand gebietenden Applaus, räumte sie das Feld, worauf eine kleine Kapelle bestehend aus erster und Zweiter Geige, Konzertflügel, Kontrabass und Saxophon das Podest einnahm und sich mit umfangreichem Equipment auf einen langen Abend einstellten. Das Rednerpult wurde von zwei Kellnern entfernt. Sofort begann wieder das allgemeine Gemurmel und das helle Klirren von Glas das kurz darauf von ruhiger Musik untermalt wurde. Alfredo beugte sich zu Eve und hauchte einen Kuss auf ihren Scheitel, bevor er ihr etwas ins Ohr flüsterte. „Es ist soweit, Cara mia.“

Während Loki sich noch wunderte, wie Eve Harrington und Alfredo Nucci wirklich zueinander standen, dass er so unverblümt Zärtlichkeiten mit ihr austauschen konnte, stürzte Eve den Inhalt der Champagnerflöte hinunter und verließ den Tisch. „Entschuldigt mich.“

Ihr Ziel war offensichtlich ein nicht besonders großer dicklicher Mann mit ansetzendem Haarausfall und schmaler Brille auf der Nase. Er war wohl der Einzige, der sich nicht an den obligatorischen Dresscode gehalten hatte. Er trug ein Blütenweißes Hemd dazu eine Kombination aus Marineblauem Jackett und bordeauxroter Stoffhose elegant mit einem seidenen Einstecktuch in selbigen Farben veredelt. „Der Gastgeber.“, erklärte Signore Nucci, als er den Fragenden Blick bemerkte. „Und einer der äußerst generösen Firmensponsoren“, fügte er außerdem hinzu. Loki nippte an seinem Champagner und beobachtete aufmerksam. Für einen außenstehenden hätte Eve wohl wie die Gelassenheit selbst gewirkt. Als der Herr unter einem lebhaften Gespräch mit einem Seitenblick Eve bemerkte, hellte sich seine Miene augenblicklich auf. Er unterbrach das Gespräch und breitete lachend die Arme aus. „Miss Harrington!“; rief er. „Wie schön sie endlich wieder zu sehen!“ Küsschen links, Küsschen rechts. Eve lächelte strahlend. Er war unsicher, ob sie sich nicht tatsächlich freute, den Herren zu sehen. „Wir haben viel zu besprechen, junge Dame.“, tadelte er scherzhaft und geleitete sie galant über die Galerie die Treppe hinunter, während sie sich angeregt unterhielten.

Loki seufzte und sah in die leere Champagnerflöte, die er in der Hand hielt. Er wusste einfach nicht, was er falsch machte oder –besser formuliert- was er nicht richtig machte. Ziellos ließ er den Blick schweifen und bemerkte eine Frau, Oder viel mehr was von ihr übrig war nach zahllosen SchönheitsOPs unter einer Spachtelschicht Makeup. Genannte Dame erwiederte seinen Blick tirekt, schien aber nicht die Abfälligkeit in seinem zu bemerken. Ihr Kleid war etwas zu eng und schimmerte in dunklem Violett. Des weiteren trug sie für diesen Anlass eindeutig zu viel Schmuck. Wie konnte man nur so würdelos dem Alter begegnen.  Er wandte sich ab, sah zu Alfredo, der ihn durchdringend ansah. „Herzlichen Glückwunsch, Luke“, sagte er trocken. „Die reichste Frau im Saal hat ein auge auf Dich geworfen.“ Loki sah ihn erschrocken an. „Ich? Sie hat wohl viel mehr dich auserkoren.“ Alfredo Lächelte kopfschüttelnd. „Ich falle schon seit zwanzig Jahren nicht mehr in ihr Beuteschema.“ Loki schluckte. „Und woher weißt du das?“ Sein Gegenüber seufzte Resigniert. „Du bist ja schlimmer als Eve, was die Kenntnis über die sogenannte High Society betrifft.“ Er Nippte an dem Champagner. „Das ist Donnatella Squiláchè. Verflucht reiche Witwe einer Hotelgröße. Glücklicherweise hat sie sich in den Kopf gesetzt, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen. Eventuell bremst das ihre…nun ja.“ Er leerte das Glas unter einem vielsagenden Blick und nahm von einem vorbeilaufenden Kellner mit Tablett zwei weitere Gläser. „Das wirst du brauchen.“ Als Loki unauffällig in eine undefinierte Richtung sah, um das Konstrukt aus dem Augenwinkel beobachten zu können, musste er feststellen, dass Signora Squiláchè sich auf dem Direkten Weg zu ihrem Tisch befand. „Buona Sera, Signore Nucci!“, begrüßte sie ihn ausschweifend und streckte aufdringlich die Hand nach vorne. Alfredo verzog keine Miene, deutete den Handkuss jedoch nur an. „Donnatella, darf ich vorstellen, Luke Saulsbury; Cheef Engeneering department Stark Industries.“ Loki nickte höflich. „Es ist mir eine Freude, sie kennenzulernen, Mister Saulsbury.“, flötete sie und erwartete auch von ihm die entsprechende Begrüßung, was Loki entschieden widerstrebte. Mit einiger Belustigung beobachtete Alfredo den Gesichtsausdruck auf dem botoxgeschwollenen Gesicht, als Luke stumpf ihre Hand ergriff und kurz schüttelte. „Die Freude liegt ganz meinerseits“, log er mit einem zauberhaften Lächeln. Sie verzieh ihm die Unhöflichkeit augenblicklich und schob aus dem Nichts ein Junges Mädchen an den Tisch. „Darf ich bekannt machen, die Herren? Meine Tochter Mariella.“ Mariella Squiláchè entsprach dem Ideal einer Landschönheit. Das rabenschwarze Haar zu einer Mädchenhaften Frisur geflochten und rehbraunen Augen unter langen schwarzen Wimpern und einer Stupsnase. Sie trug ein leichtes Trägerkleid in Apricot Er schätzte sie auf in etwa siebzehn, vielleicht achtzehn. „Buona Sera“, sagte sie schüchtern, worauf sie sich ungeschickt verbesserte: „Guten Abend.“ Alfredo entschloss sich, dem Mädchen -offensichtlich vom Verhalten der Mutter peinlich berührt- den Abend etwas zu erleichtern indem er sich galant verbeugte und sie mit einem echten Handkuss versah. „Buona Sera, Signorina.“ In der Hoffnung, Eve irgendwo zu finden sah er über die Marmorbrüstung hinunter, konnte aber nirgends weder Eve noch den Gastgeber der Gala ausmachen. Die Kapelle hatte inzwischen begonnen, tanzbare Musikstücke zu spielen. Allerdings natürlich nur aus dem Standard-Repertoire allerdings ließen sich bis jetzt nur wenige Paare zu dem vergnügen hinreißen und nutzten das freie Parkett vor dem Podest als Tanzfläche.

