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Broken Genius

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, nach jahrelanger Pause endlich mal eine neue Geschichte. Ich hoffe mal, ich bin nicht allzu eingerostet^^
Viel Spaß beim Lesen. Kommentare, Anmerkungen und Kritik sind natürlich immer erwünscht. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon geht's weiter. Ich hoffe mal, dass auch die nächsten Kapitel relativ zügig folgen werden. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon geht's weiter. Ich denke die nächsten Kapitel werden auch recht schnell folgen ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank für die Kommentare. Ich bin selbst erstaunt, wie schnell ich gerade vorankomme, aber ich hoffe, es bleibt so ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, endlich geht's weiter. Hat diesmal länger gedauert, weil mein Laptop mal wieder meint, herumzicken zu müssen -.- Aber ich hoffe mal, dass er sich jetzt wieder eingekriegt hat und dann geht es auch schneller wieder weiter ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Pause war zwar doch ein bisschen länger als angekündigt, aber jetzt geht es endlich weiter. Die nächsten Kapitel kommen wieder schneller, versprochen. ^^ Komplett anzeigen

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Prolog

Verdammt, ich konnte ihn nicht abhängen! Ich rannte schon so schnell ich konnte, und das war keineswegs langsam. Aber Kato blieb immer dicht hinter mir, legte für jemanden, der aussah wie ein Troll, ein erstaunliches Tempo an den Tag. Vielleicht, weil ich ihm genau das ins Gesicht gesagt hatte: dass er ein verblödeter, hässlicher Troll war. Aber wenn es doch stimmte?

„Bleib stehen, Wheeler!“, schrie er hinter mir.

Na ganz bestimmt!

Kato war kein großer Redner, der ließ lieber seine Fäuste sprechen. Ein ganz übler Schläger, der dummerweise nur zu gerne mit seinen Gorillafreunden auf dem Spielplatz in meinem Wohnviertel herumlungerte. Normalerweise tat er mir nichts. Wir waren uns schon in der Schule nie grün gewesen, allerdings mischte er da lieber die Schwächeren auf, anstatt sich mit mir anzulegen und zumindest ein blaues Auge zu riskieren.

Meine Lungen brannten und meine Beine wurden immer schwerer. Lange konnte ich nicht mehr aushalten. Der gigantische Klotz hinter mir schien dagegen viel zu betrunken, um zu merken, dass auch ihm endlich mal die Puste ausgehen sollte. Mist, wenn er mich erwischte, würde er mich grün und blau schlagen. Könnte es denn nicht mal so auf die Schnelle ein kleines Wunder geben, dass mich rettete? Nein? War ja klar!

Vor meinen Augen begann schon die Luft zu flimmern, als ich vor mir die Schule entdeckte. Treffer! Dort müsste ich sicher sein. Kato war nämlich vor gut einem Jahr von der Schule geflogen, weil er einem Siebtklässler, der ihm nicht sein Essensgeld geben wollte, den Arm gebrochen hatte. Und jetzt hatte dieser Prügelproll Hausverbot für das gesamte Gelände.

Ich raffte all meine verbliebene Kraft zusammen und sprintete über den Schulhof ins Gebäude rein. Puh geschafft! Noch einige Sekunden fürchtete ich, er könnte mir doch gefolgt sein, doch niemand kam. Alles still.

Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und atmete durch. Das war ja nochmal gut gegangen. Nur weil ich mal wieder meine dumme Klappe nicht halten konnte!

Ich wusste, dass es dumm war, sich von Kato provozieren zu lassen und normalerweise ignorierte ich ihn und seine kleinen Pavianfreunde, wenn sie mir dumme Sprüche hinterherriefen. Aber diesmal hatten sie wohl ein paar Bier zu viel getankt und meinten, es wäre lustig, mir meine Einkäufe aus der Hand zu schlagen. Ich hatte wahrlich nicht so viel Geld, dass ich darüber lachen konnte, meine gesamten Besorgungen für eine Woche auf dem Asphalt verteilt zu sehen. Ich fand, es war nur verständlich, dass ich Kato dafür mit allen Beleidigungen, die mir einfielen, bedachte. Vielleicht war es unüberlegt gewesen, ihm dann noch in den Magen zu boxen, anschließend an ihm vorbeizurennen und dem gesamten Biervorrat des Trios das gleiche Schicksal zukommen zu lassen wie meinem Einkauf. Aber gut, jetzt war es auch zu spät.

Ich vernahm in den Etagen über mir Stimmen und Schritte. Dabei war es schon fast 21.00 Uhr. Richtig, heute war die Lehrerjahresversammlung gewesen, in der besprochen wurde, ob Schüler versetzungsgefährdet waren. So ein Glück, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass das Schulgelände andernfalls ja bereits verschlossen und ich aufgeschmissen gewesen wäre. Ein Hoch auf die Lehrer.

Trotzdem sollte ich mich nicht erwischen lassen. Ich verzog mich hastig ins Jungenklo und verharrte dort. Vielleicht wartete Kato noch draußen, aber wenn er die ganzen Lehrer sah, würde er bestimmt aufgeben und abhauen.

Ich lauschte auf die Schritte im Flur. Erst als ich sicher war, keine mehr zu hören, trat ich wieder auf den Korridor und wandte mich dem Hintereingang des Schulgebäudes zu. Sollte Kato meinetwegen vor dem Haupteingang warten, bis er schwarz wurde – falls er nicht schon längst aufgegeben hatte.

Von wegen! Gerade als ich die Tür aufstieß und ins Freie treten wollte, grinste mir der Raufbold entgegen. Seit wann war der so berechnend, mir am Hintereingang aufzulauern? Und auch noch so dreist, trotz Hausverbot hier zu warten?

„Wolltest dich davonschleichen wie ein feiges, kleines Schweinchen, was Wheeler?“, schnarrte er.

Verdammt! Was jetzt? Der Typ war heute wirklich auf Krawall aus. Hastig machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte wieder in die Schule.

„Ja lauf, kleines Schweinchen. Ich krieg dich ja doch“, brüllte er. „Und dann prügel ich dich, bis du quiekst“ Er lachte, als er mir nachsetzte.

Das durfte doch nicht wahr sein! Wieso nur ließ er nicht locker? Ich spürte Panik in mir aufsteigen, als ich zurück zum Haupteingang sprintete. Doch als ich die Tür aufstieß, wurde es nur noch schlimmer. Ich erkannte viel zu spät, dass jemand direkt dahinter stand und stieß schwungvoll mit der Person zusammen. Geistesgegenwärtig realisierte ich noch, dass mein Gegenüber durch meinen Schwung gefährlich nah am Treppenabsatz um sein Gleichgewicht rang und packte zu. Ich umfasste die schlanke Hüfte und riss ihn zurück.

„Wheeler!“

Oh nein, Kaiba! Allein die Aussprache meines Namens ließ mich erkennen, wem ich da quasi in den Rücken gesprungen war. Mit einer in dieser Situation völlig unpassenden Eleganz wirbelte er herum und starrte mich wutentbrannt an. Diese kalten blauen Augen konnten mich dermaßen feindselig ansehen, dass ich glatt vergaß, weiter wegzurennen.

„Was suchst du hier, du dämliche Töle?“, fauchte Kaiba sichtlich erbost.

Das könnte ich ihn auch fragen. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, kam die Antwort schon aus der Schule gepoltert. Auch Kato blieb beim Anblick dieser eiskalten Augen erst mal irritiert stehen und stierte Kaiba irritiert an.

Hey, vielleicht war das gar nicht schlecht. Mich hatte Kato zu Schulzeiten in Ruhe gelassen, aber Kaiba regelrecht gemieden. Vielleicht könnte mein Erzrivale in diesem Fall mein Verbündeter sein. Schnell wich ich an Kaibas Seite zurück.

„Du hast hier auf dem Schulgelände erst recht nichts zu suchen“ Jetzt klang Kaibas Stimme dunkel und knurrig, fast schon angsteinflößend.

Schien Kato nicht so zu sehen. „Geh zur Seite, du reiche Kröte! Das hier geht dich nichts an!“, schnarrte er. Im selben Moment sprang er ohne Vorwarnung nach vorn und stieß Kaiba gegen die Brust.

Dieser wirkte darüber mindestens genauso überrascht wie ich. Und zu seinem Pech stand er immer noch so nah am Treppenabsatz. Ich hielt vor Schreck den Atem an, als die acht Stufen runterfiel. Reflexartig versuchte Kaiba, den Sturz mit einer Drehung und dem Fuß auf einer Stufe abzufangen, doch er knickte weg, konnte sich erst mit dem zweiten Fuß und der Hand auf dem Boden abfangen. Oha! Er war zwar nicht mit dem Körper auf dem Boden aufgeschlagen, aber der erste Rettungsversuch hatte schmerzhaft ausgesehen.

Hastig sprang ich die Stufen runter an seine Seite. „Alles klar?“

Ich wollte ihm aus seiner hockenden Position aufhelfen, aber er schlug meine Hand weg, kam zum Glück selbst wieder auf die Beine.

Und jetzt war er wirklich sauer. „Hast du sie noch alle?“, rief er wütend. „Das wird ein Nachspiel haben!“

Kato lachte, als er die Stufen hinunter kam. „Dann muss ich mich ja nicht mehr zurückhalten. Ich mach euch beide platt!“

Oh nein, jetzt hatte er es auch noch durch mein Verschulden auf Kaiba abgesehen. Auch wenn ich für ihn keine Sympathien hegte, konnte ich doch nicht einfach zulassen, dass er meinetwegen verprügelt wurde!

Ich wollte schon dazwischen gehen, als Kato erneut auf Kaiba zustürmte, doch dieser schien sich sehr wohl verteidigen zu können. Als Kato nach ihm schlug, wich Kaiba unfassbar elegant aus und rammte dem Koloss seinerseits sein Knie in den Bauch. Als dieser sich deswegen zusammenkrümmte, schlug ihm der Firmenchef kraftvoll mit dem Ellbogen in den Nacken. Musste ja äußerst effektiv sein, denn Kato fiel wie ein Müllsack einfach um, brachte nicht mal den Willen auf, den Sturz mit den Händen abzufangen.

Ich wusste schon, warum ich mich nie mit Kaiba prügelte. Auch wenn der Typ zwar groß, aber körperlich unscheinbar wirkte, hatte er diese fiesen Kampfsportarten drauf.

„Du hast die Chance, jetzt zu verschwinden, bevor ich dich richtig in den Boden massierte“, knurrte Kaiba dunkel. Er sprach nicht laut, und genau das machte seine Worte noch furchteinflößender. Obwohl ich ihm seine Androhung glaubte, klang eine Anspannung in seiner Stimme mit, die ich nicht ganz deuten konnte.

Ob Kato das auch hörte? Hoffentlich nicht. Hoffentlich verschwand er endlich. Nur mühsam und sichtlich mit Schwierigkeiten kam er langsam und taumelnd wieder auf die Beine. Ihm stand die Fassungslosigkeit über Kaibas Überlegenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. Aber war es wirklich schon vorbei? Sollte Kaiba wirklich mein Retter sein?

Er stand da wie ein Fels in der Brandung, strahlte solche Kraft und Autorität aus. „Verschwinde!“, Kaibas Stimme klang ruhig, aber dermaßen kalt, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Selbst mein Verfolger, Raufbold der Extraklasse, der sich sonst von niemandem etwas sagen ließ, reagierte darauf. Unschlüssig, ob er erneut angreifen oder wirklich abhauen sollte, wankte er, stierte dabei zwischen Kaiba und mir hin und her.

„VERPISS DICH!“, setzte Kaiba nach, dieses Mal keineswegs mehr ruhig. Da kuschte Kato. Wie ein geprügelter Hund buckelte er und torkelte davon.

Wow… damit hatte Kaiba mich wohl wirklich gerettet. Sonst hätte mir Kato vermutlich die Seele aus dem Leib geprügelt. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Kaiba mir mal helfen würde.

Zögerlich trat ich an seine Seite. „D-danke“, murmelte ich.

Er gab nur ein unwilliges Schnaufen von sich, blickte stur meinem Verfolger hinterher, der durch die Dunkelheit wankte.

„Du hast mich gerettet“, ich war mir nicht sicher, dass er mir überhaupt zuhörte. Sein Blick ging einfach nur stur geradeaus. „Ich revanchiere mich, wenn ich kann. Wenn ich mal etwas für dich tun kann, sag mir Bescheid.“

„Das kannst du“, seine Stimme klang jetzt monoton, fast ein bisschen kraftlos.

„Und was?“, fragte ich überrascht. Was konnte ich denn für jemanden tun, der sich alles leisten konnte?

„Ruf einen Krankenwagen“

„W-was?“ Was war das denn für eine merkwürdige Bitte? „Wozu denn?“

Sein Blick richtete sich weiter stur geradeaus. „Weil ich mir den Knöchel gebrochen habe“

Diagnose

>>Weil ich mir den Knöchel gebrochen habe«
 

Sollte das ein Witz sein? Kaiba stand doch auf sicheren Beinen und seine Stimme war vollkommen ruhig. Skeptisch glitt mein Blick über seine Beine, ziemlich schöne lange Beine wohlgemerkt. Er trug seine üblichen schwarzen Stiefel und in der Dunkelheit war nichts Ungewöhnliches auszumachen. Aber wenn er meinte…

Kopfschüttelnd entfernte ich mich einige Meter und rief per Handy einen Krankenwagen. Auch wenn ich bezweifelte, dass er wirklich einen brauchte. Zugegeben, als Kato ihn vorhin angegriffen hatte, hatte ich wirklich befürchtet, er könnte sich etwas getan haben. Aber er war so schnell wieder auf die Füße gekommen, dass er unmöglich einen gebrochenen Knöchel haben konnte. Er stand doch auf beiden Beinen.

Als ich mich wieder umdrehte und zu Kaiba zurückging, hatte er sich auf die Treppen vor dem Eingang gesetzt, das eine Bein auf der gleichen Stufe, auf der er saß, von sich gestreckt. Wortlos setzte ich mich neben ihn und musterte ihn kritisch. Sein Blick war seltsam glasig und im fahlen Mondlicht wirkte er blass. Wenn sein Knöchel gebrochen war, müsste er doch ziemlich starke Schmerzen haben, oder nicht? Aber dafür war er doch ziemlich ruhig und gefasst.

„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte ich vorsichtig.

Nach wie vor sah er mich nicht an. Vielleicht wollte er nicht, dass ich in seinen Augen erkennen konnte, wie schlimm die Schmerzen wirklich waren. Inzwischen glaubte ich ihm zumindest, dass sein Knöchel wehtat. Er versuchte nämlich, sein Bein so ruhig wie möglich zu halten, obwohl die Position ziemlich unbequem aussah, und seine Hände zitterten stark.

„Geh nach Hause, Wheeler.“

Ganz bestimmt nicht. „Ich bleibe“, sagte ich fest.

Er ballte die linke Hand zur Faust, bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Er hatte eindeutig Schmerzen. Und ich konnte ihm dabei nicht helfen. Was sollte ich schon groß tun? Pusten?

„Tut mir Leid“, murmelte ich nach einigen Minuten betreten.

„Was denn?“, fragte er tonlos.

„Das mit deinem Fuß. Hätte ich nicht so mein Maul aufgerissen, dann wäre das nicht passiert“

Insgeheim hoffte ich, dass er mir sagen würde, es wäre ja gar nicht so schlimm und auch nicht meine Schuld, aber den Gefallen tat er mir nicht. Er schwieg einfach zu dem Thema. Stattdessen fragte er nur: „Hast du Zigaretten dabei?“

„Klar“, ich überschlug mich fast, als ich hastig nach der Schachtel kramte und sie ihm hinhielt. Wortlos zog er eine Zigarette heraus und ließ sich von mir Feuer geben. Rauchen war eine gute Idee. Normalerweise tat ich das nur auf Partys, aber diese Situation erlaubte eine Ausnahme. Ich zündete mir ebenfalls eine an.

„Ich wusste nicht, dass du rauchst“, merkte ich an. Wenn ich ihn in ein Gespräch verwickelte, überbrückte ihm das die Zeit, bis der Krankenwagen eintraf, vielleicht leichter.

„Tu ich auch nicht“ Ja, das sah man daran, wie er die Zigarette hielt und an die Lippen führte. Keineswegs eine eingeübte Geste. Vielleicht wollte er sich dadurch auch nur ablenken. Ich fragte ihn danach, aber er ging darauf nicht ein, sondern schwieg mich beharrlich an.

Kaiba schien im Moment eh nicht sonderlich kommunikativ zu sein. Also saßen wir schweigend da, rauchten und hangen unseren Gedanken nach.

Fieberhaft überlegte ich, was ich nun tun sollte. Kaiba hatte mich zwar erfolgreich vor Kato gerettet, aber damit war die Situation noch lange nicht aus der Welt geschafft. Kato war ziemlich nachtragend und Kaiba würde nicht immer da sein, um mich zu beschützen. Um genau zu sein… wenn sein Fuß tatsächlich gebrochen war, würde er für Wochen ausfallen. Nur wegen meiner Dummheit.

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als er neben mir die Zigarette ausdrückte. Seine Hand zitterte fürchterlich. Überhaupt war ihm der Schmerz jetzt deutlich anzusehen. Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet, aber trotzdem schien er zu frieren. Dabei war es diese Nacht gar nicht mal kalt. Fröstelnd zog er den Mantel enger um die Schultern, zitterte leicht. Und sein Blick wurde immer glasiger. Verdammt, wo blieb nur dieser blöde Krankenwagen?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich vor dem Schultor anhielt und zwei Sanitäter heraussprangen. Ich rannte ihnen schnell entgegen, denn in der Dunkelheit würden sie uns sonst womöglich noch übersehen. Während ich sie zu Kaiba geleitete, erzählte ich ihnen, was passiert war. Aus mir sprudelte einfach alles heraus und ich wiederholte vermutlich an die tausend Mal, dass alles meine Schuld war. Aber sobald wir bei Kaiba ankamen, unterbrachen sie mich barsch. Sie sprachen wohl lieber mit dem Patienten selbst.

„Also, was haben wir denn?“, fragte der eine Sanitäter. Er war etwas dicker und schon älter. Mühsam ging er vor Kaiba in die Hocke. „Ist es dieses Bein?“

Kaiba nickte nur. Entweder benebelte der Schmerz seine Sinne oder ihn interessierte das alles nicht. Teilnahmslos sah er zu, wie ihm der Sanitäter vorsichtig den Stiefel auszog, sich dabei bemühte, das Bein so wenig wie möglich zu bewegen. Trotzdem zuckte Kaiba kurz zusammen. Ich sah, wie er fest die Zähne zusammenbiss, aber es kam kein Laut des Schmerzes über seine Lippen.

Sie schnitten die Hose bis zum Knie auf. Als der Knöchel freigelegt war, kam zum Vorschein, dass er wirklich ganz schön geschwollen und seltsam verfärbt war. Ja, ich konnte mir vorstellen, dass das wahrlich wehtun musste. Der alte Sanitäter tastete die Stelle äußerst behutsam ab, aber trotzdem sah man Kaiba an, wie unangenehm es war.

„Das ist definitiv kaputt“, er bemerkte das so nebenbei, als würde er übers Wetter reden. „Wir nehmen Sie mit ins Krankenhaus. Dort wird Ihr Bein geröntgt und dann kann entschieden werden, wie es weiter geht. Es muss zumindest stabilisiert werden“

Na klang ja herrlich! Dann hatte sich Kaiba dank mir wirklich den Knöchel gebrochen. Und er wirkte über die Diagnose keinesfalls überrascht.

Der alte Sanitäter winkte seinen Kollegen herbei, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte. „Wir tragen Sie jetzt zum Krankenwagen und dann stellen wir Ihr Bein erst mal ruhig.“

Die beiden Sanitäter wollten Kaiba scheinbar anheben, aber er kam ihnen zuvor. Mit einem Mal stand er einfach auf. „Ich gehe selbst“, meinte er kühl. Dann lief er langsam und ziemlich wackelig auf den Krankenwagen zu.

Was… sollte denn das? Tat das denn nicht weh? Wie konnte er überhaupt laufen, wenn sein Knöchel doch angeblich gebrochen war? Ich fragte die Sanitäter danach.

„Laufen kann man schon“, meinte der Ältere, „Es tut nur höllisch weh. Hängt aber auch davon ab, ob es überhaupt ein Bruch ist und wie der nun genau aussieht. Ich zumindest würde nicht damit laufen wollen, aber wenn er meint…“

„Also muss er vielleicht gar nicht gebrochen sein?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Der Sanitäter schnalzte mit der Zunge. „Lässt sich ohne Röntgengerät nicht sagen. Vielleicht ist es gebrochen, vielleicht nur angebrochen, vielleicht ist das Sprunggelenk in Mitleidenschaft gezogen oder die Sehnen und Bänder. Sicher ist nur, dass der Fuß verletzt ist“

Mein Mut sank wieder. Also folgten wir Kaiba schweigend in leichtem Abstand. So besonders toll lief es sich für ihn anscheinend wirklich nicht, denn ich sah, wie er beim Auftreten immer zögerlicher wurde. Aber warum hatte er dann abgelehnt? Wahrscheinlich weil er meinte, es würde seine Autorität untergraben, sich tragen zu lassen. Das war typisch für ihn.

Kopfschüttelnd schloss ich zu ihm auf. Ich schnappte mir seinen Arm und legte ihn um meine Schulter, stütze ihn damit soweit, dass er mit dem linken Bein nicht mehr auftreten musste. Vermutlich hätte er normalerweise dagegen protestiert, aber jetzt schien ihn der Schmerz genug zermürbt zu haben, so dass er es einfach zuließ.

Beim Krankenwagen half ich ihm, ihn auf eine Trage zu setzen. Die Sanitäter legten ihm eine Schiene an, die seinen Knöchel ruhig stellen sollte.

Ich wollte ebenfalls in den Krankenwagen klettern, doch der junge Sanitäter hielt mich zurück. „Solange du kein Familienmitglied bist, darfst du auch nicht mitfahren“

„A-aber ich muss mit!“, ich konnte Kaiba doch jetzt nicht allein lassen.

„Du kannst hier nicht mitfahren. Aber du kannst nachkommen. Das ist erlaubt“

„Oh, okay“, dann müsste ich ihnen eben folgen. Ich rannte schnell zur nächsten Bushaltestelle und machte mich auf den Weg zum Krankenhaus, auch wenn es umständlich war. Ich musste zweimal umsteigen und eine halbe Ewigkeit auf die Busse warten, aber das war es wert.

Als ich endlich im Krankenhaus ankam und mich zu Kaiba durchgefragt hatte, entdeckte ich ihn in einem Behandlungszimmer. Er saß auf dem Behandlungstisch und starrte lethargisch vor sich hin. Sein Bein war nach wie vor geschient und ein Eispack lag auf seinem Knöchel.

„Hey“, vorsichtig ging ich näher. Er sah wirklich total fertig aus. Seine Haut war so blass… Nur langsam richtete sich sein Blick auf mich, musterte mich abwesend.

„Was machst du hier?“, fragte er leise.

„Dir Gesellschaft leisten, bis du weißt, was nun ist“, ich versuchte, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, aber irgendwie gelang es mir nicht. Es war furchtbar, Kaiba so zu sehen. Er war sonst immer so stark und unnachgiebig. Aber jetzt sah er eher aus wie ein Häufchen Elend.

„Tut es schlimm weh?“, ich setzte mich auf einen kleinen Stuhl neben dem Tisch.

Er schüttelte nur träge den Kopf. „Schmerzmittel“

Stimmt, er sah irgendwie ein bisschen benebelt aus, als hätten sie ihn auf einen Trip geschickt. Aber wenn er dadurch keine Schmerzen hatte, war es vermutlich gar nicht so schlecht.

„Woher wusstest du, dass der Knöchel gebrochen ist?“, fragte ich vorsichtig. „Er hätte ja auch nur verstaucht sein können“

Er musterte mich versonnen. Sein Blick war viel weicher als sonst. Vielleicht sollte man ihn öfter mal unter Drogen setzen, denn dann waren seine Augen erstaunlich schön. Ein weiches leuchtendes Blau, das mich ein wenig an… ja an was? Das Wasser im Swimmingpool sah immer so aus. Der Vergleich kam mir selber total blöde vor, aber mir fiel kein besserer ein.

„Es hat sich angefühlt, als würde etwas in meinem Knöchel wegbrechen“, abwesend wanderte sein Blick durch den kahlen Raum.

„Tatsächlich?“ Aber dafür war er wirklich schnell wieder auf die Beine gekommen.

„Fühlt sich ziemlich eklig an. Als würde der Knochen aus dem Bein springen wollen“, murmelte er. „Und außerdem wird einem schlecht, wenn man sich etwas bricht.“

„Wirklich?“, das war mir neu. „Also war dir schlecht und deshalb wusstest du es?“

Er nickte nur. Interessant. Davon hatte ich noch nie gehört, aber ich hatte mir auch noch nie etwas gebrochen.

„Woher weißt du das?“

Er wiegte den Kopf hin und her. „Hab mir vor ein paar Jahren das Handgelenk gebrochen. Da war es auch so.“

Hey, Kaiba antwortete tatsächlich auf meine Fragen. Ein Wunder, wir konnten uns tatsächlich normal unterhalten. „Wie hast du dir denn das Handgelenk gebrochen?“, fragte ich neugierig.

Er zuckte leicht mit den Schultern, betrachtete kritisch seinen eingeschienten Fuß. „Gosaburo hat es mir gebrochen“

Bitte was? Wie konnte er das so leichtfertig erzählen? Das war ja furchtbar! „W-wieso das?“

Er rollte mit den Augen, als fände er die Frage doof. Was auch immer die Ärzte ihm gegeben hatten, es schien ziemlich stark dosiert zu sein. „Na, weil ich ihm einen Zahn ausgeschlagen habe“

„W-wie jetzt?“

„Na ganz einfach. Wir haben uns gestritten, ich habe ihn beleidigt, daraufhin hat er mir eine gescheuert und ich hab ihm dann eine reingehauen. Er hat dabei einen Zahn verloren und das machte ihn so wütend, dass er mir das Handgelenk gebrochen hat“

Das… okay, das war total krank!

„H-habt ihr euch öfter so heftig gestritten?“

Er schüttelte vage den Kopf. „Eigentlich nicht“

Ich wollte noch viel mehr fragen, aber da kam der Arzt ins Zimmer. Er pappte zwei Röntgenaufnahmen an die Lichttafel. Sie zeigten wohl Kaibas Knöchel, aber ich konnte darauf nicht wirklich etwas Sinnvolles erkennen.

Der Arzt deutete auf eine Stelle, an der das weiße Ding, was wohl irgendein Knochen oder so war, aussah, als wäre ein Riss darin. „Wirklich ein schöner Bruch“, sinnierte er.

„Danke“ Dachte Kaiba etwa, das wäre ein Kompliment gewesen. Obwohl… so wie er aussah, schien er gar nichts mehr zu denken.

„Damit es zu keinen Unklarheiten kommt, es ist nur angebrochen, das wird Sie sicherlich freuen“

Kaiba nickte, aber ich bezweifelte, dass er überhaupt verstand, was der Typ da sagte. Ich konnte aber erleichtert aufatmen. Das klang so, als wäre es nicht ganz so schlimm wie befürchtet.

„Die Außenbänder sind überdehnt, aber da Sie ja im Moment eh nicht laufen können, ist das egal“

„Was genau heißt das jetzt?“, fragte ich gezwungen ruhig.

„Die Behandlung wird langwierig, aber trotzdem angenehmer als bei einem Bruch, ganz klar.“

Das »langwierig« gefiel mir gar nicht.

„Ich würde dafür plädieren, die Fraktur mit einer OP zu stabilisieren. Wir fixieren das mit ein paar Schrauben und dann wächst das auch wieder vernünftig zusammen“

Oh, Gott! Das klang wirklich übel. Aber Kaiba realisierte das dank seinem Trip scheinbar nicht oder er fand es nicht so schlimm.

Ungläubig starrte ich den Arzt an. „Operieren?“

Der Arzt nickte nur. „Aber erst morgen. Ihr Knöchel ist noch zu geschwollen, da ist die Gefahr einer Infektion zu groß“, erstmals wandte er sich Kaiba zu und lächelte ihn groß an. „Jetzt gipsen wir Ihren Fuß erst einmal ein und gleich morgen früh operieren wir. Bis dahin dürfte die Schwellung zurückgegangen sein“

Oh Gott, wegen mir wollten sie ihn aufschlitzen! Was hatte ich nur angerichtet? Dass war alles so furchtbar. Nur Kaiba sah das gelassen. Er zeigte nur ein Däumchen hoch und murmelte: „Super“ Man, ich wollte auch was von dem Zeug, das ihn dermaßen entspannt gemacht hatte.

„Gibt es denn keine Alternative?“, fragte ich panisch.

„Naja…“, der Arzt musterte den Bruch erneut eingehend. „Man könnte den Knöchel auch ohne OP behandeln, aber ich persönlich halte die operative Methode für die beste.“

Ohne OP klang doch viel besser.

„Ich halte von solch laschen Behandlungen nichts. Eine gute altbewährte Operation ist der sicherste Weg“

„Aber nicht notwendig!“

Er warf mir einen strengen Blick zu. „Das haben nicht Sie sondern der Patient zu entscheiden. Und ich rate wirklich zu der Operation“

Das würde Kaiba doch nicht machen lassen! Wer ließ sich denn freiwillig das Bein aufschlitzen?

Aber dem schien das ganz egal zu sein. „Von mir aus“, murmelte er nur und starrte abwesend die Deckenleuchte an.

„Großartig“, der Arzt strahlte richtig. „Dann gipsen wir Ihr Bein erst einmal ein und morgen operieren wir dann.“
 

Ich hatte geduldig gewartet, während Kaiba versorgt wurde. Erst, als er in sein Zimmer gebracht wurde, durfte ich wieder zu ihm. Er lag auf dem Bett und betrachtete skeptisch seinen frisch eingegipsten Fuß. Der Gips ging bis zur Mitte des Schienbeins und ließ nur die Zehen ausgespart.

„Wie fühlst du dich?“, fragte ich vorsichtig.

Er sah kritisch zu mir auf. „Du bist ja immer noch da“

„Sieht so aus“, ich setzte mich an sein Bett. Er schien immer noch unter dem Einfluss der Medikamente zu stehen und zusätzlich auch noch müde zu werden. „Hast du Angst vor der Operation?“

„Warum?“, er legte den Kopf schief, als verstünde er nicht, was daran denn besorgniserregend sein könnte. Scheinbar war er wirklich noch ziemlich benebelt.

„Ach nichts, es wird schon alles gut gehen“, ich schenkte ihm ein Lächeln. Irgendwie sah er im Moment ja schon süß aus. Seine blauen Augen waren wirklich bezaubernd. Vorher war mir seine Augenfarbe nie wirklich aufgefallen, aber jetzt konnte ich nicht umhin, zu erkennen, dass seine Augen der absolute Wahnsinn waren.

Er gähnte verhalten, wobei er mich aber weiter beobachtete. „Ich will schlafen“, nuschelte er.

Ich verstand den Wink. „Dann lasse ich dich wohl besser allein, was?“, seufzend stand ich auf. „Dann schlaf gut. Ich komme dich morgen wieder besuchen, ja?“

Es war ein Reflex. Ich wusste nicht, wieso ich es tat, aber während ich sprach, streckte ich meine Hand aus und streichelte ihm durchs Haar, wie man es bei einem Kind tat, um es zu trösten. Nicht, dass es ihn gestört hätte, dafür bekam er sowieso zu wenig mit, aber ich erschrak über mich selbst. Ich vergaß, wer da vor mir saß. Auch wenn er benebelt irgendwie niedlich aussah, das war immer noch Seto Kaiba, ein eiskalter Geschäftsmann.

Aber man musste mir zugutehalten, dass er im Moment keineswegs eiskalt wirkte. Ich konnte einfach nicht anders. Vorsichtig zog ich ihn in eine Umarmung, hielt ihn fest bei mir, während ich weiter tröstend über sein Haar strich. „Es wird alles wieder gut“, wisperte ich in sein Ohr. „Wir schaffen das schon und ich helfe dir, wo ich nur kann“ Das war ja auch das Mindeste! Trotzdem sollte ich ihn wohl langsam mal wieder loslassen, auch wenn er gerade so niedlich war und äußerst angenehm roch.

Ich musste mich geradezu von ihm abstoßen. Hastig trat ich ein paar Schritte zurück. Er sah mich nur unverwandt an, blinzelte ein wenig verwirrt. Aber seine Augen beherbergten nach wie vor dieses irritierend schöne Blau.

„Wir sehen uns morgen“, ich winkte ihm zum Abschied und stürmte dann aus dem Zimmer. Was zum Teufel war das nur gewesen? Es war, als hätte er mich magnetisch angezogen. Ich hatte mich dem gar nicht widersetzten können, ich musste ihn einfach in den Arm nehmen.

Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg nach Hause. Das lag bestimmt nur an dieser merkwürdigen Situation. Kaiba mal ganz anders als sonst und dazu die irrsinnigen Schuldgefühle. Das konnte einen schon aus der Bahn werfen. Morgen würde das sicher wieder in Ordnung sein.

Krankenhaus

Ich hatte kaum geschlafen, denn jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Kaiba wieder vor mir, wie er auf dem Bett saß und mich mit seinen großen blauen Augen ansah.

Ich hatte zwar versprochen, Kaiba zu besuchen, aber irgendwie schaffte ich es einfach nicht. Gestern hatten ihn erst die Schmerzen und dann die Schmerzmittel ziemlich zuträglich gemacht. Aber wie sollte es heute sein? Wenn er wieder bei klarem Verstand war, würde er mich wahrscheinlich sowieso nur anschreien und mir die Schuld an allem geben. Und wenn er, wie wegen der Operation nicht anders zu erwarten war, wieder unter Schmerzmitteln stand, würde er mich wirklich wieder mit diesen blauen Augen anschauen. Es machte mich nervös, wenn er mich so ansah.

Den ganzen Tag lang versuchte ich mir einzureden, dass es ihm sowieso nicht auffallen würde, ob ich kam oder nicht. Dass es ihm egal wäre. Wäre die Situation umgekehrt gewesen und ich hätte mir seinetwegen den Knöchel gebrochen, würde ich ihn bestimmt nicht sehen wollen.

So gesehen lief es gar nicht so schlecht. Ich stürzte mich in Hausarbeit, ging einkaufen, machte Hausaufgaben für die vermutlich nächsten Hundert Jahre… Aber irgendwann war einfach nichts mehr zu tun. Also ging ich spazieren, um mich abzulenken.

Kaiba wollte mich garantiert nicht sehen. Inzwischen war später Nachmittag. Sie würden mittlerweile sein Bein aufgeschlitzt und Schrauben reingedreht haben. Also würde er bestimmt alles andere als gut auf mich zu sprechen sein. Außerdem war Mokuba bestimmt bei ihm.

Das alles klang recht überzeugend in meinen Ohren. Doch als ich aus meinen Gedanken hochschreckte, hatten mich meine Füße zielsicher zum Krankenhaus getragen. Verdammte Füße!

Da nützte alles nichts mehr. Wenn ich schon da war, konnte ich Kaiba auch besuchen. Ich würde nur schnell Hallo sagen und dann wieder verschwinden. Dann würde mein Gewissen endlich Ruhe geben.

Ich rechnete mit allem, als ich ins Zimmer trat. Ein tobender Kaiba, ein benebelter Kaiba… Doch als ich eintrat, schlief er. Großartig. Dann hatte ich meine Pflicht, nach ihm zu schauen erfüllt und kam trotzdem fein aus der Sache heraus.

Mokuba saß an seinem Bett und las scheinbar ein Buch. Als ich gerade wieder gehen wollte, blickte er auf. Er lächelte mich an, deutete mir näher zu kommen. Musste das sein? Unwillig trat ich näher.

Ich versuchte, mich auf Mokuba zu konzentrieren, doch meine verräterischen Augen, wanderten immer wieder zu Kaiba. Seine Haare waren ganz verwuschelt, umrahmten die entspannten Gesichtszüge. Seine Hände ruhten auf der weißen Bettdecke, wirkten darauf irgendwie zerbrechlich.

„Haben sie schon operiert?“, fragte ich leise.

Mokuba schüttelte den Kopf. „Als sie ihn in den OP schieben wollten, hat er entschieden, doch lieber die alternative Methode zu versuchen.“

Ein Glück! Wenigstens heute Morgen schien er klar genug im Kopf gewesen zu sein, um sich nicht aufschlitzen zu lassen. „Und was haben Sie gemacht?“

„Ein Spezialist hat sich der Sache angenommen und wird sich jetzt um die Therapie kümmern“, er betrachtete seinen Bruder nachdenklich. „Er muss noch einen Tag hierbleiben, aber danach kann er nach Hause“ Der Kleine grinste leicht. „Aber er spricht ein bisschen zu stark auf die Schmerzmittel an.“

„Wieso?“ Hatte er Mokuba auch mit diesen großen blauen Augen und diesem niedlichen Blick hypnotisiert?

„Weil er von dem Zeug irgendwie high wird. Er hat vorhin die ganze Zeit den Gips angestarrt und irgendwie nicht ganz verstanden, wo der eigentlich herkam.“

Haha, lustig! Armer Kaiba. Die Ärzte setzten ihn unter Drogen und er konnte nichts dagegen tun.

„Sie haben die Dosis jetzt ein wenig gesenkt.“, versicherte er schnell „Sie meinten, dass er so heftig darauf reagiert, könnte daran liegen, dass er überhaupt keine Medikamente gewohnt ist. Er nimmt normalerweise nie Tabletten“

Das wunderte mich doch. „Ich dachte, er hat öfter mal Kopfschmerzen“

„Ja, aber nicht so schlimm, dass er Tabletten deswegen nehmen würde. Er meint immer, die Dinger machen ihn so furchtbar müde“, bedauernd schüttelte Mokuba den Kopf. „Kann auch sein, dass er einfach den Wirkstoff der Schmerzmittel nicht verträgt. Aber ich glaube, er verträgt generell einfach nichts“

Aber war das denn nicht gut? War es nicht besser, Medikamente schlugen stärker an als gedacht, als gar nicht? Armer Kaiba. Wenn er die Schmerzmittel kaum vertrug, wie sollte das dann werden? Würde er lieber die Schmerzen in Kauf nehmen, als Gefahr zu laufen, sich selbst auszuknocken? Das würde zumindest zu ihm passen.

„Ist er narkotisiert?“, fragte ich vorsichtig.

Mokuba schüttelte den Kopf. „Wovon denn? Er schläft nur. Die Medikamente machen ihn müde.“

„Dann sollte ich wieder gehen“ Ich hatte meine Pflicht getan und ihn besucht. Jetzt wusste ich, dass es ihm soweit gut ging. Und ich war tierisch erleichtert, dass er die Operation nicht durchgezogen hatte.

„Wollen wir nicht vorher in der Cafeteria noch etwas zusammen essen?“, Mokuba sah mich hoffnungsvoll an. „Es ist so langweilig, hier allein zu warten. Ich lade dich auch ein“

„Na schön“ Also begleitete ich den Kleinen in die Cafeteria. Mokuba war ja ziemlich gut drauf. Mich wunderte es ein wenig, dass er auf mich nicht sauer war, obwohl Kaiba sich den Knöchel doch wegen mir gebrochen hatte. Aber vielleicht wusste er das ja gar nicht. Ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen.

Wir unterhielten uns nur über Belangloses. Mokuba kaute mir bald ein Ohr ab, mit seinen Geschichten über die Schule und seine Freunde. Nur über seinen Bruder redete er nicht.

Aber die Zeit verstrich überraschend schnell. Ehe ich mich versah, war es draußen bereits dunkel.

„Du solltest langsam zu deinem Bruder zurück und ich nach Hause“, meinte ich.

Der Kleine nickte nur. „Mal sehen, ob er jetzt wach ist.“

Eigentlich wollte ich mich aus dem Staub machen, aber Mokuba ließ mir gar keine Wahl. Er packte meine Hand und zerrte mich mit ins Krankenzimmer. Innerlich betete ich, dass Kaiba noch schlief. Ich wollte jetzt keine Konfrontation mit ihm.

Doch den Gefallen tat er mir natürlich nicht. Als wir eintraten, saß er auf dem Bett, den Gips auf mehreren weichen Kissen gebettet. Er lauschte aufmerksam einem Arzt.

„Das ist der Spezialist, Dr. Hikawe“, raunte mir Mokuba zu.

„… Sie werden die ersten zwei Wochen nicht auftreten können. Aber danach legen wir Ihnen einen Gehgips an“

Kaiba nickte nur. Er wirkte jetzt nicht mehr so benebelt wie gestern, sondern wach und aufmerksam. „Kann ich damit dann wieder normal laufen?“

Der Arzt lächelte, als hätte er etwas Dummes gesagt. „Natürlich nicht. Aber Sie können wieder auftreten und darüber sollten Sie schon zufrieden sein. Sie haben großes Glück, dass der Knöchel »nur« angebrochen ist.“

Kaiba wirkte davon allerdings nicht begeistert. „Aber ich muss trotzdem einen Gips tragen“

„Ja, zwei Wochen und schon danach kriegen Sie einen Gehgips. Bei einem richtigen Bruch, wäre das Ganze noch langwieriger. Sie werden merken, dass dieser kleine Unterschied auch schon etwas wert ist. Aber die nächsten sieben Wochen werden die Krücken Ihre ständigen Begleiter sein“

Das schien Kaiba nicht zu gefallen. Er knirschte leicht mit den Zähnen. „Und wann entlassen Sie mich?“

„Vermutlich morgen. Wir schauen uns noch an, ob der Bruch stabilisiert ist und dann können Sie nach Hause. Die Sommerferien beginnen in fünf Wochen, nicht wahr? Ich werde Sie bis dahin krankschreiben.“

Also fiel er den Rest des Schuljahres aus. Naja, konnte ihm ja egal sein. Seinen Notenschnitt von 1,0 hatte er sicher schon in der Tasche.

„Ich schaue Morgen noch einmal nach Ihnen“ Der Arzt nickte Kaiba zum Abschied noch einmal zu und verließ dann das Zimmer.