„Wollen wir hinunter gehen?“ Alfredo dirigierte die Gesellschaft über die Länge der Galerie hinunter in den Saal, wo sie sich an eines der Tischchen setzten. Die Konversation war unglaublich öde. Dennoch hatte Alfredo Luke beiläufig daran erinnert, dass er hier eine repräsentative Aufgabe innehatte. Repräsentativ für Stark-Industries und repräsentativ für Eve. Ein Affront zu solch einem Anlass wäre tödlich für das Image einer Firma. Des weiteren fand sich Presse unter den Gästen und eine Handvoll Photographen. Für eben jene posierte Donnatella Squiláchè ununterbrochen, obwohl die Kameras sich nicht im Geringsten für sie interessierten.

Die Zeit verging, der Champagner floss in Strömen, die Stimmung wurde ausgelassener, Gespräche und Musik lauter und immer noch keine Spur von Eve.

Er musste hier weg. Er verstand voll und ganz warum Eve solche Veranstaltungen hasste: er verstand allerdings auch, warum sie nötig waren: Show und Prestige schwimmend wie Oliven in einem Martiniglas gefüllt mit bittersüßer Dekadenz. Das hohle Gerede von signora Donnatella und ebenfalls ihre Flirtversuche demonstrativ ignorierend bemerkte er, dass Mariella sich bereits im Endkampf mit der Müdigkeit befand. Es ärgerte ihn, wie diese Frau ihre Tochter als Vorwand benutzte um mit Herrschaften ins Gespräch zu kommen, die sie sonst nie eines Blickes gewürdigt hätten. Schroffer als erwartet erinnerte Loki sein überschminktes Gegenüber an ihre mütterlichen Pflichten, und dass es doch wohl besser sei, dem Mädchen nach diesem anstrengenden Abend etwas Ruhe zu vergönnen.

Donnatella schnaubte empört. Zu seiner Verwunderung bestätigte Alfredo seine Aussage; höflich und beschwichtigend. Die Signora verabschiedete sich und zog das Mädchen hinter sich her, verschwand in der Menge.

„Endlich ist sie weg.“ Loki stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf und rieb sich die Stirn. „Einen Moment länger, und ich hätte ihr den Hals umgedreht.“ Plötzlich lachte Alfredo; laut und herzlich.

„Was ist?“

Der Italiener lächelte nur wieder sein undurchschaubares, wissendes Lächeln und Loki wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. „Wo steckt Eve?“, fragte er dann.

Alfredo sah sich um, machte eine Raumumspannende Geste. „Sagen sie es mir, Signore Saulbury. Ich freue mich auf ihre Deduktion.“

Einer der Kellner brachte auf einen Wink hin zwei weitere Gläser Champagner und nahm die leeren glasflöten wieder mit sich. Loki trank, musterte die Menge einen Augenblick und deduzierte.

Alfredo hatte ihm zu jedem Gesicht einen Namen und den Hintergrund der Personen nennen können. Im Moment befanden sich nur noch etwa dreiviertel der Gäste im Saal und auf der Galerie. Diese drei viertel bestanden aus einem Anteil an C-Prominenz und Würdenträgern, der Rest waren Personen, die Alfredo nicht weiter gewürdigt hatte. Die Interessanten Personen: einige wenige Politiker, Industriegrößen, und hohe Adelsvertreter waren schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu sehen. „Ein innerer Kreis.“, stellte er trocken fest. Die Spendengala war nur eine hervorragende Tarnung für ein Treffen in einem bestimmten Kreis; und Eve gehörte zu ihnen.

Alfredo nickte, lächelte wieder, hob sein Glas und trank.

Jemand klatschte in die Hände und bat um Ruhe. Die Menge beruhigte sich, die Musik verklang. Als Loki und Alfredo aufstanden, sahen sie den Gastgeber –der nach wie vor seinem eigenen Dresscode nicht folgte- in der Mitte des Saales stehen mit einem Champagnerglas in der Hand. „Ladies und Gentlemen“, begann er fröhlich und mit lauter Stimme, „Nun ist es an der Zeit, zu tun, warum wir hier sind. Die Checks dürfen dort vorn“, er wies die Richtung, „abgegeben werden. In der Hoffnung, eine große Summe für die humanitäre Hilfe zu sammeln, wünsche ich uns allen einen wundervollen Abend. Cheers!“ Die Menge Antwortete und hob ebenfalls die Gläser. Damit war der offizielle Teil des Abends beendet. Das Licht wurde gedimmt und das Orchester spielte nun nicht mehr nur wenige Lieder und leise Hintergrundmusik. Es sollte getanzt werden.

Loki ließ den Blick schweifen und fand mit Hilfe seiner Körpergröße beinahe sofort sein Ziel. Etwas Abseits stand Eve mit einem Stattlichen alten Herrn, den Alfredo als Senator vorgestellt hatte, im Gespräch. Er machte sich auf den Weg quer durch den Saal, stellte sein halbvolles Glas auf das Tablett eines vorbeilaufenden Kellners und straffte sich, kontrollierte unauffällig seinen Anzug und Strich vorsichtshalber noch einmal das Haar zurück. In respektvollem Abstand blieb er stehen und wartete, überlegte. Der Senator hatte ihn bereits bemerkt und gab ein unauffälliges Signal, dass er sich nähern durfte.

Eve drehte sich überrascht um. Loki stand direkt neben ihr, bot ihr seine Hand mit einem sanften Lächeln. „Tanz mit mir.“

„Was?“ Eve schenkte ihm einem ungläubigen Blick, zeigte aber keinerlei Widerstand als Loki einfach ihre Hand nahm und sie auf die Tanzfläche führte.

Der Senator sah den beiden schwermütig nach und dachte daran, wie es wohl wäre, noch einmal jung zu sein.

Auf dem Parkett angekommen, legte Eve ihm die linke Hand auf die Rechte Schulter. Sie spürte seine Rechte sanft aber schwer auf  ihrem Rücken. Sie spürte wieder dieses Kribbeln. Nur mühsam widerstand sie dem Drang, sich an ihn zu lehnen, den Kopf auf seine Brust zu legen. Schließlich sah sie zu ihm auf. In seinem Blick lag etwas, dass sie eigentlich hätte glücklich machen sollen. Stattdessen versetzte es ihr einen Stich; mitten in die Brust. „Was tun wir hier, Loki?“

„Ist das denn wichtig?“ Seine Stimme war beinahe ein Flüstern. Ein dunkles melodisches Flüstern, das ihre Nackenhäärchen in Hab-Acht-Stellung versetzte. Auf einmal ging alles ganz schnell. Die Musik setzte ein, und der Raum begann sich zu drehen. Sie begannen sich zu drehen. „Denk nicht dran, wegzuschauen.“ Flüsterte er wieder und lachte leise, als er Eve in eine Drehung führte. Als er sie wieder auffing, sah er dasselbe lächeln, das er vorhin zum ersten Mal zu sehen geglaubt hatte.  Sie wusste nicht wie, aber er schaffte es, sie unfallfrei mit einer kreiselnden Bewegung durch den Saal zu manövrieren. Als sie sich im Nachhinein den Abend in Erinnerung rief, konnte sie immer noch nicht glauben, walzertanzend durch den Ballsaal geschwebt zu sein. Die Melodie endete mit einem fröhlichen Akkord. Applaus.

Verwundert sah Eve sich um. Während sie ihre Umgebung völlig ausgeblendet hatte, hatte sich ein Kreis um das Tanzpaar herum gebildet. Lokis und Eves Blicke trafen sich, beide gleich verdutzt, worauf sie ausgelassen lachten. Unbewusst lehnte sie sich an ihn, er legte einen Arm um sie. Ein Blitz.

Einer der Photographen hatte sie erwischt, besah sich das Bild auf dem Display der teuren Kamera, lächelte und verschwand auf der Suche nach neuen Motiven.

Alfredo Nucci lächelte zufrieden. Sein Plan war aufgegangen. Es war lange her, dass er Eve glücklich gesehen hatte. Über diesen Luke Saulsbury hatte er in den letzten Tagen sehr intensive Nachforschungen angestellt, leider nur mit bislang mäßigem Erfolg. Eves Informationen über ihn waren ebenfalls nicht besonders Umfangreich. Dennoch hatte er Eves Vertrauen –nach Vibranium vermutlich das seltenste Gut auf dieser Welt.

Die ersten Morgenstunden neigten sich bereits dem Ende entgegen, als Luke Saulsbury, Eve Harrington und Alfredo Nucci di Milano die Veranstaltung verließen.

Loki legte Ihr wie selbstverständlich den Umhang um die Schultern, kam ihr dabei gefährlich nahe, richtete unaufgefordert den pelzbesetzten Kragen. Für einen kurzen Augenblick spürte sie die Berührung seiner kühlen Finger am Hals.

Draußen empfing sie die beißende Kälte einer Februarnacht. Hinter dem Rondell fuhr langsam der Maserati vor, der Alfredo und Eve zur Veranstaltung gebracht hatte. Die beiden Herren verabschiedeten sich mit einem freundlichen Handschlag voneinander. Eve hätte schwören können, dass Alfredo ihm kurz zuzwinkerte. Der alte Kuppler, dachte sie und musste innerlich lächeln. Dann wand sich Loki zu ihr und nahm sie in den Arm, hauchte einen Kuss auf ihre Wange; dieselbe Stelle. Als er sich einen Augenblick später von ihr lösen wollte, verharrte Eve in der Umarmung und nutzte die Gelegenheit. „Danke für den schönen Abend“, flüsterte sie und platzierte aufgrund des Größenunterschiedes nur einen flüchtigen Kuss auf seiner Wange. Als sie sich löste, lächelte er.

„Miss Harrington?“ Alfredo hielt die hintere Wagentür für sie auf und deutete eine Verbeugung an.

„Wie kommst du nach Hause?“, fragte Eve unvermittelt an Loki gewandt. „Ich bin mit dem Auto da.“ Er nickte in die Richtung des Parkplatzes; immer noch lächelnd.

„Der Mazda?“ Ihr Gesicht nahm erst einen skeptischen, dann einen besorgten Ausdruck an. Loki nickte. „Fahr‘ bitte vorsichtig, ja?“ Dass er bei Eis und Schnee in der Nacht mit einem Roadster unterwegs war, behagte ihr nicht. Sein Lächeln wurde breiter. „Keine Sorge.“ Er hob ihre Hand zum Kuss. „Bis morgen?“

„Bis morgen“, bestätigte Eve und stieg in die Maserati-Limousine. Loki sah den kantigen Rücklichtern noch lange nach, ehe er sich auf den Weg zum Parkplatz machte.

Als er in den Rückspiegel seines MX-5 sah, bemerkte er, dass er immer noch lächelte, berührte kurz die Stelle an seiner Wange. Eve hatte sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, um ihn auf die Wange zu küssen. Die Geste hatte ihn unvorbereitet getroffen und irgendetwas kribbelte seit dem schrecklich in seiner Magengegend. Wie gerne hätte er sie nach Hause gebracht, wie es sich seiner Meinung nach gehörte, aber mit einer beheizten Oberklasselimousine mit Ledersitzen konnte sein einfacher Roadster einfach nicht mithalten. Er warf den Mantel, der immer noch auf seinem Schoß lag, auf den Beifahrersitz und startete den Motor.

Auf der endlos erscheinenden Landstraße blieb ihm gar nichts anderes übrig, als vorsichtig zu fahren. Das Glatteis ließ ihm Regelmäßig das Heck ausbrechen, was zu einem leichten Slalomkurs führte. In der Stadt wäre er problemlos vorangekommen, hier jedoch wäre ein anderes Fahrzeug oder wenigstens Reifen mit ordentlichem Profil hilfreich gewesen. Er hatte weder das eine noch das andere.