Mokuba sprang aufs Bett und sah seinen Bruder aus großen Augen an. „Du hast es gut“, er lächelte breit. „Fünf Wochen schulfrei. Sowas hätte ich auch mal gern“

„Wir können ja tauschen“ Kaiba konnte bei solchen Vorschlägen nur mit den Augen rollen, die dank seinem eiskalten Blick nicht mehr so hypnotisierend wie gestern waren. Interessant. Vielleicht schaute er deswegen immer so finster drein.

Mokuba zog eine Grimasse. „Lieber nicht, ich will nicht so einen blöden Gips tragen“

„Vielen Dank auch!“, missmutig betrachtete Kaiba sein Bein. „Sieben Wochen… Das ist grausam!“

„Tja das kommt davon, wenn man nicht laufen kann“, feixte Mokuba, der sofort von einem vernichtenden Blick seines Bruders getroffen wurde.

Also hatte er es ihm wirklich nicht gesagt.

Sein Blick richtete sich auf mich. „Was willst du, Wheeler?“

„Nach dir schauen?“, vielleicht erinnerte er sich ja gar nicht mehr an gestern, an mein Versprechen, ihn zu besuchen.

„Wozu?“, sein Blick war richtig misstrauisch. Irgendwie ärgerte mich das. Ich hatte den ganzen Tag damit gehadert, ihn zu besuchen, weil ich es ihm ja versprochen hatte, und er erinnerte sich nicht mal mehr daran.

„Weil ich gesagt habe, dass ich nach dir schaue. Deswegen! Ich halte meine Versprechen“

Er neigte den Kopf etwas, betrachtete mich äußerst kritisch. „Das hast du ja jetzt gemacht. Also kannst du auch wieder gehen.“

„Werde ich auch!“ Was sollte ich noch länger hierbleiben? Wenn ich blieb, würde das zu einem Streit ausarten und das wollte ich einfach nicht. Auch wenn er jetzt nicht mehr so fertig wie gestern war, an dem angebrochenen Knöchel würde er noch eine ganze Weile zu knabbern haben.

Ich wollte mich gerade der Tür zuwenden, als mein Blick auf seine Hand fiel. Er hatte sie krampfhaft zur Faust geballt. Warum? Misstrauisch musterte ich ihn. Sein ganzer Körper war angespannt und sein Blick war wieder ein wenig glasig geworden, wenn auch nicht so schlimm wie gestern.

Und da war es wieder, mein schlechtes Gewissen. „Es tut weh, oder?“

Er knurrte leise. „Was geht dich das an?“ Ja, er hatte Schmerzen. Aber zugeben würde er das nie.

„Soll ich den Arzt holen?“ fragte Mokuba besorgt.

Aber der Sturkopf von Kaiba schüttelte nur den Kopf. „So schlimm ist es nicht“

Irgendwie glaubte ich ihm das nicht. Vermutlich könnte man vor seinen Augen ein Messer in sein Bein stechen und er würde trotzdem nicht zugeben, dass es wehtat.

Selbst Mokuba fiel auf Kaibas hartes Getue nicht herein. „Ich geh den Arzt holen“, murmelte er und verschwand nach draußen.

Kaiba seufzte nur schwer. „Wieso musstest du ihm das sagen?“ Sein Blick war vorwurfsvoll und er tendiert schon wieder dazu, viel zu blau zu werden.

„Damit dir jemand hilft.“, vorsichtig ging ich näher ans Bett. „Du solltest die Schmerzen nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Er schnaubte nur. „Das mache ich auch nicht! Aber ich kann auch nichts dagegen tun, also was solls“

„Du könntest Schmerzmittel nehmen.“

„ich könnte es auch lassen“, zischte er giftig.

Das brachte nichts. Der Arzt konnte ja gleich entscheiden, wie es weiterging. Mich interessierte vielmehr etwas anderes. „Warum hast du Mokuba nicht gesagt, dass es meine Schuld war?“

„Würde das etwas ändern?“

„Weiß nicht… würde es?“

Er musterte mich kritisch mit diesen immer blauer werdenden Augen. Hastig senkte ich den Blick. „Es würde gar nichts ändern. Mein Knöchel wäre nach wie vor gebrochen.“

„Angebrochen“, warf ich ein. Wir wollten ja nicht übertreiben.

Aber er ließ sich nicht davon beirren. „Nur Mokuba würde dich dann hassen, aber davon habe ich nichts.“

Überrascht sah ich doch wieder auf. „Wieso nicht? Ich dachte immer, du kannst es nicht leiden, dass er mit uns rumhängt.“

„Kann ich auch nicht.“, er bewegte sein Bein nur ein winziges Stück, aber es reichte aus, um ihn zusammenzucken zu lassen. Oh Gott, so schlimm war es schon? Er tat mir so schrecklich leid, dass er solchen Schmerzen hatte. „Aber wenigstens weiß ich bei euch, dass ihr ihn nicht dazu anstiftet, zu rauchen oder Drogen zu nehmen“, fuhr er fort. Seine Stimme klang ein wenig gepresster als zuvor.

Also vertraute er uns quasi seinen Bruder an, weil er wusste, dass wir gut auf ihn aufpassten. Er vertraute uns. Wahnsinn. Das hätte ich wirklich nie von ihm gedacht.

Endlich kam Mokuba wieder, mit dem Arzt im Schlepptau.

Hikawe trat an das Bett heran. „Sie haben also Schmerzen“ Vorsichtig strich er über den Gips. „Ist es ein Druckgefühl?“

Kaiba schüttelte den Kopf, beobachtete ihn verbissen.

„Gut. Dann sitzt der Gips wenigstens richtig. Wenn er zu eng wäre, wäre das wirklich schlecht.“ Trotzdem drückte er weiter darauf herum, auch am Knöchel. „Wichtig ist, dass der Knöchel wirklich fixiert ist.“ Aber erst als er sich der Fußsohle widmete, zuckte Kaiba zusammen. Und dann kam etwas, dass einem wirklich das Herz brechen konnte. Ein leises klägliches Wimmern drang über Kaibas Lippen. In seinen Augen war der Schmerz so deutlich zu erkennen. Ich biss die Zähne zusammen. Wenn er so litt, erwachte mir ein seltsamer Beschützerinstinkt. Ich wollte ihn an mich ziehen und vor allem Übel beschützen. Ich wollte durch sein Haar streicheln und ihm ins Ohr flüstern, dass alles gut werden würde.

„Ein bisschen Schmerz ist normal. Das lässt sich nicht vermeiden.“ Hikawe bettete Kaibas Bein wieder vorsichtig auf den Kissen. „Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht. Wir können die Schmerzen mit Schmerzmitteln behandeln.“

Kaibas Blick zufolge begeisterte ihn das nicht sonderlich. Klar, er war ja auch ein Kontrollfreak und fand es bestimmt nicht toll, von Medikamenten ausgeknockt zu werden.

Doch der Arzt lächelte nur verständnisvoll. „Wir haben Ihr Blut untersucht. Bei ihnen liegt eine Unverträglichkeit gegen die anderen Medikamente vor. Deswegen haben die zu stark gewirkt. Aber jetzt geben wir Ihnen andere. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Die werden Sie besser vertragen.“

Kaibas Blick war misstrauisch.

„Ansonsten helfen nur Ruhe und kühlen. Ich werde veranlassen, dass Ihnen eine Schwester das Schmerzmittel verabreicht“, Hikawes Blick war warm, „Das wird schon wieder“

Damit ging er hinaus. Kaum fünf Minuten später kam eine Schwester und verabreichte ihm das Mittel. Kaiba wirkte nicht sonderlich begeistert, aber er ließ es zu. Zum Glück schien es schnell zu wirken, denn seine Augen waren so furchtbar blau, dass mir davon schwindelig wurde. Aber dank dem Mittel wurden sie schnell wieder dunkler.

„Ist es jetzt besser, großer Bruder?“, Mokuba sah ihn erwartungsvoll an.

Er nickte nur. „Du solltest jetzt nach Hause gehen“

„A-aber-“

„Mach dir keine Sorgen, ich komme morgen nach Hause, okay?“, Kaiba wuschelte dem Kleinen durch die Haare. „Also geh schon“

Er wollte seine Ruhe. „Ich werde ihn bringen“, meinte ich fest. Wenigstens wenn ich ihm Ruhe verschaffte, konnte ich ihm helfen. „Komm, Mokuba“ Ich packte den Kleinen an der Hand und zog ihn nach draußen. Er schaffte es gerade noch, seinem Bruder zu winken, bevor wir draußen waren.

„Wieso bringst du mich?“, fragte Mokuba, als wir uns auf den Weg machten, „Du wohnst doch in der anderen Richtung“

Ich seufzte schwer. „Weil ich dir etwas gestehen muss“ Hoffentlich hasste er mich danach nicht. War ja nett, dass Kaiba nichts gesagt hatte, aber ich wollte Mokuba nicht belügen. „Dein Bruder ist nicht einfach gestolpert. Er wurde gestoßen“

Abrupt hielt er inne. Aus immer größeren Augen starrte er mich an. „Du hast ihn geschupst?“, fragte er fassungslos.

„Nein, nein wirklich nicht“ abwehrend hob ich die Hände. Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte.

Als ich geendet hatte, nickte Mokuba nur andächtig. „Verstehe…“ Er schien einen Augenblick angestrengt nachzudenken. Dann drehte er sich plötzlich um und lief schnellen Schrittes die Straße entlang.

„W-warte“, ich musste rennen, um ihn wieder einzuholen. „Bist du jetzt sauer auf mich?“

Er schüttelte nur den Kopf, lief stur weiter. „Danke, dass du mir das gesagt hast. Geh nach Hause, ich muss noch etwas erledigen“

„A-aber…“

Erneut blieb er stehen, sah mich groß an. „Kommst du meinen Bruder morgen wieder besuchen?“

„S-sollte ich?“

Mokuba nickte. „Das wäre gut, denke ich.“, er lächelte mich groß an. „Also bis morgen“, damit rannte er davon.

Sowas… Was erhoffte er sich denn davon, wenn ich Kaiba weiter besuchte? Ich hatte es sowieso vorgehabt, auch wenn ich mir nicht sicher war, dass Kaiba darüber wirklich erfreut war. Außerdem machten mich seine Augen wahnsinnig. Jedes Mal, wenn sie so hell wurden, hatte ich das Gefühl, davon absorbiert zu werden. Das war ziemlich beunruhigend, aber gut. Dann würde ich ihn halt besuchen.

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Das tat ich auch. Am nächsten Tag ging ich ihn pünktlich zur Mittagszeit besuchen. Überraschenderweise war das Essen in der Krankenhauscafeteria nämlich ausgezeichnet. Also verleibte ich mir erst einmal einen Burger ein. Vielleicht sollte ich Kaiba auch etwas mitbringen. Im Vergleich zum Essen in der Cafeteria sah das Krankenhausessen nicht ganz so lecker aus. Aber was aß der Kerl eigentlich? So schlank wie der war bestimmt nur Salat. Also brachte ich ihm Salat mit.

Als ich eintrat, standen Kaiba und der Arzt in der Mitte des Raumes. Naja, der Arzt stand. Kaiba hingegen schien wohl gerade Bekanntschaft mit seinen Krücken zu machen. Etwas unbeholfen stützte er sich damit, darauf bedacht, mit dem Gips nicht den Boden zu berühren.

„Das klappt doch schon wunderbar“, lobte Hikawe, „Anfangs wird Ihnen das Laufen damit vielleicht schwer erscheinen, aber Sie gewöhnen sich sicherlich schnell daran.“

Kaiba bedachte die Krücken nur mit einem misstrauischen Blick. Er mochte die Dinger nicht. Aber was trug er da eigentlich? Kein Krankenhauspyjama mehr, aber auch nicht sein typisches Geschäftsmannoutfit. Nein er trug eine schwarze Jogginghose und ein weißes Hemd. Allein die Kombination sah schon seltsam aus, aber Kaiba in so einer Hose war einfach zum Brüllen komisch.

„Nettes Outfit“, ich grinste ihn unverschämt an, als er mir einen finsteren Blick zuwarf.

„Spotten Sie nicht!“, fuhr mich Hikawe streng an.

„Schon gut“, abwehrend hob ich die Hände.

„Schon mal probiert, mit einem Gips in normale Hosen zu kommen?“, knurrte Kaiba. Er starrte mich immer noch böse an, nahm mir den Spruch wohl wirklich übel. Kein Wunder. Normalerweise war er ja schon fast krankhaft auf sein Äußeres fixiert und nun wurde er zu Schlabberhosen verdammt. Ich sollte ihn lieber ablenken, bevor er mich mit seinem Blick erdolchte.

„Salat“, triumphierend hielt ich mein Mitbringsel hoch. „Ich habe dir Salat mitgebracht“

„Oh Salat, wirklich?“, fragte er gespielt begeistert. „Na wenn ich Salat habe, ist ja alles wieder gut. Da sieht die Welt doch gleich anders aus!“

Ich blinzelte verwirrt. „I-ist das sarkastisch gemeint?“

Schnaufend humpelte er zum Bett und sank darauf nieder, wobei er mich mit einem vernichtenden Blick bedachte. „Rate doch mal“

„Vermutlich schon, ja“

„Darf ich bitten?“ Hikawe sah uns beide strafend an. Dabei hatte ich ja gar nichts gemacht. „Also um fortzufahren. An das Laufen mit den Krücken werden Sie sich schon gewöhnen. Denken Sie daran, den Fuß die ersten Tage immer schön hochzulegen und nicht aufzutreten. Am besten halten Sie das ganze Bein so ruhig wie möglich.“

Kaiba nickte. „Schon klar!“

„Über die Medikamente wissen Sie auch Bescheid…“, er nickte zufrieden. „Sobald Ihr Bruder da ist, können Sie gehen – also mit den Krücken meine ich. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie jederzeit anrufen. Und wenn nicht, sehen wir uns in zwei Wochen“

Kaiba nickte nur leicht.

Hikawe lächelte zum Abschied noch einmal, dann ging er hinaus.

Hatte ich das richtig verstanden? Kaiba war entlassen? Ich fragte ihn danach.

„Was kümmert es dich?“, fragte er nur mürrisch.

„Ich wollte es nur wissen.“ Seufzend stellte ich den Salat auf den Nachttisch. Er warf einen neugierigen Blick darauf, aber was er sah, schien ihn nicht zu begeistern. Dabei war der Salat gar nicht schlecht. Gurke, Tomate, Salat Möhren, Mais… Alles, was gut und lecker war. Doch Kaiba verschmähte ihn, ja er warf ihm sogar einen geradezu feindseligen Blick zu.

„Sehe ich aus wie ein Hase, oder was?“, zischte er giftig.

„Ich hab es doch nur gut gemeint!“ Was hatte der Kerl denn für miese Laune? Sollte er doch froh sein, dass er nach Hause konnte.

„Wann kommt Mokuba denn?“

„Sobald er fertig ist!“, raunte er. Er startete einen neuen Versuch, aufzustehen. Dabei sah es ziemlich wackelig aus, als er sich aufstützte. Gekonnt war anders. Und so ganz vertraute Kaiba seinem eigenen Können mit den Stützen wohl auch nicht, denn er verharrte auf einer Stelle.

„Willst du denn nicht versuchen, zu laufen?“, fragte ich.

Er sah missmutig auf. Seit wann war er denn so zögerlich? Als hätte Angst vor dem ersten Schritt. Ich versuchte es ein wenig einfühlsamer. „Soll ich dich stützen? Dann geht es bestimmt leichter.“

Seine Augen flackerten leicht zwischen diesem wahnsinnigen Blau und seinem eiskalten Blick hin und her. Ohne auf eine Antwort zu warten ging ich näher an ihn heran. Ich legte meinen Arm um seine Taille. Dann nahm ich ihm vorsichtig die linke Krücke weg und legte seinen linken Arm um meine Schultern.

„Versuch, zu laufen. Wenn du fällst, werde ich dich schon halten, keine Sorge.“ Ich mochte es nicht, wenn ihm etwas Angst machte. Kaiba war immer stolz und stark gewesen und das sollte er nicht meinetwegen verlieren.

Er sah mich fast schon schockiert darüber an, dass ich es wagte, ihn so zu bevormunden. Aber das war mir egal. So nah hatte ich seine Augen noch nie gesehen. Dieses Blau war aus der Nähe noch viel unglaublicher als sowieso schon. So Blau, als könnte man darin ertrinken. Unwillig schüttelte ich den Kopf, konzentrierte mich darauf, ihn dazu zu bewegen, zu laufen. Ich musste ihn fast schon ziehen, damit er gezwungen war, den anderen Fuß und die Krücke nachzuziehen. Er knurrte leicht, ganz und gar nicht begeistert.

„Komm schon“, meinte ich sanft. „Das wird schon. Du musst nur ein bisschen üben“ Ich umfasste seine Taille noch ein bisschen fester, übte leichten Druck darauf aus, damit er sich endlich in Bewegung setzte. Und es funktionierte. Er schob die Krücke ein Stück vor, ehe er sehr zögerlich den gesunden Fuß vom Boden löste und einen Schritt machte. Er stützte sich dabei auf der Krücke und mir auf und seine Finger krallten sich fast schon schmerzhaft in meine Schulter.

„Siehst du? Das geht doch ganz gut.“, ermutigend lächelte ich ihn an. „Komm, noch ein paar Schritte, ja?“

Er nickte zögerlich. Und so drehten wir eine kleine Runde durch das Zimmer. Von Schritt zu Schritt wurde er sicherer.

„Und jetzt versuch es, mit beiden Krücken“

Er drehte noch eine weitere Runde mit beiden Krücken. Langsam kam er damit zurecht, auch wenn er immer noch ziemlich langsam ging.

„Das ist anstrengend“, schnaufend ließ er sich wieder aufs Bett fallen.

Ich setzte mich neben ihn. „Die ersten Tage sollst du ja sowieso lieber stillhalten Und immerhin kannst du jetzt damit laufen“

Seine Augen richteten sich auf mich, musterten mich nachdenklich. „Wieso hilfst du mir?“

„Damit du zurechtkommst“

Er nickte „Also willst du dein Gewissen beruhigen“

„Was? Das ist nicht wahr!“, fuhr ich hoch. Okay, vielleicht war das ein minimaler Grund, aber inzwischen kümmerte ich mich sogar fast schon gerne um ihn. Es war irgendwie aufregend und ich fand es toll, wenn er handzahm wie gerade beim Laufen wurde. Ich musste ihn mal Fragen, welches Aftershave er benutzte. Sein Geruch war nämlich ziemlich betörend.

„Ich denke, ich will dir einfach nur helfen, damit du schnell wieder zu deiner alten Form findest.“, meinte ich nachdenklich. Ich grinste ihn frech an. „Ich kann mich ja nicht mit einem Krüppel streiten. Das wäre doch unfair.“

„Zu freundlich“, er schnaubte leicht.

Endlich kam Mokuba. Er hatte die Limousine vorfahren lassen, damit Kaiba auch wirklich keinen Schritt zu viel machen musste. Trotzdem blieb ich lieber dicht an seiner Seite, falls er fiel. Zum Glück gab es im Krankenhaus Fahrstühle, denn ich bezweifelte, dass Kaiba schon in der Lage war, Treppen zu steigen.

Als er ziemlich unbeholfen darum bemüht war, in die Limo zu steigen, fragte ich mich, wie er eigentlich in sein Zimmer kommen wollte. Ich war nur einmal zu Mokubas Geburtstag in der Villa gewesen, aber wenn ich mich richtig erinnerte, lag Kaibas Zimmer in der oberen Etage im linken Seitenflügel. Absolute Sperrzone für Besucher. Nur wie wollte er die elendig lange Treppe erklimmen?

Eigentlich war das ja nicht mehr mein Problem. Zuhause hatte Kaiba genug Angestellte, die sich um ihn kümmern konnten. Da würde er meine Hilfe bestimmt nicht mehr wollen.

Aber noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, packte mich Mokuba einfach an der Hand und zerrte mich in die Limousine. Ich wollte protestieren, doch da fuhren wir auch schon los. Und dann musste ich auch noch rückwärts sitzen. Während Mokuba und ich entgegengesetzt der Fahrtrichtung saßen, hatte Kaiba auf der anderen Bank sein Bein hochgelegt und musterte mich skeptisch.

„Gibt es einen Grund dafür, dass du mitfährst?“, fragte er argwöhnisch.

„Wüsste ich auch gern“

Überrascht hob er eine Augenbraue. „Wie soll ich das verstehen?“

„Wir brauchen ihn noch“, warf Mokuba ein.

„Wofür? Als Wachhund?“

„Du bist so reizend, Kaiba“

„Ich weiß“

Wir warfen uns während der restlichen Fahrt giftige Blicke zu, und ich genoss es. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal seine Sticheleien vermissen würde. Aber es zeigte mir, dass er langsam wieder zu seiner alten Form zurückfand. Stark und arrogant, so kannte ich ihn.

Als die Limousine vor der Villa hielt, war ich sogar so freundlich, Kaiba galant meine Hand zu reichen und ihm aus dem Wagen zu helfen. Erstaunlicherweise schien er mir in der Hinsicht zu vertrauen. Er war nicht misstrauisch und hatte auch keine Angst, wenn ich ihn hielt. Und er ließ sich auch ohne zu zögern von mit stützen, während der Chauffeur die Krücken aus dem Kofferraum holte. Mir war das nur recht. Mir gefiel der Gedanke, dass er meine Nähe nicht scheute.

Mokuba rannte schon vor, während ich bei Kaiba blieb, der im Schneckentempo in die Villa humpelte. Obwohl ich schon mal zu Besuch gewesen war, erschlug mich diese gigantische Vorhalle fast. Staunend lief ich Kaiba hinterher. Er humpelte in ein großes gemütlich aussehendes Wohnzimmer und ließ sich auf eine große rote Couch fallen. Der kurze Weg schien ihn bereits angestrengt zu haben, denn er sah ein wenig erschöpft aus.

Da kam Mokuba wieder. Er warf Kaiba ein schwarzes T-Shirt zu. Als dieser fragend aufsah, meinte der Kleine nur streng. „Entweder leger oder elegant. Aber der Mix sieht total dämlich aus.“

Kaiba warf ihm einen finsteren Blick zu. „Wen kümmert das schon?“

„Wir kriegen gleich Besuch. Also zieh dich um“

„Besuch? Wen?“

„Wirst du ja dann sehen“, damit rannte Mokuba schon wieder weg. Der Junge war ein wahrer Wirbelwind.

Seufzend zog Kaiba das blütenweiße Hemd aus und dafür das T-Shirt an. Netter Oberkörper. Wirklich äußerst nett. Er war überraschenderweise gar nicht so schlaksig wie ich immer gedacht hatte, sondern doch recht gut definiert. Nein wirklich, seine Muskeln wirkten sehr filigran und doch gut ausgeprägt. Besonders sein Bauch war äußerst ansprechend. Flach, mit durchschimmernden Bauchmuskeln und einem ziemlich niedlichen Bauchnabel. Die Haut sah champagnerfarben, warm und weich aus.

War es verrückt, dass ich Kaiba schön fand? Das war er wirklich. Ich hätte immer gedacht, dass sein Körper noch recht knabenhaft sein würde, vielleicht sogar mit Hühnerbrust. Aber er war doch angenehm gut entwickelt. Ich hätte immer gedacht, er würde keinen Sport treiben, aber bei dem Anblick den er bot, musste er doch irgendetwas machen.

Unwillig schüttelte ich den Kopf. Ja, er war schön, aber das war nichts, worüber ich nachdenken sollte.

Mokuba kam wieder. Und diesmal hatte er zwei Polizisten im Schlepptau. Eine noch recht junge Frau vielleicht Mitte zwanzig und ein älterer Kollege. Nicht nur ich staunte nicht schlecht, auch Kaiba wirkte vollkommen perplex. Wie aus einem Reflex stand er auf. Anscheinend fiel ihm zu spät ein, dass er mit dem linken Fuß besser nicht auftreten sollte, aber da stand er schon. Er sog scharf die Luft ein vor Schmerz, blieb jedoch stehen, um sich keine Blöße zu geben. Ich sah, wie er den Gips ganz leicht wieder vom Boden löste, wenige Zentimeter darüber schweben ließ. In diesem Fall war Kaibas krankhafter Stolz für ihn wohl ziemlich schmerzhaft. Aber er überspielte es gut.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er kühl.

„Wir sind hier, um Ihnen zu helfen“, erwiderte der eine Polizist freundlich.

Mokuba wies ihnen zwei Sessel zu. „Setzen Sie sich doch“ Dann ging er um den Glastisch, der zwischen den Sitzmöbeln stand, herum, stieß seinen Bruder unsanft zurück auf die Couch und verschwand erneut.

Irritiert sah Kaiba ihm nach. Scheinbar verstand er die Welt nicht mehr. Sein sonst so lieber kleiner Bruder hetzte ihm nicht nur die Polizei auf den Hals, nein, er schubste ihn auch noch um. Seufzend zog er sein lädiertes Bein auf die Couch. An seinen Augen sah ich, dass es wohl doch noch vom Auftreten wehtat. Selber Schuld!

„Also wieso sind Sie hier?“, fragte er geschlagen.

„Ihr Bruder erzählte uns, dass Sie Anzeige erstatten möchten“, erklärte der Mann. Er deutete auf Kaibas Gips. „Deswegen“

Sofort wanderte sein Blick zu mir. Er starrte mich durchdringend an und das mit diesen vor Schmerz hellblauen Augen. Wie hypnotisiert starrte ich zurück. Wollte er etwa, dass ich mich äußerte? Dann sollte er gefälligst wegschauen! Ich konnte nicht denken, wenn mir seine Augen das Gehirn einfroren.

Auch Kaiba erkannte, dass er von mir gerade nichts erwarten konnte. Seufzend wandte er sich wieder den Beamten zu. „Und jetzt möchten Sie, dass ich eine Aussage machte“

„So richtig. Wir bräuchten Ihre Aussage und die von Mr. Wheeler auch, da er ja wohl Zeuge ist“

„Und wenn ich nicht will?“

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Dann gibt es auch keine Anzeige.“

Mokuba kam wieder. Er trug ein Tablett mit Kaffee. Vor jedem von uns stellte er eine Tasse ab, ehe er sich zu Kaiba auf die Couch setzte. „Mein Bruder möchte aber aussagen“, sagte er bestimmt.

„Möchte ich?“, Kaiba sah den Kleinen böse an. „Wann wolltest du mir das mitteilen?“

„Jetzt“, der Junge erwiderte den Blick, der ihn scheinbar im Gegensatz zu mir vollkommen kalt ließ. „Wenn du keine Anzeige erstattest, kommt der Typ einfach so davon. Das ist nicht fair!“

„Und wenn ich Anzeige erstatte, passierte ihm auch nicht viel mehr. Dann wird er eine Strafe zahlen müssen, aber eingesperrt wird er dafür sowieso nicht!“

„Das ist so nicht richtig“, warf die junge Polizistin ein. Ihre Stimme war hell und nicht sehr autoritär, aber ziemlich angenehm. „Der Tatverdächtige hat bereits ein langes Vorstrafenregister. Ihre Anzeige könnte ausreichen, um ihn in Jugendarrest zu schicken“, sie lächelte Kaiba freundlich an. Ein bisschen zu freundlich für meinen Geschmack. „Außerdem können Sie Ihre Schadensansprüche geltend machen. Die Behandlung eines gebrochenen Knöchels kann schnell mal 10.000-20.000 Dollar kosten.“

„Sehe ich aus, als wäre ich auf sein Geld angewiesen?“, fragte Kaiba grimmig.

Mokuba stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „Für dich mag es nicht viel sein, aber für den Typen schon. Mit der Anzeige kannst du ihn ordentlich einseifen“

Er grummelte leicht, aber schließlich gab er Mokubas forderndem Blick nach.

„In Ordnung“, murmelte er nur.

„Sehr schön“, die Polizistin lächelte erfreut. „Dann werde ich Ihre Aussage aufnehmen und mein Kollege befragt Mr. Wheeler“

Getrennte Befragung, war ja klar. Im Prinzip hatte ich ja auch nichts dagegen, aber die Frau schien ein bisschen zu begeistert darüber, Kaiba befragen zu dürfen.

Kopfschüttelnd folgte ich dem älteren Kollegen in ein Nachbarzimmer. Ich erzählte ihm, was sich an dem Abend zugetragen hatte. Er fragte immer mal wieder nach Kleinigkeiten, die mir gar nicht so wichtig schienen, für ihn aber wohl doch von Belang waren. Der Mann war wirklich geduldig dabei. Wenn ich zu schnell wurde, bat er mich höflich, zu wiederholen. Ich sah ihm an, dass mein diffuser Gedankengang ihm missfiel, aber er blieb trotzdem höflich, schaffte es sogar, meine Gedanken in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Er schrieb meine Aussage fein säuberlich auf und ließ sie mich unterschreiben.

„Das war es schon“, er lächelte mich freundlich an, erleichtert darüber, dass wir doch noch eine vernünftige Aussage zustande gebracht hatten. Wir gingen zurück in das große Wohnzimmer. Kaiba war scheinbar auch schon fertig. Auf dem Tisch lag seine Aussage. Ich wollte einen Blick darauf werfen, aber die Polizistin zog das Schriftstück schnell an sich.

„Das wärs dann soweit von uns.“, erklärte der Ältere. „Wir leiten alles Weitere in die Wege“

Kaiba wollte aufstehen, um die Polizisten zu verabschieden, doch der Mann drückte ihn wieder auf die Couch, bevor er überhaupt die Chance erhielt, wieder mit dem lädierten Fuß aufzutreten. „Bleiben Sie ruhig sitzen. Wir finden den Weg schon selbst.“

Kaiba nickte nur matt. Er sah ein wenig erschöpft aus.

„Gute Besserung“, die junge Polizistin zwinkerte ihm nochmal zu, dann gingen sie. Ich geleitete sie zur Tür, einfach nur der Höflichkeit halber. Aber sie achteten gar nicht wirklich auf mich, also taperte ich nur hinterher.

„Man könnte meinen, du hättest mit dem Jungen geflirtet“, neckte der Ältere seine Kollegin.

„Ist ja auch ein hübsches Kerlchen“, sie stritt es nicht mal ab. „So schöne blaue Augen… hach, wenn ich nochmal siebzehn wäre…“

„Dann heirate ihn doch, wenn du ihn so toll findest. Ein schlechter Fang ist er ja nicht, wenn ich mir die Bude so anschaue“

Sie lachte glockenhell. „Klar, dann hätte ich ausgesorgt. Aber er ist mir zu jung und ein bisschen wortkarg.“

„Schade. Ich dachte, ich könnte dich dann besuchen und diesen riesigen Swimmingpool benutzen“

War ja schön, dass die das alles so unbekümmert sahen. Seufzend schlug ich die Tür hinter ihnen zu. Das wäre erledigt. Die zwei waren zwar erstaunlich nett gewesen, aber irgendwie vermittelte mir Polizei immer ein seltsames Gefühl.

Ich schleppte mich wieder zurück ins Wohnzimmer und ließ mich in einen Sessel sinken. Kaiba saß nach wie vor auf der Couch und starrte finster vor sich hin.

„Alles deine schuld!“, murrte er.

„Dass die Polizei hier war?“

„Alles!“

„Was alles?“, was meinte er denn?

„Einfach alles Schlechte, was diesen Planeten jemals heimgesucht hat!“ Er wirkte irgendwie ziemlich beleidigt. Dabei hatte ich ihm gar nichts getan. Vielleicht war er auch nur schlecht drauf, weil sein Knöchel wehtat. Aber dafür konnte ich ebenfalls nichts. Er hätte ja damit nicht auftreten müssen.

„Schon klar!“ Sollte er mir doch die Schuld an allem geben, wenn es ihm half.

„Wenn dir das so klar ist, dann verschwinde!“, raunte er.

„Bitte?“ Den Zusammenhang verstand ich jetzt nicht. Aber vielleicht hatte er auch nicht mehr die Energie, logisch zu denken.

„Geh nach Hause!“, er zog den Fuß wieder aufs Sofa, betrachtete den Gips. „Ich brauche keinen Babysitter“

Vielleicht hatte er recht. Es wäre ziemlich schwachsinnig, ihn auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Er musste auch allein zurechtkommen.

„In Ordnung“, langsam stand ich auf. „Dann lasse ich dich in Ruhe.“

Er nickte, sah mich abwartend an.

„Dann schon dich die nächsten Tage. Ich bringe dir dann die Hausaufgaben“

Er wollte protestieren, aber bevor er dazu kam, verließ ich zügig die Villa. Mir war klar, dass das ziemlich unsinnig war, da er vor den Sommerferien eh nicht wiederkommen würde. Aber so hatte ich wenigstens einen Vorsatz, ihn bald wieder zu besuchen.

Rückschritt

Es war schwer, durchzuhalten, ohne Kaiba zu besuchen. Aber wenn ich ihn nicht nerven wollte, musste ich ihn auch mal ein paar Tage in Ruhe lassen. Mein Plan sah vor, die ersten drei Wochen gar nichts zu unternehmen. Danach würde Kaiba bestimmt wesentlich zugänglicher sein. Dann könnte er nämlich schon wieder auftreten und wunderbar zurechtkommen.

Doch Kaiba, dieser elende Sturkopf, machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Es waren gerade mal zwei Wochen vergangen, als mich Mokuba am Montag in der Mittagspause vom Schulhof direkt in die Limousine zerrte. Was zum-? Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als wir uns auch schon in Bewegung setzten.

„Wohin fahren wir?“

„Ins Krankenhaus“, der Kleine sah irgendwie ziemlich verärgert aus.

„Wieso? Ist etwas passiert? Hat es mit Kaibas Knöchel zu tun?“ Hoffentlich war es nichts Schlimmes.

„So in der Art“, Mokuba sah mir direkt in die Augen. „Du kennst meinen Bruder, du weißt, dass er stur ist“

Ich nickte, aber worauf wollte er hinaus?

„Nun, sagen wir, er hat diese verordnete Ruhe nicht ganz so ernst genommen?“ während er sprach, verfinsterte sich Mokubas Blick.

„Soll heißen?“

„Der Idiot ließ sich nicht davon abhalten, weiter täglich in die Firma zu humpeln.“

Oha. Wieso überraschte mich das eigentlich? Er war doch mit Abstand der sturste Kerl, den ich kannte. War doch klar, dass er sich von einem angebrochenen Knöchel nicht von seiner Arbeit abhalten ließ.

„Und jetzt ist es schlimmer geworden?“, fragte ich besorgt.

„Keine Ahnung. Das wird ja gleich der Arzt feststellen. Eigentlich soll er ja heute den Gehgips bekommen“

Stimmt, zwei Wochen waren um. „Aber wozu brauchst du jetzt mich?“

Der Kleine sah mich irgendwie seltsam an. „Ich denke, wenn du ihn deswegen anpfeifst, wird er eher darauf hören, als auf mich“

„W-was? Warum sollte er?“ Kaiba sollte auf mich hören? Na klar, weil wir uns sonst ja auch so gut verstanden!

„Seto meinte, du hast ihm geholfen, mit den Krücken umzugehen. Dich lässt er also an sich heran“, fuhr Mokuba fort. „Ich denke, bezüglich dieses Themas vertraut er dir“

Kaiba… vertraute mir? Wow, das machte mich echt sprachlos. Und stolz. Der kleine Sturkopf ließ sich also tatsächlich etwas von mir sagen. Bei dem Gedanken musste ich grinsen.

„Jeden anderen hätte er garantiert weggestoßen, aber von dir ließ er sich sogar bedenkenlos festhalten, als er damals bei der Villa aus der Limousine gestiegen ist“

„Also mag er mich irgendwo doch“ Irgendwie ließ diese Erkenntnis innerlich einen kleinen Freudenhüpfer machen.

„Mögen, naja…“ Mokuba wiegte den Kopf hin und her. „Ich bin zwar sein Bruder, aber auch ich weiß nie genau, was Seto denkt. Er ist nicht gerade der Typ, der sein Herz auf der Zunge trägt“

So hätte ich ihn auch nicht eingeschätzt. Unterkühlt und distanziert war Kaiba schon immer gewesen. Aber ich war mir trotzdem fast sicher, dass er zumindest eine minimale Sympathie für mich hegte. Sonst hätte er mich wahrscheinlich schon weggestoßen, als ich ihm im Krankenhaus mit den Krücken geholfen hatte.

Wir wurden vor dem Krankenhaus abgesetzt. Ich wollte reingehen, aber Mokuba hielt mich zurück. „Er müsste gleich kommen.“

Tatsächlich fuhr wenige Minuten später eine weitere Limousine vor und Kaiba stieg in Begleitung von Roland, seinem PA, aus. Sie waren beide pikfein angezogen. Roland stand der schwarze Anzug ja schon gut, aber bei Kaiba saß er wirklich wie angegossen. Er schmiegte sich perfekt an seine breiten Schultern und unterstrich seine schlanke Statur, zeigte dabei aber nicht, dass er durchaus gut trainiert war. Die schwarzen Hosen schmeichelten seinen langen Beinen ohne sie aber zu lang und schlaksig wirken zu lassen. War bestimmt eine Maßanfertigung.

Er trug einen schwarzen auf Glanz polierten Lederschuh und die Haare waren ordentlich zu einem Seitenscheitel gekämmt. Sein ganzes Outfit wirkte unendlich elegant, selbst der Gipsfuß änderte nichts daran. Aber als Roland ihm die Krücken reichte, wurde es doch ein klein wenig lächerlich. Da stand er, von oben bis unten gestriegelt und dann kamen dazu diese albernen Krücken.

Ohne auf Mokubas bösen Blick zu achten, humpelte er voran. Mich beachtete er nicht einmal. Also folgten wir ihm nur schweigend. Mir fiel auf, dass er inzwischen wirklich sicher mit den Krücken laufen konnte. Er war viel schneller als noch vor zwei Wochen.

So eine wichtige Person wie Kaiba kam natürlich auch sofort ran. Doktor Hikawe schnitt den Gips auf und untersuchte das Bein. Es war gar nicht mehr so geschwollen wie direkt nach dem Unfall. Eigentlich sah sein Knöchel fast normal aus.

„Gab es irgendwelche Probleme?“, fragte er, während er langsam vom Knöchel zur Fußsohle glitt.

„Alles Bestens“, Kaibas Antwort kam viel zu schnell. Als Hikawe leichten Druck auf die Fußsohle ausübte, verspannte sich sein ganzer Körper. Es tat anscheinend weh. Wieso log er?

Der Arzt schien es zumindest nicht zu bemerken. „Dann röntgen wir das mal“

Während Kaiba brav sein Beinchen röntgen ließ, wandte Mokuba sich an mich. „Ist dir etwas aufgefallen?“

Was sollte mir aufgefallen sein? Dass er in diesem Anzug ziemlich gut aussah? Dass die zum Seitenscheitel gekämmten Haare seinem Gesicht unglaublich schmeichelten?

Nein, er meinte bestimmt etwas anderes. „Dass er Schmerzen hatte, als Hikawe Druck auf seine Fußsohle ausgeübt hat?“

Mokuba nickte. „Eigentlich dürfte es nicht mehr so schlimm sein. Er sollte ja heute den Gehgips kriegen“

„Aber warum ist es denn noch so schlimm?“

„Kannst du dir das nicht denken?“, verärgert wandte sich der Kleine Roland zu, der sich bis jetzt seelenruhig im Hintergrund gehalten hatte, wahrscheinlich nur wartete, bis Kaiba fertig war und wieder zur Firma wollte.

„Wenn Sie ihm nicht geholfen hätten, hätte er das nie durchziehen können!“, fauchte Mokuba.

Roland rückte ungerührt seine Sonnenbrille zurecht. „Mr. Kaiba ist mein Chef. Ich habe zu tun, was er von mir verlangt.“

„Aber nicht, wenn es ihm schadet!“

„Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass ich sein Vorhaben nicht unterstützen kann. Aber davon wollte er nichts hören. Er hat mir sogar gedroht, mich zu entlassen, wenn ich mich da einmische“

Mokuba schnaubte. „Typisch! Ab sofort werden Sie keine Befehle mehr von ihm entgegen nehmen! Mein Bruder ist krankgeschrieben. Er darf gar nicht arbeiten!“

„A-aber“

„Nichts aber! Warten Sie bei der Limousine. Ich komme gleich nach und dann regeln wir alles“

Erstaunlicherweise kuschte Roland tatsächlich. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Behandlungszimmer.

„Was war das?“, fragte ich verwirrt. Mir erschien das alles ziemlich merkwürdig.

„Mein Bruder hätte es nie geschafft, das alles durchzuziehen, wenn Roland ihm nicht geholfen hätte. Er hat ihn herumchauffiert, ihm geholfen unauffällig durch den Hintereingang in die Firma zu kommen und alles so arrangiert, dass er alle Geschäftsmeetings in seinem Büro abhalten konnte.“

Ah ja… Das klang ganz nach Kaiba. Aber das mit dem hereinschleichen verstand ich nicht. Ich fragte Mokuba danach.

Er verdrehte die Augen. „Mein Bruder ist dermaßen eitel! Er wollte nicht, dass seine Angestellten oder seine Geschäftspartner sehen, dass er einen Gips tragen muss.“

„Ist das denn keinem aufgefallen?“

„Von der Tiefgarage aus führt ein Fahrstuhl, den nur mein Bruder benutzen kann, bis in die Chefetage. Seinen Sekretärinnen hat er frei gegeben, also war er da ganz allein.“, der Kleine seufzte. „Und sein Schreibtisch hat eine Rückwand, also kann niemand sein Bein sehen, wenn er sich dahinter befindet.“

Für mich klang das ziemlich ausgeklügelt. Aber wo war da das Problem? Bei der Arbeit saß er doch eh nur herum.

„Aber bei der Arbeit kann er sein Bein ja nicht hochlegen. Und um dahin zu kommen, muss er ja auch ziemlich durch die Gegend hüpfen.“, erklärte Mokuba. „Außerdem hast du doch gesehen, was er macht, wenn andere den Raum betreten“

Was denn? Ich dachte an die Polizisten. „Er steht auf“

Mokuba nickte. Als der Kleine sie hereingeführt hatte, war Kaiba ganz automatisch aufgestanden. Dann würde er das wohl auch machen, wenn er seine Geschäftspartner empfing. Sein Stolz ließ es wohl wirklich nicht zu, dass er sich die Blöße gab, seine Verletzung zuzugeben. Dann musste es ihm vermutlich ziemlich gegen den Strich gehen, dass ich davon wusste.

Endlich kam Kaiba wieder. Zielsicher humpelte er zum Behandlungstisch und setzte sich darauf. „Wo ist Roland?“

„Ich habe ihm gesagt, dass er, solange du krankgeschrieben bist, nicht mehr unter deiner Leitung arbeitet.“, murrte Mokuba.

Kaiba schien das alles andere als lustig zu finden. „Bitte was? Was denkst du dir dabei!“

„Dass du deinen Fuß nicht schonst, wenn man dich nicht dazu zwingt!“

Kaiba wollte etwas erwidern, aber der Arzt kam ihm zuvor. Er hielt das Röntgenbild hoch, als er eintrat. „Das sehe ich genauso“, bemerkte er. „Der Heilungsprozess ist nicht so fortgeschritten, wie er sein sollte.“

„Da siehst du es!“ triumphierend zeigte Mokuba auf die Aufnahme, auch wenn ich mir sicher war, dass er darauf genauso wenig erkannte wie ich. „Ich hab dir gesagt, dass es nicht besser wird, wenn du das alles auf die leichte Schulter nimmst!“ Brühwarm erzählte er dem Arzt alles über Kaibas Arbeitswahn. „Ist doch kein Wunder, dass das nicht heilt!“ endete er.

Hikawe starrte Kaiba missbilligend an. „Mir scheint, Ihnen ist nicht ganz klar, was Sie da tun. Die Krankschreibung gilt nicht nur für die Schule sondern auch für Ihre Arbeit.“

„Das ist doch alles total übertrieben!“, knurrte Kaiba. Wenn Blicke töten könnten, wäre Mokuba vermutlich tot umgefallen.

Hikawe verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie viele Geschäftsmeetings hatten Sie denn?“

„Nicht viele. Fünf. Alles nicht so schlimm“

„Und bei allen fünf Treffen sind Sie aufgestanden und haben den angebrochenen Knöchel belastet, nicht wahr?“ Der Arzt hob herausfordernd eine Augenbraue.

Doch Kaiba schien das immer noch nicht allzu tragisch zu sehen. „Ist ja nicht so, als hätte ich stundenlang darauf gestanden.“

„Und bei der Arbeit konnten Sie den Fuß nicht hochlegen. Wie lange haben Sie denn gearbeitet?“

„10 Stunden am Tag“, warf Mokuba ein.

Das schien den Arzt noch weniger zu begeistern. „Wissen Sie eigentlich, dass Sie großes Glück gehabt haben, dass sich der Bruch nicht verschlimmert hat? Der Knochen ist verdammt instabil, er hätte auch brechen können. Dann müssten wir nämlich doch operieren. Das Ganze wirft Sie um mindestens eine Woche im Heilungsprozess zurück.“

Okay… das machte Kaiba doch ein wenig sprachlos. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn jedoch schnell wieder, ohne einen Ton herausgebracht zu haben.

„Dann gipsen wir Ihr Bein mal wieder ein“

„Gehgips?“, fragte Kaiba vorsichtig.

Der böse Blick, den Hikawe ihm zuwarf, ließ ihn vollends verstummen. Er sagte keinen einzigen Ton mehr, während Hikawe ihm einen neuen Gips anlegte.

Mokuba bombardierte ihn regelrecht weiter mit Vorwürfen. Selbst mir wurde das zu viel, vor allem, weil Kaiba keine Anstalten mehr machte, sich auch nur ansatzweise zu verteidigen. Also schob ich den Kleinen mit Nachdruck vor die Tür und wies ihn darauf hin, dass Roland auf ihn wartete.

„Na schön“, murrte er. „Kannst du ihn dann zur Villa begleiten und aufpassen, bis ich wiederkomme?“

Ich bezweifelte zwar, dass Kaiba einen Babysitter brauchte, aber ich nickte brav. Hauptsache der Kleine hörte endlich auf, ihn so anzugreifen.

Dass Kaiba das nämlich doch an die Nieren ging, zeigte sein Blick so deutlich. Seine Augen waren irgendwie matt und hatten einen Ausdruck der Resignation angenommen.

„Ich empfehle Ihnen wirklich, alles ein bisschen ruhiger anzugehen.“, sagte Hikawe, als er fertig war. „Schonen Sie sich, legen Sie das Bein hoch.“

Kaiba nickte nur schwach, nicht mehr gewillt, gegen irgendetwas zu protestieren.

„Ich rate Ihnen wirklich, diesmal meine Anweisungen zu befolgen. Sollte nämlich bis nächste Woche wieder keine Besserung eingetreten sein, werde ich doch dafür plädieren, den Bruch mit Schrauben zu fixieren. Und dann gipse ich Ihr Bein bis zum Oberschenkel ein.“ Der Arzt sagte es ruhig, aber ich sah, dass es bei Kaiba Panik auslöste. Er hatte Angst vor einer Operation. Konnte ich nachvollziehen.

„Es wird nächste Woche besser sein!“, sagte ich bestimmt.

Beide sahen mich überrascht an. Was denn? Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um ihm die Operation zu ersparen. Reichte ja schon, dass er den Gips noch eine Woche länger würde tragen müssen.

Hikawe nickte nur. „Das hoffe ich doch“

Nur Kaiba schien dem ganzen nicht so ganz zu glauben. Er sah mich nur unverwandt an, als zweifle er an meinem Verstand.

„Komm schon“, ich drückte ihm seine Krücken in die Hand. „Bringen wir dich nach Hause“

Wortlos folgte er mir. Unten stand die Limousine, mit der Mokuba mich abgeholt hatte. Die andere war schon weg. Vermutlich regelte der Kleine gerade die Firmenangelegenheiten.

Ich half Kaiba beim Einsteigen und kletterte dann schnell hinterher. Irrte ich mich oder war er seit der Ansage des Arztes wesentlich zögerlicher? Er bettete sein Bein so vorsichtig auf der Rückbank, als wäre es aus Glas. Scheinbar hatte ihn Hikawe wirklich verschreckt. Dass ich mitfuhr, hinterfragte er nicht einmal mehr. Fast als hätte er seine Stimme verschluckt.

Unentschlossen rang ich mit den Händen. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, wenn er so ruhig war. Sollte er mich meinetwegen anschreien, in Grund und Boden brüllen. Das wäre mir tausendmal lieber als seine jetzige Zurückhaltung.

„Netter Gips“ Okay, das war blöd. Aber ich musste einfach irgendetwas sagen, um diese Stille zu durchbrechen. Ich hätte gedacht, dass er darauf anspringen und wütend reagieren würde. Aber er nickte nur vage.

Ich schnaubte genervt. „Nun komm schon! Tu tust so, als würde die Welt untergehen.“

Aber auch darauf reagierte er nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken.

„Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird keine Operation geben, dafür werde ich schon sorgen“

Da sah er doch auf. Wieder dieser kritische Blick. „Wie soll das gehen?“

„Ganz einfach. Ich werde einfach aufpassen, dass du dein Füßchen schonst“ ich sagte das mit einem Brustton der Überzeugung, der ihn zu verblüffen schien.

Er neigte den Kopf etwas. „Warum?“

„Weil du das ja scheinbar nicht kannst“, ich grinste ihn unverschämt an. „Eigentlich sollte es niemanden überraschen, dass du das nicht geschafft hast. Jeder hätte wissen müssen, dass du das unterschätzt und dich wieder in die Arbeit stürzt“

Er schien einen Moment darüber nachzudenken. Aber dann nickte er. „Stimmt, es ist alles eure Schuld“

„Unsere?“

„Ihr hättet mit meiner Sturheit rechnen und mich abhalten müssen“, er nickte bekräftigend, bedachte mich mit einem fast schon vorwurfsvollen Blick.

Er brachte das dermaßen überzeugt rüber, dass ich lachen musste. Immerhin gewann er langsam wieder seinen Biss. Und er schien optimistischer zu werden.

„Wieso bist du eigentlich so herausgeputzt?“, fragte ich interessiert. Er sah wirklich umwerfend in diesem Anzug aus, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er immer so zur Arbeit ging.

„Geschäftsmeeting mit Franzosen“

„Wichtige Kunden?“

Er nickte. „Sehr wichtig.“

„Und deswegen bist du so aufgebrezelt? Wolltest du die mit dem Outfit und Augenaufschlag bezirzen oder was?“

Da wurde sein Blick schlagartig eisig und kalte Wut glomm darin. „Du denkst tatsächlich, ich würde versuchen, mir durch mein Aussehen Vorteile zu verschaffen?“

Oh, das nahm er mir wirklich übel.

„Ich bin nicht so ein abgewrackter Stricher wie du!“, knurrte er.

Na Wahnsinn, jetzt wurde er auch noch beleidigend. Wer hätte gedacht, dass er darauf so empfindlich reagierte? „Krieg dich mal wieder ein!“, raunte ich.

„Meine Firma ist die erfolgreichste in ganz Asien.“, zischte er. „Und sie ist es, weil ich mir diesen Erfolg hart erarbeitet habe. Ich habe die besten Aufträge und Verträge, weil ich der Beste bin und nicht, weil ich mir durch mein Aussehen Vorteile verschafft habe! Ich würde nie meinen Körper verkaufen!“

Argh! Das wollte ich doch gar nicht sagen. Ich würde nie auch nur auf die Idee kommen. Es gab auf der ganzen Welt keinen Menschen, der mehr Stolz besaß als Seto Kaiba. „Das meinte ich auch gar nicht!“

„Was dann?“ Man, der konnte wirklich furchteinflößend knurren.

„Ich wollte nur wissen, warum du dich so fein machen musst, nur wegen ein paar Franzosen“ Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben und nicht ebenso beleidigend wie er zu werden. Aber dann hätte er mich vielleicht aus der Limousine gekickt und ich hätte nicht mehr dafür sorgen können, dass er sich schont. Womöglich hätte er dann doch die Operation ertragen müssen und das wollte ich einfach nicht. Also versuchte ich, ruhig zu bleiben.

„Es geht um Seriosität, Wheeler“, er schnaubte, „Aber davon verstehst du nichts“

„Dann erkläre es mir“

Er musterte mich skeptisch, als wüsste er nicht, ob er mich ernstnehmen sollte, ob es mich tatsächlich interessierte. Tat es nicht, aber wenn er von seiner Arbeit sprach, regte er sich dabei vielleicht wieder ab.

„Es ist schwer, in der Geschäftswelt ernstgenommen zu werden, wenn man jung ist. Schon Geschäftsmänner unter 40 werden als noch grün hinter den Ohren und unerfahren eingestuft. Aber ich bin gerade mal 18. Da ist es schwer, sich Respekt zu verschaffen“, er beobachtete mich kritisch, genau darauf achtend, ob ich überhaupt zuhörte. Das tat ich. Also fuhr er fort. „Viele glauben, Sie könnten mich übers Ohr hauen oder für dumm verkaufen. Deswegen ist das Auftreten entscheidend. Verstehst du das?“

Ich nickte. Mit diesem Anzug sah er aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, autoritär und vermögend. Aber auch wie ein gebildeter Mann, nicht wie ein dummer Teenager. Ich zumindest würde mir nicht zutrauen, ihn überlisten zu können. Sein Erscheinungsbild schien nämlich zu sagen: »Mach mit mir Geschäfte und du wirst ein reicher Mann. Aber versuchst du, mich zu verarschen, wachst du morgen mit Betonschuhen auf«

„Also vermittelt dein Aufzug Kompetenz und Erfolg“, schlussfolgerte ich.

Er nickte, scheinbar milde davon angetan, dass ich es tatsächlich verstand. Ich begriff ja, was er mir damit sagen wollte, aber nutzte er denn so nicht auch sein Äußeres zu seinem Vorteil? Kompetenz und Erfolg schön und gut, aber was ihn in jedem Look ausmachte, waren diese blauen Augen und seine schlanke gazellengleiche Gestalt. Der Anzug schmeichelte ihm zwar, aber wäre er klein und dick, könnte der das auch nicht retten. Ich meine, Nachteile hatte er durch sein Aussehen ganz bestimmt nicht. Besser, ich fragte nicht danach. Vielleicht zählte das auch zu dem ganz normalen Alphamännchengehabe der Geschäftswelt. Schließlich liefen alle Geschäftsmänner in Anzügen herum. Nur keinem stand er so gut wie Kaiba.

„Aber es geht nicht nur um das Erscheinungsbild, sondern auch um das Auftreten“, fuhr er fort. „Der erste Eindruck ist entscheidend. Sobald dein Verhandlungspartner den Raum betritt, musst du ihm also den Eindruck vermitteln, den er von dir haben soll.“

„Und der wäre?“

„Wenn jemand in mein Büro kommt, muss ihm gleich klar werden, dass das mein Revier ist und meine Regeln gelten. Also muss ich die Zügel in der Hand behalten“

„Und wie?“

„Durch Präsenz“, er sah nachdenklich aus dem Fenster. „Du bestimmst die Herzlichkeit der Begrüßung und damit auch gleich den Ton, in dem das Gespräch verläuft. Bist du reserviert, aber höflich, signalisierst du, dass es knallharte Verhandlungen werden und du keine Kompromisse eingehst. Bist du freundlicher, zum Beispiel bei jahrelangen Vertragspartnern, wird auch das Gespräch lockerer.“

„Und du stehst beim Eintreten eines Geschäftspartners auf, damit ihr ebenbürtig seid“

„Exakt“, er sah mich überrascht an, als hätte er nicht gedacht, dass ich etwas verstand. „Wenn du deinem Gegenüber nicht auf Augenhöhe begegnest, signalisiert ihm das unterbewusst, dass er über dir steht“

Klang irgendwie wie ein Spiel.

„ Aber egal ob locker oder knallhart, du darfst nie die Kontrolle verlieren. Du begrüßt den anderen zuerst, bevor er zu Wort kommt, du forderst ihn auf, näher zu kommen, bevor er selbst auch nur einen Schritt auf dich zu macht. Und du bietest ihm einen Sitzplatz an, bevor er sich selbst setzen kann. Damit bestimmst du, wo er sitzt, du weist ihm seinen Platz zu.“

„Okay…“, das klang irgendwie merkwürdig. Diese Kleinigkeiten sollten über ein Geschäft entscheiden?

„Du agierst und zwingst ihn dazu, zu reagieren. So stellst du sicher, dass alles nach deinen Vorstellungen verläuft.“

Man, Kaiba hatte das alles so verdammt gut durchdacht. Wenn man das so hörte, könnte man meinen, er hätte jedes Geschäft schon nach der Begrüßung in der Tasche. „Aber wird dein Gegenüber dann nicht dasselbe versuchen?“

„Natürlich“, er nickte, als wäre das ein bedeutungsvoller Aspekt. „Wenn man sich zu Verhandlungen trifft, dann wissen beide Parteien, dass sie von der Zusammenarbeit profitieren. Aber wer am Ende mehr profitiert, entscheidet sich dadurch, wer die Verhandlungen dominiert.“ Er machte eine kurze Pause, als gäbe er mir Zeit, um das Gesagte zu begreifen, ehe er fortfuhr. „Um die Kontrolle über den Verlauf zu bekommen, wird dein Gegenüber versuchen, zu demonstrieren, dass er besser ist. Indem er dir seine Erfolge und seine Stärken aufweist oder versucht, bei dir Schwachstellen zu finden.“

„Und dann?“

„Dann musst du gegenhalten, zeigen, dass du in dem Gebiet viel erfolgreicher bist und solltest du das nicht sein, musst du ihn eben anders unten halten. Indem du ihm deine Erfolge und deinen Einfluss um die Ohren haust, oder seine Firma in Grund und Boden kritisierst. Egal wie, Hauptsache, du bleibst oben“

Ich nickte. „Verbaler Schwanzvergleich also“

Kaiba sah mich schief an, als missfiele ihm meine Auslegung. Aber dann nickte er langsam. „So… könnte man es auch sagen“

„Dann sind Verhandlungen also nur ein Machtspiel“

„Im Prinzip schon. Die wirklichen Verhandlungen sind dann nur noch reine Formalität“

Ich musste grinsen. „Das klingt wirklich nach verbalem Schwanzvergleich“

„Schon möglich“

„Und hast du den Schwanzvergleich mit den Franzosen gewonnen?“

Auf seinen Lippen zeichnete sich ein schwaches Lächeln ab. Sah irgendwie süß aus. „Kann man so sagen“

„Und was bringt dir das jetzt? Macht? Expandierst du jetzt nach Frankreich?“

„Würde ich in jedes Land expandieren, mit dem ich Geschäfte mache, würde ich mein ganzes Leben nur noch in Flugzeugen und Hotels verbringen.“, er verdrehte die Augen, als wäre meine Aussage das dümmste, was er je gehört hatte. „Es bringt Geld. Und auch Kontakte und neue technische Möglichkeiten, aber vor allem Geld“

„Wie viel denn?“

Er warf mir einen tadelnden Blick zu. „Darüber redet man nicht. Sagen wir einfach… mehr als du, deine Freunde, deine Familie und deine Klassenkameraden zusammen jemals verdienen werden“

Das… war mal eine ordentliche Summe. Und er hatte sie an einem Tag verdient. Verdammt, dieser Kerl war wirklich unverschämt reich!

Wir erreichten die Villa. Während ich Kaiba folgte, grübelte ich darüber nach, wie ungerecht die Welt doch manchmal war. Kaiba hatte absolut alles. Ein riesiges Haus, eine eigene Firma, Macht, Ansehen und dazu noch gutes Aussehen.

Ich hingegen musste mir meine Miete eisern zusammenkratzen.

Als wir die Eingangshalle passiert hatten, sah ich irritiert auf. Kaiba manövrierte wieder das Wohnzimmer an.

„Warum gehst du nicht in dein Zimmer?“, fragte ich verwundert.

„Weil die Treppe verdammt viele Stufen hat“ er ließ sich auf die Couch sinken und legte sofort das Bein hoch. Anscheinend war er jetzt wirklich darauf bedacht, seinen Knöchel so wenig wie möglich zu belasten.

„Ich könnte dich hinauftragen, wenn das das einzige Problem ist“

Da warf er mir einen finsteren Blick zu, scheinbar nicht sehr angetan von der Idee.

„Oder auch nicht“, seufzend sank ich auf einem Sessel nieder.

Derweil zog Kaiba einen Laptop unter der Couch hervor.

„Was wird das?“, fragte ich skeptisch.

„Ich schaue nur nach meinen Bilanzen“, murmelte er. Konzentriert tippte er auf der Tastatur herum. War ja furchtbar spannend!

„Könnte es sein, dass du ein Workaholic bist?“, fragte ich gelangweilt. Ihm beim Tippen zuzuschauen war alles andere als aufregend.

„Na und? Dafür bin ich reich. Also quatsch mich nicht voll!“

Touché. Er hackte weiter auf der Tastatur herum, aber irgendetwas schien nicht zu stimmen. Aber es war interessant seine Mimik dabei zu beobachten. Erst war es nur ein Stirnrunzeln. Doch dann fing seine linke Augenbraue an, verdächtig zu zucken und er rammte seinen Eckzahn in die Unterlippe. Dann entkam ein dunkles Knurren seiner Kehle. „Dieser Mistkerl“, zischte er.

„Was ist los?“

„Mokuba hat meinen Zugriff auf den Firmenserver blockiert“

Oh… der Kleine meinte es wohl ernst, wenn er sagte, Kaiba solle nicht arbeiten. Er nahm ihm jede Möglichkeit.

„Wir müssen in die Firma!“

Was? Kaiba sprang auf. Wieder trat er mit dem Gips auf, aber anscheinend versuchte er, den Schmerz zu ignorieren. So ein Idiot!

„Müssen wir nicht!“, ich baute mich schnell vor ihm auf und stieß ihn zurück auf die Couch. „Du musst dich ausruhen, mehr nicht! Mokuba wird das alles schon im Griff haben, also entspann dich“

„Was weißt du schon?“, knurrte er.

Seufzend ließ ich mich auf die Armlehne der Couch sinken, zog vorsichtig sein Bein wieder darauf. „Ich weiß, dass du dein Bein wirklich schonen solltest. Sonst wird es nicht besser und du musst es doch operieren lassen“

Das löschte seinen Tatendrang tatsächlich aus. Ermattet ließ er sich gegen die Lehne sinken und resignierte.

„Ich bin zur Untätigkeit verdammt“, nuschelte er.

„Dann nutz die Zeit und entspann dich mal. Sieh es als Urlaub an“

Er schnaubte nur und gab sich seinem Selbstmitleid hin. Es passte ihm gar nicht, jeder Kontrolle enthoben worden zu sein, aber vermutlich war es so am besten. Wenn man Kaiba nicht zur Ruhe zwang, hielt er sie auch nicht ein.

„Kaum passt man eine Sekunde nicht auf und bricht sich was, wird man einfach aus allem rausgeworfen, wie ein kaputtes Teil einfach ersetzt“, er seufzte schwer. „Das ist so unfair“

Also ein bisschen übertrieb er jetzt doch.

Schwerfällig stand er auf, diesmal wesentlich vorsichtiger. Er angelte nach den Krücken und humpelte in Richtung Eingangshalle.

„Wo willst du denn hin?“ verwundert lief ich hinterher.

„Nach oben“ Inzwischen hatte er die Treppen erreicht. Etwas unbeholfen umfasste er das Geländer und erklomm mithilfe einer Krücke die ersten Stufen. Ich nahm ihm schnell die Zweite ab, die ihn zu hindern schien.

„Was willst du oben?“

„Schlafen“, murmelte er.

Schlafen? Ich sah auf die Uhr. „Es ist gerade mal 17Uhr“

„Und? Wozu soll ich wachbleiben? Kann ja eh nichts tun“

Innerlich verdrehte ich die Augen. Wenn er sich im Moment selbst leidtun wollte, dann sollte er doch. Wenigstens rannte er dann nicht durch die Gegend.

Es dauerte eine Weile, bis wir endlich die Treppen erklommen hatten und Kaiba wirkte doch ein wenig erschöpft danach. Aber immerhin hatte er es ohne Hilfe geschafft. Und dass er dabei wirklich vorsichtig gewesen war, bewies doch, dass er jetzt tatsächlich mehr auf sich achten würde, oder?

Er nahm die zweite Krücke wieder an sich, suchte sicheren Stand und humpelte weiter. Kopfschüttelnd folgte ich ihm.

Doch plötzlich hielt er inne. Was war denn nun schon wieder? Er drehte sich zu mir um und sah mich kritisch an. „Gibt es einen Grund dafür, dass du mir immer noch folgst?“

Gute Frage. „Um zu gewährleisten, dass du dich schonst?“

„Ich gehe sowieso gleich schlafen, also kannst du ruhigen Gewissens nach Hause gehen“

Auf einmal so abweisend? Bis gerade eben hatte ihn meine Anwesenheit nicht gestört. Aber dann fiel mir ein, wohin wir liefen. Zu seinem Zimmer, seinem privaten Reich. Er wollte nicht, dass ich seinen privaten Bereich betrat. Das konnte ich verstehen. Immerhin fände ich es auch nicht sonderlich toll, wenn er einfach so in mein Zimmer latschen würde.

„In Ordnung“, ich nickte geschlagen. „Dann komme ich morgen nach der Schule wieder und sehe nach dem Rechten, in Ordnung?“

Er murrte leise. „Mach was du willst“ Dann humpelte er weiter seiner Wege.

Krankenbesuch

Ich musste sagen, die nächsten Tage waren alles andere als aufregend. Nach der Schule fuhr ich zu Kaiba, um nach ihm zu schauen, aber jedes Mal erhielt ich die Antwort, er wäre in seinem Zimmer und schlief.

Am ersten Tag hatte ich dafür noch tiefstes Verständnis. Sollte er sich ruhig ausschlafen, dann schonte er sich wenigstens. Ich respektierte seine Privatsphäre, also ging ich wieder nach Hause. Sein Zimmer wollte ich ohne seine Zustimmung lieber nicht betreten.

Am zweiten Tag fand ich es allerdings schon merkwürdig und am dritten einfach nur lächerlich. So viel konnte doch kein Mensch schlafen! Entweder er wollte mich einfach nur abwimmeln oder er war zum Murmeltier mutiert.

Als ich am Freitag zu ihm ging, hatte er sich wieder in seinem Zimmer verschanzt. Aber anstatt wie all die anderen Tage einfach wieder zu gehen, setzte ich mich diesmal ins Wohnzimmer und wartete. Spätestens wenn Mokuba heimkam, würde Kaiba ja wohl ein Lebenszeichen von sich geben, oder?

Es war sterbenslangweilig. Wenn das hier ein Wohnzimmer war, wieso gab es dann keinen Fernseher? War doch zum Kotzen!

Es war schon weit nach sieben, als Mokuba endlich mal aufschlug. Irgendwie sah er ziemlich genervt aus. Ob er die Firma jetzt leitete? Man, dann brachte der Kleine ein ganz schönes Opfer, um Kaiba zu schützen. So einen kleinen Bruder hätte ich auch gern.

Als er mich sah, runzelte er verwundert die Stirn. „Was machst du denn hier?“

„Ich wollte nach Kaiba sehen, aber er ist in seinem Zimmer, wie die letzten Tage auch schon.“

„Na und? Dann geh doch hoch.“

Das sagte er so einfach. „Ich kann doch nicht einfach in sein Zimmer platzen, wenn er das nicht will!“

Der Kleine verdrehte die Augen. „Seto hat da im Moment nicht wirklich mitzureden. Was seine Gesundheit angeht, ist er kein wirklich logisch denkendes Wesen.“

Kopfschüttelnd bedeutete er mir, ihm zu folgen.

„Wieso? Schont er sich etwa doch nicht? Ich dachte, er ist nur in seinem Zimmer.“

„Doch… weil er schmollt.“

Ich musste grinsen. Er schmollte immer noch? Der konnte vielleicht lange eingeschnappt sein. „Und was soll ich dagegen machen?“

„In deiner Gegenwart wird er sich bestimmt nicht so hängen lassen wollen. Das würde zu stark an seinem Ego kratzen.“

Ich nickte verstehend. „Also willst du, dass ich ihn dazu bringe, sich nicht völlig hängen zu lassen, aber gleichzeitig darauf achte, dass er sich trotzdem schont?“

„Genau.“

Engagierte mich der Zwerg gerade als Babysitter für Seto Kaiba, den mächtigsten Mann Japans? Das klang irgendwie krank.

Mokuba ging in Kaibas Zimmer, ohne auch nur zu klopfen. Obwohl mir das wirklich unhöflich vorkam, folgte ich ihm einfach mal.

Wow… das Zimmer war wirklich riesig. Und schön. Es gab ein riesiges Panoramafenster. Davor stand ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Rechts neben der Tür gab es eine Sitzecke, eine große weiße Couch und davor einen Holztisch. Es gab sogar eine kleine Minibar und gegenüber war ein großer Fernseher in eine Bücherwand eingebaut, die natürlich auch aus dunklem Holz bestand. Am Ende des Raumes befand sich ein Bett, so groß wie eine Spielwiese und mit schwarzer Seidenbettwäsche. Rechts ging eine weitere Tür ab, vermutlich ein Badezimmer und links neben dem Bett führte eine Glastür auf eine schöne Terrasse.

Wahnsinn… ich hätte es nicht gedacht, aber Kaiba hatte echt Geschmack. Das Zimmer wirkte warm und einladend durch den roten Teppich. An den Wänden hingen Bilder. Die meisten zeigten schöne Landschaften, aber einige auch merkwürdige Darstellungen, wie ein Saxophon. Vielleicht spielte er ja ein Instrument. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich ein Klavier. Es stand links neben der Tür ganz unscheinbar in der Ecke.

Benommen schüttelte ich den Kopf. Dieses Zimmer war wirklich umwerfend, aber deswegen war ich ja nicht hier.

Kaiba saß auf diesem gigantischen Bett, scheinbar nicht sonderlich begeistert von unserem Erscheinen. Zumindest wenn man danach ging, dass er versuchte, mich mit seinem Blick aufzuspießen.

„Ich verschwinde dann mal.“, meinte Mokuba. Die kleine Kröte ließ mich tatsächlich mit ihm allein? Was sollte ich denn sagen? Kaiba sah nicht so aus, als wäre er sonderlich erfreut.

Die ersten Minuten waren ziemlich unangenehm, denn er starrte mich die ganze Zeit durchdringend an. Aber dann konnte ich die Zeit auch nutzen, ihn ausführlich zu mustern. Er trug ein normales T-Shirt, weder zu weit noch zu figurbetont, und eine dunkelblaue Jeans, die in der Mitte des Schienbeins endete. An der Hüfte lag sie eng am Körper, aber nach unten hin wurde sie weiter, so dass sie ein bisschen um seine Beine schlackerte. Vermutlich, damit der Gips genug Platz hatte. Seine Haare waren nicht wie üblich gekämmt und gestriegelt sondern fielen ganz natürlich, umrahmten sein Gesicht.

Er sah aus… wie ein ganz normaler Jugendlicher.

Unruhig trat ich von einem Bein aufs andere, nicht genau wissend, was ich hier eigentlich sollte. Ich wollte ja aufpassen, dass er sich schonte, aber Mokuba meinte, er würde das Zimmer nicht verlassen. Und im Moment hatte er den Gips auf einem weichen Kissen auf dem Bett abgelegt. Also schien er doch gut aufzupassen.

„Wie geht’s denn so?“, fragte ich lahm. Mir fiel nichts Besseres ein.

„Was willst du?“, er klang ziemlich genervt.

„Nach dir schauen? Du hast dich ja die ganze Woche in deinem Zimmer verschanzt, da wollte ich sehen, ob es dir gut geht.“

Er runzelte die Stirn. „Wenn ich durch die Gegend springe und arbeite ist euch das nicht recht und wenn ich mich schone auch nicht?“

„Du sollst dich ja schonen.“, vorsichtig ging ich näher heran. „Aber das heißt nicht, dass du hier versauern musst.“

„Tue ich nicht!“

„Ach nein?“, ich kam vor dem Bett zum stehen. Wirklich eine große Spielwiese. Ob er hier schon mal mit jemandem gespielt hatte? „Was hast du die letzten Tage gemacht?“

Er neigte den Kopf etwas, musterte mich so intensiv als wollte er mit seinem Blick mein Gehirn röntgen.

Aber ich blieb cool. „Hast du überhaupt etwas anderes gemacht, als dazuliegen und dir selbst leidzutun?“

„Natürlich!“, er zog einen Zauberwürfel hinter seinem Rücken hervor. „Ich hab den gelöst.“

Ein Zauberwürfel? Wie langweilig musste einem denn sein, um sich mit sowas zu beschäftigen? Trotzdem beeindruckend, wenn er es wirklich schaffte, die Dinger zu knacken. Vorsichtig nahm ich den Würfel entgegen. Tatsächlich, alle Farben waren richtig gedreht. Beeindruckend. „Aber für ein Genie wie dich ist das vermutlich keine große Herausforderung.“

Er hob missbilligend eine Augenbraue.

„I-ich meine ja nicht, dass das nicht trotzdem bestimmt schwer war. Ich könnte so ein Ding nie lösen, dafür fehlt mir die räumliche Vorstellungskraft.“

„Meinst du also?“ Seine Augen blitzten spöttisch. Machte er sich über mich lustig? Konnte ja nicht jeder so schlau sein wie er. „Dann verdreh ihn doch!“

Na wenn er das wollte… ich drehte so lange an dem Würfel herum, bis ich der Ansicht war, so viel Chaos wie möglich herbeigeführt zu haben. Dann reichte ich ihm das Ding. Sollte er doch mal zeigen, wie schlau er war..

Er brauchte nicht mal zwei Minuten. Mit flinken Fingern drehte er an dem Würfel herum, ordnete zielsicher wieder alle Farben. Irre! Herausfordernd hielt er mir den perfekten Würfel hin.

„Ich kann das nicht.“, abwehrend hob ich die Hände. „Dafür muss man doch sowieso ein verdammtes Genie sein!“

„Und wenn ich dir sage, dass ich es dir in einer halben Stunde beibringen könnte?“

Das wollte er mir beibringen? Nie im Leben!

Als er meinen fassungslosen Gesichtsausdruck sah, schnalzte er leicht mit der Zunge. „Sagen wir lieber eine Stunde. Du scheinst schwer von Begriff zu sein.“

Grrr! „Na schön!“ Wenn er meinte, dass er mir das beibringen könnte, dann sollte er sein Glück versuchen. Aber wenn er mir mit irgendwelchen physikalischen Formeln kam, knallte ich ihm den Würfel an den Kopf!

Ich setzte mich auf die Bettkannte und lauschte aufmerksam seinen Anweisungen. Okay, er hatte recht. Dieser Würfel war ein riesen Schwindel, den selbst ich in einer Stunde lernen konnte. Es waren immer die gleichen Schritte, die man abhandeln musste. Erst musste man eine Fläche fertig kriegen und von da aus war es dasselbe.

Innerlich fragte ich mich, warum er mir das überhaupt zeigen wollte. Er war nie für seine Geduld oder seine Lust am Lehren bekannt gewesen. Vermutlich war ihm wirklich einfach tödlich langweilig.

Aber egal, ich genoss es einfach, so ruhig mit Kaiba zusammenzusitzen und zuzuschauen, wie geschickt seine schlanken Finger mit dem Würfel hantierten. Auch wenn ich mich ein wenig wunderte, dass er mir tatsächlich mit Engelsgeduld etwas beibrachte, anstatt mich einfach rauszuwerfen. Und dass er mich dabei auch noch auf seinem Bett sitzen ließ. Fast als wären wir beide alte Freunde.

„Und das hast du die letzten Tage die ganze Zeit gemacht?“, fragte ich skeptisch. Es dauerte ja nicht lange, das zu lernen und den Würfel zu lösen, schaffte man auch innerhalb weniger Minuten.

„Die letzte halbe Stunde, bevor ihr gekommen seid.“

„Und davor?“

„Was davor?“, konzentriert starrte er auf den Würfel, als versuche er, meinem Blick auszuweichen.

„Was hast du die restliche Zeit gemacht?“

„Meinen Knöchel geschont.“, meinte er knapp.

„Und wie? Scheinbar hast du dein Zimmer gar nicht verlassen.“

„Genau so. Indem ich mein Zimmer nicht verlassen habe!“, er grummelte leicht. „Was ist falsch daran?“

„Nichts, nichts.“, beschwichtigend hob ich die Arme. „Ich meine… dein Zimmer ist echt cool.“, ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. „Besonders der Fernseher.“

Er verdrehte die Augen.

„Siehst du gerne fern?“

„Nein.“, seufzend warf er den Würfel aufs Bett. „Ist mir zu blöd.“

Bitte? „Heißt das, du hast in der Zeit nicht mal ferngesehen?“, fragte ich fassungslos. „Was hast du denn die ganze Zeit getrieben? Auf dem Bett sitzen und Löcher in die Luft starren?“

„Ich weiß nicht, ob du schon mal davon gehört hast, aber es gibt so komische Dinge. Die haben Seiten und auf denen stehen Worte.“

Ich seufzte. „Du hast gelesen, schon verstanden. Bist ja eine richtige Spaßkanone.“

„Stimmt, ich sollte lieber eine Runde joggen gehen.“, er sah mich abschätzig an.

„Du hättest Filme schauen können. Oder…“ Mein Blick fiel wieder auf die Zeichnung des Saxophons und dann aufs Klavier. „… ein Instrument spielen.“

Er sah ebenfalls zum Klavier. „Beim Klavierspielen kann ich das Bein nicht hochlegen.“

„Stimmt…“, ich überlegte einen Moment. „Aber du kannst es spielen?“

Er nickte nur.

„Spiel doch mal was vor.“

Da sah er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich dabei mein Bein nicht schonen kann.“

Richtig… Aber es interessierte mich schon, ob er nur ein bisschen klimpern oder wirklich gut spielen konnte. „Wie lange spielst du schon?“

„Seit ich vier bin.“

„V-vier?“ Das waren ja 14 Jahre!

Leichtfertig zuckte er mit den Schultern. „Mein Vater war fest davon überzeugt, dass das Lernen eines Instrumentes förderlich für die Entwicklung eines Kindes ist.“

„Also hat er dich gezwungen?“

„Natürlich nicht!“, er schnaufte verächtlich. „Ich habe es freiwillig gelernt.“

Dann musste er wirklich richtig gut sein. Vielleicht würde er mir ja mal etwas vorspielen, wenn sein Knöchel soweit verheilt war, dass er auftreten konnte.

„Und das Saxophon? Wie lange spielst du das schon?“

„Saxophon?“, er runzelte die Stirn. „Ich kann nicht Saxophon spielen.“

„Aber warum hängt dann da ein Bild davon?“

„Weil ich den Aufbau interessant finde. Es ist aus Blech, zählt aber trotzdem zu den Holzblasinstrumenten.“

„Warum?“

„Weil der Ton durch ein Rohrblatt erzeugt wird. Wenn man hineinbläst, beginnt es zu schwingen und dadurch entsteht der Ton.“ Andächtig strich er sich durchs Haar, „Ich glaube, ich müsste sogar noch eines haben.“

„Wozu, wenn du es doch nicht spielst?“

„Als Inspiration. Es sieht so kompliziert aus, obwohl es beim genaueren Hinsehen doch recht simpel ist. Und dabei ist es vom Aufbau her einfach genial. Wusstest du, dass man damit vier Oktaven spielen kann?“

Ich wusste nicht mal, was eine Oktave war, aber gut. „Und wozu inspiriert dich das?“

„Wenn ich etwas entwickle erinnert es mich daran, dass nichts so kompliziert ist, wie es von außen scheint.“ Nachdenklich betrachtete er die Zeichnung. „Vielleicht werde ich irgendwann mal lernen, es zu spielen.“

„Wieso nicht jetzt?“

Er sah mich verwundert an. „Was?“

„Lern es doch jetzt.“ Ich wandte mich ihm mehr zu, selbst ganz begeistert von der Idee. „Du hast doch eh nichts Besseres zu tun.“

„Weil ein Instrument lernen ja auch so einfach ist!“

„Du bist ein Genie, also wo ist das Problem?“

Resignierend massierte er sich die Nasenwurzel.

„Besser, als gar nichts zu tun, oder?“

„Ich weiß ja nicht mal sicher, ob ich irgendwo ein Saxophon hab.“, knurrte er. „Und wenn, ist es eh im Keller.“

„Na dann holst du es eben rauf.“

Jetzt sah er mich wirklich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. „Die Treppen im Foyer sind dir schon aufgefallen, oder? Und weißt du, was zum Keller führt? Eine weitere Treppe!“

„Und wenn schon.“, ich verdrehte die Augen. „Letzte Woche hat es dich auch nicht gestört, quer durch die Stadt zu jetten.“

„Ich muss die Konsequenzen tragen, nicht du!“, zischte er böse. Anscheinend nahm er sich die Worte des Arztes wirklich sehr zu Herzen. Und eigentlich war das ja auch genau richtig so. Ich war so begeistert von dem Saxophon gewesen, dass ich vollkommen vergessen hatte, was wirklich wichtig war. Nämlich dass sein Knöchel wieder verheilte.

„Tut mir leid.“, murmelte ich. „Verschieben wir das lieber, bis du wieder halbwegs laufen kannst.“

Er schnaufte gereizt. „Geh nach Hause, Wheeler! Ich brauche keinen Aufpasser.“

„W-was?“

„Lass mich in Ruhe!“, er sah mich dermaßen feindselig an, dass ich seiner Aufforderung lieber nachkam.

Was hatte ihn denn gebissen? Verstand mal einer diesen Kerl! Erst erklärte er mir geduldig diesen blöden Würfel und jetzt wurde er meiner überdrüssig? Fein! Sollte er sehen, wo er blieb!

Wütend ging ich nach Hause.

Zauberhände

Die ganze Nacht hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was es mit Kaibas Verhalten auf sich hatte. Die ganze Zeit war er zugänglich gewesen, hatte nichts dagegen gesagt, dass ich auf seinem Bett gesessen hatte und er hatte mir mit Engelsgeduld den Zauberwürfel erklärt. Alles war gut gewesen. Aber ein Spruch und er warf mich raus.

Sollte einer das verstehen!

Wenn ich wenigstens wüsste, warum er meine Nähe überhaupt duldete. Normalerweise gifteten wir uns immer nur an, aber auf einmal konnten wir ganz normal miteinander reden. Ich war ja eigentlich schuld an seinem angebrochenen Knöchel, doch er warf es mir nicht mal vor. Wie sollte ich daraus denn schlau werden?

Ich brauchte mal Pause von ihm. Sein seltsames Gehabe ging mir auf den Geist. Zugegeben, er war umgänglicher als sonst, aber diese Stimmungsschwankungen nervten mich. Sollte er doch sehen, wie er das Wochenende klarkam! Wenn er seinen Gehgips bekam, würde ich dabei sein, das nahm ich mir fest vor. Aber bis dahin sollte er eben allein zurechtkommen.

Stattdessen traf ich mich lieber mal wieder mit Yugi. Seit er mit Tea zusammen war, bekam ich ihn kaum noch zu Gesicht. Die Zwei waren ja nicht in meiner Klasse. Zum Glück. Wenn ich die beiden turteln sah, wurde mir schlecht.

Aber heute trafen wir uns mal wieder zu zweit. Wir gingen in unsere Lieblingspizzeria und spielten Duell Monsters gegeneinander. Wie in guten alten Zeiten. Dank Tea verstaubten Yugis Karten nämlich, denn sie fand das Spiel doof.

Alles war gut. Ich konnte endlich mal wieder den Kopf frei bekommen. Aber dann musste Aber dann musste Yugi alles mit einer Frage kaputt machen.

„Stimmt es, dass sich Kaiba wegen dir den Fuß gebrochen hat?“, er fragte es ruhig, aber mir drehte sich davon der Magen um.