Plötzlich ließ ihn der klang einer Sirene Aufschrecken. Das rot-blaue Flackern der Lichtanlage des Streifenwagens hinter ihm erhellte die Straße. Das Polizeifahrzeug überholte ihn und wies ihn an den Straßenrand. Zwei Polizisten stiegen aus. Loki stellte den Motor ab, behielt die Hände ruhig am Lenkrad, dachte an Eves Worte: Keine ruckartigen Bewegungen, keine Widerworte oder physischer Widerstand. Er überlegte, wo sich sein Portemonnaie befand, als einer der Beamten an die Scheibe klopfte. Loki ließ die Fensterscheibe hinunter und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Der Cop griff durch das geöffnete Fenster ins Fahrzeug und öffnete die Tür von innen. Der zweite packte ihn, zerrte ihn aus dem Auto, verdrehte ihm den Arm und warf ihn nach vorn über die Motorhaube des Roadsters. Später erinnerte er sich nicht mehr, ob die Beamten Fragen gestellt hatten, ob er sich gewehrt hatte, oder nicht. Der Faustschlag ins Gesicht traf ihn unvermittelt, genauso wie der Schlagstock auf den Rücken. Ein Faustschlag traf ihn in den Solarplexus .Loki stöhnte, krümmte sich und versuchte halt am Fahrzeug zu finden. Ein Schlagstock traf ihn mitten zwischen die Schultern. Auf einmal wurden ihm die Beine weggerissen und noch bevor er sich aufstützen konnte, kassierte er den ersten Tritt in die Magengegend. Harte Schläge und Tritte trafen ihn am ganzen Körper, bis ihn einer der Schlagstöcke endlich am Hinterkopf erwischte und ihn in die Bewusstlosigkeit beförderte.

That was close...

Er Träumte wirr. Das Heulen der Sirene, das Blaulicht des Streifenwagens. Sein eigener Gesichtsausdruck im Rückspiegel, dahinter eine Landschaft, die er nicht zu kennen glaubte, die ihm aber vertraut erschien. Hohe Arkaden und Säulengänge die das Sonnenlicht reflektierten, wie Gold. Endlose blühende Gärten; dort stand Eve regungslos in dem schlichten schwarzen Kleid und ein Goldschimmer umgab sie, als wäre sie in Bernstein eingefasst.

Ein metallisches Schlagen und das Laute Kratzen eines Rolltores in seiner Führungsschiene rissen ihn aus dem Schlaf. Der helle Lichtschein der Leuchtstoffröhren in dem ganz und gar gefliesten Raum blendete schmerzhaft, stach in den Augen. Er wollte sie Abschirmen, doch der Schmerz in seinem Arm versagte die Bewegung.

 „Aufgestanden, Kleiner!“ Eine vergnügte Männerstimme. Jemand trat in die Zelle.

Sein Kopf fühlte sich an, als hätte sich jemand mit einem Presslufthammer daran zu schaffen gemacht. Langsam sickerte der Schmerz am ganzen Körper in sein Bewusstsein. Ihm wurde übel und er krümmte sich in einem trockenen Brechreiz. Dann kehrte die Erinnerung zu ihm zurück. Der Galaabend auf dem Landgut, die Polizeistreife… Loki schaffte es mühsam sich aufzusetzen, hielt sich den pochenden Schädel. Er saß auf einer Pritsche, sonst befand sich nichts in der Zelle. Ein rundlicher Mann in Uniform mit einem silbernen Stern auf der Brust packte ihn am Arm und half ihm auf. „Mann, was haben sie denn mit dir gemacht Junge?“ Der Polizist mit Schnurrbart sah ihm erstaunt ins Gesicht. Loki antwortete nicht, versuchte vehement seine Beine unter Kontrolle zu bekommen. „Na komm“, sagte der Beamte freundlich und ging genügsam in Lokis Tempo; führte ihn aus der Zelle. „Dein Mädchen kommt dich abholen“, sagte er, als er Loki im Wartebereich auf eine der Bänke verfrachtet hatte. „Hübsches Ding. Hast Glück gehabt, Kleiner.“ Loki bemerkte erst jetzt, dass der Cop in etwa einen halben Meter kleiner war als er selbst. Ein paar Minuten Später brachte ihm Derselbe einen Plastikbeutel indem sich sein Portemonnaie, Mobiltelefon, Armbanduhr und Schlüssel befanden. Sein Sakko legte er neben ihm auf der Bank ab. „Mehr hattest Du nicht dabei?“ Luke besah sich den Inhalt des Beutels schüttelte dann den Kopf, soweit es ihm sein Körper erlaubte. Dann hielt ihm der Polizist ein Klemmbrett unter die Nase, darauf die Empfangsbestätigung für seine Habseligkeiten. Er zeigte auf das Feld und gab ihm einen Kugelschreiber. „Du müsstest bitte hier unterschreiben.“ Loki nahm träge das Klemmbrett und unterschrieb, gab es zurück. „Sie kommt gleich. Pass nächstes besser auf dich auf, Kleiner.“ Er Grinste und ging in eines der Büros hinter einem langen Holztresen.

Sie?, dachte er verwirrt. Wer? Er hatte kein Mädchen. Was zur Hölle ist überhaupt passiert? Sein Kopf würde in wenigen Sekunden einfach platzen, dessen war er sich sicher. Wie eine Melone, die man auf den Boden warf. Er stützte mühevoll die Ellenbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Er erinnerte sich nicht mehr, wie lange er so da saß, bis er eine warme Berührung an seiner Hand spürte. „Hey, du“, sagte sie sanft. Er erkannte sie ohne sie anzusehen. Ihre Stimme, der Leichte Geruch nach Eukalyptus; ihr Shampoo roch danach. Die Mischung des leicht herben Parfums, das sie trug. Sein Mädchen… Innerlich lächelte er bitter und versank in Gedanken.

„Loki?“ sie hatte sich vor ihn gehockt und zog langsam seine Hände weg. Ihre dunklen Augen musterten sein Gesicht, dann verzog sie das ihre. „Mein Gott, was haben die mit dir gemacht?“ Loki wollte Antworten, doch irgendetwas ließ es nicht zu.

„Verschwinden wir von hier“, sagte sie leise und half ihm auf. Seine Versuche alleine zu Gehen scheiterten kläglich. Eve nahm seinen Arm, legte ihn sich um die Schulter. Zunächst wollte er sich wehren. Es war ihm peinlich, dass sie ihn so sah. Doch er musste einsehen, dass der ihre Hilfe brauchte. Außerdem war er ihr noch nie so nah gewesen, wie in diesem Augenblick. Ihre Wärme hatte etwas Magisches an sich. Eve Nahm das Sakko und die Plastiktüte, stützte ihn mit ihrem Arm zusätzlich an der Taille und führte ihn hinaus. Vor dem Police-Department stand ein kleiner blauer Golf mit bunten Wärmeaufklebern und einer Großen 13 an den Seitentüren und der Motorhaube. Eve half ihm einzusteigen, setzte sich hinters Steuer und fuhr los.