„W-wegen mir?“ Die ganze Schule wusste, dass Kaiba sich etwas gebrochen hatte. Aber dass sie auch noch wussten, dass es meine Schuld war… das war mir neu.

„Alle reden darüber“, Yugi starrte konzentriert auf seine Karten. „Sie sagen, dass einer eurer Streits ausgeufert ist und du durchgedreht bist.“

Das… erklärte zumindest die Tuscheleien in den letzten Wochen. Mir war schon aufgefallen, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wurde, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm war.

Yugi legte seine Karten zur Seite, sah mich jetzt doch besorgt an. „Hast du das wirklich getan, Joey? Ich verstehe ja, dass ihr eure Probleme miteinander habt, aber musste das sein?“

Selbst Yugi glaubte das? „Wir haben uns nicht gestritten und ich bin auch nicht schuld gewesen! Zumindest nicht direkt.“

„Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein, Joey. Ich weiß ja, wie beleidigend Kaiba dir gegenüber werden kann.“

„Aber so war es nicht!“ Ich erzählte ihm, was sich wirklich zugetragen hatte. Wenigstens mein bester Freund musste mir doch glauben. Klar, Kaiba und ich hatten uns schon öfter dermaßen in die Haare gekriegt, dass wir uns fast geprügelt hätten. Aber es war nie dazu gekommen. Irgendwie war da noch eine magische Grenze, die uns daran gehindert hatte, handgreiflich zu werden. Und seit ich Kaibas Oberkörper gesehen hatte, war ich wirklich froh darüber. Vermutlich hätte er mir den Arsch versohlt.

„Kato?“, fragte er überrascht. „Der Schläger, der letztes Jahr von der Schule geflogen ist?“

Ich nickte düster.

„Und Kaiba hat dir geholfen?“

Ich nickte erneut.

„Das ist doch sonst nicht seine Art.“ Yugi lächelte. „Aber ich habe euch ja immer gesagt, dass er gar kein so schlechter Kerl ist.“

„Hätte er mir nicht geholfen, hätte er sich auch nicht den Knöchel angebrochen.“ Ich seufzte schwer. Eigentlich wollte ich heute nicht über ihn nachdenken, aber Yugi zwang mich dazu. Und er ließ mein schlechtes Gewissen wieder auf Hochtouren laufen, wo ich es doch gerade erst zum Schweigen gebracht hatte.

„Aber dann hätte dich Kato vermutlich krankenhausreif geprügelt. Wäre das besser gewesen?“

„Wahrscheinlich. Dann hätte ich nicht so ein schlechtes Gewissen.“ Ich musste wieder daran denken, wie Kaiba damals so blass vor Schmerz auf der Treppe gesessen hatte. Und daran, wie schwer er sich mit dem Gips tat.

„Er wird schon zurechtkommen.“, meinte Yugi sanft. „Kaiba ist stur und er muss den Gips doch nur sieben Wochen tragen. Danach wird er wieder ganz der Alte sein.“

„Ja, schon möglich.“ Aber mir gefiel nicht, dass er sich so aufgab. Außerdem musste er den Gips noch eine Woche länger tragen, was zwar seine eigene Schuld war, aber…

Moment!

Es war seine Schuld! Das war es!

Er war gestern sauer geworden, als ich darauf zu sprechen kam. Na klar, er der unfehlbare Seto Kaiba, zu stolz um Fehler zuzugeben, fühlte sich angegriffen. Nur weil er zu stur gewesen war, sich ein wenig zurückzuschrauben, war sein Bein noch nicht besser geworden, und er wusste das. Er wusste, dass es seine Schuld war und er sie niemand anderem in die Schuhe schieben konnte. Das nagte an ihm, kränkte seinen Stolz, da er ja sonst so perfekt war. Und deswegen hatte er gestern so angepisst reagiert. Weil ich ihm seinen Fehler wieder vorgeworfen hatte.

So langsam verstand ich es. Er duldete mich, warum auch immer, aber nur solange er sich nicht angegriffen fühlte. So ein Feigling!

„Entschuldige mich, ich muss los.“ Ich sprang auf und rannte nach draußen. Klar, es war unhöflich, Yugi einfach sitzen zu lassen, aber ich musste Kaiba den Kopf waschen gehen.

Entschlossen lief ich durch die Villa und stürmte sein Zimmer. Oh ja, ich würde ihm die Meinung geigen!

Als ich reinstürmte und seinen Namen brüllte, lag er quer auf dem Bett und warf Smarties in die Luft, um sie mit dem Mund zu fangen. Mein Ansturm erschreckte ihn wohl so, dass er sich an einer Schokolinse verschluckte. Fast schon panisch setzte er sich auf, rang nach Luft und hustete verzweifelt.

Ups. Das war nicht gut. Ich wollte ihm den Kopf waschen und ihn nicht umbringen! Schnellte eilte ich zu ihm und klopfte ihm mit der Faust auf den Rücken. Scheinbar half ihm das, die Linse wieder rauszuwürgen. Gierig schnappte er nach Luft.

Glück gehabt. Ich atmete erleichtert auf.

Zornig fuhr er zu mir herum. „Willst du mich umbringen?!“

„Kann ich wissen, dass du Smarties durch die Luft wirfst?“

Er knurrte böse. „Wieso fällst du wie eine Horde Barbaren in mein Zimmer ein? Ich hab gesagt, ich brauche keinen Aufpasser!“

„Nein, du brauchst jemanden, der dir einen Tritt in den Arsch verpasst!“

Er kniff die Augen zusammen, starrte mich finster an.

„Der Seto Kaiba, den ich kenne, würde sich nie so hängen lassen!“

„Was weißt du schon?“, er schnaufte.

Ich baute mich vor ihm auf, sah streng auf ihn herab. „Ich weiß, dass du langsam mal anfangen musst, dich mit deiner Situation zu arrangieren und aufzuhören, die Schuld herumzuschieben.“

„Ich habe mich arrangiert!“

„Indem du Smarties durch die Luft wirfst? Der Wahnsinn!“

Er grummelte leicht.

„Du bist selbst schuld, dass du den Gips länger tragen musst.“

Da wurden seine Augen wieder dunkel vor Zorn. Das war wirklich der Knackpunkt. Sobald man ihn mit seinen Fehlern konfrontierte, rastete er aus.

Ich fuhr schnell fort, ehe er mich erneut rauswerfen konnte. „Aber ich bin schuld daran, dass du dir überhaupt den Knöchel angebrochen hast.“ Ich senkte meine Stimme. Bis jetzt hatten wir nicht darüber gesprochen. Wir beide wussten, dass es ohne mich nie passiert wäre, er hatte es jedoch nie erwähnt. „Aber es ist doch egal, wer an was schuld hat. Wichtig ist nur das hier und jetzt.“

„Was soll das werden?“, fragte er kritisch.

„Du kannst nicht ändern, was passiert ist, du kannst nur das Beste daraus machen.“

Er starrte mich durchdringend an. Und das ziemlich lange, als wöge er ab, wie er meine Worte auffassen sollte. Glaubte er mir? „Und was soll ich deiner Meinung nach machen?“, fragte er gepresst.

„Nutz die Zeit und such dir eine Beschäftigung. Du kannst zwar nicht laufen, aber deine Hände sind gesund.“

„Und was?“

„Wie wäre es mit malen?“

„Ich kann nicht malen!“, murrte er.

„Hast du es mal probiert?“

„Wozu? Ich kann es einfach nicht.“

Ich seufzte. „Wenn du nächste Woche deinen Gehgips kriegst, hast du auch viel mehr Möglichkeiten als heute.“

„Ich will aber nicht malen!“ er reagierte wie ein bockiges kleines Kind.

„Dann irgendwas anderes.“

„Lesen zählt nicht, oder wie?“

„Nein! Dabei bewegt man sich doch nicht.“

„Aber beim Malen, ist klar!“ Er verdrehte genervt die Augen, sichtlich nicht angetan von meinen Vorschlägen.

„Naja… nicht direkt.“ Das war ein schlagendes Argument. „Aber wenigstens machst du dann was Nützliches.“

„Lesen ist also sinnlos?“

„Es ist mal etwas anderes. Du kannst ja nicht nur die ganze Zeit lesen!“

„Aber ich kann ja nichts anderes machen!“

„Du versuchst es doch nicht mal!“

Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust. „Was weißt du schon? Du hast doch keine Ahnung. Und du hast mir erst recht nichts zu sagen!“

Ich seufzte genervt. Der Kerl war wirklich stur und verdammt uneinsichtig. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und kräftig durchgeschüttelt, damit er wieder zur Vernunft kam.

Aber dann kam mir eine viel bessere Idee. Er würde sich aufraffen, oh ja!

„Wenn du die nächsten Wochen nur auf deinem Bett sitzen und schmollen willst, dann viel Spaß!“, schnaufend verschränkte ich die Arme vor der Brust, „Aber heul nicht, wenn du danach dick und fett bist!“

„Wie Bitte?“, er sah mich ungläubig an.

„Was denn? Denkst du, du kannst sechs Wochen auf deinem Arsch sitzen, ohne dabei wie ein Hefekloß aufzuquellen?“

Treffer! Das saß. Ich sah an seinen immer größer werdenden Augen, dass ihn das traf. Kaiba war eitel und krankhaft auf sein Äußeres bedacht. Die Aussicht, seinen perfekten Körper zu verlieren, schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen.

Innerlich lachte ich mir ins Fäustchen. Man musste nur wissen, wie man Kaiba händeln musste. Ich sah, wie in seinen Augen ein entschlossener Ausdruck aufleuchtete. Jetzt würde er sich garantiert nicht mehr so gehen lassen.

„Und was schlägst du vor? Außer malen?“

„Wir könnten auch Duell Monsters gegeneinander spielen.“

Er verdrehte die Augen. „Da ist ja selbst Malen anspruchsvoller.“

„Klar, weil du es nicht kannst.“

Er knurrte leise.

„Dann nicht. Aber du kannst dich nicht weiter wie Gollum in deiner Höhle verkriechen.“

„Wer?“

„Gollum. Du weißt schon. Der aus >Herr der Ringe<?“

Er sah mich nur fragend an.

„Du kennst Gollum nicht?“ Ich blinzelte verwirrt. Er hatte gesagt, er sah nicht oft fern, aber ich dachte, er meinte damit, das übliche Fernsehprogramm. Filme würde er doch wohl kennen.

„Scheinbar nicht. Na und?“

„Aber du kennst doch Darth Vader, oder?“

Er sah mich schief an. „War das nicht so ein schwarzer röchelnder Typ?“

„Ja genau. Der aus Star Wars.“

Er tat es mit einem gleichgültigen Schulterzucken ab. „Von mir aus.“

Oh Gott, er hatte nie Star Wars gesehen? Wie weit ging diese Bildungslücke denn noch? „Und Harry Potter? Forest Gump? Titanic? Scary Movie? Die Simpsons??? Die Monsters???“

Er sah mich stumm an. Das sagte ihm alles nichts und je mehr Filme ich aufzählte, desto verständnisloser wurde sein Blick. Lebte er hinterm Mond? Wie traurig.

Resignierend fuhr ich mir durchs Haar. „Jetzt weiß ich, was wir machen.“

„Ach ja?“

„Ja. Komm, steh auf“ Ich suchte den Raum nach seinen Krücken ab. Wieso standen die denn so weit weg? „Ich hol deine Krücken.“

„Nur keine Umstände.“ Er zog aus der Tasche eine kleine Fernsteuerung vor. Was sollte das denn werden? Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als plötzlich eine silberne Metallspinne unter dem Bett hervorgeschossen kam. Peinlicherweise konnte ich mir einen panischen Aufschrei nicht verkneifen, was Kaiba mit einem spöttischen Grinsen quittierte.

Zielsicher lief dieses komische Ding zu den Krücken. Ich betrachtete es etwas genauer. Es war gar keine Spinne, sondern eine Hand aus Metall. Sie krabbelte flink auf ihren Fingern durch den Raum. Auf dem Rücken trug sie eine zweite Hand. Wozu die gut war, sah ich, als sie die Krücken erreichten. Die untere Hand postierte sich davor und die obere umfasste die Gehhilfen und hielt sie fest, als sich die untere wieder auf den Rückweg zu Kaiba machte.

Vollkommen fassungslos sah ich Kaiba zu, wie er die Krücken an sich nahm und damit aufstand. Die kleine Fernsteuerung steckte er wieder in seine Hosentasche.

„W-was… war denn das?“

„Mein kleiner Helfer.“, er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Kann ja nicht jedes Mal aufspringen, wenn ich etwas brauche.“

Vorsichtig hob ich das kleine Wunderwerk hoch und betrachtete es. Das Ding sah wirklich realistisch aus, wie das Skelett echter Hände. Und die Finger waren genauso beweglich. „Hast du das selbst gebaut?“

Er nickte. „Hatte ja viel Zeit.“

Also war er doch nicht so tatenlos gewesen wie gedacht. Diese kleine Erfindung war mit Abstand das genialste, was ich je gesehen hatte.

„Und wieso sind es zwei Hände?“

„Erst war es nur eine.“, seufzend setzte er sich wieder auf die Bettkante, ahnend dass das noch ein paar Minuten dauern könnte. „Aber sobald sie etwas gegriffen hat, konnte sie nicht mehr laufen. Also habe ich eine zweite gebaut, die die Dinge festhält, während die andere läuft.“

„Das ist total cool.“ Ich sah etwas genauer hin. „Aber sie sind gar nicht richtig aneinander befestigt.“

„Die obere Hand rastet nur mit dem kleinen Finger in einer Schiene bei der unteren ein. Das reicht.“

„Wäre es nicht besser gewesen, sie richtig zu befestigen?“

„Aber dann würde das hier nicht mehr funktionieren.“ Als hätte sie nur auf das Kommando gewartet, sprang die obere Hand von der anderen herunter. Sie landete falsch herum auf dem Boden. Oh nein, war sie jetzt kaputt? Nein, sie rappelte sich schnell wieder auf und stand nun vor meinem Fuß.

„Sie sind sehr robust gebaut, da macht die Höhe nichts aus.“

„Wahnsinn!“ vollkommen fasziniert starrte ich die kleinen Technikwunder an. „Also kannst du sie auch gleichzeitig einzeln steuern?“

„Noch nicht.“, er deutete auf einen kleinen Hebel an der Fernsteuerung. „Beide reagieren auf unterschiedliche Frequenzen, zwischen denen ich mit dem Hebel hin- und herschalten kann. Bis jetzt habe ich aber nur eine Fernsteuerung. Ich müsste erst eine zweite bauen, um sie getrennt zu steuern.“

„Dann mach das doch.“

Er bedachte mich mit einem strengen Blick. „So leicht ist das aber nicht. Das ist hochkomplizierte Technik.“

„Ja klar.“ Das glaubte ich ihm. „Aber wenn du die zwei Hände gebaut hast, dürfte eine Fernsteuerung doch kein Problem sein, oder?“

Nachdenklich starrte er zwischen den Händen hin und her.

Jeder wusste, dass Seto Kaiba ein Genie war, aber ich hätte nie gedacht, dass er wirklich so genial sein konnte. Diese Hände waren einfach unglaublich cool und er hatte sie einfach mal nebenbei gebaut. Wozu wäre er dann imstande, wenn er sich nur noch dem Erfinden zuwenden würde.

Ich bekam einen riesen Schrecken, als die Hand auf dem Boden ganz plötzlich mein Bein hochkrabbelte. Die Fingerspitzen krallten sich in meine Jeans, zogen sich daran hoch. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Geschickt hangelte sie sich über mein Hemd und dann meinen Arm zu meiner Hand, wo bis dahin das Gegenstück gesessen hatte. Sie setzte sich bei der anderen auf den Rücken. Wieder vereint sprangen sie auf den Boden.

„Sie sind auch ziemlich stark für ihre Größe.“, merkte er an. Die Hände liefen zu einem Bücherstapel neben dem Bett und zogen ein dickes, großes Lexikon hervor. Als wöge es nichts, brachten sie es zu mir. Ich nahm es ihnen ab, erstaunt darüber, dass es doch ganz schön schwer war. Die Hände hatten es echt drauf!

„Wirklich cool.“, rief ich begeistert. „Zu schade, dass du sie nur in deinem Zimmer steuern kannst.“

„Wieso?“, fragte er verständnislos.

„Naja, sobald sie außer Sichtweite sind, siehst du doch gar nicht mehr, wohin du lenkst.“

„Als würde ich an sowas nicht denken!“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Dafür hat die obere Hand ja eine integrierte Kamera, deren Bild ich bei Bedarf auf den Fernseher übertragen kann.“

Stimmt, ein Genie wie er würde sowas bestimmt nicht vergessen.

Die Hände krabbelten flink unters Bett.

„Wo sind sie hingelaufen?“

„In ihre Ladestation. Leider hält der Akku nicht sonderlich lange.“ Er warf mir einen schrägen Seitenblick zu. „Bis in den Keller laufen können sie also nicht.“

Kleiner Seitenhieb wegen der Saxophongeschichte. „Soll ich das Saxophon hochholen?“, fragte ich kleinlaut.

„Vergiss es einfach!“ Er schnaufte. „Als würde ich jetzt wirklich ein Instrument lernen wollen.“ Schwerfällig erhob er sich wieder. „Also wo wolltest du hin?“

„Keine Ahnung.“ Ich war noch viel zu begeistert von diesen Händen. „Weißt du, die sind wie das eiskalte Händchen der Adams Family.“

„Wie was?“ Er sah mich schon wieder so verständnislos an.

Jetzt wusste ich wieder, was war. „Komm mit.“

Seufzend humpelte er mir hinterher, nur um verwundert zu erkennen, dass ich ihn zur Couch geführt hatte. Als ich ihm deutete, sich zu setzen, sah er mich an als wäre ich geisteskrank.

„Nun setz dich schon!“, murrte ich ungeduldig. Derweil holte ich schnell das Kissen, auf dem er seinen Fuß gebettet hatte und legte es auf den Tisch. „Machs dir gemütlich, leg dein Beinchen hoch. Ich komme gleich wieder.“

Ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, war ich schon aus dem Raum gestürmt.

Fernsehabend I

Mokubas Zimmer fand ich relativ problemlos. Zu seinem Geburtstag war ich ja schon öfter hier gewesen. Der Kleine hatte fast schon seine eigene Videothek. Genau das Richtige, um Kaiba mal zu zeigen, was für tolle Filme es gab und gegen diese wirklich riesige Bildungslücke vorzugehen. Ich suchte mir eine erlesene Handvoll aus und ging zu ihm zurück.

Er saß noch genauso da, wie ich ihn zurückgelassen hatte, quittierte meine Rückkehr mit einem genervten Blick. Grinsend umrundete ich den Tisch. „Jetzt kümmern wir uns mal ein bisschen um deine Allgemeinbildung.“ Ich hielt ihm die DVDs hin. Während er sie argwöhnisch musterte, umfasste ich seinen Gips und bettete seinen Fuß ganz vorsichtig auf dem Kissen. Er sah nicht mal auf.

„Was soll ich damit?“, fragte er genervt.

„Such dir aus, was du zuerst schauen willst.“

„Zuerst? Du willst die alle sehen?“

Ich nickte. „Ist unterhaltsam und beinschonend.“

Seufzend fuhr er sich durchs Haar. „Da wäre Lesen wirklich sinnvoller.“

„Hör auf zu motzen!“ Ich griff mir einfach irgendeine DVD und schob sie in den Player. Auf dem riesigen Fernseher kam garantiert jeder Film gut. Aber bevor der Film startete, brauchten wir noch etwas. „Hast du Popcorn?“

Er sah mich schief an. „Keine Ahnung. Frag Mokuba.“

„Ist der überhaupt da? In seinem Zimmer war er nicht.“

„Doch…“, Kaiba dachte kurz nach. „Er ist wahrscheinlich in der Küche. Wollte Kuchen backen oder so.“

„Trifft sich prima. Bin gleich wieder da.“, ich eilte in die Küche. Den Weg kannte ich noch von Mokubas Geburtstag. Da hatte er auch Kuchen gebacken.

Als ich eintrat, machte er sich gerade am Herd zu schaffen. „Hey, Mokuba.“

Überrascht sah er zu mir auf. „Joey.“ Er lächelte. „Besuchst du meinen Bruder jetzt doch regelmäßig?“

„Einer muss sich ja um den Sturkopf kümmern. Ich weiß zwar nicht, wieso er mich überhaupt duldet, aber solange er es tut, werde ich kommen.“

Der Kleine nickte andächtig, während er die Ofentür schloss. „Ist doch klar, warum er dich und nur dich duldet.“

„Tatsächlich?“ Mir war es nicht klar.

„Na weil du beim Unfall dabei warst. Du weißt Bescheid.“

„So ziemlich jeder in der Schule weiß Bescheid.“, murmelte ich bitter. Und sie alle gaben mir die Schuld.

„Schon möglich, aber die anderen waren nicht dabei, als es passiert ist und auch nicht als er den Gips bekommen hat.“

„Und?“

„Er duldet dich, weil du der einzige bist, dem er nichts über die Schwere der Verletzung vormachen kann. Und der einzige, der ihn mit Gips gesehen hat.“, Mokuba lächelte. „Seto ist eitel. Er will nicht, dass die Leute ihn mit Gips und Krücken sehen.“

Ich nickte. „Haben ja die letzten Wochen gezeigt. Ich habe ihn gesehen, stimmt. Aber an seiner Stelle würde ich mich gar nicht ins Haus lassen. Ich bin ja indirekt Schuld.“

„Er ist einsam, Joey.“

„Bitte?“

Der Kleine rollte mit den Augen, als fände er mich besonders schwer von Begriff. „Normalerweise ist er immer inmitten des Trubels. In der Firma, in der Schule, er ist ständig Mittelpunkt.“

„Aber in der Schule redet er nicht mal mit den Leuten.“

„Sie beachten ihn aber und reden über ihn. Auch wenn Seto sie ignoriert, genießt er die Aufmerksamkeit. Seto meinte mal zu mir, das wären kleine Streicheleinheiten fürs Ego.“ Mokuba verdrehte die Augen. „Genau wie in der Firma. Er ist der Mittelpunkt, alles dreht sich um ihn.“

Arroganter Geldsack! Das hatte ich mir schon immer gedacht.

„Aber hier ist keiner und er weiß auch nichts so recht mit sich anzufangen. Mein Bruder braucht Beschäftigung.“

„Du meinst also, ihm fehlen Aufmerksamkeit und Unterhaltung?“

Der Kleine nickte. „Aber ich denke, er duldet dich auch, gerade weil er weiß, dass du Schuld bist. Er erwartet wohl irgendeine Gegenleistung.“

„Was denn?“

„Für den Anfang wohl deine Gesellschaft.“

Oh. Er wollte also sogar, dass ich da war. Warum sagte er das nicht einfach? Ach, ich vergaß, sein Stolz war im Weg. Aber das Wissen, dass er sogar wollte, dass ich bei ihm war, ließ mein Herz einen kleinen Hüpfer machen. Irgendwo mochte ich meinen kleinen Sturkopf ja schon.

Mokuba seufzte schwer. „Mein Bruder will normalerweise immer etwas zu tun haben, er kann nie lange stillhalten. Aber jetzt muss er genau das. Ihm ist unfassbar langweilig.“

Oh, das konnte ich mir gut vorstellen. Der Workaholic wusste einfach nichts mit sich anzufangen. Normalerweise investierte er ja all seine Zeit in die Firma. Aber da konnte ich Abhilfe schaffen. Als Wiedergutmachung konnte ich ihm zumindest etwas Unterhaltung bieten. „Habt ihr Popcorn?“

„Klar.“ Er ging zu einem der Küchenschränke und holte eine Tüte hervor. Den Inhalt kippte er in eine Schüssel und reichte sie mir.

„Danke.“ Ich lächelte zufrieden. Damit konnte man einen DVD-Abend machen. „Ich verschwinde dann wieder.“

„Hm, viel Spaß.“

Würden wir schon haben. Ich ging wieder zu Kaiba und stellte die Schüssel auf den Tisch. Ohne ein weiteres Wort ging ich zur Minibar. Mal schauen, was er so schönes hatte. Aber der Anblick war eher enttäuschend. Nur Wasser. Ich schnaubte verächtlich. „Du hast eine Minibar, nur um Wasser kaltzustellen?“

„Was denn sonst?“, fragte er genervt.

„Bier? Oder wenigstens Cola?“

„Trunk des Pöbels!“

„Was soll das bedeuten?“

Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ich mag einfach kein Bier und ich bin auch kein Freund davon, mich sinnlos zu betrinken.“

Na klang ja richtig spaßig. Seufzend holte ich zwei Wasserflaschen raus. Für den Anfang würden die es auch tun – hoffte ich.

Schwerfällig ließ ich mich neben ihm auf die Couch fallen und startete den Film. Die Simpsons, guter Film.

„Zeichentrick?“, fragte Kaiba skeptisch. „Wie alt bist du?“

„Das sind die Simpsons! Das ist Zeichentrick für Erwachsene.“

„Du meinst Zeichentrickpornographie?“ Er sah alles andere als begeistert aus.

Ich verdrehte die Augen. „Schau es dir einfach an.“

Schweigend sahen wir uns den Film an. Ich musste immer wieder lachen, obwohl ich den Film in- und auswendig kannte. Aber Kaiba zog höchstens mal ein bisschen die Augenbraue hoch. Er schien das nicht sonderlich spannend oder lustig zu finden. Stimmt, ich hatte vergessen, dass der Typ keinen Humor besaß. Egal, ich genoss einfach den Film.

Aber es kamen doch ein paar Szenen, die zumindest seine Mundwinkel nach oben zucken ließen. Einmal die Szene mit dem Walross, das den Pinguin abknallte und dann noch die mit den Schlittenhunden. Dann war ja bei ihm doch nicht alles verloren.

Während des Films schaufelte ich mir genüsslich das Popcorn rein. Kaiba ließ die Finger davon. Er warf immer wieder einen kurzen Blick darauf, als hätte er zu gerne mal probiert. Aber meine Ansage, er würde als dicker Hefekloß enden, hielt ihn wohl davon ab. So eine dumme Nuss! Trotzdem sprachen wir nicht, bis der Film zu Ende war.

„Und?“, fragte ich gespannt. „War es so schlimm?“

Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Ganz… nett.“

„Nett?“ Ich schnaufte beleidigt. Der Kerl hatte doch keine Ahnung! „Du fandest es lustig, hab ich genau gesehen!“

„Der Humor war ziemlich stupide, aber ein paar Szenen waren… nett.“

„Jaja, du bist auch… nett!“

„Ich weiß.“

Blödmann!

Kopfschüttelnd stand ich auf und schob den nächsten Film ein. Vielleicht sprach ihn Transformers mehr an, da ging es ja mehr um Technik. Zumindest schien er schon mal den Anblick der Darstellerin ansprechend zu finden.

„Findest du Megan Fox heiß?“, fragte ich lauernd.

Sein Blick hing aufmerksam am Bildschirm. „Wen?“

Mein Fehler. Wie konnte ich denn auch erwarten, dass er den Namen irgendeines Schauspielers kannte? „Die Schwarzhaarige.“

„Optisch ganz ansprechend, aber nicht mein Typ.“ Bei ihm klang das wie eine sachliche Feststellung. Aber immerhin aufschlussreich.

Er war also schon mal interessiert an Frauen. Merkwürdig, dass ich das vorher nie hinterfragt hatte, aber Kaiba war diesbezüglich eine äußerst rätselhafte Person, denn er hielt sich da verdammt bedeckt. Ernsthaft, bei ihm hatte man einfach keine Ahnung, ob er auf Männer, Frauen, beides oder gar nichts stand. Jetzt wusste ich zumindest schon mal, dass er Frauen zugewandt war, allerdings keinen wie Megan Fox. Nur was fand er an ihr nicht ansprechend? Schwarze Haare, blaue Augen? Oder war sie ihm einfach zu aufgetakelt?

Je länger wir schauten, desto kritischer wurde sein Blick. „Scheint mir ein wenig unrealistisch, dass sich ein Auto so schnell in einen Roboter verwandeln kann.“, merkte er irgendwann an. „Ich meine, so weit ist unsere Technik doch noch lange nicht.“

Ich verdrehte die Augen. Dass er immer alles logisch betrachten musste. „Das sind Roboter aus dem All!“

„…die so riesig sind und trotzdem unbemerkt in die Atmosphäre eintauchen konnten, ohne dass es von irgendjemandem bemerkt wurde? Wohl kaum!“

Seufzend massierte ich mir die Nasenwurzel. „Deswegen nennt man es Science Fiction!“

„Fiktive Wissenschaft?“

„Ja!“

Er schnaufte. „Was für ein Blödsinn!“

Resigniert stoppte ich den Film. Mit Kaiba Filme schauen war ja wirklich wahnsinnig lustig! „Schauen wir was anderes.“

Scary Movie. Eine gute Zusammenfassung vieler anderer Filme in lustig.

Aber Kaiba hatte wirklich keinen Humor. Er sah eher gelangweilt aus. Und er hielt sich mit seiner Kritik auch nicht zurück. „Das ist einfach nur dämlich!“

„Kannst du nicht wenigstens versuchen, darüber zu lachen?“, fragte ich unwirsch.

„Man muss schon hirntot sein, um das lustig zu finden. Obwohl…“, er schielte zu mir rüber. „Officer Doofi erinnert mich irgendwie an jemanden.“

„Wen denn?“ Wieso fragte ich überhaupt? Sein freches Grinsen war doch Antwort genug.

„Haha, lustig!“, verärgert warf ich Popcorn nach ihm.

Er klaubte ein einzelnes Stück von seinem T-Shirt und schob es sich in den Mund. „Kein bisschen kritikfähig, der Knabe.“

„Keine Angst, dass von dem einen Popcorn dein Arsch zu fett wird?“, fragte ich patzig.

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Solange er nicht so fett wie deiner wird, ist doch alles in Ordnung.“

„Na und? Ich kann laufen gehen. Und was machst du?“

Er hob nur eine Augenbraue. „Sich auf Kosten eines Verletzten lustig zu machen, ist wirklich wahnsinnig niveauvoll.“

Stimmt, das war gemein. „Entschuldige.“

Schweigend sahen wir weiter den Film an. Das restliche Popcorn wischte er einfach von sich runter, aber er probierte kein einziges Stück mehr.

Irgendwie tat es mir schon leid. „Komm schon. Dein Körper ist wahnsinnig gut definiert. Nur wegen ein bisschen Popcorn wirst du schon nicht fett werden.“, ich hielt ihm auffordernd die Schüssel entgegen, „Und wenn du ein paar Kilo zunimmst, ist das auch egal. Du bist so superschlank, dass dich das bestimmt nicht entstellt. Außerdem kannst du es auch wieder abtrainieren, wenn dein Knöchel heile ist.“

Misstrauisch sah er mich an, als versuchte er abzuschätzen, was ich damit bezweckte. Dabei wollte ich nur, dass er nicht so streng zu sich war. Er hatte wirklich einen tollen Körper. Allein diese endlos langen Beine waren der Wahnsinn! Vor allem, weil man bei den kurzen Hosen erkennen konnte, dass es keine dürren Stelzen waren, wie ich fast befürchtet hatte, sondern doch recht gut trainierte schöne Beine.

„Was weißt du schon!“, murrte er.

Ich grinste ihn dreckig an. „Ich weiß abgesehen von deiner Körpermitte ziemlich genau, wie dein Körper aussieht.“

Das schien ihn ein wenig zu irritieren. Er sah mich lange Zeit nur fragend an. Aber ich schwieg und genoss lieber seinen Blick auf mir.

Nach einer Weile gab er nur ein tiefes Murren von sich. „Schwul oder was?“ Trotzig schnappte er sich eine Handvoll Popcorn.

„Man muss nicht schwul sein, um zu erkennen, dass du ein hübsches Kerlchen bist. Aber du bist so arrogant, dass du das selber am besten weißt.“

Jetzt starrte er mich doch wieder an. „Ich bin also arrogant?“

„Ganz genau!“ Ich schob mir das letzte bisschen Popcorn in den Mund. „Du bist so selbstverliebt!“ Zeigte doch schon die Aktion mit dem Gips.

Er runzelte die Stirn. „Basiert deine infame Behauptung auf irgendeinem Beweis oder versprühst du nur heiße Luft?“

„Du willst Beweise?“ Ich deutete auf seine Hände. „Deine Fingernägel sind immer perfekt. Wahrscheinlich gehst du alle zwei Tage zur Maniküre.“

Er betrachtete seine Finger, die so wunderbar lang und schlank waren. Damit konnte er bestimmt gut Klavier spielen, sie waren ja geradezu dafür gemacht. „Ja… eigentlich erreicht man diesen Effekt mit einer normalen Nagelfeile.“ Er warf einen schrägen Blick auf meine Hände. „Aber für jemanden, der sowas nicht kennt, muss das wirklich wie ein Wunder wirken.“

„Wie lustig!“, murrte ich.

„Nein, eigentlich ist das ziemlich traurig.“

„Du bist traurig!“, beleidigt verschränkte ich die Arme. „Und du bist doch selbstverliebt! Du zupfst dir die Augenbrauen.“

„Eigentlich nicht.“

„Und warum sind sie dann immer so perfekt?“

Er verdreht die Augen „Weil sie einfach so sind. Und bevor du fragst, ich glätte mir auch nicht die Haare, die sind ebenfalls einfach so! Und ich färbe mir auch nicht die Augen oder was auch immer du dir sonst in deinem kranken Hirn ausmalst, okay?“

Na toll! Der Typ war also von Natur aus perfekt. Er konnte wirklich jedes meiner Argumente ausschlagen. Als ich es nur noch unmotiviert mit seiner reinen Haut probierte, murrte er nur was von gesunder Ernährung und Creme.

Er sah zwar so aus, aber anscheinend machte er doch weder Maniküren noch irgendein Peeling. Der Typ hatte einfach unverschämtes Glück mit seinen Genen gehabt. Wie meine Mutter immer so schön gesagt hatte, wahre Schönheit kam von Natur aus – oder von innen? Ach, wie auch immer.

Als ich mich aus meinen Gedanken wieder befreite und aufsah, merkte ich, dass Kaiba mich immer noch durchdringend anstarrte.

„Was ist?“, fragte ich lahm.

„Wie bist du auf dieses Thema gekommen?“

„Welches?“

Er runzelte die Stirn. Ob er wusste, dass er dabei jedes Mal die Nase ein wenig kraus zog, was irgendwie niedlich aussah? „Wieso interessiert es dich, ob und inwiefern ich Körperpflege begehe? Geht dich doch eigentlich nichts an, oder?“

Ich blinzelte verwirrt. Das… stimmte wohl. Es hatte mich wirklich nicht zu interessieren. „Ich wollte dir nur vor Augen führen, dass du arrogant bist.“, murrte ich verlegen.

„…und bist daran gescheitert!“

Stimmte wohl. Mist! Mein Blick glitt über seinen Körper, auf der Suche nach anderen Hinweisen. Da kam mir ein Gedanke.

Ich machte den Mund auf, schloss ihn aber ganz schnell wieder, bevor mir etwas wirklich Unbedachtes herausrutschte. Ich hätte fast eine Frage ausgesprochen, die doch eine Antwort hätte herbeiführen können, aber das wäre wirklich zu tief unter der Gürtellinie gewesen. Wortwörtlich.

Es ging mich nichts an, ob und wie und wo er sich rasierte, das wäre wirklich ein bisschen sehr dreist gewesen. Außerdem, was interessierte mich das überhaupt? Ich meine, es ging mich doch gar nichts an, wie er unten herum aussah, also konnten meine Gedanken mal aufhören darum zu kreisen? Ob er ein Babyschwänzen oder einen Elefantenrüssel hatte, konnte mir doch völlig egal sein. Obwohl… wenn man von den Fingern wirklich auf die tieferen Regionen schließen konnte, dann MIAU!

Innerlich verpasste ich mir eine Backpfeife. Böse Gedanken!

Als ich merkte, dass er mich immer noch anstarrte, wurde ich rot. Hoffentlich konnte er keine Gedanken lesen. Bei seinem bohrenden Blick war ich mir da nicht so sicher.

„I-ich geh noch etwas Popcorn holen.“, ich schnappte mir schnell die Schüssel und floh nach draußen. Auf einmal war es da drin nämlich furchtbar heiß gewesen. Der Kerl musste irgendetwas ausstoßen, das meine Gedanken durcheinander brachte.

Während ich in die Küche ging, versuchte ich mir diese blöden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Ich wollte nicht ständig darüber nachdenken, wie er bestückt war oder wie seine Augen wohl aussehen mochten, wenn er erregt war. Das war doch total daneben! Durchatmen! Das war nur ein mentaler Ausrutscher, mehr nicht.

Die Küche war leer, als ich eintrat. Dann war Mokuba wohl mit seinem Kuchen fertig. Seufzend holte ich das Popcorn raus und machte mich auf die Suche nach etwas Trinkbarem. Immerhin fand ich eine Flasche Cola, das war aber auch schon das höchste der Gefühle. Für mich sollte das fürs erste genügen, doch Kaiba mochte das Zeug nicht.

Aber weit hinten im Schrank entdeckte ich noch einen Entsafter. Er war ein wenig eingestaubt, wurde scheinbar nicht oft genutzt. Das ließ sich ändern. Wenn Kaiba so ein Gesundheitsfreak war, sollte er das eben bekommen. Ich suchte Obst und Gemüse zusammen und ließ es durch die kleine Maschine laufen. Äpfel, Orangen, Möhren, rote Beeren… Das sollte doch einen netten Multivitaminmix ergeben, oder nicht? Das Resultat war ein trüber orange-gelber Saft, der nicht sonderlich appetitlich aussah, aber egal.

Mit Cola, Saft und Popcorn kehrte ich zu ihm zurück. Inzwischen war der Film zu Ende, aber Kaiba hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen neuen einzulegen. Naja gut, mit seinem Fuß wäre das vermutlich auch nicht so sinnvoll gewesen.

Wortlos stellte ich meine Mitbringsel auf den Tisch und schob eine neue DVD ein. Wurde Zeit, dass er Herr der Ringe kennenlernte, und zwar die extra lange Fassung aller drei Teile.

Als ich mich setzte, betrachtete er misstrauisch das Glas vor sich. „Was ist das?“

„Saft, frisch gepresst.“

Er hob das Glas an und besah sich den Inhalt von allen Seiten.

„Es ist trinkbar!“, knurrte ich genervt. „Also könntest du dich anstatt auf das Glas auch auf den Film konzentrieren.“

Er sah zum Fernseher. Seinem Blick zufolge war er allerdings nicht begeistert – mal wieder. „Ein Film über Kleinwüchsige?“

„Das sind Hobbits!“ Bevor mir noch eine böse Beleidigung über die Lippen kam, stürzte ich lieber die Cola runter. „Und jetzt sei ruhig und schau den Film!“

Er gab noch ein unwilliges Murren von sich, aber schließlich ergab er sich seinem Schicksal. Und ich war wirklich beeindruckt. Schon eine halbe Stunde und er hatte noch kein Wort gesagt. Nein, er folgte sogar fast aufmerksam dem Film.

Ich warf einen flüchtigen Blick auf sein Glas. Er hatte es nicht mal angerührt.

„Schmeckt der Saft?“, fragte ich argwöhnisch.

„Hm, super.“, sein Blick richtete sich stur auf den Fernseher.

„Willst du nicht erst probieren, bevor du ein Urteil fällst?“

Wahnsinn. Schon allein mit einer einfachen Geste, wie dem Greifen nach dem Saftglas konnte er demonstrieren, dass er genervt war. Aber das war mir egal, er sollte das Gesöff doch einfach trinken, ohne sich so anzustellen! Immerhin hatte ich das mit Liebe ausgepresst.

Er setzte das Glas an die Lippen und nahm einen winzigen Schluck – und spuckte ihn sofort zurück ins Glas. Erschrocken hielt er sich die Hand vor den Mund. Was war denn? Schmeckte es nicht?

Ich griff nach dem Glas und kostete selbst. Es schmeckte wie es aussah: gesund, aber annehmbar. Was hatte er sich dann so?

Feindselig starrte er das Glas an. „Du hast da Möhren mit reingetan.“

Ich nickte. „Na und?“

Schwer ausatmend ließ er sich gegen die Sofalehne sinken und presste weiter den Handrücken gegen den Mund. „Ich bin dagegen allergisch!“, murmelte er. Krampfhaft schloss er die Augen.

Fernsehabend II

„W-was?“ Er war allergisch gegen Möhren? Wieso hatte er das nie vorher gesagt, dann hätte ich die da doch nie mit reingeworfen. Andererseits, was hieß schon allergisch? Vielleicht bekam er davon ja nur rote Flecken im Gesicht oder so.

„Er will mich umbringen!“, murmelte er vor sich hin.

„Es war ein Versehen! Ich wusste es doch nicht.“

Seine Antwort bestand nur aus einem dunklen Knurren.

„Wie reagierst du darauf?“, fragte ich vorsichtig.

„Atemwege schwellen an, Brennen im Hals, Schmerzen beim Atmen und Schlucken. Und immenser Druck im Brustkorb. Fühlt sich an, als würde er explodieren.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass er wirklich ganz bewusst seine Atmung regulierte. Er holte tief Luft, verharrte einige Sekunden, ehe er sie wieder mit etwas Nachdruck ausblies.

Verdammt, wie schlimm wurde das genau? Würde er ersticken? Er verlor zumindest zunehmend an Farbe im Gesicht und seine Atmung wurde immer schwerer, stockte sogar immer wieder, obwohl er bemüht war, den Rhythmus beizubehalten. Und dabei hatte er doch nur daran genippt und selbst diesen winzigen Schluck sofort zurück ins Glas gespuckt.

„I-ich ruf einen Arzt.“, rief ich panisch.

Aber da schüttelte er schnell den Kopf, „Kein… Arzt!“, knurrte er.

„Aber du erstickst!“

„Nein!“, er hob beschwichtigend die Hand, atmete dabei schwer aus. „Es geht… schon.“

„Das sehe ich.“

Er sah blass aus und wenn seine Augen nur noch eine winzige Nuance blauer wurden, verlor ich den Verstand! Sie waren nämlich jetzt schon so schmerzhaft blau, dass sie meine Denkfähigkeit blockierten.