 

„Sie hatten Glück, Mister Saulsbury. Man hat ihnen nichts gebrochen, und sie haben bis auf die zahlreichen Hämatome keine inneren Verletzungen davon getragen. Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, nichts worüber man sich allzu große Sorgen machen müsste. Ein paar Tage Ruhe, und alles ist wieder im Lot.“ Der Arzt hing sich das Stethoskop um den Hals, mit dem er eben noch die Atmung seines Patienten kontrolliert hatte. Er war mittleren Alters, von drahtigem Körperbau und hatte kurzes hellbraunes Haar nebst einem leichten Bartschatten „Ich lasse ihnen etwas für ihre Blessuren da…“ Er wühlte in der großen Arzttasche, die auf dem Küchentisch stand und holte einige Salben und eine Packung Schmerztabletten heraus. Dann klappte er geräuschvoll die Tasche zu. „Ich überlasse sie dann wieder der Obhut von Miss Harrington.“ Er lächelte, verabschiedete sich von Eve und verließ die Wohnung. Loki fingerte an der Packung mit den Schmerztabletten herum. Eve reichte ihm ein Glas, das er gierig mit zwei Pillen hinunter stürzte. „Wie geht es dir?“ Eve setzte sich neben ihn auf die Couch. Sie hatte ihn nicht in seine Wohnung gebracht, sondern zu sich. Kaum waren sie angekommen, rief der Portier an und meldete den Arzt, den sie nur Caleb nannte, am Empfang.

„Besser“, nuschelte er und starrte an die gegenüberliegende Wand. Es waren neue Bilder hinzugekommen. „Ich hab‘ dir ein heißes Bad eingelassen“, sagte sie und stand auf. „Das hilft gegen die Schmerzen.“

Und gegen den Gestank, dachte er zynisch. Er wusste, dass er erbärmlich roch. Doch Eve schien es völlig egal zu sein. Sein Hemd hatte beinahe alle Knöpfe eingebüßt, die Fliege war verschwunden, auch das Sakko war Ruiniert, sowie die Hose und der Kummerbund. Die Lackschuhe hatten an allen Seiten Kratzer, die man definitiv nicht mehr herauspolieren konnte. Die Manschetten waren Aufgerissen und nur einer der schlichten goldenen Manschettenknöpfe war ihm geblieben.

Ja, dachte er, ein Bad würde jetzt gut tun. „Danke“, sagte er schließlich und stand auf, wankte kurz, winkte ab, als Eve ihn stützen wollte und ging langsam ins Badezimmer.

Er schloss die Tür hinter sich. Der ganze Raum roch angenehm. Das heiße Badewasser hatte bereits den ganzen Raum aufgeheizt, kleine Dampfschwaden lagen in der Luft und der Spiegel war schon beschlagen. Er entledigte sich der Reste seiner Kleidung, die er nach der Untersuchung noch anhatte, erhaschte einen Blick auf sein durch Kondenswasser verschwommenes Spiegelbild, auf die dunkle Verfärbung in seinem Gesicht an der Stelle, wo Caleb die aufgeplatzte Haut am Auge geklebt hatte. Loki trat näher, stützte sich auf dem Waschbecken ab und wischte mit der flachen Hand über den Spiegel. Gleich darauf wünschte er, er hätte es nicht getan. Abgesehen von seinen zerzausten Haaren zierte jetzt ein lila-blaues Hämatom seinen rechten oberen Wangenknochen und reichte um die Augenhöhle herum bis zur Braue. Sein Auge war blutunterlaufen und die Lider leicht angeschwollen. Außerdem war seine Unterlippe angeschwollen und wies eine stattliche Verkrustung auf. Er verzog das Gesicht, betastete vorsichtig die Klebenähte, entdeckte noch mehr blaue Flecke an Schultern und Schlüsselbein. Er sah an sich herunter und musste feststellen, dass der Rest seines Körpers nicht viel besser weggekommen war. Etwas unbeholfen stieg er in die Wanne. Zunächst stach das heiße Wasser, wurde aber schnell zu einer Wohltat. Auf der von Seife trüben Oberfläche des Wassers trieben kleine Ölaugen und vereinzelt ein paar getrocknete Blätter. Er fischte eines davon heraus, roch daran. Lindenblüten – schmerzlindernde Wirkung. Er musste lächeln und rutschte bis zum Kinn in das warme Wasser, schloss die Augen.

Er wusste nicht, wie lange er so in der Wanne verharrte. In der Zwischenzeit hatten sich seine Kopfschmerzen etwas gelindert. Er sinnierte über den abgefahrenen Traum, den er gehabt hatte. Dieser merkwürdige Ort… war er dort schon einmal gewesen? Wo zum Teufel gab es denn goldene Dächer und Statuen? Er musste fantasiert haben. Entnervt fasste er sich an den Kopf, als ihm sein zerzaustes Haar, in dem immer noch die Pomade vom gestrigen Abend klebte, in den Sinn kam. Er sollte sich die Haare waschen. Auf dem Wannenrand stand nicht viel, nur ein Duschgel, ein Shampoo und ein Conditioner. Immer noch von seinen Blessuren geplagt griff er nach der Shampooflasche und platzierte etwas von dem nach Eukalyptus duftendem Inhalt in seiner Handfläche. Es klopfte leise und er hörte, wie die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.

„Ist bei Dir alles okay?“ Eves Stimme drang von hinten gedämpft an seine Ohren und er setzte sich unbewusst auf. „Ja, alles okay“, nuschelte er. Die Tür ging weiter auf, kühlere Luft drang an seine Schultern.

„Ich hab vergessen, Handtücher rauszulegen. Ich leg sie Dir hierhin, ja?“

Er nickte nur, starrte auf das trübe Wasser. Absichtlich drehte er sich nicht zu ihr um. Vermutlich hätte ihm die Bewegung Schmerzen bereitet und außerdem wusste er, was für einen furchtbaren Anblick sein Gesicht darbot. Er hob die Arme, um das Shampoo endlich in den Haaren zu verteilen und unterdrückte einen Aufschrei. Seine Schultern ließen die Bewegung einfach nicht zu.

Die Tür klackte leise, als sie hinter ihm verschlossen wurde. Eve war wortlos verschwunden. Loki seufzte resigniert und rutschte bis zur Nasenspitze zurück ins Wasser, was seine Lädierten Knie zum Vorschein brachte.

Wie aus dem Nichts griff plötzlich hinter ihm eine schlanke Hand nach der Shampooflasche auf dem Wannenrand. Er schreckte hoch und bereute instantan die abrupte Bewegung. Etwas Wasser platschte aus der Wanne auf den Fliesenboden.

„Entschuldige. Ich dachte, du hättest mich bemerkt.“ Sie saß hinter ihm auf dem breiten Wannenrand, berührte sanft seine Schulter und zog ihn mit sanfter Gewalt zurück, sodass er sich anlehnen konnte.

„Eve, was…“ Bevor er seine Frage ausformulieren konnte, hatte sie etwas Shampoo in ihren Händen verteilt und begann ihm vorsichtig durchs Haar zu fahren. „Entspann Dich.“ Loki gehorchte und schloss die Augen. Zunächst war ihre Berührung unangenehm an seinem immer noch pochenden Kopf. Doch kurz nachdem sie das Gel verteilt hatte, war sie dazu übergegangen, seinen Hinterkopf und seine Schläfen mit sanftem Druck und kreisenden Bewegungen zu massieren. Die Kopfschmerzen lösten sich immer mehr in Luft auf. Ob es der verspäteten Wirkung der Schmerztabletten oder der ihrer Hände geschuldet war, war ihm herzlich egal. Er wollte hier nie wieder weg.

Viel zu schnell war der Moment vorbei und Loki tat seinen Unmut darüber mit einem murrenden Laut kund. Er öffnete schwerfällig die Augen und beobachtete, wie Eve sich neben ihm am Wannenrand abstützte. Plötzlich lachte sie.

„Was?“ Er versuchte so genervt dreizuschauen, wie es sein Veilchen zuließ.

„Sieht fast aus, als hättest Du Hörner“, lächelte sie. Loki brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sein vor Schaum stehendes Haar die entsprechende Form angenommen haben musste. „Ha.Ha.“, quittierte er trocken.

„Jetzt sei doch nicht so…“ Eve streckte sich nach dem Duschkopf über dem Wasserhahn und rutschte ab. „Wuaaah!“ Lautes platschen.

 

Loki zuckte zusammen, als Eve vorsichtig die Salbe auf der geklebten Platzwunde und an den außenrändern seines Veilchens verteilte. Er saß in einen Bademantel gewickelt neben Eve auf der Couch und ließ sich mehr oder minder genügsam verarzten während er zum wer weiß wievielten Mal in Gedanken versank.

Im letzten Moment hatte Loki sie an den Oberarmen gepackt und so einen Sturz in die Wanne verhindert. Wie er feststellen musste, hatte er zu seinem Leidwesen auch möglicherweise etwas anderes verhindert. In diesem Moment befand sich ihr Gesicht vielleicht eine Wimpernlänge von seinem entfernt. „Das war knapp“, hatte er gemurmelt.

Eve hatte sich daraufhin beschwert, dass er ja nicht das Bad hätte fluten müssen. „Ich hätte Dich auch einfach fallen lassen können“, hatte er gegrinst und so getan, als wolle er sie zu sich in die Wanne ziehen. Für diesen Scherz hatte er prompt aus dem Duschkopf einen Strahl kaltes Wasser ins Gesicht bekommen. „Du garstiges Reptil!“

Eve hatte gelacht und ihm anschließend mit warmem Wasser wortlos den Kopf gewaschen.

Loki beobachtete die ganze Zeit über ihre Gesichtszüge. Sie biss sich die ganze Zeit über seitlich auf die Unterlippe. Eine Angewohnheit, wenn sie sich auf etwas konzentrierte. Bei besonderen Anlässen kam ihre Zungenspitze seitlich zum Vorschein.

Warum hatte er sie nicht einfach fallen gelassen, verdammt?!“

Eve traute sich nicht, seinem Blick zu begegnen. Das war knapp. Sie hatte die Enttäuschung in seiner Stimme bemerkt. Enttäuschung worüber? Und jetzt saßen sie sich seit einer gefühlten Ewigkeit schweigend gegenüber. „Es tut mir leid“, sagte sie plötzlich.

„Huh?“ Loki blinzelte verwundert.

„Das hätte nicht passieren dürfen…“

„Was meinst Du?“, fragte er verwirrt. Eve ließ von seinem Auge ab und wischte sich die Salbenreste mit einem Taschentuch vom Finger, bevor sie nach einer anderen kleinen Tube aus dem ausgebreiteten Arzneiarsenal auf dem Couchtisch angelte.

„Ich hätte dich nicht in dem Roadster nach Hause fahren lassen sollen. Die Cops dachten, Du seist betrunken.“

Loki zog die Brauen kraus und fing ihre Hand ab, als sie mit der anderen Salbe fortfahren wollte. „Das ist nicht Deine Schuld, Eve!“ Seine grünen Augen funkelten. Eve sah ihn überrascht an und bemerkte, dass die Schwellung an seinem rechten Wangenknochen merklich zurückgegangen war. Caleb hatte scheinbar eine neue Wundertinktur fabriziert.

Loki brach abrupt ab und lies ihr Handgelenk los. Er hatte sie beinahe angeschrien. Es hatte ihn aufgebracht, dass sie sich die Schuld gab. Und er war immer noch wütend, dass er sich vorhin selbst die Tour vermasselt hatte.

Ohne ein weiteres Wort fasste sie mit einer Hand sein Kinn und tupfte mit einem Finger die gelartige Salbe auf die Stelle, wo seine Lippe gestern Nacht aufgeplatzt war. Wieder biss sie sich konzentriert auf ihre Unterlippe. Sie trennten vielleicht fünfzig Zentimeter. Ihr Blick unter den langen dunklen Wimpern war total auf ihre Tätigkeit fixiert. Das Überraschungsmoment wäre auf seiner Seite. Wie aufs Stichwort legte sie den Kopf leicht schräg und war ein kleines Stückchen näher an ihn gerückt. Kaum merklich streckte er eine Hand nach ihr aus.