„Wie lange hält das an?“

„Stunde.“, knurrte er. Hochkonzentriert starrte er auf den Fernseher. Vielleicht versuchte er, sich abzulenken durch den Film. War wohl gar nicht so schlecht.

Diese Zeit war die reinste Folter. Ich musste immer wieder zu ihm schauen, um sicherzugehen, dass er nicht einfach umfiel. Inzwischen pfiff sein Atem, wenn er die Luft ausstieß und das Blau seiner Augen glühte regelrecht. Ich war froh, dass er so stur den Film anschaute. Wenn er mich damit nämlich angesehen hätte, wäre ich vermutlich rückwärts von der Couch gefallen.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sein Atem langsam wieder gleichmäßiger wurde und seine Gesichtsfarbe halbwegs zurückkehrte.

„Besser?“, fragte ich vorsichtig.

„Geht schon.“, knurrte er.

„Knurrst du die ganze Zeit, weil es nicht anders geht?“ Klang ein bisschen so.

Er nickte und deutete auf seinen Hals. Wahrscheinlich bekam er einfach keine andere Tonlage hin.

Eine Weile lang sahen wir uns noch schweigend den Film an. Aber dann stieß er mir seinen Ellbogen grob in die Seite. Als ich ihn gerade anfahren wollte, was das sollte, deutete er auf das Bücherregal.

„Was denn?“, wollte er lesen?

Er verdrehte die Augen, deutete mir, ich sollte gefälligst meinen Arsch hochkriegen und zum Regal gehen. Murrend ging ich zum Regal. Da waren Bücher, toll. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Er bedeutete mir, sie zur Seite zu schieben. Gehorsam tat ich, was er verlangte. Und was ich entdeckte, brachte mich zum Grinsen. Feinster Whisky. Dann war bei Kaiba ja doch noch nicht alles verloren.

Daneben standen Gläser. Ich schnappte mir zwei davon und die Flasche und kehrte damit zu Kaiba zurück.

Er sah ziemlich fertig aus. Zusammengesunken saß er auf der Couch und massierte sich mit der linken Hand die Brust. Vielleicht half es ihm ja. Seine Gesichtsfarbe war immer noch nicht ganz normal.

Ich stellte die beiden Gläser auf den Tisch und schenkte ein. Das Zeug roch ziemlich stark nach… altem Holz und irgendwie modrig. Aber als ich Kaiba das Glas reichte, nippte er daran. Also musste es wohl noch gut sein, auch wenn es nicht so roch.

Ich nahm einen kleinen Schluck. Schmeckte, wie es roch. Irgendwie modrig und holzig. Aber Kaiba schien das in Ordnung zu finden.

„Ich dachte, du trinkst keinen Alkohol.“, merkte ich an.

„Hab nicht gesagt, dass ich nichts trinke. Ich BETRINKE mich nur nicht.“ Seine Stimme klang noch ein wenig heiser, aber immerhin knurrte er jetzt nicht mehr. „Außerdem hilft es mir, besser zu atmen.“

„Brennt die Atemwege frei, richtig?“ So roch es auch.

Er nickte nur. Anscheinend hatte er es jetzt halbwegs überstanden. Doch es hatte ihn sichtlich mitgenommen. Er sah vollkommen erschöpft aus. Gegen die Rückenlehne gesunken saß er da und starrte mit kraftlosem Blick den Fernseher an. Wenigstens ging seine Atmung wieder normal.

„Ist wieder alles in Ordnung?“

Wieder nur ein Nicken. Wenn alles in Ordnung war, wieso sprach er dann so wenig?

„Hast du Halsschmerzen?“

Da warf er mir nur einen schrägen Seitenblick zu, würdigte mich aber keiner Antwort.

„Tut mir leid.“, murmelte ich zerknirscht. „Ich hab scheinbar ein Talent dafür, dir zu schaden.“

„Scheint so.“

Er brachte das so trocken rüber, dass ich wirklich ein schlechtes Gewissen bekam. Aber ich wusste nicht, wie ich das wieder gutmachen sollte. Ich konnte ja nichts für ihn tun. „Soll ich dir irgendwas bringen?“, fragte ich kleinlaut.

Er knurrte unwillig. „Was denn? Eine Möhre?“

Okay, er war wirklich ein wenig angefressen. War ja verständlich, wenn man bedachte, dass ihm die allergische Reaktion ziemlich starke Schmerzen zugefügt haben musste.

Aber woher hätte ich das denn wissen sollen? Klar, ich hatte damals im Krankenhaus mitbekommen, wie er den Salat gemustert hatte. So, als ob er ihn schon gerne essen würde, es aber einfach nicht konnte. Hätte ich genauer darauf geachtet, vielleicht wäre mir dann in den Sinn gekommen, mal darüber nachzudenken, was ihn davon abgehalten hatte. Ich hätte ihm einfach sagen können, was in dem Saft war. Ich hätte damit rechnen müssen, dass er gegen irgendetwas allergisch sein könnte. Immerhin kannte ich ihn nicht sonderlich gut. Wenn die allergische Reaktion schlimmer gewesen wäre, hätte ich ihn damit genauso gut umbringen können.

Seufzend trank ich einen Schluck. Igitt! Ich hatte vergessen, wie ekelhaft dieses Zeug schmeckte. Ich schnappte mir die Colaflasche und goss einiges davon auf den Whisky drauf.

„Was machst du denn da?“ Kaiba sah mich vollkommen entsetzt an.

Was war denn jetzt los? „Ich mach das Zeug genießbar.“

Da kniff er die Augen zusammen und starrte mich durchdringend an. Wahrscheinlich sollte mich das einschüchtern, aber wie sollte man denn da Angst bekommen, wenn er dabei jedes Mal die Nase so niedlich kräuselte? Irgendwie weckte es in mir das Bedürfnis, ihm einfach mal über den Nasenrücken zu streichen. Er hatte wirklich ein feines Näschen.

„Dieser Whisky hat 18 Jahre in einem Fass in Schottland nahe dem Meer gelagert. Jedes einzelne Fass, jede einzelne Flasche hat ihren ganz eigenen Geschmack. Dieser Whisky ist von solcher Qualität, wie es ein Single Malt nur sein kann. Den vermischt man nicht mit Cola!“

Aha… Er verstand also etwas vom Whisky. Nun, ich leider nicht. Das hier war also ein besonders guter Whisky, das hatte ich mitgekriegt. Aber das änderte nichts daran, dass er eklig war.

„Ist das so ein Reichending? So wie »Ich trinke die größte Plörre, einfach nur, weil sie teuer ist«?“

Da fletschte er leicht die Zähne. „Nein! Du hast einfach keine Ahnung von wahrer Qualität!“

„Also trinkst du das Zeug, weil es dir wirklich schmeckt?“

„Natürlich! Warum denn sonst?“

Okay… dann hatte er einfach keine Geschmacksnerven. „Nimms mir nicht übel, aber das Zeug schmeckt, als würde man in einen Schrank beißen, der jahrzehntelang in einem feuchten Keller gestanden hat.“

„Das zeugt von wahrer Qualität!“

„Von mir aus.“

Er seufzte schwer, ließ sich resignierend wieder gegen das Sofa sinken. „Du hast einfach keine Ahnung!“

„Stimmt.“

„Cola!“ Er schnaubte genervt. „Welch unsägliche Stupidität des ungebildeten Proletariats, einen solch edlen Tropfen mit dieser chemischen Beleidigung des Gaumens zu verunglimpfen!“

Ich verdrehte die Augen. „Schon klar, du bist viel klüger als ich. Aber kennst du das Blondchen-Prinzip?“

Da sah er mich nur schief an. „Nein.“

„Klappe halten und einfach nur gut aussehen.“

Darüber musste er wohl erst mal nachdenken. Ich fand die Idee dagegen ziemlich gut. Er war ja wirklich ein unheimlich attraktiver Mann, aber wenn er den Mund aufmachte, kamen solche Sätze wie eben raus, die dafür sorgten, dass ich mir unglaublich dumm vorkam.

„Und wie kommst du damit durchs Leben?“, fragte er langsam.

„Hä?“ Wie sollte ich das jetzt verstehen?

„Naja…“ Er hob ein wenig die Augenbrauen, musterte mich kritisch. „Ohne dir zu nahe treten zu wollen, sooo gut siehst du eigentlich gar nicht aus. Kann mir nicht vorstellen, dass du damit besonders erfolgreich bist.“

Bitte?! Ich wusste nicht, was mich fassungsloser machte. Dass er dachte, ich hätte den Satz auf mich bezogen oder die Tatsache, dass er mein Aussehen beleidigte.

„Ich meinte dich, Hirni!“, knurrte ich böse. „Du sollst das Blondchen-Prinzip anwenden!“

Er dachte wieder nach „Du willst damit sagen, ich soll die Klappe halten und einfach nur gut aussehen?“ Er sah mich zweifelnd an. „Aber ich bin gar nicht blond.“

„Es geht auch nicht um die Haarfarbe!“, fauchte ich.

Er dachte wieder einen Moment nach. „Ich glaube nicht, dass ich darin so gut wäre.“

„Stimmt, weil du einfach nicht die Klappe halten kannst!“

Er grummelte leicht, sagte aber auch nichts mehr.

Also schwiegen wir uns eisern an, während Gandalf in die Tiefe stürzte. Ich bezweifelte, dass Kaiba genug vom Film mitbekommen hatte, um überhaupt zu wissen, wer Gandalf war.

Als der erste Film zu Ende war, schob ich gleich den zweiten hinterher. Aber bevor ich ihn startete, musste ich doch noch etwas wissen.

„Was meinst du damit, wenn du sagst, sooo gut sähe ich ja nicht aus?“, fragte ich. Die Frage brannte mir einfach auf den Lippen. Es störte mich, dass er mein Äußeres scheinbar nicht so ansprechend fand wie ich seines.

„Hm?“ Er sah mich irritiert an. Meine Frage verwirrte ihn. „Oh, das.“ Er rieb sich über die Augen. „Wieso ist das wichtig?“ Mein kleiner Sturkopf war wohl schon ein bisschen müde. Ganz wach sah er zumindest nicht mehr aus. Es ging ja inzwischen auch schon auf Mitternacht zu.

„Es interessiert mich, was dich denn so an mir stört.“

Er musterte mich nachdenklich von oben bis unten, als müsste er das selbst erst mal für sich herausfinden. „Du bist ungepflegt.“, meinte er nüchtern.

„W-was?“

Er deutete mit einer laschen Bewegung auf meine Hände. „Deine Fingernägel sehen immer aus, als ob du Gräber geschaufelt hast und deine Klamotten sind total zerschlissen, ganz abgesehen davon, dass du scheinbar nicht in der Lage bist, die richtige Größe zu finden.“

„Kann ja nicht jeder so viel Geld haben wie du!“, murrte ich. „Ich hab kein Geld, mir Anzüge maßanfertigen zu lassen.“

„Dann kauf wenigstens die richtige Größe! Und ab und an mal ein Waschsalon müsste ja wohl noch drin sein, ganz zu schweigen von einer Nagelfeile.“

„Schon gut! Habs ja verstanden!“

Aber er redete sich erst warm. „Und überhaupt, ist es zu viel verlangt, sich mal die Haare zu kämmen oder züchtest du da oben eine Läusearmee?“

„Ich hab keine Läuse!“

„Siehst aber so aus! Und lass dir mal die Spitzen schneiden, du hast Spliss.“

„Reicht ja langsam!“ Ich hatte ja verstanden, was ihn störte. Wenigstens waren das alles Dinge, die man ändern konnte.

„Und du hast total raue Hände.“

„Weil ich im Gegensatz zu dir reichen Pinkel arbeiten muss!“

„Das hat nichts mit Arbeit zu tun! Du hast keine Schwielen sondern raue Hände. Creme kann helfen.“

„Es reicht!“

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du hast gefragt.“

Genervt startete ich den Film und ließ mich wieder auf die Couch fallen. Zur Strafe verunglimpfte ich seinen so hochgeschätzten Whisky wieder mit Cola.

„Was interessiert es dich, ob meine Hände rau sind oder nicht?“

„Ist mir nur aufgefallen, weil ich eben darauf achte. Ist es dir nicht auch lieber, dass die Haut weich ist und nicht so trocken, dass du Angst haben musst, sie würde zu Staub zerfallen, wenn du sie berührst?“

Dann mochte er wohl einfach das Gefühl weicher Hände auf seiner Haut lieber. Auf seiner Haut? Da stellte man sich doch die Frage, ob er dabei nicht eher an etwas anderes als Hände schütteln dachte. Ob Kaiba wohl gern gestreichelt wurde? Er bot zumindest einen Körper, den man wirklich gerne mit den Händen erkunden würde.

Nein, das klang schwul. Ich gab es zu, ich würde seine Haut einfach nur gerne mal streicheln, aber ohne irgendwelche Hintergedanken. Einfach nur, um zu spüren, ob sie wirklich so weich und warm war, wie sie aussah.

Wenn ich ab sofort Creme benutzte und meine Hände dadurch wirklich weich wurden, dann würde ich ihm das beweisen, indem ich damit über seine Haut strich. Aber die Stelle würde ich mir selbst aussuchen.

„Was ist?“, fragte er ungeduldig.

„Was?“ Ach ja, ich hatte ihm nicht geantwortet. „Oh. Doch, doch schon.“

Und wenn er das lieber mochte, dann sollte er das auch bekommen.

Wir schauten weiter den Film. Eigentlich war es recht entspannt. Wir saßen zusammen auf der Couch, sahen fern mit Popcorn und Whisky. Gab definitiv Schlimmeres. Die Atmosphäre war unglaublich entspannt.

Aber als ich die zweite DVD für den zweiten Teil einlegte und dabei einen flüchtigen Blick zu Kaiba warf, sah ich, dass er eingedöst war. Den Kopf auf die Hand gestützt saß er da und schlummerte friedlich vor sich hin.

Ich ließ mich geräuschvoll neben ihm auf die Couch fallen, so dass er hochschreckte. Er blinzelte verwirrt.

„Na, gut geschlafen?“, fragte ich grinsend.

Er murrte leise. „Hab nicht geschlafen.“

„Nein? Was ist denn zuletzt passiert?“

„Der komische Alte ist doch nicht tot.“

„Du meinst Gandalf, aber das ist schon ein bisschen her. Du bist doch eingeschlafen.“

Er murrte irgendwas von „Stimmt gar nicht!“ Nein, wie niedlich. Er sah aus wie ein Waschbär, als er sich die müden Äuglein rieb.

„Na wenn du nicht eingeschlafen bist, können wir den Film ja zu Ende schauen.“

„Von mir aus.“ Er reckte störrisch das Kinn vor.

„Das dürften noch so 4-5Stunden sein.“

Seine Augen wurden immer größer, als er mich entgeistert anstarrte. Aber für einen Rückzug war es jetzt zu spät. Er knurrte nur leise. „Kein Problem.“, behauptete er.

Na das wollten wir mal sehen!

Ich warf immer wieder einen Seitenblick zu ihm. Am Anfang schlug er sich ja noch ganz gut, aber schon nach zehn Minuten wurden ihm die Lider schwerer. Ihm fielen ständig die Augen zu und er nickte immer wieder weg, nur um dann wieder hochzuschrecken. Aber schließlich verlor er den Kampf gegen die Müdigkeit und schlief ein. Sein Kopf sackte auf seine Hand.

Ich beobachtete das Ganze nur mit einem Schmunzeln. So ein Sturkopf. Sollte er doch schlafen, wenn er müde war. Mich störte das nicht. Ich stellte den Ton ein wenig leiser, zog die Schüssel mit Popcorn zu mir und sah weiter den Film.

Eine ganze Weile lang ging das auch gut. Doch als Kaiba sich im Schlaf ein wenig zurechtrückte und sich mehr an die Lehne schmiegte, rutschte sein Gipsfuß vom Kissen auf den Tisch. Das war gar nicht gut. Ich konnte ihn nicht so sitzen lassen, denn womöglich würde er sich im Schlaf den Fuß am Tisch noch anschlagen. Also musste er ins Bett.

Ich beugte mich zu ihm rüber, um ihn zu wecken, aber als ich in sein Gesicht sah, dass so herrlich entspannt war, brachte ich es einfach nicht übers Herz. Wäre doch eine Schande, ihn wachzurütteln, wenn er beim Schlafen so niedlich aussah.

Dann musste es eben anders gehen.

Ich stieß ihn vorsichtig an, um zu sehen, ob er auch tief genug schlief. Das tat er. Er gab nur ein kleines Murren von sich, wachte aber nicht auf. Sehr gut. So lautlos und vorsichtig wie möglich hob ich ihn auf die Arme und trug ihn ins Bett. Ich ließ ihn behutsam in die Laken gleiten, bettete sein Füßchen auf einem großen Kissen und warf die Decke über ihn. Also einen gesegneten Schlaf hatte er wirklich. Er wachte tatsächlich nicht auf.

Na dann konnte ich mir ja jetzt in Ruhe den Film zu Ende ansehen. Oder… nicht? Etwas unschlüssig stand ich da und sah auf ihn herab. Er sah so friedlich aus, als könnte er keiner Fliege was zuleide tun. Wie ein kleines Engelchen.

In mir keimte ein fieser Gedanke auf. Er hatte an mir so viel zu kritisieren gehabt, mal sehen, ob er seine eigenen Voraussetzungen selbst erfüllte. Gut gekleidet war er immer und seine Fingernägel wirkten auch immer sauber und geschnitten, das wusste ich ja schon. Aber waren seine Hände so weich, wie er es von anderen forderte?

Vorsichtig, genau darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, nahm ich seine Hand in meine. Sie war warm und die Haut wirklich sehr weich. Selbst die Innenfläche fühlte sich unglaublich angenehm an. Von solchen Händen würde ich wirklich gern gestreichelt werden.

Nun gut, aber waren seine Haare denn auch so gepflegt?

Ich beugte mich zum Kopfende und ließ eine der dunklen Strähnen durch die Finger gleiten. Sie waren so glatt, dass er vermutlich das Problem gar nicht kannte, wenn die Haare taten, was sie wollten. Bei ihm lagen sie einfach immer gut, weil sie gar nicht anders konnten. Aber sie waren wirklich gepflegt. Er hatte kräftiges, seidenweiches Haar. Und kein Spliss.

Seufzend ließ ich von ihm ab und schlurfte zurück zu Couch. Er forderte also nur, was er selbst auch bot. Weiche Hände, bei denen sich vermutlich selbst eine Ohrfeige noch gut anfühlte, und gepflegtes Haar, durch das man immer wieder und wieder streicheln wollte.

Deprimierend!

Aber unfair war es schon. Der Kerl hatte einfach nur verdammt gute Gene. Er musste ja kaum etwas tun, um gut auszusehen. Wahrscheinlich könnte er herumlaufen wie der letzte Penner und würde trotzdem noch toll aussehen, einfach wegen seiner äußerst vorteilhaften Statur und diesen blauen Augen, die in so starkem Kontrast zu den dunklen Haaren standen.

Seufzend ließ ich mich auf die Couch fallen und sah weiter den Film. Den zweiten Teil würde ich mir noch zu Ende anschauen und dann verschwand ich lieber nach Hause. Auch wenn es hier gerade ziemlich gemütlich war.

Morgens

Ich schreckte hoch, als die Tür aufgerissen wurde. Verdammt, wo war ich? Als ich mich umsah, merkte ich, dass es draußen bereits wieder hell war. Ich musste auf der Couch eingeschlafen sein. Nur wer hatte mich jetzt geweckt?

Mokuba stand vor mir und sah mich fragend an.

„Du hast hier übernachtet?“

„Sieht so aus." Ich streckte mich erst mal ausführlich. Ich musste in einer unmöglichen Position geschlafen haben, denn mein Kreuz tat weh. „Ich bin wohl eingeschlafen.“

Der Kleine zuckte mit den Schultern. „Wenn das so ist. Und wo ist Seto?“

War er denn nicht im Bett? Schwer zu sagen. Irgendwie sah ich nur ein riesiges Knäuel. Ob er auch darin verwickelt war, ließ sich nicht genau sagen.

Schwerfällig krabbelte ich von der Couch und ging mit Mokuba näher ans Bett heran. Das Knäuel bestand aus mindestens zwei Decken und… bei genauerem Hinsehen auch Kaiba. Er war tief in dem Gewühl vergraben, nur eine Hand und ein paar dunkle Haarsträhnen ragten heraus. Wenn ich bedachte, wo ich ihn gestern Abend abgelegt hatte und wo er jetzt lag, dann musste er wirklich einmal quer durchs ganze Bett gerollt sein. Und anscheinend schlummerte er noch friedlich vor sich hin.

Ich hätte ihn ja weiterschlafen lassen, aber Mokuba sah das wohl ganz anders. Mit einem Satz sprang er aufs Bett und rüttelte ungeduldig an dem Knäuel herum. Aus den unendlichen Tiefen der Decken kam ein ärgerliches Murren.

„Jetzt steh schon auf!“ Mokuba rüttelte weiter und weiter, bis Kaiba endlich entnervt aufgab und zumindest mit dem Kopf aus den Decken hervorschaute.

„Was denn?“, fragte er genervt und noch sichtlich verschlafen. Aber seine Augen waren scheinbar auch nach dem Aufstehen so unfassbar blau. Naja, kein Wunder. Erst durch seinen kalten Blick wurden sie schließlich dunkel.

Mokuba strahlte ihn über das ganze Gesicht an. „Aufstehen.“, flötete er. „Ist schon nach zehn.“

„Und?“

„Du willst doch nicht den ganzen Tag verschlafen, oder?“

Kaiba grummelte leise, setzte sich aber immerhin endlich mal auf. „Aber ausschlafen wäre ja wohl noch erlaubt gewesen.“

„Wieso?“, fragte Mokuba verwundert. „Wann bist du denn gestern ins Bett gegangen?“

„Keine Ahnung." Er rieb sich die Augen. Dabei erinnerte er mich immer an einen Waschbären. Einfach nur niedlich. Aber wenigstens sah er nach dem Aufstehen auch nicht perfekt aus. Sein Gesicht war zerknautscht vom Kissen und seine Haare zerzaust. Ha, soviel zu den immer perfekt liegenden Haaren.

Aber dann strich er einmal mit der Hand durch seinen Schopf, wirklich nur ein einziges Mal, und schon fielen sie wieder ganz locker und umrahmten sein Gesicht. Argh! Was erzählte der mir von Kamm? Der brauchte sowas doch gar nicht.

„Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich gar nicht daran, überhaupt ins Bett gegangen zu sein." Kaiba warf mir einen misstrauischen Blick zu.

„Ich konnte ja wohl schlecht zulassen, dass du dir den Fuß am Tisch einschlägst.“

„Du hättest mich einfach wecken können!“, grummelte er.

„Du hast aber einen verdammt tiefen Schlaf.“

„Stimmt allerdings.“ Mokuba nickte bekräftigend. „Wenn du schläfst, könnte die Welt untergehen und du würdest es nicht merken.“

Kaiba gab nur ein unwilliges Knurren von sich. Etwas unbeholfen krabbelte er zum Bettende. Zuvorkommend wie ich nun einmal war, reichte ich ihm die Krücken. Ohne ein Wort des Dankes nahm er sie entgegen und humpelte ins Badezimmer. Anscheinend war er von diesem Start in den Tag alles andere als begeistert. Aber Mokuba schien das nicht sonderlich zu stören. Er schnappte einfach meine Hand und schleifte mich hinter sich her in Richtung Küche.

„Dann können wir ja schon mal Frühstück machen.“, flötete er.

Na wenn er meinte…

Er hatte zwar Wir gesagt, aber eigentlich machte er alles allein. Er buk ein paar Brötchen im Ofen auf, richtete ein Tablett mit Belag her, setzte Kaffee auf… Aber wenn ich auch nur in Erwägung zog, etwas zu machen, scheuchte er mich sofort weg.

Also sah ich nur zu, zur Untätigkeit verdammt. Der Kleine schien ja in der Küche richtig aufzublühen. Er wäre bestimmt ein guter Koch.

Aber als er fertig war, verstand ich, warum er mich mit nach unten geschleift hatte. Mir wurde nämlich die Ehre zuteil, die zwei voll beladenen Tabletts wieder nach oben zu tragen. Innerlich verfluchte ich den Zwerg dafür, dass er die Tassen wirklich bis zum Rand gefüllt hatte. Aber irgendwie schaffte ich es, alles unversehrt nach oben zu bekommen.

Als wir ins Zimmer kamen, war Kaiba gerade dabei, sich in ein neues T-Shirt zu kämpfen. Ich ließ vor Schreck fast die Tabletts fallen bei dem Anblick, den er bot. Einerseits sah es ziemlich albern aus, wie er da auf einem Bein vor dem Kleiderschrank balancierte, aber andererseits schimmerte seine noch leicht feuchte Haut im fahlen Sonnenlicht, das durch die Fenster drang. Scheiße, sah das sexy aus! Als hätte jemand einen Scheinwerfer auf diese makellose Brust gerichtet, der mich dazu zwang, hinzuschauen. Die feinen Muskeln spannten sich bei jeder Bewegung und sie glänzten durch die Wasserreste auf dieser so weich aussehenden Haut. Aber leider war er viel zu schnell angezogen. Mit einem eleganten Handgriff zog er das Shirt zurecht. Ade, du schöner flacher Bauch.

„Joey, deine Hand!“, rief Mokuba entsetzt aus.

Was? Ich sah hinab. Verdammt, mir war die eine Kaffeetasse umgekippt und ihr brühend heißer Inhalt ergoss sich über meinen Handrücken. In letzter Sekunde konnte ich den Impuls unterdrücken, das eine Tablett fallen zu lassen. Ich schaffte es sogar noch, beide bis zum Couchtisch zu manövrieren.

Bevor Mokuba mich darauf hinweisen musste, war mir das gar nicht aufgefallen, aber jetzt brannte meine Hand wie Feuer. Fluchend wedelte ich damit herum, in der Hoffnung, der Luftzug würde den Schmerz lindern. Tat er aber nicht.

Kaiba befahl Mokuba einen nassen Lappen zu holen, während er ohne Eile mit einer Krücke zu mir gehumpelt kam. Es ärgerte mich, dass er so gelassen war, obwohl meine Hand wie verrückt brannte. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, um meinem Ärger Luft zu machen. Immerhin war er schuld! Hätte er nicht so verdammt heiß ausgesehen, wäre mir der Kaffee nicht umgekippt.

Aber als er meine Hand in seine nahm, um sich die verbrühte Stelle genauer anzusehen, verpuffte jegliche Wut. So weiche warme Hände, die so zärtlich über meine Haut strichen… Allein dafür hätte ich ihm wirklich alles verziehen.

„So schlimm ist es nicht.“, meinte er nur. „Wenn du es kühlst, dürfte danach alles wieder in Ordnung sein.“

Ich nickte abwesend. So schlimm war es wirklich nicht mehr. Aber was konnte auch schon schlimm sein, wenn man von diesen wundervollen Händen berührt wurde?

Doch als er unmerklich sein Gewicht verlagerte, fiel mir auf, dass er sich ja gar nicht richtig auf seine Krücke stützen konnte, solange er meine Hand inspizierte. Mehr schlecht als recht stützte er sich mit dem Ellbogen darauf und versuchte, so das Gleichgewicht zu halten. Ein vernünftig denkender Mensch hätte einfach seine Hand freigegeben, aber ich wollte nicht, dass er losließ. Kurzerhand umfasste ich mit der unversehrten Hand seine Taille und zog ihn zum Sofa, damit auch wirklich nicht auf die Idee kam, loszulassen. Er hatte gar keine andere Wahl, als meiner Bewegung zu folgen, wenn er nicht stürzen wollte. Etwas unbeholfen zog er die Gehhilfe nach und sank auf die Couch. Vor Schreck hatte er meine Hand fester als nötig umklammert, aber den Schmerz nahm ich in Kauf.

Aus großen blauen Augen sah er mich an. „Was… sollte denn das?“

Gute Frage. „Wollte nur verhindern, dass du mit dem Fuß auf den Boden kommst.“

Er musterte mich kritisch, aber anscheinend gab er sich mit der Antwort zufrieden. Zumindest wurden seine Augen wieder dunkler.

Er machte Anstalten, meine Hand loszulassen, aber das wusste ich durch ein improvisiertes Jammern zielsicher zu verhindern. Sofort betastete er noch einmal mit größter Vorsicht die gerötete Stelle. Es kribbelte richtig, wenn seine Finger so behutsam über meine Haut glitten.

Während er sich weiter meine Hand besah, musterte ich ihn genauer. Seine Haare waren noch feucht und einfach nach hinten gestrichen. Wenn sie nass waren, sahen sie fast schwarz aus. Und das T-Shirt klebte noch an seiner Haut, ließ die Konturen des Oberkörpers gut erahnen.

Unwillig schüttelte ich den Kopf. Ich sollte aufhören, ihn so anzustarren. Als ich meinen Blick ziellos umherwandern ließ, bemerkte ich wieder seinen Gips.

„Wie duscht man eigentlich mit Gips?“

Er sah auf, bedachte mich mit einem äußerst schiefen Blick. „Wieso fragst du?“

„Reine Neugier. Ich stell mir das ziemlich schwierig vor.“

Er runzelte missbilligend die Stirn, äußerte sich aber nicht weiter dazu. Aber irgendwie interessierte es mich doch. Obwohl… eigentlich lag die Lösung ja auf der Hand. Er konnte ja sowieso nicht stehen, also würde er sich wohl einfach in die Wanne legen. Das war der ganze Trick. Als ich ihm meine Lösung präsentierte, nickte er zwar, sah mich aber trotzdem merkwürdig an.

„Wieso interessiert es dich?“

„Nur so. Ich stell mir das nur anstrengend vor, mit Gips in die Wanne zu klettern. Aber ich nehme an, du duschst trotzdem mindestens einmal am Tag, richtig?“

Er sah mich lange durchdringend an. Aber dann ließ er kopfschüttelnd von meiner Hand ab und griff nach der noch vollen Kaffeetasse. „Manchmal bist du merkwürdig.“

„Warum?“

Ganz in Ruhe nippte er an seinem Kaffee, ließ sich dabei Zeit, ehe er antwortete. „Du fragst mich ständig nach meiner Körperpflege.“

„W-was?“

„Du fragst mich, ob ich zur Maniküre gehe, ob ich mir die Augenbrauen zupfe, ob ich mich sonst irgendwie pflege… und jetzt willst du auch noch wissen, wie oft ich dusche.“ Er schnaubte leicht, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen. „Was kommt als nächstes? Willst du vielleicht noch wissen, welches Duschgel oder welches Shampoo ich benutze?“

Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht mit Ja zu antworten. Er hatte ja recht, vielleicht waren meine Fragen wirklich ein bisschen indiskret. Aber ich wusste auch nicht, was ich großartig dazu sagen sollte.

„Nun sag schon! Wieso fragst du das alles?“

Bei seinem durchdringenden Blick fiel es mir schwer, klar zu denken. „Nur… so?“, meinte ich lahm. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre mir keine logische Antwort darauf eingefallen.

Da! Wie immer, wenn er die Stirn runzelte, kräuselte er dabei leicht die Nase. Dieser Kerl konnte dermaßen niedlich dreinschauen! „Willst du mit diesen Fragen irgendetwas andeuten? Sehe ich ungepflegt aus? Rieche ich streng? Ist es das?“

Allein der Gedanke, sein Geruch könnte nicht in Ordnung sein, schien ihm Unbehagen zu bereiten. Dabei war das Blödsinn.

Ich schüttelte hastig den Kopf. „Du riechst eigentlich immer ganz gut.“ An seinem Geruch war nun wahrlich nichts auszusetzten. Also… bisher zumindest. Vielleicht war das heute ja anders.

„Eigentlich?“ Er hob fordernd eine Augenbraue. Dieses Eigentlich schmeckte ihm wirklich gar nicht.

Innerlich keimte in mir ein fieser Gedanke auf. So gesehen wollte er ja eine ehrliche Antwort, also musste ich mir auch ein ehrliches Urteil bilden. Ehe er auch nur ansatzweise reagieren konnte, beugte ich mich vor und schnupperte an seiner Halsbeuge. Mir drang schwach der Duft seines Shampoos in die Nase, aber das blendete ich aus.

„Irgendwie riechst du heute anders als sonst.“, bemerkte ich. Sofort verspannte er sich.

Aber was war heute anders? Ich schnupperte weiter. Ja klar, jetzt hatte er kein Deo, kein Aftershave drauf. Diesmal war es sein ganz eigener Geruch, pur und unverfälscht. Der Duft war nur schwach auszumachen, weil er ja gerade erst geduscht hatte, aber er war durchaus ansprechend. Sehr maskulin, ein wenig herb. Und unglaublich betörend. Er stieß definitiv irgendetwas aus, das mich magisch anzog.

Lautlos seufzend wich ich von ihm ab. Dieser Typ vernebelte mir vollkommen die Sinne. Alles an ihm machte mich wahnsinnig!

Aus großen Augen starrte er mich an, noch sichtlich angespannt und ein wenig geschockt.

„Du hast kein Deo benutzt.“, meinte ich lahm, als würde das meine Aktion von eben erklären. Als ich sah, dass ihm das anscheinend Unbehagen bereitete, setzte ich schnell hinzu. „Aber das macht nichts. Du riechst auch so ziemlich gut, wenn dich das beruhigt.“

„Du spinnst doch!“ Er sagte das durchaus überzeugend, aber seine Augen straften ihn Lügen. Ich sah darin Erleichterung, also beruhigte es ihn sichtlich.

Ohne weiter auf das Thema einzugehen, hielt ich ihm ein Brötchen hin. „Iss erst mal. Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag.“

Wunderbar, diese hellen Augen. Wenn er seinen eiskalten Blick nicht drauf hatte, konnte man in ihnen lesen wie in einem offenen Buch. Und im Moment erkannte ich darin, dass er im Moment überhaupt nichts mehr verstand. Mein Verhalten verwirrte ihn, er wusste nicht, wie er mich einschätzen sollte. In gewisser Weise verschaffte es mir Genugtuung, dass ich scheinbar doch nicht so leicht zu durchschauen war wie er dachte. Aber in seinen Augen erkannte ich auch, dass ihn das ein bisschen ärgerte. Er mochte es nicht, wenn sich etwas seinem Verständnis entzog. Er war einfach der Typ, der immer alles verstehen musste. War mir nur recht, denn seine Natur zwang ihn dazu, meinem Verhalten auf den Grund gehen zu wollen. In seinen Augen konnte ich so deutlich erkennen, dass er mich nun anders sah. Nicht nur als dummen kleinen Köter, sondern als dummen kleinen Köter, den er nicht durchschauen konnte. Es war keine große Veränderung, aber immerhin ein Anstoß, seine Sicht auf mich zu verändern.

„Ich hab einen Lappen, ich hab einen Lappen.“

Mokuba kam so laut und unpassend wie nur möglich in das Zimmer gerannt. Er wedelte mit einem nassen Tuch herum und kam auf mich zugestürmt. Ach ja… meine Hand. Durch Kaiba hatte ich das glatt vergessen, aber es tat auch nicht mehr wirklich weh. Trotzdem nahm ich den Lappen entgegen und drückte ihn auf die Rötung.

„Das hat ja ganz schön gedauert.“, merkte Kaiba kritisch an.

Mokuba schnaufte, noch sichtlich außer Atem. „Ist ja nicht so, als wäre die Küche direkt um die Ecke. Und da habe ich einfach keinen Lappen gefunden. Also musste ich durchs ganze Haus rennen, bis ich endlich einen hatte. Und dann musste ich wieder in die Küche rennen, um ihn nass zu machen.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, einfach bei mir ins Bad zu gehen und ein Handtuch zu nehmen?“ Kaibas Augen blitzten spöttisch. Anscheinend amüsierte ihn Mokubas Marathon.

Der Kleine starrte ihn ungläubig an. „A-aber du hast gesagt, ich soll einen Lappen holen.“

Da verdrehte Kaiba nur die Augen. „Was habe ich dir beigebracht?“

„Ich bin kein kleines Befehlsäffchen, ich soll selber denken.“, murmelte Mokuba. Er wirkte ein bisschen beleidigt, aber die Lektion war gut. Kaiba wollte seinen Bruder zu einem eigenständigen Menschen erziehen, der selber nachdachte und nicht einfach nur Befehle ausführte. Wirklich löblich.

Schmunzelnd zog Kaiba den Kleinen zwischen uns aufs Sofa und wuschelte ihm durchs Haar. „Das lernst du schon noch. Aber jetzt frühstücken wir erst mal.“

Das schien Mokuba nur recht zu sein. Beherzt langte er zu.

Erstaunlich. Die beiden hatten wirklich ein außergewöhnlich gutes Verhältnis zueinander, obwohl Kaiba ja eigentlich nicht unbedingt als warmherzig bekannt war. Aber so gesehen hatten sie ja auch nur sich. Wenn ich die beiden so beobachtete, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass Kaiba für Mokuba nicht nur der große Bruder war, sondern ihm in gewisser Weise auch den Vater ersetzte. Irgendwie traurig, für beide. Es zwang Kaiba dazu, so große Verantwortung in so jungen Jahren zu übernehmen. Ich wusste nicht, ob er der Rolle wirklich gerecht werden konnte. Wie sollte ein Jugendlicher denn einen Jungen vernünftig erziehen können, zumal ja Kaiba selbst quasi das passende Vorbild dafür gefehlt hatte? Obwohl er trotzdem gute Arbeit geleistet haben musste, denn schließlich war aus Mokuba ein wohlerzogener Junge geworden.

„Willst du nichts essen?“ Mokuba sah mich fragend an, während er sich bereits das dritte Brötchen einverleibte.

„D-doch.“ Ich schnappte mir schnell ein Käsebrötchen und aß. Frühstücken war ja schließlich wichtig.

„Was machen wir heute?“, fragte Mokuba neugierig.

Gute Frage. Aber viele Möglichkeiten gab es ja nicht.

„Ich nehme an, Wheeler möchte nach Hause und Hausaufgaben machen.", merkte Kaiba an.

„Nein nein, das passt schon" Ich winkte seine lasche Aufforderung zum Gehen einfach mal ab. Kaiba quittierte das nur mit einem genervten Augenrollen, aber den Elan, mich einfach mit Nachdruck rauszuwerfen, brachte er nicht auf. Sooo sehr konnte ich ihn ja dann doch nicht stören.

„Da wir weiterhin ein fußschonendes Programm fahren müssen, schlage ich vor, wir schauen uns den Film von gestern zu Ende an.“, meinte ich.

Die beiden Brüder sahen alles andere als begeistert aus.

„Ohne mich!“ Mokuba sprang von der Couch und rannte aus dem Zimmer. „Ich treff mich lieber mit meinen Freunden.“ rief er noch und dann war er weg.

Auch gut. Kaiba konnte nicht weglaufen, also war er meinen Plänen ausgeliefert. Seinem unbegeisterten Blick zufolge war er sich dessen auch bewusst.

Ich grinste schadenfroh. „Wenn wir schon den ganzen Tag Zeit haben, können wir ja alle drei Teile nochmal von Anfang an schauen. Immerhin hast du ja bestimmt nicht so gut aufgepasst, dass du noch wüsstest, worum es geht.“

Er sah mich nur hilflos aus großen blauen Augen an, schluckte unbehaglich. So begeistert war er von dem Herrn der Ringe wohl doch nicht. Na gut, wollten wir mal nicht so gemein sein. „Dann schauen wir eben ab der zweiten Hälfte des zweiten Teils, in Ordnung? Das dürfte ungefähr die Stelle sein, bei der du eingeschlafen bist.“

Er grummelte unwillig, aber er ergab sich seinem Schicksal.

„Dann hole ich nur noch schnell ein paar Sachen.“

Den Weg in die Küche fand ich inzwischen im Schlaf. Ich brühte eine neue Kanne Kaffee auf, bereitete noch ein paar Brötchen zu, weil Mokuba ja die meisten selber vernichtet hatte. Nebenbei schnappte ich mir noch eine Schale Obst und bugsierte das Ganze auf einem Tablett nach oben.

Kaiba schien milde überrascht von meiner Aktion. Er betrachtete neugierig, was ich ihm denn da brachte. Als ich die Obstschüssel auf den Tisch stellte, wollte er nach einem Apfel greifen. Aber da fiel mir wieder seine Reaktion auf die Möhre ein. Hastig zog ich die Schüssel zurück.

„Sicher, dass du gegen nichts allergisch bist?“

Er bedachte mich mit einem äußerst schiefen Blick. „Hältst du mich tatsächlich für so dumm, dass du glaubst, ich würde freiwillig etwas nehmen, gegen das ich allergisch bin?“

„Auch wieder wahr.“ Warum sollte er freiwillig etwas nehmen, das ihm so starke Schmerzen zufügte? Ich stellte die Schüssel wieder auf den Tisch und er schnappte sich seinen Apfel so schnell, als dächte er, ich könnte doch nochmal auf die Idee kommen, sie wieder wegzunehmen.

Während er seine strahlend weißen Zähne in den Apfel rammte, ließ ich mich seufzend aus Sofa fallen. Sowas wie Danke zu sagen, kam ihm wohl nicht in den Sinn. Aber egal. Ich schenkte uns Kaffee ein und startete dann den Film.

Ich hatte die Trilogie schon lange nicht mehr gesehen und folgte dem Geschehen deshalb voller Begeisterung. Kaiba hingegen schien den Kaffee wesentlich spannender zu finden. Zumindest schenkte er der Kaffeetasse mehr Aufmerksamkeit als dem Film. Aber damit hatte ich mich abgefunden. Ich tat mein bestes, um ihm eine Möglichkeit der Unterhaltung zu bieten, aber wenn er darauf nicht ansprang, konnte ich das auch nicht ändern. Ab Morgen würde für ihn ja sowieso alles anders laufen. Mit dem neuen Gehgips würde er mehr Möglichkeiten haben, denen er nachgehen könnte.