„So.“ Plötzlich ließ sie sein Kinn los und zog sich aus seiner unmittelbaren Reichweite zurück. Wieder wischte sie sich den Finger an dem Taschentuch ab. „Sieht nur noch halb so schlimm aus“, lächelte sie, bekam von Loki allerdings nur einen ungläubigen Gesichtsausdruck. Er tobte innerlich. Das durfte doch nicht wahr sein!

„Ehrlich!“, versicherte Eve. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, was in ihm vorging. „Du heilst verdammt schnell“, fuhr sie fort. – Sogar schneller als ich, dachte sie. „Mit dem zeug von Caleb sieht man in drei Tagen wahrscheinlich wirklich gar nichts mehr.“ Eve sammelte die handbeschriebenen Tuben und Pillendöschen ein und brachte sie zurück ins Badezimmer um sie zu verstauen.

Sie stellte die letzte Dose in den Spiegelschrank und schloss ihn. Nach einem tiefen Atemzug musterte sie aufmerksam ihr Spiegelbild. „Mann, das war knapp.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  miss_anni
2016-11-24T21:54:54+00:00 24.11.2016 22:54
Wie kannst du die Geschichte so enden lassen. Das kannst du deinen Lesern doch nicht antun... OoO
Von:  AnniinaAgricola
2016-04-20T20:09:25+00:00 20.04.2016 22:09
Ich bin fassungslos fasziniert... ich bin verliebt in jedes Wort...ich bin ....ach schieß drauf! Diese FF ist der HAMMER DER ABSOLUTE WAAAAAHNSINN!!!!!
Von:  scippu
2015-02-10T17:02:59+00:00 10.02.2015 18:02
Sag, hast du so ein Tofu, dass du deine Statistik einsehen kannst? Oder eine Übersicht über die Favoriteneinträge? Ich bin immer wieder geschockt, dass bisher niemand kommentiert hat. Klar kenn ich die generellen Tendenzen und weiß mittlerweile auch, dass viele Kommentare nicht unbedingt bedeuten, dass mir die Geschichte gefällt, aber meist verlieren sich doch ein paar mehr Leser zu den Geschichten die mir gefallen.

Also: dir gelingt es irgendwie Distanz mit unheimlich schnell und gut eingefangener Atmosphäre zu kombinieren, ich habe keine Ahnung wie du das anstellst. Aber mehr Text würde deine ohnehin schon langen Kapitel nur noch mehr füllen, also machst du das gut!

Ich mochte die Einführung in das Kapitel, du hast ein Händchen für Beschreibungen. Vor allem von solchen, die noch niemans zuvor benutzt hat. Das gestreifte Licht gefiel mir. Ein schönes Bild, so wie vieles andere auch, das du schreibst.

Ich hab nach wie vor ein bisschen Schwierigkeiten, mich den Charakteren zu nähern, Pepper allerdings gefiel mir sehr gut. Sie wirkte auf mich sehr viel lebendiger. Was nicht heißt, dass die anderen nicht lebendig wirken. Im Gegenteil. Wie Eve beschrieben wird, wie sie handelt, find ich sehr sympathisch. Aber irgendwie komm ich nicht so heran an sie. Vielleicht weil man wenig von ihrem Innenleben erfährt? Ich weiß nicht, es kann sein, dass es gar nicht stimmt. Ich finde sie auch nicht farblos oder so... ich weiß eigentlich auch nicht, was ich für ein Problem hab :) Jedenfalls kannst du sehr gut realistische Sprache in wörtliche Rede einfangen. Das ist gar nicht so leicht und mir sehr wichtig. Ich mag es nicht, wenn die Dialoge sich wie Schriftsprache lesen lassen. Wie man spricht und schreibt ist einfach so unterschiedlich. Das macht den rednerischen Teil immer sehr lebendig - schön!!!

Mir gefielen die Zettelelemente :) Das ist irgendwie eine nette Idee und scheint realistisch für eine Figur wie Eve.

Und die Entwicklung des Plots klingt solide. Viel kann ich über die Spannung noch nicht sagen, denn es entwickelt sich angenehm langsam, so wie es mir gefällt und die Geschichte lebt für mich momentan von dem guten Stil. Grund genug für mich weiter zu lesen. :)

Loki find ich ein wenig trocken. Ich verstehe, dass er sich in einer spannenden Situation befindet und das birgt viel Potential in viele Entwicklungsrichtungen - wie ist er eigentlich wirklich, können sich Menschen ändern, was ist passiert, wie wird das ausgehen - usw. Aber mir fehlt einfach ein wenig der für ihn so typische jungenhafte Charme, seine Spitzbübigkeit. Natürlich ist das dein gutes Recht, wie gesagt, allein dadurch dass er nicht so recht weiß, wer er eigentlich sein soll, wird das sowieso alles neu geschrieben und du kannst den 'wahren' Loki, nämlich deinen entdecken (und die Hinleitung dazu ist sehr elegant ^^). Ich schlepp einfach nur meine eigene Vorliebe für ihn mit mir herum. Ich liebe ihn weger seiner Schwächen und seines Neids und seiner Verletztheit, die er auf die erdenklich schlechteste Art auf den anderen ablegt und dabei zwar Zerstörung verbreitet, aber auch immer wieder für Veränderung sorgt. Ich bin gespannt, wie er sich bei dir entwickeln wird. Vielleicht ist dieses neue Leben die Therapie, die er braucht :)

Also, Lukas (der Name gefällt mir... außerdem gibts da ein paar Ähnlichkeiten vom Klang her, das gefällt mir), mal schauen wie es mir dir weiter geht.

Ich hoffe die kommentarfaulen lassen dir nicht die Lust am Schreiben vergehen. Ich finds schade, du hast sehr viel mehr Aufmerksamkeit hierfür verdient!!
Von:  scippu
2015-02-01T12:49:12+00:00 01.02.2015 13:49
Oh, holla, ich hab gar nicht bemerkt dass es weiter ging.

Da ich weiß, wie sehr sich ein Autor über Kommentare freut, ganz egal was drin steht (was ja nicht heißt dass der Inhalt nicht wichtig ist :)), hier nun ein Kommentar von mir.

Ich bin ein riesen Loki Fan. Aber die Geschichten die es dazu gibt... puh... da ist kaum was zu finden, die ihm all die Dinge ausreißt, die ich so an ihm liebe.
Bisher kann ich nicht so recht sagen, wie du das machst, aber mir gefällt generell wie du an die Story heran gehst.

Es geht einfach tiefer als be der durchschnittlichen Fanfiktion, die ich schon gar nicht mehr lesen kann. Du gibst dir bei der Wortwahl viel größere Mühe, die Dialoge sind in beschreibene Textstücke eingesetzt und flattern nicht ungeliebt in Satzanschlägen hintereinander weg. Das gefällt mir.

Du schaffst Szenerie, ohne schwerfällige lange Beschreibungen aneinanderzureihen und fährst mit ein paar neuen Charaktere auf. Schön, das sieht nach Plot aus.

Was du für mich noch schöner gestalten könntest, sind die Szenen in ihrem Stark-Industries Job. Die find ich oft ein bisschen zu schnell und so detaillos. Außerdem wird immer nur kurz erwähnt, dass sie einfach unheimlich toll ist und ich find da Tony etwas untonyhaft. Natürlich ist es deine Entscheidung ihn zu interpretieren wie du möchtest und mit keinem Wort möchte ich hier irgendetwas von deiner Geschichte als schlecht einordnen, ok? Ich hab einfach nur meinen Geschmack und manche Sachen treffen ihn eben und manche nicht.
Das muss aber nicht heißen, dass du etwas ändern musst!!!
Ich möchte einfach nur ein paar Sachen anmerken, die dir vielleicht nicht aufgefallen wären. Und dann ist es einfach nur dein Job reinzufühlen, ob du mir Recht gibst, oder du ganz ganz absichtlich etwas so gemacht hast, wie du es eben gemacht hast. Deswegen ist Kritik wichtig. Nur deswegen. Nicht um sich der Meinung anderer anzupassen, oder um gesagt zu bekommen, dass man etwas nicht kann. Sondern um zu bemerken, ob man der Kritik Recht gibt, oder bewusst zu seinem Stil zu finden und die anderen zum Teufel zu jagen :)

Also, nur so als Interlude...
=)

Tony ist ein schwerer Charakter, finde ich. Ich weiß nicht, wie du das siehst. Ich hab unheimlich Probleme ihn zu schreiben, weil ich nicht so clever und wortgewandt, geschweige denn so dreist und knufflig bin wie er.
Ich finde auch Loki nicht einfach, denn er hat ein paar tiefliegende Probleme und reagiert oft ganz anders, als wir, moralisierten und mit ethischen Kunstgrundsetzen zugeschütteten Menschen, es je tun würden.

Generell kann ich mich noch nicht so Recht mit deinen Charakteren anfreunden. Das mag aber daran liegen, dass es für mich teilweise einfach zu schnell geht und ein wenig distanziert abläuft.
Wie gesagt, vielleicht ist das genau dein Stil und das ist ok. Vielleicht möchtest du aber selbst noch näher ran an sie.
Der ganz letzte Abschnitt z.B. :

Sie aßen die kleinen Portionen schnell auf. Pièrre gab noch ein paar seiner Geschichten aus Großbritannien zum besten, die zur allgemeinen Belustigung beitrugen. Es folgten noch einige Irish Coffee, bis Yetta ein Taxi rief, dass die beiden nach Hause bringen sollte.

Das liest sich einfach sehr distanziert von der Handlung und den Charakteren, weil du ziemlich viel Zeit in drei Sätzen zusammenfasst. Das ist ja ok. Aber es beißt sich für mich mit dem Fakt, dass du dann wieder sehr liebevolle Details ausarbeitest.

Wie gesagt, du hast ein Händchen fürs Schreiben und ich denke mit der Zeit und mit jedem Kapitel, lernst du mehr und entwickelst mehr Bandbreite. Das ist ganz normal.
Versuch nicht krampfhaft etwas zu ändern, was jemand anderes gesagt hat, wenn du nicht weißt, was du für dich selbst damit anfangen sollst, ok? Wenn du Lust und Zeit hast, setz dich in Ruhe damit auseinander und nur wenn du für dich und deine Geschichte verstehst was gemeint ist und der Kritik dann auch Recht gibst, dann schau, wie du es in deine Sätze einbauen kannst.
Hilfreich ist auch manchmal während des Schreibens verschiedene Varianten für bestimmte Sätze, oder Wörter aufzuschreiben. Dann kannst du beim Editieren noch mal schauen, was dir am besten gefällt und was am besten klingt, was die Szene am nächsten verbildlicht.

So, genug geplappert.
Mach einfach weiter so und lass dich nicht abbringen von fremder Kritik. Alles was du ändern willst, muss von dir kommen.

Fühl dich geherzt

Von:  scippu
2014-12-05T20:05:18+00:00 05.12.2014 21:05
Oh, also.... wow.
Ich bin zwar absoluter Loki Vergötterer und es ist mir eigentlich ziemlich schnuppe mit wem er sich tummelt (so lange es niemand mit Y Chromosom ist ... oder was auch immer die Asen in sich tragen was ihnen ihren ... Dorn ... gibt *hust), solange es gut geschrieben ist und emotional realistisch und nachvollziehbar.
OC plus Loki klappt für mich meist nicht so gut, was eben oft daran liegt, dass es eben nicht gut geschrieben ist.

Und eigentlich kann man sich ja auch die Vorarbeit der anderen verlassen, was Kommentaranzahl angeht. Aber die Kurzbeschreibung zog mich in den Bann und ich dachte: hey, probieren schadet nicht.

Ich bin so froh, sag ich dir. Ich glaub ich bin hier auf ein Goldstück gestoßen. Es machst so Spaß zu lesen, was du schreibst. Deine Szenendarstellung ist lebendig und realistisch. Dadurch malt sich schnell das Setting deiner Geschichte. Eve ist sympathisch und herrlich normal.
Die Szene mit Tony wirkte so familiär, trotz der Tatsache, dass da jemand mit ihm zusammen arbeitet.

Auf ein tolles einführendes Kapitel folgte das zweite, das mir noch besser gefiel.

'Selbst als sie sich an den Laternenmast lehnte und den Schirm über ihn hielt, schien er sie nicht zu bemerken'

:) Das hat mir augenblicklich ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Es ist einfach eine so schöne Szene.

Ich bin wirklich das erste Mal seit langem gespannt wie es weiter gehen wird.




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