Obwohl… was wenn der Knöchel noch nicht gut genug verheilt war? Was, wenn er doch operiert werden müsste? Dann würde Kaiba noch länger gar nicht laufen können. Ob er das verkraften würde? Er wusste ja so schon nichts mit sich anzufangen.

„Glaubst du, dein Knöchel ist jetzt verheilt genug für den Gehgips?“, fragte ich vorsichtig.

„Sicher. Wieso nicht?“ Seine Antwort war so gleichgültig als hätte ich nach dem Wetter gefragt. Interessierte ihn das nicht? Oder hatte er zu viel Angst davor, sich der Frage wirklich zu stellen?

„Was macht dich so sicher?“

Nachdenklich stellte er den Kaffeebecher auf den Tisch, betrachtete dabei den Gips. „Es ist besser geworden.“, meinte er langsam.

„Aber woher weißt du das?“

„Weil es nicht mehr wehtut.“ Sein Blick richtete sich auf mich, er war sich vollkommen sicher. „Letzte Woche hat es immer wehgetan. Tagsüber beim Arbeiten, und wenn ich kurz aufgetreten bin, hat der Schmerz stundenlang angehalten. Dieses elende Pochen im Knöchel hat mich fast wahnsinnig gemacht! Nachts war es meist so schlimm, dass ich kein Auge zubekommen habe. Selbst die Schmerzmittel konnten keine Abhilfe schaffen. Aber jetzt…“ Ein schwaches, fast schon schüchternes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „… tut es nicht mehr weh, schon seit Tagen nicht mehr. Also muss es doch besser geworden sein.“

Mir stockte der Atem, als ich ihm lauschte. So schlimm waren die Schmerzen gewesen? Er hatte so sehr darunter gelitten?

„Du bist ein riesen Idiot!“, fauchte ich ungehalten.

Er sah mich nur überrascht an, verstand meine Reaktion nicht.

„Wenn du solche Schmerzen hattest, warum hast du dann nicht darauf reagiert?“

„Aber… ich musste arbeiten.“

„Musstest du gar nicht!“ Ich schnaubte verächtlich. „Wie konntest du nur so dumm sein? Nimmst keine Rücksicht auf dich selbst!“

Ich sprang auf und holte vom Bett noch ein paar weitere Kissen. Ohne auf seinen fragenden Blick zu achten, baute ich einen kleinen Schutzwall aus Kissen um seinen Fuß. Wenn er nicht darauf achtete, musste ich das eben machen. So ein Idiot!

Kaiba beobachtete das Ganze nur stumm. Er wagte es nicht, noch einmal das Wort zu erheben, vielleicht ahnte er, dass ich ihn dann ihn Grund und Boden geschrien hätte. Wie konnte er denn auch nur so verantwortungslos sein, einfach weiterzumachen, obwohl er solche Schmerzen gehabt hatte? Hatte ihm sein gesunder Menschenverstand denn nicht gesagt, dass er spätestens dann eine Stufe hätte runterschalten müssen, wenn es schon so schlimm war?

Allerdings… war das Seto Kaiba. Der verstand sowieso keine reine menschliche Logik, er verstand nur das Extrem. Vielleicht hatte er wirklich erst den Weckruf von Doktor Hikawe gebraucht, um sich wirklich realistisch mit seiner Verletzung zu befassen. Um zu verstehen, dass sie nicht besser wurde, nur weil er ihr Ausmaß herunter redete. Vielleicht hatte er tatsächlich erst dadurch verstanden, dass es gar nichts brachte, so zu tun, als würde er darüber stehen. Es ging nicht darum, wie viel Schmerz er ertragen konnte, sondern darum, dass der Bruch bei dauerhafter Belastung einfach nicht vernünftig heilen konnte.

Aber was half es da noch, zu meckern? Er gab wirklich sein bestes, den Knöchel nicht zu belasten und mehr konnte man von ihm nicht verlangen. Gezwungenermaßen beschäftigte er sich nicht mehr mit der Firma, Geschäftsmeetings oder der Schule, nein er konzentrierte sich vollkommen auf seine Genesung. Mehr als ihn dabei zu unterstützen war da einfach nicht drin.

Resignierend sank ich neben ihm wieder aufs Sofa.

„Was wirst du tun, wenn du morgen den Gehgips kriegst?“, fragte ich lahm.

„Hm.“ Er tat so, als müsste er ernsthaft überlegen. „Als erstes werde ich einen langen Spaziergang unternehmen, dann gehe ich eine Runde joggen und danach mache ich einen langen ausgedehnten Einkaufsbummel.“

Im Ernst? „Ist das nicht ein bisschen zu viel?“

Er warf mir einen finsteren Blick zu. „Was soll ich schon groß machen? Ich versuche, die nächsten fünf Wochen zu überleben, mehr bleibt mir ja nicht!“

So groß fand er den Fortschritt, wieder auftreten zu können dann wohl doch nicht. Naja, im Grunde war es ja auch kein großer Unterschied. Der Gehgips erlaubte ihm ja quasi nur, den Fuß zwischen der Humpelei mal kurz abzustellen, aber laufen konnte er damit bei weitem noch nicht.

„Du könntest damit Klavier spielen.“, meinte ich kleinlaut.

„Fünf Wochen lang?“

„Da könntest du dein Spiel bestimmt unglaublich verbessern.“

Er knurrte nur. „Mein Spiel ist perfekt, da gibt es nichts zu verbessern!“

Das konnte ich nicht beurteilen, aber wenn er meinte… Hoffentlich spielte er mir mal was vor.

„Vielleicht… könntest du das Haus mal verlassen.“, schlug ich vor.

„Klar, ein netter Spaziergang durch die Innenstadt wäre bestimmt genau das Richtige!“

„Vielleicht nicht gleich die Stadt. Dein Garten reicht ja erst mal.“

„Und was soll ich da?“

„Sonne tanken?“

Er überdachte den Vorschlag gründlich, und letztendlich gab er mir Recht – nachdem ich ihn als bleiches Gespenst beschimpft hatte. Aber es stimmte, er war ungewöhnlich blass. Wie sollte es auch sonst sein, wenn man sich in seinem Haus verschanzte? Der Kerl brauchte mal wieder ein bisschen Sonnenlicht. Und er war immer sehr schnell von allem zu überzeugen, was mit seinem Aussehen zu tun hatte. Er konnte sagen, was er wollte. Er war eitel.

„Wir können auch jetzt in die Sonne.“, meinte er, nachdem wir uns noch eine Weile den Film angeschaut hatten, den er sowieso sterbenslangweilig fand.

„Und wie? Wir sollten bis morgen warten, bevor du durch den Garten rennst.“

Er verdrehte nur die Augen, das tat er auch ziemlich gern. „Erstens will ich nicht rennen und zweitens muss ich dafür ja nicht in den Garten.“

„Sondern?“

„Terrasse?“

„Du hast eine Terrasse?“

Er deutete auf die Glastür neben dem Bett.

„Klingt nach einem Plan.“ Einem ziemlich gutem sogar. Ein bisschen frische Luft war auf jeden Fall besser, als den ganzen Tag vor dem Fernseher zu hocken.

Ich half ihm, aufzustehen. Klar hätte er das auch allein gekonnt, aber wenn ich schon mal hier war… Außerdem hatte er ja nur eine Krücke griffbereit, die andere lehnte noch am Bett. Und ich konnte ihn doch schlecht den ganzen weiten Weg nur mit einer Gehhilfe zurücklegen lassen. Ich ließ ihm auch gar nicht erst die Wahl, ich schnappte mir einfach seinen Arm, legte ihn mir um die Schulter, umfasste seine Hüfte und los ging es.

Die Terrasse war wirklich riesig und sie lag direkt in der Sonne. Perfekt. Ich half Kaiba, sich auf einer Liege niederzulassen, ehe ich mich genauer umsah. Von hier oben hatte man einen tollen Ausblick übers ganze Grundstück. Unten gab es sogar einen kleinen Teich und einen künstlich angelegten Bach.

Und hier oben erst. Auf der Terrasse gab es zwei Liegen, eine Hollywoodschaukel und sogar einen Jacuzzi.

„Die Terrasse ist der Wahnsinn!“, rief ich begeistert aus. „Warum bist du nicht viel öfter hier?“

„Wer sagt, dass ich das nicht bin?“, erwiderte er träge. Er blinzelte der Sonne entgegen, war wohl ein wenig geblendet vom hellen Licht. Kein Wunder, er hatte sich ja die letzte Woche völlig in seinem Zimmer verschanzt, dieser Stubenhocker. Wenigstens würde er jetzt wieder ein bisschen Farbe im Gesicht bekommen. Die Tage wurden immer wärmer und heute war der Himmel strahlend blau.

„Du hast für gewöhnlich nicht gerade einen dunklen Teint, wenn du verstehst. Und im Moment wäre vermutlich sogar ein Vampir neidisch auf deine Blässe.“

„Wie schmeichelhaft!“ Seine blauen Augen fixierten mich. Wahnsinn, allein mit einem einzigen Blick konnte er einem zeigen, dass er aufs tödlichste beleidigt war, ohne auch nur seine Mimik zu bemühen.

„Ach...“ Ich winkte beschwichtigend ab. „Wir tanken heute einfach ein bisschen Sonne und dann hast du auch mal eine gesunde Bräune im Gesicht.“ Ich warf mich schwungvoll auf die Liege neben ihm. „Ein bisschen in der Sonne dösen ist doch auch mal ganz nett.“

Nach kurzem Zögern tat Kaiba es mir gleich und schwang die Beine ebenfalls auf die Liege, wobei er mich allerdings argwöhnisch ansah. Ich ignorierte es, so lange ich konnte, aber nach einer gefühlten Ewigkeit ging es mir doch auf den Keks. Also erwiderte ich seinen Blick.

Es war schwer. Anscheinend erachtete er es in meiner Nähe nicht mehr als nötig, den kalten Blick aufzusetzen. Einerseits zeigte es mir, dass er mir in der Hinsicht zumindest ein winziges bisschen vertraute, andererseits waren diese hellen Augen ganz schön gewöhnungsbedürftig. Vielleicht lag es daran, dass ich dieses intensive Blau das erste Mal gesehen hatte, als er benebelt vor Schmerz gewesen war, aber es fiel mir schwer, mich damit anzufreunden. Sie waren zweifellos unbeschreiblich schön, aber an den Fakt, dass das tatsächlich seine ganz normale Augenfarbe war, musste ich mich erst noch gewöhnen. Ich musste erst begreifen, dieses Blau nicht mit Schmerz oder Leid zu assoziieren.

Es fiel mir schwer, seinem Blick standzuhalten, einfach weil er so viel Ausdruckskraft hineinlegen konnte, dass mich allein der Anblick schon völlig fertig machte. Dabei hatte ich gar keine Ahnung, was er überhaupt von mir wollte.

Okay, nach einer Weile wurde es mir doch zu blöd. Wir könnten uns den ganzen Tag anstarren, bis mich seine Augen absorbiert hatten, aber dann wüsste ich immer noch nicht, was er von mir wollte. Also fragte ich einfach.

„Ich hab Durst.“ War die einfache Antwort. Er hob auffordernd die Augenbraue.

„Und du meinst, ich soll springen, wenn du etwas willst?“, fragte ich entgeistert. „Das ist ziemlich dreist, findest du nicht?“

Da wurde sein Blick spöttisch. „Soll ich selbst laufen?“

Er wusste ganz genau, dass ich das nicht zulassen würde, was mich in seinen Augen wohl quasi zu seinem Bediensteten machte. Dem sollte ich ganz schnell entgegen steuern – sobald mir ein Konter einfiel. Bis dahin ergab ich mich meinem Schicksal und räumte die Tabletts nach draußen. Auf einen weiteren kritischen Blick hin, holte ich auch noch Wasser für ihn. Und ein Kissen für seinen Fuß. Und eine Sonnenbrille, weil es ja so hell war. Aber als er dann auch noch ein Buch wollte, streikte ich.

„Jetzt ist aber mal gut!“, knurrte ich genervt, denn natürlich fiel ihm jede Kleinigkeit erst ein, nachdem ich es mir wieder auf meiner Liege bequem gemacht hatte. Als würde er nur darauf warten. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sehen wollte, wie weit er es denn treiben konnte. Aber irgendwann reichte es ja auch mal. Schnaufend rückte ich mich auf der Liege zurecht, verschränkte demonstrativ die Arme. „Wenn du ein Buch willst, dann hol es dir selbst!“

Er sah mich schon wieder so durchdringend an, lauernd, ob ich nicht doch nachgeben würde. „Kannst du das denn mit deinem Gewissen vereinbaren?“, fragte er freundlich. „Bedenke, dass ich dabei stürzen könnte.“

Er kam mir auf die Tour? Das konnte er gleich wieder vergessen! „Du konntest ja auch zwei Wochen lang zur Firma und durch die halbe Weltgeschichte humpeln. Da wirst du es bis zum Bücherregal schon schaffen.“

Treffer! Er knurrte böse, warf mir einen feindseligen Blick zu. Ja, darauf reagierte er immer noch empfindlich. Aber zumindest hatte ich gekontert. Das hatte er jetzt davon!

Doch genauso schnell passte er seine Strategie scheinbar an. Er ließ ein schweres Seufzen vernehmen, das klang, als würde er eine schwere Bürde tragen. „Was soll ich sonst tun, wenn nicht lesen?“

„Dich unterhalten?“

Seine Augen blitzten auf. Hatte ich ihm jetzt in die Hände gespielt? Was ging nur in seinem Kopf vor? „Okay, dann unterhalten wir uns.“

Er sah mich abwartend an. Wollte er, dass ich ein Thema vorschlug? Okay, nichts leichter als das. Wir würden uns ja wohl wie zwei normale Menschen unterhalten können. Aber worüber? Ich dachte angestrengt nach. Schule? Ganz blöd. Seine Firma? War er im Moment auch nicht gut drauf zu sprechen. Wetter und Gesundheit schieden auch aus. Er las gern. Sollte ich nach seinem Lieblingsbuch fragen? Lieber nicht. Lesen gehörte definitiv nicht zu meinen Hobbies und das würde er bestimmt als Bildungslücke bewerten. Von Filmen hatte er keine Ahnung und Sport? Er würde wohl kaum Fußball oder sonst irgendein Spiel schauen.

Aber… da war doch was.

„Treibst du Sport?“

Er legte den Kopf schief, sah mich an, als hielte er die Frage für einen schlechten Witz. „Ich kann nicht mal stehen, was soll ich da für Sport treiben?“

„Ich meine auch nicht im Moment, sondern normalerweise.“

„Wieso fragst du?“

Ich verdrehte die Augen. „Weil du für einen Bürohengst körperlich ziemlich fit bist.“

„Woher willst du das wissen?“

Wieso antwortete er immer mit Gegenfragen? War das irgendeine Strategie, die ich nicht verstand? „Weil ich Augen im Kopf habe!“, knurrte ich unwirsch. „Ich hab dich mit freiem Oberkörper gesehen und daher weiß ich, dass du körperlich fit bist, okay? Also treibst du Sport oder nicht?“

„Du meinst normalerweise?“

„Ja!“

„Ja.“

„Was, ja?“

„Ja, normalerweise treibe ich Sport.“

Na Wahnsinn! Nach sinnlosem hin und her, konnte ich ihm aus der Nase ziehen, was ich mir eh hatte denken können. Er wollte mich in den Wahnsinn treiben! Definitiv! Aber so leicht ließ ich mich nicht abschütteln! Beharrlich bleiben.

„Und was für Sport?“, fragte ich betont ruhig.

Seine Augenbraue zuckte kurz. Vielleicht imponierte es ihm ja, dass ich mich nicht in Rage versetzen ließ. „Schwimmen.“ war die knappe Antwort.

„Schwimmen? Das ist doch kein Sport!“

Er runzelte die Stirn „Ach nein? Was denn dann?“

„Wenn es warm ist, gehe ich mit meinen Freunden auch im Schwimmbad toben. Aber dieses Plantschen ist doch kein Sport!“

Da verdrehte er nur die Augen. „Vielleicht haben wir diesbezüglich einfach eine unterschiedliche Definition.“

„Von Sport?“

„Vom Schwimmen! Du verstehst darunter anscheinend eher Spiel und Spaß und ich sehe eher den sportlichen Aspekt.“

„Na dann erklär doch einfach mal, was du darunter verstehst.“

Er brummte leise. „Für mich ist Schwimmen einfach die perfekte Sportart. Du trainierst deine ganze Muskulatur. Arme, Beine, Rücken, Brust, Bauch. Es ist nicht sonderlich anstrengend, man hat seine Ruhe und es hilft mir, nach einem anstrengenden Tag im Büro abzuschalten. Und man ist danach nicht verschwitzt.“

Ah, da hatte er recht. Zumindest wenn sein Körper tatsächlich nur vom Schwimmen so gut definiert war, sollte man sich doch mal überlegen, selbst damit anzufangen. Mein Blick glitt zu seinen Beinen. Da er wegen dem Gips auf knielange Hosen umgestiegen war und die beim Liegen noch ein bisschen höher rutschten, konnte ich mir wirklich ein verdammt gutes Bild von seinen Beinen machen. So schön lang und trainiert…

„Es scheint zumindest fit zu halten.“, meinte ich lahm.

Was sollte ich schon noch dazu sagen? »Hey, schön, dass du dich so in Form hältst, ich find deine Beine nämlich ziemlich heiß. Und wenn wir schon dabei sind, ich hab mir vorhin die Hand verbrüht, weil mich dein nackter feucht in der Sonne glänzender Oberkörper so abgelenkt hat«

Ich schüttelte unwillig den Kopf. Jetzt aber genug! Ich musste das Thema wechseln, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Und sonst so?“, fragte ich schnell. „Wie geht’s Mokuba?“

„Wieso fragst du mich das?“ Er schnaubte leicht, trank einen Schluck Wasser, bevor er mir antwortete. „Er läuft dir doch ständig über den Weg. Frag ihn doch selber!“

Auch wieder wahr. „Aber vielleicht weißt du ja einige Details, die er mir nicht erzählen würde.“

„Zum Beispiel?“

Da musste ich mir selbst etwas überlegen. Mokuba war mir im Moment ehrlich gesagt ziemlich egal. Aber ich musste ja den Schein wahren. „Ob er vielleicht schon mal verliebt war oder eine Freundin hatte?“

Er bedachte mich mit einem äußerst verständnislosen Blick. „Wenn er dir das nicht selbst erzählen würde, warum sollte ich das dann tun?“

„Weil du als sein Bruder bestimmt mehr weißt und man darf ja wohl neugierig sein, oder nicht?“

„Hast du nicht eine Schwester?“

„Ja, warum?“

„Würde sie dir erzählen, mit wem sie rummacht?“

Bitte was? Was erzählte er da.

Er zog demonstrativ mit überlegenem Blick eine Augenbraue hoch. „Oder bist du wirklich so naiv, zu glauben, sie würde so etwas nie tun?“

Grrr!

„Nein, lass mich raten. Du willst es nicht wissen.“ Er nickte bedächtig, genau wissend, dass er recht hatte. „Und ebenso geht’s mir mit Mokuba. Wenn er eine Freundin hat, gut für ihn. Wenn er mir davon erzählt, in Ordnung. Wenn nicht, werde ich ihm nicht hinterher spionieren.“

„Glaubst du denn, er würde dir erzählen, wenn er… sagen wir… sein erstes Mal hatte?“

„Das wird sich zeigen.“

„Was macht dich so sicher, dass es nicht schon längst passiert ist?“

Er winkte ab. „Mokuba ist noch viel zu schüchtern und unreif. Das dauert noch.“

„Woher willst du das denn wissen?“

„Ausgeprägte Menschenkenntnis?“

Kaiba und Menschenkenntnis. Dann war ich der neue Albert Einstein! Der Kerl war doch so weltfremd wie sonst keiner. Der hielt Yugi doch ernsthaft für bösartig.

„Du glaubst mir nicht.“, stellte er fest. Er kräuselte die Nase und setzte einen beleidigten Blick auf.

„Naja… sagen wir, ich bin davon nicht so überzeugt.“, ich musste bei seinem Gesichtsausdruck einfach nur schmunzeln. Wenn er wollte, konnte er wirklich eine sehr ausdrucksstarke Mimik haben.

„Ach?“ Seine Augenbraue schnellte herausfordernd nach oben. „Ich wette, ich habe dich genauer durchschaut, als du ahnst.“

Analyse

Sein lauernder Blick gefiel mir nicht. Das war das Blöde bei Kaiba, in seinen Gehirnwindungen gingen Dinge vor, die man einfach nicht einschätzen konnte. Vielleicht bluffte er nur. Wenn nicht könnte es sein, dass ich ein ernsthaftes Problem hatte. Ich glaubte nämlich nicht, dass Kaiba sonderlich angetan davon wäre, wenn er wüsste, dass ich seinen Körper schon irgendwie… scharf fand.

Also setzte ich auf Bluff.

Ich erwiderte seinen herausfordernden Blick trotzig. „Na dann schieß los!“

„Bist du sicher?“

Ich nickte angespannt.

„Also gut.“ Er richtete sich auf, um mich genauer mustern zu können. Und das tat er dann auch einige Minuten lang, als müsste er noch einmal eine genaue Analyse durchführen. Dessen war ich mir inzwischen wirklich sicher: sein Gehirn arbeitete auf eine Art und Weise, die irgendwie merkwürdig war. Es war vollkommen unmöglich, seine Gedankengänge nachzuvollziehen.

„Okay.“ Er klatschte in die Hände und grinste mich auf äußerst verunsichernde Weise an. Sein Blick fixierte mich jetzt so stechend scharf, dass ich das Gefühl hatte, er würde sich wirklich direkt bis in meine tiefsten Gehirnwindungen bohren.

„Fangen wir ganz vorne an. Also bei unseren Reibereien. Wir sind vollkommen konträr und ich verkörpere alles, was du nicht bist. Reich und intelligent, mit einer Bildung, die du nie erreichen wirst. Du dagegen bist ungefähr der ärmste Schlucker, den ich kenne und Schule und Lernen interessieren dich nicht. Mir ist die Meinung der anderen egal, du definierst dich dadurch. Mir schenken die Leute Aufmerksamkeit, auch wenn ich keine will, du musst darum kämpfen und deswegen machst du dich zum Clown. Ich habe die Macht, Leute herumzukommandieren, du wirst herumkommandiert. Du verlässt dich auf körperliche Stärke, weil du dich anders nicht durchsetzen kannst, ich regle alles mit dem Verstand.“

Das mal so locker von ihm aufgezählt zu bekommen, wie weit ich unter ihm stand, war echt bitter. Wahr, aber bitter. „Und warum streiten wir?“, fragte ich gepresst.

„Genau deswegen. Du fühlst dich allein von meiner Anwesenheit provoziert, weil ich repräsentiere, was du nie erreichen wirst.“

Argh! Dieser Bastard! Diese überhebliche Darstellung! Als wäre er so viel besser!

„Siehst du?“ Er beobachtete mich ganz genau, blieb aber vollkommen ruhig. „Ich zähle nur Fakten auf, aber allein das versetzt dich schon in Rage. Deswegen suchst du geradezu jede Gelegenheit, um dich mit mir anzulegen. Einfach um dich mit mir zu messen, in der Hoffnung, doch mal einen kleinen Sieg zu erringen, der dir hilft, dich über all die Fakten in trügerischer Euphorie hinwegzutäuschen.“

Ich knirschte ärgerlich mit den Zähnen. Da kam man sich doch wirklich vor, wie der letzte Dreck! „Und warum springst du dann jedes Mal drauf an, wenn du das alles so toll durchschaut hast?“, fragte ich sauer.

„Weil ich ein Mistkerl bin, ganz einfach.“ Er tat das mit so einer leichtfertigen Handbewegung ab, dass ich vor lauter Verblüffung bald von der Liege rutschte. Das war jetzt wirklich unerwartet gekommen. Wieso betitelte er sich denn selbst so?

„Ich weiß, dass ich intellektuell und finanziell über so ziemlich jedem anderen stehe und das erlaubt es mir, mich überheblich zu geben. Mir ist es egal, was andere denken, und deswegen kümmert es mich auch nicht, wenn sie sich auf den Schlips getreten fühlen.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich nehme mir die Freiheit, mir mein Verhalten nicht vorschreiben zu lassen.“

„Geld versaut den Charakter!“, zischte ich. „Schon mal gehört?“

„Geld erhebt in eine höhere Klasse.“, antwortete er, keineswegs arrogant oder bissig, sondern äußerst ernst. „Früher gab es den Adel, der aufgrund eines Titels oder einer Blutlinie über Bürgern und Bauern stand. Heute gibt es diese Trennung zwischen Adel und Bürgern offiziell nicht mehr, aber wer genau hinsieht, weiß genau, dass das, was früher der Titel bewirkte, heute das Geld tut.“ Er lehnte sich zurück, starrte nachdenklich gen Himmel. „Die Superreichen geben sich nicht mit den Normalverdienern ab, viele von ihnen haben keine Vorstellung, wie ein Leben unter einfachen Verhältnissen aussieht. Sie denken, Armut wäre eine ansteckende Krankheit.“

Tolle Ausführung, echt! Wenn Kaiba erzählte, kam man sich danach wirklich minderwertig und klein vor. „Und lass mich raten. Als verwöhntes, kleines Balg wurde es dir auf dem Olymp der Reichen und Schönen zu langweilig und da dachtest du, du machst mal einen Ausflug in die Welt der Minderbemittelten, um zu sehen, wie das niedere Volk denn zurechtkommt. Richtig?“

„Das würde voraussetzen, dass ich in reichen Verhältnissen geboren wäre, oder nicht?“

Hä? „Bist du das nicht?“

„Wenn Gosaburo mich adoptiert hat, hatte ich wohl vorher eine andere Familie und die Wahrscheinlichkeit, dass diese ebenfalls reich war, ist relativ gering, wenn man bedenkt, wie das prozentuale Verhältnis zwischen Arm und Reich ist. Nette Rhetorik übrigens.“

„Danke. Ich hätte auch ein einfaches Nein akzeptiert.“ Darüber musste ich erst mal nachdenken. Kaiba war nicht reich geboren? Der Gedanke war mir nie gekommen. Auf sowas kam aber doch auch keiner. Eigentlich änderte es aber auch nicht viel. Das hieß ja nicht automatisch, dass seine Familie wirklich arm gewesen wäre. Vermutlich Mittelstand oder sowas. Zumindest glaubte ich nicht, dass er wirklich wusste, was Geldsorgen bedeuteten.

Ich fragte ihn ganz freundlich nach seiner Familie, aber da war seine Antwort ein ziemlich eisiges »Das geht dich nichts an!« Hatte ich mir schon gedacht.

Es stimmte, über Kaibas Leben, bevor er von Gosaburo adoptiert wurde, war, soweit ich wusste, nichts bekannt. Da hielt er sich wirklich bedeckt. Und er wollte auch nicht darüber sprechen, wie seine äußerst kalte Abfuhr gezeigt hatte.

Also folgte zwangsläufig eine peinliche Stille zwischen uns. Ich wusste nicht, worüber wir im Moment noch groß reden sollten. Dieses Schweigen war beklemmend, und vielleicht empfand Kaiba es auch so. Zumindest konnte ich mir nicht anders erklären, warum sonst er doch wieder dazu ansetzte, einen Dialog in Gang zu bringen.

„Hätte nicht gedacht, dass du schon mal was vom Olymp gehört hast.“

Der Einstieg wirkte ein wenig unbeholfen und ich war noch etwas angefressen vom bisherigen Gesprächsverlauf. Allerdings war allein der Versuch seinerseits, die Unterhaltung fortzusetzen, schon fast einer versöhnlichen Geste gleichzusetzen und sein Anblick gerade schon irgendwie nett. Er saß auf seiner Liege und hatte den Kopf schief gelegt. Dazu nagte er an seiner Unterlippe und bedachte mich mit einem Ausdruck in den Augen, als frage er sich, ob ich jetzt beleidigt war. Schon irgendwie... niedlich.

Also ließ ich mich unwillig schnaubend auf einen neuen Gesprächsbeginn ein. Man konnte es ja wenigstens mal versuchen. „Ich hab eben aufgepasst in römischer Geschichte!“

Er sah mich irgendwie mitleidig an. „Der Olymp ist ein Gebirge in Makedonien.“

„Ist doch egal, wo es liegt, es war der Sitz der römischen Götter.“

„Der griechischen Götter.“

„Hast du etwa noch nie etwas von Zeus gehört? Dem Römischen Göttervater?“

Wieder dieser Blick. Er schnaubte missbilligend. „Makedonien liegt in Griechenland und der Olymp demzufolge auch. Also beherbergt er die griechischen Götter. Zeus ist der griechische Göttervater. Das römischen Pendant, das du meinst, heißt Jupiter!“

Ich konnte in seinen Augen sehen, wie ich in seiner Achtung wieder ein bisschen sank. Römisch, Griechisch, wo war der Unterschied? Interessierte doch eh kein Schwein. Hätte ich lieber die Klappe gehalten. Ab sofort würde ich ihn nur noch anschweigen, dann konnte ich mich wenigstens nicht mehr blamieren.

„Allgemeinbildung ist nicht ganz deine Stärke, oder?“

Argh, musste er noch nachhaken? Einfach ignorieren! Ich strafte ihn mit beleidigtem Schweigen.

„Redest du nicht mehr mit mir?“

Gut erkannt!

Ich konnte sehen, wie es in seinem Köpfchen arbeitete. Anscheinend war Kaibas Gehirn immer auf Hochbetrieb, denn egal, was ich tat, er fasste sofort eine Gegenstrategie.

„Na gut, dann rede ich.“ Er bedachte mich mit einem lauernden Blick. „Wenn ich mich recht entsinne, waren wir vorhin noch gar nicht fertig mit der Analyse deiner Person.“

Oh Verdammt! Der wollte doch nicht damit fortfahren, mich noch tiefer im Erdboden zu versenken, oder?

„Wir könnten damit fortfahren, zu analysieren, warum du jeden Tag herkommst.“

Bitte nicht! Dieser berechnende Ausdruck in seinen Augen war sogar noch gruseliger, wenn er einen dabei so offen anschaute und nicht den eiskalten Blick drauf hatte.

„Keine Einwände? Gut, dann fahre ich fort.“

Ich wusste nicht, ob ich es überhaupt schaffte, das bis jetzt gehörte einfach so herunterzuschlucken. Kaiba hatte alles, aber kein Taktgefühl. Trotzdem schwieg ich beharrlich weiter, in der Hoffnung, es würde schon nicht so schlimm werden.

„Du kommst jeden Tag her und versuchst, mir deine Anwesenheit aufzudrängen.“, begann er. Hatte sich Mokuba etwa letztendlich doch geirrt und Kaiba empfand meine Besuche doch nicht als willkommen? Ich schluckte unmerklich. Irgendwie hatte ich ein ziemlich ungutes Gefühl bei der Sache.

„Anfangs wolltest du dein Gewissen beruhigen, jetzt kommst du aus Neugier.“

Er hatte recht. Genau so war es. Aber was glaubte er, worin meine Neugier lag? Wusste er das auch?

„So gesehen, handelt es sich dabei um eine Art Perversion von Schaulust.“

Bitte was?

„Zu dem Fakt, dass du immer wieder versuchst, dich mit mir zu messen, aber dabei immer den kürzeren ziehst, was dich natürlich frustriert, kommt hinzu, dass du eigentlich nichts über mich weißt, außer dem, was ich selbst über mich preisgebe. Und gemäß der Devise »kenne deinen Feind« denkst du dir, ein Blick hinter die Kulissen könnte dir helfen, doch noch etwas zu finden. Eine Schwachstelle oder ein düsteres Geheimnis…“

So sah er das? Vielleicht lag er da gar nicht so falsch, aber solange das alles war, konnte ich beruhigt aufatmen.

Doch er fuhr fort. „Aber deine Neugier treibt dich auch dazu, mich zwischenmenschlich kennenlernen zu wollen, zu sehen, ob ich privat so bin, wie ich mich nach außen hin gebe.“ Er schnaubte leicht. „Wahrscheinlich hat Yugi in der Hinsicht auf dich abgefärbt, immer zu glauben, alle Menschen wären tief in ihrem Innern gut und aufrichtig.“

„Bist du das denn nicht?“ Na schön, dann hatte ich eben mein Schweigen gebrochen. Und wenn schon, das hier war doch mal höchst interessant. Bis vor drei Wochen hätte ich nie gedacht, dass ich Kaiba mal für etwas anderes als das personifizierte Böse halten könnte. Aber inzwischen hatte ich ihn irgendwie sogar ganz gern. Privat war er meistens erträglich – wenn er nicht gerade zufällig einen seiner Anfälle von „Genie-sein“ hatte. Anders konnte man das einfach nicht bezeichnen.

„Ich bin gegen diese kindlich-naive Vorstellung, alle Menschen als Gutmenschen zu bezeichnen. In der Geschäftswelt lernst du sehr schnell, dass das nicht der Fall ist. Und ich will auch kein Gutmensch sein. Ich will nicht, dass mich jeder leiden kann, ich will mich nicht für jeden zurechtbiegen müssen. Wer mit mir klarkommt, okay. Wer nicht, scheiß drauf. Ganz einfach!“

Das war eine ziemlich eigensüchtig klingende Einstellung. Aber es zeugte auch von wahnsinnig viel Selbstvertrauen. Er definierte sich nicht über andere, nur über sein eigenes Selbstverständnis. Dadurch war er frei und unabhängig von seiner Umwelt. In meinen Augen machte ihn das zu der stärksten Persönlichkeit, die mir je begegnet war. Entgegen dem, was ich immer geglaubt hatte, isolierte er sich nicht gegen die Außenwelt, er wollte sich nur in kein Muster pressen lassen. Das ließ ihn natürlich kalt, distanziert und eigenbrötlerisch wirken.

„Aber es geht hier nicht um mich, sondern um dich!“

Oh, da lenkte aber jemand schnell von sich weg. Er war zwar bereit, seine Einstellung und seine Lebensphilosophie offenzulegen, aber er konnte verdammt schnell das Thema wechseln, sobald es auch nur ansatzweise dazu tendierte, zu tief in seine Privatsphäre zu gehen. Gegenüber dem Privaten anderer, wie mir, war er nicht so taktvoll. Da grätschte er rein ohne Gnade.

„Also deinen irrwitzigen Vorsatz, mich unterhalten zu wollen in allen Ehren, aber normalerweise würde dich das auch nicht interessieren.“

Urgh! Wieso kam er damit? „Schlechtes Gewissen?“, versuchte ich kleinlaut.

„Nein…“ Er musterte mich äußerst nachdenklich. Als könnte er mir vom Gesicht ablesen, was er wissen wollte. Aber nein, er schien sich noch nicht ganz sicher zu sein, was mich zu ihm trieb.

„Manchmal… wenn man deine Blicke analysiert, könnte man meinen, du fändest zunehmend Gefallen an meinem Körper.“

Das saß! In gewisser Weise hatte er damit recht. Aber wie bewertete er es? Er sah mich nicht angeekelt oder abgeschreckt an, er analysierte es einfach nur.

„Allerdings bin ich der Meinung, nicht unbedingt freizügig herumzulaufen und wenn es ums Körperliche ging, könntest du dir auch Kerle im Internet oder Zeitschriften ansehen, die besser gebaut und freizügiger sind.“ Er zog die Augenbrauen zusammen, als würde es für ihn keinen Sinn machen, wenn ich ihn schön fand. Das verstand er wohl nicht. Ich stand nicht auf Kerle! Nur auf ihn. Ein bisschen. Eigentlich nur auf seinen Anblick. Ein bisschen.

„I-ich bin nicht schwul, okay?“

„Das habe ich auch nicht gesagt.“

Das schien ihn auch nicht zu interessieren, denn er wandte sich auffällig schnell dem nächsten Thema zu. „Wie dem auch sei, ich nehme an, du wirst deine Gründe haben, hier zu sein. Und mir ist es egal.“

Aha. Tolles Fazit. Interessierte mich aber gerade überhaupt nicht. Was für ein überraschend schnelles Fazit. War das Gespräch in eine Richtung gelaufen, die er nicht wollte oder was sollte der abrupte Abbruch.

„Ist dir das Thema unangenehm?“, fragte ich lauernd.

„Welches?“ Wie nebenbei griff er nach dem Wasser und nippte daran.

„Sexualität. Du bist ziemlich schnell davon abgewichen.“

Er konnte sein Wasser ja ganz schön langsam trinken. Sehr sehr langsam. Aber schließlich war er doch mal fertig. Und als Antwort kam ein ziemlich nüchternes „Nein.“ Mehr nicht.

„Nein?“, hakte ich nach.

„Ich bin nur der Meinung, wir haben kein so tiefgehendes Verhältnis zueinander, dass sich unser Themenspektrum darauf erstrecken müsste.“

Ja, okay… war das jetzt eine Umschreibung dafür, dass es ihm doch unangenehm war und er es nicht zugeben wollte? Vielleicht war er ja tief in seinem Innern doch schüchtern und verklemmt.

„Hattest du schon mal Sex?“, fragte ich unvermittelt.

Aber entgegen meiner Erwartung erschrak er über die Frage nicht. Er wurde auch nicht rot oder sonst irgendwie betroffen. Er zog nur missbilligend eine Augenbraue in die Höhe. „Ich habe gesagt, ich rede darüber nicht mit dir!“

„Warum nicht?“ Ich beugte mich interessiert vor. Es wäre doch interessant zu wissen, ob er noch Jungfrau war… oder vielleicht doch eher ein wilder Bock, der von Bett zu Bett sprang.

Ernsthaft, wie war es möglich, dass man bei ihm nicht mal ansatzweise eine Ahnung hatte, in welche Richtung er eher tendierte? War er ein Beziehungsmensch oder doch eher der Typ für kurze Affären? War er überhaupt an sowas wie Körperlichem interessiert? Vielleicht war sein Verstand ja dermaßen überentwickelt, dass er gar kein Interesse an Lust und Liebe hatte. Vielleicht hatte er überhaupt keine Libido. Vielleicht war er ein reiner Mensch des Geistes. Wer konnte das schon so genau sagen? Ich jedenfalls nicht. Aber bedauerlich wäre es schon, wenn er seinen Körper der Welt vorenthalten würde.

„Akzeptiere es einfach!“, meinte er trocken.

Das konnte ich aber nicht! Ich musste es wissen.

„Ich mache dir einen Vorschlag.“ Enthusiastisch setzte ich mich auf. „Ich erzähle dir etwas über meine Erfahrungen und dann du über deine. Muss ja nicht viel sein.“

Er sah mich nur kritisch mit hochgezogener Augenbraue an. Also legte ich einfach mal los. Im Gegensatz zu ihm war ich in der Hinsicht nicht so verklemmt.

„Ich hatte bisher zwei Freundinnen. Mit der einen war ich sieben Monate zusammen, mit der anderen nur drei, aber ich denke für einen 18-Jährigen sind zwei Beziehungen schon ganz in Ordnung, oder?“

Okay, ich gabs zu. Ich brüstete mich gern damit. Keiner meiner Freunde hatte bis jetzt mehr Beziehungen gehabt als ich. Naja, Duke Devlin hatte auch zwei gehabt, aber seine Beziehungen waren kürzer gewesen. Also war ich der Sieger.

Nur Kaiba wirkte nicht sonderlich beeindruckt. Oder schockiert. Oder Begeistert. Um genau zu sein, hatte ich keine Ahnung, was er überhaupt dachte. Er sah mich nur weiter mit gleichbleibend kritischem Blick an. Der machte es einem ja nicht gerade einfach. Also musste ich wohl noch ein bisschen drauflegen.

„Beide Beziehungen waren sehr tiefgehend, wenn du verstehst. Also… ich meine körperlich tiefgehend. Du weißt schon, mit beieinander übernachten… und Dinge tun, die man tut, wenn man beieinander übernachtet…“

Wusste er, was ich meinte? Seinem durchgehend kritischen Blick war wirklich rein gar nichts zu entnehmen.

„Weißt du, was ich meine?“

„Bin ja nicht blöd!“ Dieser Blick machte mich fertig! Ich wollte eine Meinung, eine Regung, irgendwas, woraus ich vielleicht mal lesen konnte, ob er wirklich wusste, was ich meinte oder ihm das Thema völlig fremd war. Aber er tat mir den Gefallen nicht.

„Und… was ist mit dir?“, fragte ich vorsichtig. Ich sah meinen Teil als erfüllt an, jetzt war er mal dran.

„Was soll mit mir sein?“

„Na, jetzt bist du dran. So war der Deal.“

Da! Sein Blick änderte sich endlich mal. Und zwar sah er mich jetzt spöttisch grinsend an. „Ich habe deinem Vorschlag aber nie zugestimmt.“

„W-was?“

„Du hast einen Vorschlag gemacht, dem ich nicht zugestimmt habe. Also bin ich mit gar nichts dran!“

Dieser-! Verdammt! Ich hatte vor ihm schön mein Liebesleben ausgebreitet und er gab rein gar nichts preis. Das war echt unfair!

„Also sagst du mir nichts?“, fragte ich gepresst.

„Doch, ich sag dir sogar zwei Dinge.“

„Ach echt?“ Also verriet er mir doch ein paar süße Geheimnisse?

„Erstens.“ Er hob mahnend den Zeigefinger, „Wenn du jemandem einen Vorschlag machst, der Leistung gegen Gegenleistung enthält, dann warte, bis der andere zugestimmt hat, sonst ist er nämlich zu keiner Gegenleistung verpflichtet.“

Wie lustig! Mistkerl!

„Zweitens“ Er erhob bedeutungsschwanger einen zweiten Finger. „Der Glaube, sich mit seinen sexuellen Erfahrungen brüsten zu müssen, zeugt von absoluter Unreife.“

Grr! Mehr hatte er nicht zu sagen? Das zeigte doch nur, wie wenig Ahnung er hatte. Unreife, pah! Der war doch nur eifersüchtig! Wahrscheinlich hatte ihn bis jetzt noch keine rangelassen und deswegen gönnte er es mir nicht!

„Von wegen Unreife!“, fauchte ich, „Es symbolisiert den Übergang vom Jungen zum Mann. Das ist alles andere als unreif!“

„Übergang, so so.“ Sein Blick wurde schon wieder so verdammt lauernd. „Du meinst also, die Definition eines Mannes wäre die, dass er den Geschlechtsakt vollzogen hätte?“

Hergott, warum musste er immer so hochgestochen sprechen? Davon wurde man ja blöde im Kopf. „Ja!“

Er nickte andächtig. „Wenn also ein 14-Jähriger sein erstes Mal hat, ist er dann ein Mann?“

„Ja! Also zumindest irgendwie! Ich meine-“

Doch er ließ mich nicht ausreden, sondern brachte mich mit einer herrischen Geste zum Schweigen. „Und jemand, der sich für die Ehe aufhebt und deshalb sein erstes Mal erst mit 30 oder noch später hat? Ist das in deinen Augen kein Mann? Und wie steht es mit Frauen? Werden aus Mädchen dann auch erst durch eine sexuelle Erfahrung Frauen? Bedenke, dass es bei der Eheschließung heißt: »Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau«, nicht zu Junge und Mädchen.“

„Das ist doch was völlig anderes!“

„Inwiefern?“ Sein Blick wurde geradezu bösartig lauernd. „Wo ist der Unterschied?“

Ja, wo war er denn? Keine Ahnung, aber warum musste er auch immer mit sowas kommen? Es ging hier nicht um irgendwelche Definitionen, sondern darum, dass er mich als unreif beschimpft hatte!

Ich fuhr mir genervt über die Augen. „Wieso zeugt es von Unreife?“

„Wer sich mit sexuellen Erfahrungen brüsten muss, zeigt, dass er noch nicht verstanden hat, was wirklich zählt. Wahre Werte, Reife, Verstand… das ist entscheidend, nicht die Anzahl der Frauen, die man hatte, oder wann man sie hatte.“

„Ist deine Meinung!“ Mehr sagte ich dazu nicht. Es machte keinen Sinn, ihm zu widersprechen, weil er einen dann in Grund und Boden argumentierte. Wenn das seine Ansicht war, schön! Ich sah das anders. Sollte er doch den prüden Moralapostel spielen, ich schämte mich wegen meiner Beziehungen nicht.

„Okay, machen wir das verständlicher. Du hast zwei Männer. Der eine hatte im Laufe seines Lebens viele verschiedene Frauen, ein echter Player. Der andere hatte in seinem ganzen Leben nur eine Frau. Wer gewinnt?“

„Der Player.“ Jaja, jetzt würde die Belehrung kommen, warum ich falsch lag. Aber das wusste ich schon. Ich lag seiner Meinung nach falsch, weil Kaiba absolut frigide war und keinen anderen Lebensstil ertragen konnte!

„Füttern wir die Geschichte mit ein paar Informationen. Der Mann, der nur eine Frau hatte, hat diese geheiratet und war bis zu seinem Tod glücklich mit ihr vereint. Der Player dagegen hatte sein Leben lang immer wieder verschiedene Frauen, aber als er alt und grau und krank wurde, war davon keine mehr da und er starb einsam und allein.“ Er machte eine künstliche Pause. „Wer gewinnt jetzt?“

Okay, das war schon gut argumentiert, aber ich war damit trotzdem nicht zufrieden. „Und wenn die erste nicht die richtige ist? Man kann doch mehrere Frauen haben und am Ende trotzdem glücklich verheiratet sein.“

Er nickte. „Richtig. Aber wer ist dann wirklich besser? Derjenige, der die richtige Frau nach wenigen Fehlschlägen gefunden hat oder derjenige der viele Frauen hatte, die alle nicht die richtige waren?“

Okay, das war wenigstens mal eine Erklärung, die ich nachvollziehen konnte, aber im Bezug auf Kaiba brachte mich das nicht weiter. Was wollte er mir damit sagen? Dass er fest an die große Liebe glaubte und lieber auf die Eine wartete? Oder schwang er hier nur große Reden, um komplett von sich wegzulenken? Vielleicht theoretisierte er das Ganze auch nur, weil er das Thema sonst nicht für sich begreiflich machen konnte. Bei ihm konnte man sich nie sicher sein.

Eine Weile lang schwiegen wir, hingen unseren Gedanken nach. Ich starrte Löcher in den blauen Himmel, in der Hoffnung, vielleicht doch noch einen Geistesblitz zu haben. Egal, wie ich es drehte, ich kam einfach zu nichts, dass mir einen Hinweis auf Kaibas Liebesleben gab. Vielleicht sollte ich seine Privatsphäre einfach respektieren und meine Neugier begraben. Aber vielleicht sollte ich auch einfach eine bessere Taktik wählen. Ich konnte ja einfach mal eine These in den Raum werfen.

„Aus dem ganzen Gerede schließe ich, dass du noch Jungfrau bist.“

Ich wandte meinen Blick zu ihm. Er sah nicht erschrocken aus, aber er hatte eine leichte Röte um die Nasenspitze. Hatte ich ihn ertappt?

Er schnaubte genervt. „Könntest du das Thema endlich mal fallen lassen?“

Das war keine direkte Antwort, aber die Röte sprach doch für sich, oder? Obwohl… rührte die überhaupt von Scham her?

„Du bist rot im Gesicht.“, merkte ich an.

Er sah mich verwundert an, seine Finger wanderten langsam zu seiner Wange und strichen darüber.

„Sonne.“, murmelte er.

Aber so warm war es doch noch gar nicht… Egal, dann musste er raus aus der Sonne. Ich kam auf die Beine und half ihm, aufzustehen, damit wir reingehen konnten.

Drinnen konnte ich mir seine Farbe auch genauer ansehen. Ich verfrachtete Kaiba aufs Sofa und musterte ihn dann genauer. Die Röte verlief über die Jochbeine und den Nasenrücken. Irgendwie sah es ja süß aus. Er wirkte ein bisschen erschöpft. Kam mir bekannt vor, nach einem langen Sonnenbad fühlte ich mich auch immer geplättet.

„Soll ich dir vielleicht Creme oder sowas holen?“

Er deutete nur aufs Badezimmer. Na mal schauen, was ich fand.

Als ich eintrat, konnte ich nicht anders, als ehrfürchtig die Luft anzuhalten. Sein Badezimmer, sein ganz privates Reich. Und es war riesig. Die Bodenfließen waren dunkelrot, die an der Wand Marmorfarben und er hatte eine Dusche und eine riesige Eckbadewanne. Sogar mit Düsen. Hinter einem Duschvorhang befanden sich unauffällig verdeckt einige Ablagemöglichkeiten, auf denen die Handtücher scheinbar nach Farbe und Größe sortiert waren. Wozu brauchte ein einzelner Mensch so viele Handtücher?

Bei Kaiba schien immer alles seinen Platz und seine Ordnung zu haben. Das sah man schon an Dusche und Badewanne. Bei beidem waren Duschgel und Haarpflegeprodukte sichtbar getrennt und nach irgendwas sortiert. Ein genauerer Blick zeigte, dass er mehrere Duschgels und Haarwaschmittel besaß, die scheinbar eine bestimmte Reihenfolge hatten. Die einzige wirkliche Logik, die ich mit sehr viel Mühe hineininterpretieren konnte, war, dass es anscheinend vom süßesten zum herbsten Geruch geordnet war. Machte das überhaupt Sinn? Absurd!

Selbst beim Waschbecken schien alles in irgendeiner Weise sortiert zu sein. Auf den ersten Blick stand nicht mehr als Flüssigseife und ein Schälchen mit einem Stück fester Seife herum, natürlich farblich zueinander passend. Aber im riesigen dreitürigen Spiegelschrank offenbarte sich der reinste Organisationswahn.

Hinter dem rechten Türchen befand sich ein Becher mit Zahnbürste. Soweit nicht ungewöhnlich. Aber daneben gab es fünf verschiedene Tuben Zahnpasta, zwei Sorten Zahnseide, drei Ersatzzahnbürsten und drei verschiedene Mundspülungen. Das war doch ein bisschen übertrieben!

Ich schaute mal hinter das linke Türchen. Schon wieder dieser Überfluss! Diverse Kämme mit verschieden breiten und weit auseinander stehenden Zacken, eine größere Auswahl an Haargels, Sprays und Haarpflegeprodukten. Und natürlich alles nach irgendeinem Schema sortiert. Naja… Dafür dass seine Haare ohne jegliche Kämme und Pflegeprodukte unfassbar vorteilhaft fielen, war das eine ganz schön große Auswahl.

Schauten wir doch mal ins mittlere Türchen. Ah, da könnte sich was finden lassen. In der Mitte hatte er ein ganzes Arsenal an Deos, Parfums aber auch Cremes. Und er hatte auch Sonnencreme und Apres Lotion. Ich schnappte sie mir und verließ eilig das Badezimmer. Nicht dass ich hier noch irgendetwas durcheinander brachte.

Kaiba saß nach wie vor auf dem Sofa und starrte lethargisch vor sich hin. Ich ließ mich neben ihm auf die Couch fallen. „Das hier sollte gegen den Sonnenbrand helfen.“

Er nahm die Creme entgegen und betrachtete sie nachdenklich. „Ist kein Sonnenbrand.“, murmelte er.

„Sondern? Bist du einfach nur verlegen?“ Ich musste schmunzeln, als er störrisch den Kopf schüttelte.

„Ist nur gerötet. Ich bin einfach nur ein empfindlicherer Hauttyp als du.“ Er klang ein bisschen beleidigt.

„Ich seh schon. Du solltest dich trotzdem eincremen, damit deine Haut so schön bleibt, wie sie ist.“

Schnaubend, als würde er meine bevormundende Art missbilligen, schmierte er sich das Gesicht ein. „Das sollte dein Frage von vorhin beantworten.“, raunte er.

„Welche?“

„Warum ich im Sommer nicht so braun gebrannt bin wie du.“

„Weil du einfach ein hellerer Hauttyp bist und nicht so braun wirst, egal, wie lange du in der Sonne liegst?“

Er nickte.

Komische Vorstellung. Er war… empfindlich. Beschützenswert… irgendwie echt niedlich mit den geröteten Wangen.

„Kann es sein, dass du ein kleiner Ordnungsfreak bist?“

Er sah mich verständnislos an.

„In deinem Badezimmer ist alles penibel geordnet.“

Er bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick. „Ich… mag es halt ordentlich, na und?“

„Ordentlich? Du sortierst dein Duschgel nach Geruch!“

Da weiteten sich seine Augen. Hatte ich etwa recht damit? Wer kam denn auf so einen Blödsinn? Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber sogleich wieder, ohne einen Ton über die Lippen gebracht zu haben. Anscheinend fiel ihm dazu nix ein.

„Gar nicht!“ War seine einzige schwache Gegenwehr.

„Wonach dann?“

„Wer sagt, dass ich es überhaupt sortiere?“

Ich hob herausfordernd eine Augenbraue. „Tust du?“

„Nein, ich-“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Und eine ausladende Geste nach links. Und dann nach rechts. Und seine Augenbraue zuckte unkontrolliert, als er weitersprach, „Ich positioniere meine Duschutensilien in keiner bestimmten Reihenfolge vollkommen willkürlich und absolut desinteressiert einfach irgendwie.“

„Rein zufällig?“

„Genau.“

Ich lachte leise. „Du bist der miserabelste Lügner, der mir je begegnet ist.“

Noch auffälliger ging es ja gar nicht mehr. Übertriebene Gestik, verräterische Augenbraue und überzogene verbale Abwehr. Zu schade, dass man im Moment nicht erkennen konnte, ob er beim Lügen auch noch rot wurde.

Aber der Blick, wenn er sich ertappt fühlte, war fast noch besser. Große blaue Augen, die einen ansahen wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht und er rammte seinen Eckzahn in die Unterlippe. Ich hätte nie gedacht, dass Kaiba so eine interessante Mimik an den Tag legen konnte.

Aber dann stieß er schnaubend die Luft aus und starrte mich böse an. „Na und? Dann sortiere ich es halt nach Geruch. Als wäre das so ungewöhnlich!“

„Ist es. Du sortierst alles und du hast alles mindestens dreifach! Egal ob Duschgel, Haarwäsche, Deo… sogar Zahnpasta! Wer braucht fünf Tuben Zahnpasta?“

„Ich-… also nur für den Fall-“ Er begann wieder damit, ausladende Gesten zu machen, „Ich will halt nicht jeden Tag gleich riechen. Und so hab ich halt überall die Auswahl. Beim Duschgel, bei der Haarwäsche, beim Deo… Total flexibel.“

„Und die Zahnpasta?“

„Ganz einfach.“ Noch mehr ausladende Gesten, diesmal sogar unterstützt von einer merkwürdigen mimischen Akrobatik, als versuchte er, mir damit irgendeinen Sinn zu vermitteln, für den er gerade keine Worte fand. „Die eine ist schärfer, die andere milder… je nach Stimmung.“ Zufrieden mit seiner Erklärung nickte er auch noch zur Bestärkung.

„Es ist merkwürdig.“

Er schnaufte beleidigt. „Du bist merkwürdig!“

„Wieso machst du das überhaupt? Aus Langeweile?“

Er schlug die Augen nieder, strich sich das Haar aus der Stirn, fast als wäre es ihm unangenehm. „Es ist eine Art Tick, okay?“

Hieß das, es war krankhaft?

Nachdenklich fuhr er sich mit einem Finger über die Augenbraue, während er aus dem Fenster starrte. „Es heißt, ein Genie beherrscht das Chaos. Und das tue ich auch. Wenn ich arbeite oder etwas entwickle, ergibt sich dabei zwangsläufig eine Unordnung. Und das ist auch okay, aber ich merke selbst, wie ich dabei gedanklich genau eine Karte zeichne, wo was liegt.“

Belastete ihn sowas wirklich? War das eine psychische Störung?

„Musst du alles nach irgendwelchen Kategorien sortieren? Ist das zwanghaft?“

„Nein! Ich muss nur wissen, wo was liegt.“ Allein diese Annahme ärgerte ihn, das zeigte sein Blick. „Ich breche nicht zusammen, wenn es unordentlich ist! Es…“, Wieder diese ausschweifenden Handbewegungen. „… macht mich nur irgendwie nervös. Im Badezimmer muss alles an seinem Platz sein, ganz einfach.“

„Also ist das auch nichts anderes, als der Tick, nicht auf Ritzen auf dem Gehweg zu treten. Es bringt einen nicht um, wenn man es nicht schafft, aber es ist angenehmer, wenn es den eigenen Vorstellungen entspricht.“

Er nickte.

Ich winkte beschwichtigend hab. „Jeder hat so eine Macke. Wenn ich Treppen runter laufe, muss ich immer mit jedem Fuß gleich viele Stufen genommen haben.“

Da sah er mich zweifelnd an. „Das ist bescheuert!“

„Sagt der Typ, der Zahnpasta nach Schärfe und Duschgel nach Geruch sortiert.“

„Da steckt wenigstens Logik hinter!“

„Wenn du meinst, Sonnenschein.“ Ich stand auf und streckte mich. „Ich denke, es wird Zeit, etwas zu essen. Wenn du nichts dagegen hast, organisiere ich was.“
 

Ich blieb nicht mehr lange. Nach dem Essen war es schon recht spät und ich musste noch Hausaufgaben machen. Also verabschiedete ich mich relativ früh. Morgen würde ich meinen kleinen Sturkopf ja wiedersehen, wenn er seinen Gehgips bekam. Aber bis dahin musste ich mich auch mal wieder um mein eigenes Leben kümmern.

Und immerhin war das Wochenende doch recht aufschlussreich gewesen. Jetzt wusste ich, dass auch Genies wie Kaiba irgendwelche Macken hatten. Ich lernte, seine Einstellung zu verstehen und seine Mimik zu deuten. Und ich hatte herausgefunden, dass er ein ziemlich schlechter Lügner war, was ja eigentlich auch für ihn sprach.

Und er konnte so schöne große Kulleraugen machen. Und er roch gut. Und irgendwie mochte ich den Kerl einfach.

Streit

Verdammt, ich war spät dran! Die blöde Lehrerin hatte einfach nicht zum Ende kommen können und das Stundenende maßlos hinausgezögert. Obwohl ich so schnell machte, wie ich konnte, kam ich zu spät. Ich sah die Limousine vor dem Krankenhaus stehen, also hastete ich gleich weiter. Ich wusste ja ungefähr, wo ich hinmusste.

Und tatsächlich fand ich Kaiba recht schnell. Er saß auf dem Behandlungstisch und er war den Gips schon mal los. Unauffällig gesellte ich mich zu ihm.

Doktor Hikawe war schon dabei, Kaiba den neuen Gips anzulegen. Aber das, was ich vom Knöchel noch erkennen konnte, sah eigentlich vollkommen normal aus. Als könnte er einfach so aufspringen und damit herumlaufen.

„Sehen Sie nun, wie wichtig es ist, dass Sie sich an meine Anweisungen halten?“, fragte Hikawe. „Die Röntgenbilder haben gezeigt, dass die Fraktur sogar besser verheilt ist, als ich gehofft hatte. Aber Sie sind ja auch noch jung und stark, da sollte sowas auch schnell heilen. Ich rate Ihnen, so schnell wie möglich mit einer Physiotherapie zu beginnen, damit sich der Muskelabbau in Grenzen hält.“

„Physiotherapie?“ Kaiba runzelte die Stirn. „Heißt das, ich soll noch öfter herkommen?“

Wo war das Problem? Er hatte doch viel Zeit.

„Sie können sich auch einen Therapeuten in Ihrer Nähe suchen, solange Sie in drei Wochen zur nochmaligen Kontrolle herkommen. Früher glaubte man, Physiotherapie würde die Heilung verzögern oder beeinträchtigen, aber inzwischen weiß man, dass sie den Heilungsprozess nur noch fördert. Je früher man beginnt, desto geringer ist die Gefahr von Folgeschäden und umso früher sind die Patienten vollkommen beschwerdefrei.“, erklärte er. „Dadurch dass es nur ein Anbruch ist und die Fortschritte wirklich gut sind, denke ich, Sie sollten jetzt mit der Physiotherapie beginnen.“

Damit war Kaiba wohl einverstanden.

„Gut.“ Hikawe lächelte. „Aber Sie werden auch so sehen, dass mit dem Gehgips alles leichter wird.“

Seinem Blick zufolge bezweifelte Kaiba das.

Während der Gehgips trocknete, erklärte Hikawe, was es damit auf sich hatte. „Bei einem Gips besteht immer die Gefahr, dass sich Wasser im Bein sammelt oder sich eine Thrombose entwickelt. Außerdem baut man Muskelmasse ab. Deswegen ist es immer ratsam, einen Gehgips anzubringen, wenn es die Fraktur zulässt, was bei Ihnen ja der Fall ist. Sie können dadurch mit dem Fuß auftreten und normal laufen.“

„Laufen?“ Kaiba horchte auf. „Ich kann wieder normal laufen?“

„Zumindest für eine gewissen Zeit. Ein Gehgips ermöglicht es, im Idealfall ganz ohne Krücken zu laufen. Allerdings sollten Sie es für den Anfang ruhig angehen lassen und doch zumindest die ersten Tage nicht auf die Gehhilfen verzichten. Außerdem ist es für Sie wichtig, zu verstehen, dass das keineswegs bedeutet, Sie könnten den Fuß wieder normal belasten. Sie können damit laufen. Aber nicht den ganzen Tag und keine langen Strecken. Und es ist wichtig, dass Sie den Fuß weiterhin regelmäßig hochlegen und ruhen lassen.“

Trotz der Einschränkungen war das doch schon mal ein riesen Fortschritt. Er konnte wieder laufen. Das war das wichtigste.

Hikawe fuhr fort. „Wenn Sie draußen sind, müssen Sie darauf achten, den Gips nicht den Witterungsverhältnissen auszusetzen. Also kein nasses Gras oder Spaziergänge durch den Regen. Und sollten Sie irgendwelche Beschwerden damit haben, kommen Sie sofort zu mir. Gegebenenfalls müssen wir den Gips dann wechseln. Bei uns gilt die Devise »ein Patient mit Gips hat immer Recht«“

Die Devise gefiel ihm, das sah ich. Aber Kaiba wirkte im Moment sowieso unglaublich erleichtert. Ich hatte seine Augen noch nie so leuchten sehen.

„Beim Treppensteigen werden Sie weiterhin eine Krücke brauchen, aus Sicherheitsgründen. Und Sie werden sich am Anfang vermutlich ein wenig schwer tun, damit zu laufen. Dadurch, dass der Knöchel nicht zu Seite abknicken kann, wird es ein wenig gewöhnungsbedürftig sein. Aber Sie können mit dem Fuß ganz normal abrollen. Und wenn Sie das mit dem Laufen nicht hinkriegen, wird Ihnen auch dabei ein Physiotherapeut helfen können.“

Das klang doch alles ganz gut. Scheinbar auch für Kaiba, denn er wirkte ungewöhnlich ungeduldig, während Hikawe noch einmal den richtigen Sitz des Gipses kontrollierte.

„Dann treten Sie jetzt mal damit auf!“, forderte er.

Bereitwillig rutschte Kaiba vom Behandlungstisch. Allerdings trat er nur mit dem gesunden Bein auf, das andere hielt er doch noch vom Boden fern.

„Na los, Sie können mir vertrauen, dass es schon in Ordnung ist, wenn Sie auftreten.“

Vielleicht erinnerte sich Kaiba gerade daran, wie schmerhaft es das letzte Mal für ihn gewesen war. Zumindest zögerte er. Nur langsam und wirklich äußerst behutsam setzte er mit dem Gips auf dem Boden auf. Und er schien selbst überrascht zu sein, dass es nicht wehtat.

„Es geht wirklich.“, hauchte er.

„Na sehen Sie.“ Hikawe drückte ihm die Krücken in die Hand. „Und zuhause können Sie sich vorsichtig herantasten. Machen Sie nicht mehr, als Sie sich zutrauen, aber nutzen Sie ruhig die Möglichkeit, zu laufen.“

Kaiba nickte nur. Er schien immer noch ganz erstaunt, dass er tatsächlich auftreten konnte. Fast wie hypnotisiert starrte er seine Füße an. Und trotzdem stütze er sich wieder auf die Krücken, als wir das Krankenhaus verließen. Vielleicht wollte er es langsam angehen lassen. Zumindest legte er auch in der Limousine den Fuß sofort hoch.

„Traust du deinem Gehgips noch nicht?“, spöttelte ich.

„Ich gehe es nur langsam an.“ Er warf mir einen giftigen Blick zu. „Problem damit?“

„Ist dein Fuß. Aber freu dich doch, dass du jetzt viel mobiler bist als vorher. Hätte nicht gedacht, dass du damit wirklich laufen darfst.“

„Ich auch nicht.“ Er warf erneut einen Blick auf den neuen Gips und wieder begannen seine Augen zu leuchten. Auf seine Lippen stahl sich sogar ein schwaches Lächeln. Obwohl es ihm schmeichelte, wirkte es bei ihm immer ein wenig schüchtern, irgendwie jungenhaft. Aber er sah wirklich schön damit aus, besonders, weil er sich heute wieder in Schale geworfen hatte. Er trug wieder einen Anzug und sein Haar war ordentlich nach hinten gekämmt.

„Wieso hast du dich so zurechtgemacht?“

„Ich kann ja schlecht herumrennen wie frisch aus der Mülltonne gekrabbelt.“

Ich runzelte kritisch die Stirn. „Das war dir die letzte Woche aber auch egal.“

„Erstens bin ich auch da nicht schlampig herumgelaufen und zweitens war ich da zuhause und nur du anwesend.“

„Ach, ich bin es also nicht wert, dass du dich für mich schick machst, ja?“

„Warum sollte ich das tun? Reicht dir mein legeres Hausoutfit nicht?“

„Doch… ist mir doch egal, wie du rumrennst.“

Egal, was ich sagte, das Lächeln blieb auf seinen Lippen. Anscheinend bedeutete ihm dieser Fortschritt unglaublich viel. Und es war ansteckend. Wenn ich ihn ansah, kam es mir so vor, als würde sein Glück auf mich überspringen. Also erwiderte ich sein Lächeln und genoss genau wie er einfach den Augenblick.

Als wir in der Villa ankamen, wollte er geradewegs die Treppe hoch, aber ich hielt ihn zurück. „Willst du nicht erst mal unten bleiben? In den Garten oder so? Du musst dich doch jetzt nicht mehr in deinem Zimmer verschanzen.“

Er überdachte meinen Vorschlag. „Im Garten ist es aber zu sonnig.“

Da fiel mir erst auf, dass die Rötung von gestern wirklich weg war. Also war es wirklich kein Sonnenbrand gewesen. Aber es zeigte trotzdem seinen empfindlichen Hauttyp. „Dagegen gibt es Sonnencreme.“

Das leuchtete ihm ein.

„Aber vorher machen wir dir was zu essen.“, beschloss ich.

„Weil du Hunger hast?“

„Exakt.“ Ich ging voran, während er mir hinterher humpelte.

In der Küche setzte er sich auf die Anrichte neben dem Herd und sah mich abwartend an.

„Was willst du essen?“, fragte ich erwartungsvoll.

„Du hast Hunger.“

„Und du keine Meinung?“

„Ich bin nicht wählerisch.“

„Ach nein?“ Das bezweifelte ich jetzt doch ein bisschen. Wer reich war, hatte die Wahl und war demzufolge garantiert auch wählerisch. „Sind Nudeln deinem verwöhnten Gaumen genehm?“

„Das wird sich zeigen.“

„Wann?“

Er wiegte geheimnisvoll den Kopf hin und her. „Wenn es fertig ist.“

„Und wenn es dir nicht schmeckt?“

„Dann musst du danach etwas anderes kochen.“

„Großartig!“, knurrte ich. „Aber da ja nur ich Hunger habe, dürfte es ja egal sein, ob es dir schmeckt oder nicht.“

„Das ist ziemlich egoistisch.“, bemerkte er trocken.

„Mir doch egal. Ich koche und entweder du isst es oder lässt es!“

Er warf mir einen beleidigten Blick zu und schwieg. Anscheinend schmollte er.

Egal, ich machte mich daran, diese gigantische Küche nach Zutaten und Kochgeschirr zu durchsuchen. Kaiba hätte mir ja einfach helfen können, aber er grollte mir wohl wirklich. Ich fand aber auch so, was ich suchte. Es dauerte eben nur länger. Während ich Nudeln aufsetzte und eine Tomatensauce aus keine Ahnung was improvisierte, merkte ich ihm Augenwinkel, wie Kaiba vom Tisch glitt. Was hatte er denn vor?

Ganz vorsichtig stellte er sich mit beiden Beinen auf den Boden. Wollte er versuchen, zu laufen? Ich lehnte mich an den Tresen und sah gespannt zu, wie er ganz langsam und zögerlich den Gips vorschob. Aber er haderte damit, den anderen vom Boden zu lösen, als würde er dem ganzen noch nicht vertrauen.

Da! Bevor er wirklich den Schritt wagte, zog er sich doch eine Krücke zur Hilfe heran. Erst damit wagte er es tatsächlich, den gesunden Fuß vom Boden zu lösen und sich auf den Gips zu stützen. Und auch wenn es nur kurz und mithilfe der Krücke war, so hatte er doch tatsächlich einen ersten Schritt gewagt.

„Wie fühlt es sich an?“, fragte ich leise.

„Merkwürdig. Als würde man auf Eiern laufen.“

„Aber es funktioniert und das ist die Hauptsache.“

„Ja…“ Er lächelte schwach. „Es wird funktionieren.“

Zuversicht stand ihm zumindest wesentlich besser als Resignation. Aber noch reizte er seine neugewonnene Mobilität nicht aus. Nach dem ersten Schritt schwang er sich wieder auf die Anrichte und sah mir weiter beim Kochen zu.

Als die Nudeln fertig waren, kippte ich sie in eine Schüssel und stellte sie neben den Herd, während ich mich weiter um die Sauce kümmerte. Doch plötzlich zupfte Kaiba sich ein paar Nudeln heraus, einfach so, und steckte sie sich in den Mund. Welch barbarisches Benehmen!

„Die sind etwas zu salzig.“, bemerkte er.

Ach? „Weißt du, dass es ziemlich unhöflich ist, einfach mit bloßen Händen in die Schüssel des Koches zu langen?“ Ich zog sie von ihm weg, damit er nicht nochmal hineingreifen konnte.

„Weißt du eigentlich, dass es mindestens genauso unhöflich ist, ungefragt in fremden Küchen zu kochen?“, bemerkte er trocken, „Und da das meine Schüssel ist, zählt dein Argument sowieso nicht.“

„Wenn meine Kochkünste so unhöflich sind, werde ich dich mit dem Resultat nicht belästigen! Und es ist Mokubas Schüssel.“

„Und da Mokuba mein Bruder ist und kein eigenes Geld verdient, sondern nur Taschengeld von mir bekommt, ist es doch meine.“

„Du willst also deine Schüssel wieder?“ Genervt kippte ich die Nudeln auf den Tisch und drückte ihm die leere Schüssel in die Hand. „Dann werde glücklich damit!“

Damit hatte er nicht gerechnet. Er sah mich nur vollkommen verwirrt an, also könnte er nicht fassen, dass ich ihm so patzig kam.

„Wenn du was essen willst, dann hör auf mich zu kritisieren. Also halt die Klappe, behalt die Finger bei dir und geh mir nicht auf den Keks!“

Unwillkürlich zog er die Schüssel fester an sich. Man, wenn er mich so ansah, bekam ich fast ein schlechtes Gewissen.

„Das ist mein Haus.“, murmelte er, allerdings nicht gerade mit Nachdruck.

„Aber ich koche!“

Dagegen sagte er nichts mehr. Sieg für mich. Da er jetzt ruhig war, konnte ich mich darauf konzentrieren, der Sauce irgendwie zu Geschmack zu verhelfen. Aber egal, was ich dazugab, irgendwie schmeckte es einfach fad. Vielleicht war ich kein guter Koch, aber es würde schon gehen.

Doch gerade als ich anrichten wollte, merkte ich, dass Kaiba verschwunden war. Aber wohin? Hatte ich ihn vertrieben?

Etwas ratlos machte ich mich auf die Suche. Wo könnte er denn stecken? Als erstes sah ich in sein Zimmer, aber da war er nicht. Auf der Terrasse auch nicht. Unten im Wohnzimmer auch nicht.

Verdammt, die Villa war so riesig, dass es ewig dauern würde, ihn zu finden. Woher hätte ich denn auch wissen sollen, dass er gleich beleidigt sein und abhauen würde?

Nach einer gefühlten Ewigkeit brach ich die Suche schließlich ab. Der würden schon wieder auftauchen und ich hatte Hunger. Jetzt würde das Essen zwar kalt sein, aber viel versauen konnte man daran eh nicht mehr.

Und zu meiner Überraschung fand ich in der Küche auch Kaiba wieder. Er saß wieder auf dem Tresen, als wäre nichts gewesen und sah mich unverwandt an. In den Händen hielt er seine Schüssel, inzwischen gefüllt mit Nudeln, vermischt mit einer Sauce, die besser aussah, als meine Kreation.

„Wo hast du das denn her?“, fragte ich verblüfft. Ich tat hier mein Bestes, um zu kochen und er zauberte einfach von irgendwo sein eigenes Essen her.

„Für so etwas beschäftige ich einen Koch.“

Seine Stimme klang auf einmal kühler, distanzierter. Und auch sein Blick wirkte feindseliger als zuvor.

„Oh…“ Mehr konnte ich dazu nicht sagen. Mich irritierte sein Verhalten ungemein. Was war denn in ihn gefahren?

Er schwang sich von der Anrichte, stellte sich auf beide Beine, nur um mich eiskalt niederzustarren. „Das hier ist mein Haus! Und meine Küche!“ Er tat einen Schritt auf mich zu. „Mir scheint, du hast vergessen, welche Besitzverhältnisse hier bestehen. Du hast mir in meinem Haus nicht zu sagen, was ich zu tun oder wie ich mich zu verhalten habe! Und du hast dich erst recht nicht wie der Hausherr aufzuführen!“

Oha! Er markierte sein Revier. Vielleicht war ich ihm gegenüber wirklich ein bisschen zu vorlaut geworden. Ich hatte vergessen, dass wir keine Freunde waren und er auch nicht der Typ, der sich lange auf der Nase herumtanzen ließ.

„Wenn du in der Küche kochen willst, in Ordnung. Aber frag mich doch erst, verdammt nochmal!“

Ich senkte betreten den Blick. „Es tut mir Leid.“

Geräuschvoll knallte er neben mir die Schüssel auf den Tisch. „Iss! Und dann gehst du nach Hause.“ Sein Blick war eindringlich und zeigte mehr als deutlich, dass er mich nicht bat. Er ging zurück zum Tresen und schnappte sich die Krücke. Stimmt, er war eben die Schritte wirklich ohne Hilfe gelaufen. Aber statt sich darüber zu freuen, machte er mich nieder.

„Es wäre nett, wenn du die Schweinerei entfernst, bevor du gehst.“ Er deutete auf die Nudeln, die ich vorhin auf den Tisch gekippt hatte. Dann humpelte er davon.

Etwas sprachlos blieb ich zurück. Das… war wirklich äußerst überraschend gekommen. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass er mich nicht in seinem Haus schalten und walten lassen würde wie ich wollte. Er war von Natur aus ein dominanter Mensch und er würde nicht zulassen, dass jemand ihm die Zügel aus der Hand nahm. Sein Haus, sein Herrschaftsbereich.

Seufzend machte ich mich daran, die Sauerei zu beseitigen und auch gleich meine selbst kreierte Sauce wegzuschütten. Eher lustlos probierte ich nebenbei die Nudeln aus der Schüssel, die Kaiba hingestellt hatte. Wow… das Essen war echt der Hammer. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so etwas Gutes gegessen zu haben. Und Kaiba konnte das bekommen, wann immer er wollte? Zum Glück war er abgehauen, bevor er meins probiert hatte. Damit konnte ich auf keinen Fall konkurrieren.

Aber wie hatte er bei einem so guten Essen einfach abhauen können, ohne davon wenigstens zu probieren? Egal, ich musste ihn sowieso suchen, um mich zu entschuldigen und mit ihm ins Reine zu kommen. Ich wollte nicht, dass er mich jetzt wieder ausschloss, auch wenn mir klar war, dass seine neugewonnene Mobilität auch dafür sorgte, dass er nicht mehr zwingend auf meine Gesellschaft angewiesen war. Aber es wäre nicht fair. Ich hatte ihn begleitet, als er darauf angewiesen war und damit hatte ich ja wohl verdient, auch weiter behelligt zu werden.

Ich nahm die Schüssel mit und machte mich auf die Suche. Erstaunlicherweise fand ich ihn recht schnell, und zwar im Garten. Ich war einfach mal meinem Gefühl gefolgt und fand ihn ziemlich weit hinten im Garten, an dem kleinen Teich, den ich auch schon von seiner Terrasse auch gesehen hatte.

Vorsichtig ging ich näher heran. Er saß im Gras und beobachtete die Fische im Teich. „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte ich leise.

Er sah auf, nicht im Mindesten von meinem Erscheinen überrascht, aber er antwortete auch nicht. Also setzte ich mich einfach. Er ließ mich dabei nicht aus den Augen. Irgendwie konnte ich seinen Blick nicht so recht deuten. Er starrte mich so durchdringend an, als würde er mein Gehirn scannen, aber seine Augen waren dabei dunkel und verschlossen, so dass ich seine momentane Stimmung nicht einschätzen konnte.

Also begann ich einfach mal. „Ich wollte mich entschuldigen. Du hast recht, ich habe mir dir gegenüber zu viel herausgenommen. In Zukunft werde ich mich mehr zurückhalten.“

Ich hatte jedes Wort auch so gemeint und meine Entschuldigung war absolut aufrichtig. Allerdings schien sie ihn nicht gerade zufrieden zu stellen. Er schraubte nur unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe, maß mich mit diesem kritischen Blick. Normalerweise hätte mich das unruhig werden lassen, aber ich konnte das inzwischen ganz gut durchschauen. Durch sein Schweigen wollte er mich verunsichern und strafen. Aber ich hatte schon lange begriffen, dass ich mich zur Ruhe zwingen musste, wenn ich bei ihm etwas erreichen wollte. Wenn ich auf seine Spielchen hereinfiel, ließ er mich eiskalt auflaufen.

Ich hielt ihm die Schüssel mit den Nudeln hin. „Die sind wirklich gut.“

„Ich weiß.“ Allerdings schenkte er der Schüssel keine Beachtung.

„Willst du nicht probieren?“

„Nein. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nach Hause gehen?“ Er klang irgendwie genervt.

„Schon…“, murmelte ich. Meinte er das ernst?

„Dann geh endlich! Nimm die Schüssel meinetwegen mit.“ Etwas unbeholfen stand er auf und stützte sich auf seine Krücke. „Ich fürchte, du verstehst nicht ganz, wie genau unsere Beziehung zueinander ist. Wir sind keine Freunde und ich habe auch kein Interesse, etwas daran zu ändern.“

„Und warum hast du mich dann die letzte Woche geduldet?“ Verärgert fuhr ich auf, „Nur damit ich die unterhalte?“

„Ich kann mich nicht erinnern, dich darum gebeten zu haben.“ Unbeeindruckt hielt er meinem Blick stand.

„Du hast es aber auch nicht ausgeschlagen!“

„Ich habe dir die Gelegenheit gegeben, Abbitte zu leisten, da du schließlich der Grund für das hier…“ Er klopfte mit der Krücke gegen den Gips. „… bist. Aber jetzt reicht es. Du hast deine Schuld beglichen, ich vergebe dir. Also verschwinde!“

Dass er das so ruhig sagen konnte, machte mich rasend! Abbitte? Was hatte der Typ denn für eine merkwürdige Sicht auf die Dinge? Dachte er wirklich, ich hätte nur mein schlechtes Gewissen beruhigen wollen?

„Also willst du, dass ich gehe und dich in Ruhe lasse?“

„Exakt.“

Ich schnaufte verärgert. Es war wirklich schwer, die Fassung zu wahren, wenn er sich so aufführte.

„Du weißt ja, wo der Ausgang ist.“ Er wandte mir den Rücken zu und humpelte zurück zum Haus.

„Du benimmst dich wie ein riesen Idiot!“, fauchte ich.

„Sollte für dich doch nichts Neues sein.“

Er ließ mich eiskalt abblitzen! Sein Entschluss stand fest, und was ich davon hielt war ihm völlig egal. Vollkommen gelassen setzte er seinen Weg fort.

„Du egoistisches Arschloch!“, schrie ich wütend. „So kannst du mit mir nicht umgehen!“

Da blieb er doch stehen. Er wirbelte zu mir herum und starrte mich eiskalt nieder. So einen fiesen Blick hatte ich bei ihm schon lange nicht mehr gesehen. „Ich habe mich dir gegenüber nie verstellt.“ Wahnsinn! Seine Stimme war sowohl tadelnd als auch eindringlich. Wenn er nicht schrie, um sich durchzusetzen sondern ruhig blieb, wirkte das wesentlich eindrucksvoller. „Dein kindischer Verstand hat dich vielleicht zu der Annahme verleitet, wir würden Freunde werden, nur weil wir es tatsächlich einige Tage ausgehalten haben, ohne uns an die Gurgel zu gehen. Das wird aber nicht passieren, okay? Ich brauche keine Freunde wie dich!“

„Weil du zu arrogant bist, um Freunde zu haben!“

„Weil du nicht auf meinem Niveau bist.“, entgegnete er kühl.

„W-was soll das heißen, du Mistkerl?“, schrie ich.

„Du bist intellektuell keine gute Gesellschaft. Du bist faul, ungebildet, unkonzentriert, unfokussiert und auch noch stolz darauf! Du weißt nicht, was du willst oder kannst und du gibst dir auch keine Mühe es herauszufinden. Du wirst nie etwas erreichen, denn du bist nur unterster Durchschnitt der Gesellschaft und wirst dich nie darüber erheben. Dementsprechend ist auch dein Wortschatz und dein Themenspektrum. Und ich habe kein Interesse an diesem hohlen Geschwafel, das du und deine Freunde so gerne betreiben. Also kehr zurück zu deiner süßen kleinen Kindergartengruppe und lass mich in Ruhe!“

Großartig! Er sagte mir eiskalt ins Gesicht, dass er mich für dumm und unreif hielt.

„Du denkst also, ich bin deinem Verstand nicht gewachsen.“, entgegnete ich gezwungen ruhig. „Aber du kennst mich überhaupt nicht genug, um mich vernünftig einschätzen zu können.“

„Ich verspüre auch nicht den Drang, etwas daran zu ändern. Das Gespräch ist beendet!“ ohne mich noch einmal zu Wort kommen zu lassen, ließ er mich stehen.

Das wars also? Er schoss mich ab wie eine billige Affäre?

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits verstand ich, dass ihn meine Aktion mit dem Kochen verärgert hatte, ich verstand sogar, dass er mir gegenüber sein Revier markierte, aber ich hasste ihn für diese arrogante Art, mit der er mich abgeschossen hatte. Als wäre ich ein blödes Spielzeug, das ihm nun langweilig geworden war. Ich hatte wirklich gedacht, zwischen uns wäre alles gut, wir könnten sogar Freunde sein. Aber vielleicht hatte ich doch zu viel in all das hineininterpretiert. Vielleicht hatte sich letztendlich doch nichts zwischen uns geändert. Er war nach wie vor ein reiches verwöhntes Arschloch und wir würden nie auf einen gemeinsamen Nenner kommen.

Klang logisch. Nur warum konnte ich mich dann nicht damit abfinden?

Wiedersehen

Zwei Wochen vergingen, ohne dass ich Kaiba wiedersah. Ich versuchte gar nicht erst, auf sein Grundstück zu kommen, immerhin hatte er ja ziemlich deutlich gemacht, dass er meine Gegenwart nicht mehr wünschte.

Kam ich mir von ihm ausgenutzt vor? So ziemlich. Als wäre ich sein persönlicher kleiner Hofnarr gewesen, als er gerade Langeweile schob und sobald er mich nicht mehr brauchte, setzte er mich vor die Tür.

Aber trotzdem blieb da immer dieser bittere Beigeschmack. Kaiba hatte recht damit, dass er mich nicht um meine Gesellschaft gebeten hatte. Also konnte ich ihm nicht vorwerfen, wenn er nun meine ihm auferlegte Nähe zurückwies. Außerdem konnte ich einfach nicht vergessen, wie aufrichtig und unverfälscht er sich die ganze Zeit gegen hatte. Kaiba in Natura war faszinierend, in gewisser Weise vielleicht auch anregend. Zähneknirschend musste ich mir sogar eingestehen, dass sein Aussehen äußerst ansprechend war.

Und gleichzeitig musste ich mir eingestehen, dass er auch mit seinem zweiten Argument recht hatte. Er war so intelligent… wie sollte ich ihm da schon angemessene Unterhaltung bieten. Dafür war ich nicht gebildet genug. Ich konnte seinen Gedankengängen nicht folgen und keine anregenden Diskussionen mit ihm führen. Klar, dass ihn das auf Dauer langweilte.

Unfassbar! Er benahm sich wie ein Arschloch und ich verzieh ihm das, suchte sogar die Schuld bei mir. Nicht nur das, ich hatte sogar nach dem Streit noch an mir gearbeitet, um seine Kritikpunkte an meinem Äußeren zu beseitigen. Ich hatte mir die Haare schneiden lassen, regelmäßig die Hände eingecremt, die Nägel gesäubert und neue Klamotten im Second Hand Laden gekauft, die besser passten. Wie dumm war das eigentlich? Irgendwas war doch nicht richtig mit mir!
 

Heute war der letzte Schultag. Zeugnistag.

Ich war nicht sonderlich überrascht, dass meines mal wieder unter aller Sau war, aber solange ich in die nächste Klasse versetzt wurde, interessierte mich das wenig.

Doch dann legte die Lehrerin ein zweites auf meinen Platz, eines das besser nicht hätte sein können. Wirklich nur Einsen, in jedem Fach. Ich war nicht überrascht, als ich den Namen las. Seto Kaiba. War ja klar!

„Was soll ich damit?“, fragte ich unwirsch. Gerade war ich halbwegs über den elenden Sturkopf hinweg und dann konfrontierte mich unsere Klassenlehrerin damit.

„Mokuba Kaiba hat mich gebeten, Ihnen das Zeugnis von Herrn Kaiba mitzugeben.“ Mehr sagte sie nicht.

Hatte Mokuba denn nicht mitbekommen, dass sein Bruder nichts mehr mit mir zu tun haben wollte?

Ich legte beide Zeugnisse nebeneinander. Daran sah man so deutlich den Unterschied zwischen uns, wie man es besser gar nicht zu Papier hätte bringen können. Bei ihm tadellose Perfektion, selbst in der Beurteilung. Sogar das Papier sah weißer aus als bei mir. Mein Zeugnis war dagegen der deutliche Beweis dafür, wie weit entfernt ich vom perfekt sein war. Lauter Dreien und Vieren, eine Fünf, eine Eins. Ich war so konsequent durchschnittlich, dass ich innerlich gerade Kaibas Beurteilung meiner Person als vernichtend aber wahr annahm.

Da bekam man doch glatt Depressionen!

Niedergeschlagen schlurfte ich nach der letzten Stunde auf den Schulhof. Ich würde Mokuba noch das Zeugnis geben und mich dann zuhause vergraben. Vielleicht würde ich darüber nachdenken, was ich im Leben überhaupt erreichen wollte. Oder mich ertränken. Mal schauen.

Schnurstracks lief ich auf Mokuba zu, als ich ihn endlich in einer Gruppe entdeckte. Ich hielt ihm auffordernd das Zeugnis entgegen.

„Ah, Setos Zeugnis.“ Er warf einen flüchtigen Blick drauf, nahm es mir aber nicht ab. „Perfekt wie immer. Bringen wir es ihm.“

„Wir?“ Ich hob abwehrend die Hände. „Ich bin unerwünscht, falls du das nicht gemerkt haben solltest.“

„Ach!“ Mokuba winkte ab. „Das hat er bestimmt nicht so gemeint.“

Und ob er das hatte! Aber obwohl ich das wusste, ließ ich mich von Mokuba in seine Limousine schleifen und zum Anwesen mitnehmen. Wer wusste schon, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit bekam. Außerdem war ich gespannt, ob Kaiba mich wieder rauswerfen würde oder sich inzwischen tatsächlich beruhigt hatte. Nach zwei Wochen müsste er ja einige Fortschritte gemacht haben. Vielleicht machte ihn das auch erträglicher.

„Und?“, fragte ich angespannt. „Wie kommt dein Bruder so zurecht?“

„Hm...“ Mokuba sah aus dem Fenster, als müsste er scharf nachdenken. „Zumindest schont er seinen Fuß und macht brav die Physiotherapie.“

„Aber?“

Er zuckte vage mit den Schultern. „Mein Bruder ist ein Genie. Ich verstehe nicht ganz, was er macht, aber er kapselt sich dafür ziemlich von der Außenwelt ab.“

Naja, Einzelgänger war er doch schon immer gewesen. „Inwiefern denn?“

„Wenn Seto erst mal in seiner kleinen Erfinderwelt abtaucht, ist er einfach nicht mehr ansprechbar, quasi vollkommen weggetreten.“

Ich wusste jetzt nicht so genau, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Wollte mich dieser Zwerg schon wieder rekrutieren, um seinen Bruder zu beschäftigen? Das würde ich kein zweites Mal mitmachen! Kaiba würde mich doch sowieso wieder vor die Tür setzen, wenn er genug bespaßt worden war. Nein, ich machte nur einen kurzen Anstandsbesuch und damit hatte sich die Sache.

Je näher das Treffen mit Kaiba rückte, desto tiefer sank meine Laune. Ich war ziemlich sicher, dass es nur in einem Streit enden konnte.

Wir traten ein, ohne anzuklopfen. Hätte aber vermutlich auch gar keinen Sinn gemacht, denn was ich sah, ließ mich wirklich an Kaibas Verstand zweifeln. Er saß auf dem Fußboden, inmitten von lauter Schrauben und Metallschrott. Was er da eigentlich tat, konnte ich nicht sehen, aber er schien etwas zu basteln. Unser Erscheinen hatte er gar nicht bemerkt.

Ein merkwürdiger Anblick. Er war wirklich vollkommen in sein Tun vertieft, wie Mokuba gesagt hatte.

„Ich habe Joey und dein Zeugnis dabei.“, rief Mokuba so laut, als würde er mit einem Schwerhörigen sprechen.

Kaiba nickte nur, löste seinen Blick aber nicht von dem, was er in der Hand hatte. Irgendwie erinnerte mich das an meinen Modellbaukasten aus Kindertagen. Nur fraglich, ob Kaiba wirklich Sinn für sowas hätte.

„Hast du mir zugehört?“, fragte Mokuba.

Kaiba knurrte nur. „Leg das Zeugnis auf den Schreibtisch und dann verschwinde!“

Na bitte. Er hörte sehr wohl zu. Und wenn er sich ein beinschonendes Hobby gesucht hatte, verstand ich nicht, wo jetzt das Problem lag. Nur weil er ein bisschen unhöflich war? Als ob das was Neues wäre!

Ich warf das Zeugnis auf den Schreibtisch und wandte mich um zum Gehen, doch da stieß Mokuba mich grob in Richtung Sofa. Ich sank darauf nieder, ohne wirklich etwas dagegen tun zu können. Aber was wollte er denn von mir?

Kaiba wünschte meine Anwesenheit nicht und er war doch sehr gut beschäftigt. Was sollte ich denn da noch machen? Und noch besser. Mokuba verschwand einfach mit der knappen Ansage, ich solle hier auf ihn warten. Na super!

Aber ich war ja ein netter umgänglicher Mensch. Also wartete ich wirklich. Ewig.

Gelangweilt sah ich Kaiba bei seinem Treiben zu. Er ignorierte mich vollkommen, allerdings schien es ihm auch egal zu sein, dass ich hier war, sonst hätte er mich schon vor die Tür gesetzt.

Mein Blick glitt über seine Gestalt. Irgendwie sah ich ihn wirklich gerne an, obwohl er schon wieder so blass wirkte. Vermutlich hatte er die letzten zwei Wochen kaum das Zimmer verlassen. Er trug T-Shirt und kurze Hosen, sein Haar umrahmte locker sein Gesicht, betonte seinen hochkonzentrierten Gesichtsausdruck. Ja, ihn so betrachten zu dürfen, ließ mich fast schon wieder wünschen, ich könnte ihm wieder mehr Gesellschaft leisten.

Ich wurde nicht schlau daraus, was er eigentlich machte. Auf einem Blatt Papier hatte er einige besonders kleine feine Schräubchen. Im Stillen bewunderte ich ihn ein bisschen dafür, wie geschickt er die in seinem Modell montierte. Anscheinend hatte er wirklich unfassbar viel Feingefühl und Talent in den Fingern. Und er arbeitete mit so viel Liebe zum Detail daran.

Nachdem sein Blick eine gefühlte Ewigkeit an seinem kleinen Bauwerk geklebt hatte, löste er ihn endlich davon. Ich dachte schon, jetzt würde er sich vielleicht mal mit mir befassen, aber von wegen! Stattdessen starrte er jetzt intensiv seinen gesunden Fuß an. Er bewegte die Zehen, streckte den Fuß, zog die Zehenspitzen wieder zu sich hin und wiederholte das einige Male. Dann glitt sein Blick wieder zu seinem Modell.

Und dann stagnierte er.

Als wäre er ein Roboter, dem die Batterien entnommen worden waren, saß er einfach nur da, den Blick auf das Modell gerichtet.

Unruhig rutschte ich hin und her. Inzwischen saß er schon einige Minuten so. War er jetzt kaputt?

Etwas unschlüssig stand ich auf und ging näher heran. Bis jetzt war mir gar nicht aufgefallen, dass sein eingegipster Fuß auf dem Boden lag. So viel dazu, dass er aufpasste. Ich holte ein Kissen vom Bett und schob es unter den Gips. Er sah nicht mal auf, als ich sein Bein dafür vorsichtig anhob.

Wahnsinn, ich hatte bei ihm noch nie so ein tiefgehendes Stadium der Konzentration gesehen. Man erkannte es an seinen Augen, die obwohl fest auf das Modell fixiert, so aufmerksam wie noch nie wirkten.

Jetzt konnte ich auch das erste Mal genauer sehen, was er da eigentlich baute. Es war ein Gerüst, ein Konstrukt. Ah, jetzt verstand ich. Anscheinend sollte das ein mechanischer Fuß werden, ähnlich wie die mechanischen Hände zuvor. Genial. Kaiba arbeitete offensichtlich nicht nach Skizzen oder Vorlagen sondern nach Augenmaß. Und im Moment übertrug er wohl gedanklich die beobachteten Bewegungen seines Fußes auf das Modell. Als würde er das wirklich so locker nebenbei mal umrechnen können.

Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, hieß das wirklich, sein Gehirn würde in Dimensionen arbeiten, die für einen Normalsterblichen immer unergründlich bleiben würden. Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Gruselig!

Während Kaiba weiter vor sich hinstarrte, betrachtete ich den Metallschrott um ihn herum. Aber Schrott war das definitiv nicht. Anscheinend waren das die einzelnen Teile für den Fuß, in liebevoller Feinarbeit präpariert, zurechtgebogen und geschliffen. So locker aus dem Handgelenk schüttelte man so ein Modell dann wohl doch nicht. Wenn ich mir das Ganze so anschaute, dauerte es vermutlich eine halbe Ewigkeit, das alles vorzubereiten.

Aber selbst ein Genie wie Kaiba musste doch ansatzweise Notizen fertigen, oder nicht? Er konnte sich doch nicht nur im Kopf ausmalen, wie diese ganzen Einzelteile auszusehen hatten. Schließlich mussten die garantiert millimetergenau angefertigt werden.

Da Kaiba sowieso nicht ansprechbar war, stand ich einfach mal auf und schlenderte zu seinem Schreibtisch. Ich ließ mich in seinen Sessel fallen und sah mich um. Auf dem Tisch lag ein Buch über Anatomie. Ich blätterte es durch, bis ich auf eine Seite stieß, auf der der Aufbau des Fußes dargestellt war. Wahnsinn, wie viele Sehnen, Knochen und Muskeln das waren, damit sich der Fuß bewegen konnte. Und all das wollte Kaiba auf sein Modell übertragen?

Neben der Darstellung waren mit Bleistift kleine Notizen eingetragen. Einzelne Zahlen und Buchstaben, dessen Sinn sich mir nicht wirklich ergab. Mehr fand ich auf dem Tisch nicht. Keine weiteren Notizen oder Zettel. Also arbeitete er nur nach der Abbildung aus dem Buch und den einzelnen Zahlen und Buchstaben? Absurd!

Kaibas Gedankenwelt war einfach nur merkwürdig.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Kaiba jetzt dazu ansetzte, in seinem Tun fortzufahren. Zielsicher fischten seine Finger einzelne Teile und fädelten sie in das Modell.

Schwungvoll flog die Tür auf und Mokuba kam herein. Sein Blick glitt flüchtig zu seinem Bruder, ehe er zielsicher auf mich zukam.

„Siehst du jetzt, was ich meine?“, raunte er. „Absolut kein Herankommen.“

„Aber ist doch genial, was er da macht.“

Mokuba verdrehte die Augen. „Und wenn schon! Dafür vergisst er aber alles andere. Er macht keine Pause dabei, verstehst du? Er schläft kaum, er isst nichts. Wenn nicht die Physiotherapie dazwischen kommen würde, würde er vermutlich gar nicht mehr aus seinem Zimmer kommen.“

Okay, das klang jetzt schon wieder nicht so gut, obwohl es natürlich wieder zu Kaiba passte. Wenn er etwas in Angriff nahm, dann mit ganzem Einsatz, egal, ob er sich dabei selbst aufrauchte. Er neigte ja immer dazu, in Extreme zu verfallen.

Aber sollte man ihn deswegen von seiner Arbeit abhalten? Vielleicht verlor er dann den Faden und konnte das Modell nicht beenden. Immerhin erforderte das ja wirklich ein hohes Maß an Konzentration.

Ich erinnerte mich daran, dass er mir mal gesagt hatte, er würde sich in Gedanken einen Plan erstellen, wo welcher Gegenstand lag. Wenn man ihn da herausriss, würde er doch bei seinem Chaos gar nicht mehr durchsehen.

„Wann muss er denn wieder zur Physiotherapie?“

„Morgen. Er muss zweimal die Woche diese Therapie machen und dabei abwechselnd eine Sitzung hier und eine Sitzung in der Praxis.“

„Und morgen?“

„Hier.“

„Na gut, pass auf.“ Ich überlegte mir schnell einen Schlachtplan. „Ich sage, wir lassen ihn machen. Soll er sich austoben, bis er fertig ist oder nicht mehr kann und dann päppeln wir ihn wieder auf.“

Mokuba sah mich zweifelnd an.

„Wenn er sein kleines Projekt da beenden kann, wird er bestimmt auch wieder ansprechbarer sein. Aber wenn wir ihn da rausreißen, bleibt das immer in seinem Hinterkopf und damit hilfst du ihm nicht.“

Er senkte den Blick. „Okay… aber kannst du dann auf ihn aufpassen?“

Schon wieder diese billige Babysitter-Nummer? Na Klasse! Und trotzdem nickte ich es ab.

Als Mokuba wieder verschwunden war, lehnte ich mich im Sessel zurück und dachte angestrengt nach. Eigentlich hatte ich mir doch vorgenommen, mich nicht schon wieder verbraten zu lassen. Warum war ich dann wieder weich geworden? Weil Kaiba so ein sehenswerter Anblick war? So bewundernswert für seine Genialität? Ich wusste es nicht, aber irgendetwas hatte mich einknicken lassen.

„Auch wenn ich beschäftigt bin, heißt das nicht, dass ich euch nicht hören kann.“, murmelte Kaiba, unterbrach dabei aber nicht seine Arbeit.

„Ich weiß.“ Im Gegensatz zu Mokuba glaubte ich nicht, dass er komplett weggetreten war. „Und ich halte dich auch nicht für ein kleines Kind, das ich beaufsichtigen muss.“

Es war nur eine winzige Verzögerung in seiner sonst so fließenden Handbewegung, die mir verriet, dass ich genau seinen Gedanken erraten hatte. Aber weiter davon beirren ließ er sich nicht.

„Dann kannst du ja gehen!“, murrte er.

„Könnte ich.“ Ich schwang mich aus dem Stuhl und streckte mich ausführlich. „Aber dafür komme ich morgen wieder und schau mir an, wie deine Physiotherapie läuft.“

„Wieso solltest du?“

„Zum einen hast du dann Ruhe vor Mokuba und zum anderen hab ich dadurch die Chance, mir einen Einblick in den Job zu verschaffen.“

„Willst du Physiotherapeut werden?“

„Vielleicht. Es interessiert mich zumindest.“ Das war eiskalt gelogen. Bisher hatte ich mir nie darüber Gedanken gemacht, aber ich würde es mir zumindest anschauen und nebenbei ein bisschen auf Kaiba achten.

„Wir sehen uns dann morgen.“ Bevor er noch etwas erwidern konnte, ließ ich ihn sitzen. Entgegen all meiner guten Vorsätze hatte ich mich doch wieder einwickeln lassen und einen wahnwitzigen Entschluss gefasst. Ich würde Kaiba in seinem Erfinderwahn unterstützen, denn ich fand wirklich genial, zu was er fähig war. Und gleichzeitig würde ich auf ihn achten, denn dazu war er anscheinend selbst nicht mehr in der Lage, sobald er sich auf ein Projekt stürzte.

Lauren

Als ich am Nachmittag von Mokuba mit der Limousine abgeholt und zum Anwesen gefahren wurde, erklärte mir der Kleine noch schnell, wann die Physiotherapie beginnen sollte. Ich merkte gleich, dass er irgendwie unruhig und gestresst war.

„Alles klar?“, fragte ich zweifelnd.

Mokuba nickte nur, starrte abwesend aus dem Fenster. „Ich weiß, ich sollte mir nicht immer so viele Sorgen machen, aber Seto übertreibt diesen Erfinderwahn.“

„War es denn bei den Händen genauso?“

„Er hatte bis dahin nur keinen Antrieb dazu, die zusammenzubauen, aber dafür die Pläne und Materialien schon ewig herumzuliegen. Deswegen hat er an denen auch nur drei Tage gesessen. Aber selbst danach war er schon vollkommen erschöpft.“ Der Kleine seufzte schwer. „Sein jetziges Konstrukt bearbeitet er schon seit einer Woche, ohne Pause. Wenn er schläft, dann nur ein paar Stunden und essen will er auch nur wenig.“

Mokuba schien sich ja wirklich große Sorgen zu machen. Dabei hatte Kaiba gestern auf mich gar nicht so erschöpft gewirkt. Er war zwar blass gewesen, aber seine Hände hatten ganz ruhig und präzise gearbeitet. Besser, ich machte mir selbst ein Bild davon.

„Es ist immer das gleiche!“ Mokuba seufzte frustriert.

Aber immerhin kam bei seiner Arbeitswut ja auch etwas Sinnvolles heraus, oder nicht? Ich fand die Hände schon wahnsinnig beeindruckend. Und wenn ich daran dachte, dass Kaiba auch die Duelldisk und dieses coole Hologrammsystem erfunden hatte, konnte man doch eigentlich nur auf die Knie fallen vor Ehrfurcht.

„Hatte er das schon immer?“

Der Kleine nickte. „Schon als Kind hat er aus Lego die absurdesten Konstrukte gebaut. Unser Vater hat ihn dabei auch noch unterstützt, indem er ihm Baukästen und alle möglichen Bücher über Technik besorgte.“

Klang in meinen Ohren genau richtig. So ein Talent musste man fördern.

„Aber je mehr Input er bekam, desto ausgereifter und arbeitsintensiver wurden auch seine Erfindungen. Am Anfang hat er nur Kleinigkeiten wie Fernbedienungen oder Taschenlampen entwickelt. Und jetzt kommt sowas wie die Hände dabei raus.“

Mokuba ließ keinen Zweifel daran, dass er das Erfinden seines Bruders alles andere als toll fand. Ich dagegen begeisterte mich mit jedem Wort immer mehr dafür. Kaibas Talent war also sogar ausbaufähig, je mehr er lernte. Wie genial war das denn?

Als ich in Kaibas Zimmer trat, saß er wie am Vortag auf dem Boden inmitten seiner kleinen Einzelteile. Er trug die gleichen Kleider wie am Vortag. Man hätte sogar fast meinen können, er habe sich seit gestern nicht vom Fleck gerührt. Nur das verknitterte Shirt ließ mich vermuten, dass er sich zwischendurch doch wenigstens kurz hingelegt hatte.

Ich grüßte ihn freundlich, doch er nickte nur knapp, sah nicht mal auf. Hätte mich auch überrascht. Bis zur Physiotherapie war noch etwas Zeit. Also setzte ich mich aufs Sofa und beobachtete ihn eingehend.

Zuerst dachte ich, ihm würde es doch an nichts fehlen. Seine Hände waren nach wie vor ruhig und geschickt und sein kleines Modell hatte schon wesentlich an Gestalt angenommen. Die Konturen des Fußes waren nun deutlich zu erkennen.

Aber dann bemerkte ich ein Sandwich, das neben ihm auf einem Teller lag. Es war nur zur Hälfte gegessen und offensichtlich schon hart geworden. Viel zu sich genommen hatte er also wirklich nicht. Aber es war ja nicht so, dass er die Nahrungsaufnahme komplett verweigerte und wenn er eh nur dasaß, würde er kaum Kalorien verbrennen. Also noch lange kein Grund zur Panik.

Ich beobachtete ihn noch eine Weile, doch es war nichts besonders Auffälliges zu bemerken.

Nach einer Weile sah ich auf die Uhr und bemerkte, dass es gleich Zeit für die Physiotherapie war. Vielleicht sollte ich Kaiba mal daran erinnern. Vorsichtig, um nicht auf eines der kleinen Teilchen zu treten, näherte ich mich ihm und ging dann vor ihm in die Knie.

Aus der Nähe sah man ihm doch die Erschöpfung an. Seine Augen waren ein wenig gerötet, wirkten glasig und darunter hatten sich dunkle Ringe gebildet. Er nahm wirklich keine Rücksicht auf sich, opferte sich regelrecht für seine Erfindung.

„Deine Physiotherapie beginnt gleich.“, meinte ich sanft.

Er nickte nur, sah aber nicht weiter auf. Gruselig wie krankhaft er sich auf seine Arbeit fixierte.

Als er sich einige Minuten später immer noch nicht aufgerafft hatte, beschloss ich, ihm ein wenig Starthilfe zu geben. Ich umrundete ihn, schob von hinten meine Hände unter seinen Armen durch und zog ihn vorsichtig auf die Beine. Er zuckte kurz erschrocken zusammen, wehrte sich aber nicht. Das Modell behielt er fest in der Hand.

Besorgt stellte ich fest, dass sein Körper erhitzt war und ein wenig zitterte. Es ging doch nicht spurlos an ihm vorbei.

„Die Physiotherapie beginnt gleich.“, sagte ich noch einmal ruhig.

Er nickte erneut, löste den Blick aber nicht vom Modell.

„Wo sind deine Krücken?“

„Weiß nicht.“, murmelte er. Seine Stimme klang ein wenig heiser. Vielleicht hatte Mokuba doch recht. Kaiba überforderte sich selbst total und seine Gesundheit litt massiv darunter. Nach der Physiotherapie sollte er sich definitiv ausruhen. Mir war klar, dass Kaiba das nicht freiwillig tun würde, aber die Kraft, sich mir zu widersetzten, konnte er garantiert auch nicht mehr aufbringen.

„Die wenigen Meter wird es auch so gehen.“, beschloss ich. Ich legte seinen Arm um meine Schulter umfasste seine Hüfte und zog ihn vorsichtig mit mir. Seine Schritte waren steif und unsicher, als hätte er sich die letzten Tage kaum bewegt. Das hier konnte wirklich nicht gut für ihn sein. Und es gefiel mir überhaupt nicht, dass ihn diese Erschöpfung gerade zu verstummen ließ. Er meckerte nicht, wehrte sich nicht, ließ sich eher wie eine leblose Puppe mitziehen. Selbst als ich ihm das Modell abnahm, um es auf dem Schreibtisch abzustellen, war sein Widerstand nahezu lächerlich.

In einem Raum zwei Türen weiter war ein Behandlungstisch aufgebaut. Klar, die Villa hatte ja auch so viele Räume, dass einer mal locker umfunktioniert werden konnte. Reiner Luxus.

Ich half Kaiba, sich auf den Tisch zu setzen. Während wir warteten, betrachtete ich Kaiba erneut eingehend. Er versuchte, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, saß aufrecht und mit gestraffter Gestalt auf dem Tisch. Aber es konnte einfach nicht über die geröteten Augen und das unmerkliche Zittern seines Körpers hinwegtäuschen.

Ein paar Minuten später kam eine junge Frau, vielleicht Anfang Mitte zwanzig, in den Raum. Scheinbar die Physiotherapeutin. Sie war hübsch, hatte ein niedliches Lächeln und schönes blondes Haar.

„Ah, mein Lieblingspatient.“, flötete sie. „Wie geht’s uns denn heute?“

„Gut.“, murmelte er.

Ihr Blick richtete sich auf mich. „Und wen haben wir da?“

„Joey Wheeler. Ich will mir einen Einblick in den Beruf des Physiotherapeuten verschaffen.“

Ihre grünen Augen blitzten auf, als sie mir ihre Hand zur Begrüßung reichte. „Lauren. Aber wenn Sie Physiotherapeut werden wollen, muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Osteopathin.“

Was war das denn? Sie erklärte es mir nicht, sondern konzentrierte sich nun auf Kaiba. „Na dann schauen wir mal. Einmal oben freimachen und auf den Rücken legen.“

Kaiba folgte brav der Anweisung, aber ich fragte mich, wozu er mit nacktem Oberkörper daliegen musste, wenn es doch um seinen Fuß ging.

Lauren legte ihre Hände auf seinen Bauch, fuhr mit den Daumen die Muskeln nach. Und irgendwie ärgerte es mich. Sie mussten ihn bestimmt nicht streicheln, um ihm zu helfen!

„In letzter Zeit ein bisschen zu viel gesessen?“, fragte sie tadelnd.

Woran erkannte sie das?

„Man erkennt es am Hüftbeuger.“, erklärte sie, als wüsste sie genau, dass ich mich wunderte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger seitlich an seinem Bauch entlang. „Der Mensch ist nicht dazu gemacht, lange zu sitzen. Dabei werden Muskeln und Sehnen auf eine Weise belastet, für die sie eigentlich nicht ausgelegt sind. Einmal aufsetzen.“

Kaiba folgte stumm ihrer Anweisung, hinterfragte rein gar nichts.

„Das macht den übrigens auch den Unterschied zwischen Physiotherapie und Osteopathie aus. Wir betrachten den Körper als Ganzes und bekämpfen die Ursachen.“

Klang, als würden die beiden Berufsgruppen ein wenig miteinander konkurrieren. War mir aber egal, mich interessierte eher, ob sie ihn wirklich so intensiv begrabbeln musste.

Ihre Hände glitten vom Nacken über die Wirbelsäule. „Das Laufen mit Krücken entspricht ebenfalls nicht der natürlichen Gangart des Menschen. Deswegen wirkt sich das auf die Rückenmuskulatur aus.“ Sie drückte auf eine Stelle rechts neben der Wirbelsäule. „Hier ist eine Blockade. Spürst du das?“

Kaiba nickte.

„Streck die Arme nach vorn, die Handflächen nach oben.“

Wieder folgte er ihren Anweisungen, vertraute anscheinend auf ihr Tun. „Tief ein- und ausatmen.“ Mit dem Handballen fuhr sie nachdrücklich immer wieder über den Punkt, übte Druck darauf aus, bis es knackte. Danach strich sie wieder über die Wirbelsäule.

Auch wenn es vermutlich wirklich ein Therapieansatz war, machte es mich rasend, wie zärtlich ihre Hände über diese so weich aussehende Haut streichelten und die Muskeln nachzeichneten. Verdammt, es ging mich doch gar nichts an!

Obwohl Kaiba mich vor zwei Wochen so ruppig von seinem Grundstück geworfen hatte, hatte ich an meinem Vorsatz festgehalten und mir die Hände immer brav eingecremt. Sie waren tatsächlich weicher geworden und irgendwann würde ich mein Vorhaben wahr machen und ihm das beweisen.

Ich hatte an mir gearbeitet, um das Vorrecht zu verdienen, ihn vielleicht mal berühren zu können. Aber diese Frau tat es einfach so. Warum durfte sie das nur? Und warum machte mich das so wütend?

Sie kümmerte sich noch eine Weile um seinen Rücken, erklärte mir hin und wieder auch, was sie da tat. Aber ich hörte ihr nicht zu, beobachtete nur stumm, wie ihre Hände seine Haut berührten.

Irgendwann kümmerte sie sich endlich um Kaibas Bein, machte Übungen mit ihm, um die Muskulatur zu trainieren. Und endlich ließ die Anspannung von mir ab.

Ich versuchte, mich auf die Übungen zu konzentrieren, mir einzuprägen, was genau sie tat, aber meine Gedanken waren viel zu durcheinander. Warum nur störte mich allein schon die Vorstellung, jemand anderes könnte Kaiba nahe sein, ihn berühren? Ich hatte doch gar kein Recht, eifersüchtig zu reagieren. Aber irgendwie hätte ich es gern.

„So, wir sind fertig.“, flötete Lauren nach einer Weile.

Etwas schwerfällig richtete Kaiba sich auf, angelte nach seinem Shirt. Bedauerlich, denn der Anblick war schon sehenswert.

„Denk dran, was ich dir gesagt habe.“, meinte Lauren streng. „Der Körper braucht Kraft für die Heilung. Also leg dich hin, ruh dich aus und lass deine Erfindung mal ein bisschen ruhen.“

Sie wusste von seinem Modell? Hatte er ihr selbst davon erzählt?

Bis jetzt hatte ich mich nicht gefragt, ob Kaiba die Frau vielleicht sympathisch finden könnte. Heute war von ihm keinerlei Reaktion zu erwarten, aber wenn er ihr von seiner Erfindung erzählt hatte, musste er sie ja entweder mögen oder ihr sonst irgendwie vertrauen.

„Geb mir Mühe.“, murmelte Kaiba.

„Jaja, dein Mühe geben kenne ich.“ Sie beugte sich zu ihm vor. Und was sie dann tat, ließ in mir das Blut in den Adern gefrieren. Mit einer Hand strich sie durch sein Haar, mit der anderen über seinen Nacken, wobei sie sich vorbeugte und ihn zärtlich auf die Wange küsste. „Geh schlafen und danach duschen.“ Sie lächelte ihn frech an. „Deine Haare haben nicht mehr ihren optimalen Flauschfaktor, weißt du?“

„Du hast eine charmante Art, das auszudrücken.“, wisperte Kaiba, aber dennoch zauberte es ihm ein schwaches Lächeln auf die Lippen.

Grrr! Diese innige Vertrautheit stieß mir sauer auf. Wieso waren sie so eng miteinander?

„Also dann.“ Lauren löste sich von ihm, „Wir sehen uns dann das nächste Mal wieder in der Praxis. Und wehe, du bist dann wieder so platt wie heute. Denk dran, mich kannst du nicht täuschen.“

Kaiba nickte nur.

Als Lauren sich noch einmal kurz von mir verabschiedete, spürte ich, dass sie ganz weiche Hände hatte, genau wie Kaiba es mochte. Verdammt!

Ich musste aufhören, mich hier einzumischen. Was zwischen den beiden war, ging mich nichts an.

„Komm schon, du solltest ins Bett.“ Ich ging zu Kaiba und zog ihn vorsichtig auf die Beine. Allein dabei spürte ich, wie viel Hitze sein Körper ausstrahlte. Das konnte nicht normal sein. Mit kleinen unsicheren Schritten ließ er sich von mir in sein Zimmer bringen. Zwischenzeitlich fragte ich mich, ob er den Weg auch noch allein geschafft hätte, denn teilweise schwankte er deutlich.

Vorsichtig ließ ich ihn auf sein Bett gleiten. „Leg dich hin.“, meinte ich sanft. Doch sein Blick klebte an dem Modell, das ich zuvor auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er konnte seine Gedanken einfach nicht davon lösen.

Seufzend legte ich meine Hand auf seine Wange, zwang ihn, mich anzusehen. „Du musst dich ausruhen. Verstehst du das?“

Seine blauen Augen ruhten auf mir. Selbst jetzt noch waren sie unbeschreiblich schön, auch wenn sie seine Erschöpfung so deutlich zeigten.

„Du kannst deine Erfindung morgen weiterentwickeln. Wenn du ausgeschlafen hast, kannst du dich auch viel besser konzentrieren.“ Seine weiche Haut verursachte ein Kribbeln in meinen Fingern.

Das leuchtete ihm ein. Ein wenig schwerfällig kletterte er unter die Decke dieses riesigen Bettes. Und siehe da, schon nach wenigen Minuten war er eingeschlafen. Er war wirklich stur, das musste man ihm lassen. Aber am Ende konnte auch ein Seto Kaiba nicht unendlich viel leisten, ohne irgendwann mal neue Kraft zu schöpfen.

Er sah ja schon irgendwie niedlich aus, wenn er schlief. Aber seine Wangen waren ein wenig gerötet und als ich vorsichtig über seine Stirn strich, spürte ich, dass er leichtes Fieber hatte. Das passte auch zu seiner erhitzten Haut. Also holte ich einen Lappen aus dem Badezimmer, tränkte ihn mit kaltem Wasser und platzierte ihn auf Kaibas Stirn. Mehr konnte ich nicht tun. Ich konnte nur hoffen, dass das Fieber wirklich durch die Erschöpfung kam.
 

Ich war direkt danach noch zu Mokuba gegangen und hatte ihm alles berichtet, und der Kleine war wirklich unfassbar erleichtert gewesen, dass Kaiba letztendlich doch Ruhe gefunden hatte. Aber mehr konnte ich an dem Tag nicht für die Brüder tun.

Mokuba war so begeistert davon, dass er mich glatt wieder als Kaibas Aufpasser engagieren wollte. Für den Moment nahm ich die Aufgabe auch an.

Also kam ich am nächsten Tag wieder.

Erfinderwahn

Ich kam erst am späten Nachmittag wieder zur Villa und trotzdem schlief Kaiba noch. Wie viel Erschöpfung doch in seinen Knochen gesteckt haben musste, da wollte ich ihn bestimmt nicht wecken. Also wartete ich mit Mokuba zusammen.

„Er war zwischendurch schon kurz wach, weißt du?“, meinte der Kleine irgendwann, während wir auf dem Sofa saßen und Karten spielten.

„Tatsächlich?“

„Ja, aber ihm war schwindelig und er war zu erschöpft.“ Mokuba seufzte schwer. „Er hat es zwar versucht, ist aber einfach nicht hochgekommen.“

„Tja, wenn der elende Sturkopf einfach nicht weiß, wann Schluss ist?“ Innerlich tat es mir wirklich leid, dass er so litt, aber eigentlich hatte er sich das wirklich selbst zuzuschreiben.

„Er kann es nicht richtig kontrollieren.“, murmelte Mokuba belegt.

„Wie meinst du das?“

„Manchmal überkommt ihn diese Art Geistesblitz, eine Vision von etwas. Er hat mal gesagt, es wäre, als würde sich eine Idee in seinen Kopf schleichen und sich wie ein Parasit darin einnisten. Er könne an rein gar nichts anderes denken, als diese Idee, so lange, bis sie umgesetzt ist.“

„Du meinst, er ist quasi gezwungen, dieses Modell zu vollenden, ehe er wieder klar denken kann?“

„Naja, ich denke, du kannst es dir so vorstellen: mein Bruder war nie gut darin, nach Notizen und Skizzen zu arbeiten. Er macht alles sozusagen aus dem Kopf heraus. Alle Berechnungen, welche Längen, Breiten, Winkel und Materialien jedes Einzelteil haben muss, wie viele dieser Einzelteile notwendig sind, welche Kraft die Teile aufeinander ausüben und aushalten können müssen, wie sie ineinander greifen… All diese winzigen Details, damit es am Ende funktioniert. Er speichert das alles im Kopf, und du kannst dir vorstellen, dass das verdammt viele Kapazitäten erfordert. Da ist kein Platz für irgendeinen anderen Gedanken.“

Das klang, als wäre Kaibas Kopf ein Computer, auf dem ein Programm lief, das viel Arbeitsspeicher erforderte. Und um den zu gewährleisten zu können, mussten alle anderen Programme beendet werden, damit es nicht zum Systemabsturz kam. Kaiba der Computer. Krass.

„Dann ist er quasi so besessen davon, seine Erfindung zu beenden, dass er gar nicht mehr wahrnimmt, wie sehr er sich selbst damit zerstört.“

„Das merkt er dafür im Nachhinein umso deutlicher.“

Wenn ich bedachte, wie fertig er gerade war, glaubte ich das gern.

Mokuba legte die Spielkarten beiseite. Vermutlich war ihm die Lust darauf vergangen. „Weißt du, dass Gosaburo sogar versucht hat, ihm damit zu helfen, wenn auch auf ziemlich ungeschickte Art?“

Gosaburo, dieser angeblich so tyrannische Stiefvater. „Wie denn?“

„Er hat erkannt, dass Seto mit seinem Verstand unfassbare Dinge leisten kann, sich dabei aber selbst im Weg steht. Er wollte das Talent fördern, indem er einen Weg suchte, wie Seto arbeiten konnte, ohne sich dabei selbst kaputt zu machen.“

„Klingt doch gar nicht so schlecht.“

„Schon, aber er hat es versucht, indem er Seto zwingen wollte, alles aufzuschreiben, bevor er anfangen durfte zu arbeiten. Gosaburo hat ihn gezwungen, so lange am Tisch zu sitzen, bis er sich Notizen gemacht hat.“

„Und?“

„Nach zwei Tagen hat er es aufgegeben.“ Mokuba zuckte mit den Schultern. „Er hat nie wirklich verstanden, dass Seto alles im Kopf parallel überdenkt. Er kann nicht einlinig eins nach dem anderen aufschreiben, das kriegt er irgendwie nicht hin.“

Kaibas Denken war anscheinend auch für ihn selbst zu wirr. Irgendwie stellte ich mir das ziemlich belastend vor, wenn man die Gedanken nicht selbst steuern konnte. Einerseits war es der Wahnsinn, wie viel Genialität in ihm steckte, aber andererseits musste es ein wahrer Fluch sein, sich dem gar nicht entziehen zu können.

„Aber was war mit den Händen? Du hast gesagt, er hatte dir Einzelteile dafür schon vorliegen.“, bemerkte ich. „Ich dachte er kann nicht aufhören, bis er es beendet hat.“

„Ja…“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Die Idee dafür kam ihm, weil er sich die Hand gebrochen hatte.“

Durch Gosaburo. Das hatte er mir erzählt.

„Die Teile vorbereiten ging gerade noch, aber du hast ja gesehen, dass er mit sehr viel Präzision arbeiten muss, wenn er seine Erfindung zusammensetzt. Und das geht mit gebrochener Hand eben nicht.“

„Also hat er die Idee fallenlassen?“

„So in der Art. Er hat vier Tage lang vor den Einzelteilen gesessen und sie angestarrt, ehe wir ihn langsam davon lösen konnten.“

Okay… Das war irgendwie krank. „Hat er solche Ideen… oft?“

„Geistesblitze hat er oft, aber so heftig wie bei den Händen oder jetzt ist es nur selten.“, murmelte Mokuba. „Ich weiß nicht, wovon es abhängt, aber bei manchen Erfindungen ist er so besessen wie jetzt und bei anderen halt nur stark damit beschäftigt, aber ohne sich dabei aufzurauchen. Er taucht dabei immer in seiner kleinen Erfinderwelt ab und ist kaum ansprechbar. Dann nimmt er kaum etwas um sich herum wirklich wahr. Aber meist dauert diese Stadium nicht so lange an.“

Hm… „Liegt es vielleicht an der Komplexität?“

„Keine Ahnung.“

Wäre doch eine mögliche Theorie. Einen ganzen Fuß zu rekonstruieren war bestimmt fordernder, als die Erfindung eines einfachen Büroartikels.

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, nahm ich eine Regung in dem riesigen Bett wahr. Scheinbar wachte Kaiba jetzt auf. Wir gesellten uns schnell an sein Bett. Nur langsam räkelte er sich unter den Decken, öffnete schwerfällig die Augen. Sie waren jetzt nicht mehr so gerötet und glasig wie gestern, aber dafür war der Blick niedlich, wenn er einen so verschlafen ansah. Und er machte sogar wieder meine Lieblingsgeste. Wie ein Waschbär rieb er sich den Schlaf aus den Augen.

„Seto…“ Mokuba krabbelte zu ihm aufs Bett und legte ihm eine Hand auf die Stirn. „Zumindest das Fieber ist weg.“

War doch gut. Und er konnte sich auch selbstständig aufsetzen, war also schon mal ein wenig zu Kräften gekommen. Er fasste sich an die Stirn, rieb über die Schläfen.

„Hast du Kopfschmerzen?“, fragte ich vorsichtig.

Sein Blick richtete sich langsam auf mich, aber er wirkte noch nicht so ganz wach. „Warum bist du hier?“, fragte er leise.

„Das beantwortet nicht meine Frage. Aber egal. Erst mal solltest du duschen.“

Er neigte den Kopf etwas, als verstünde er nicht, wie ich darauf kam. Aber ich erinnerte mich noch sehr genau an Laurens Satz. Also war ich einfach mal so dreist, kletterte auf sein Bett und strich durch sein Haar.

„Deine Haare haben nicht mehr ihren optimalen Flauschfaktor, weißt du?“, äffte ich Lauren nach. Aber sie hatte recht damit. Für jemanden wie Kaiba, der normalerweise stark auf sein Äußeres fixiert war, hatte er das in den letzten Tagen wohl wirklich ein wenig vernachlässigt. Zumindest waren seine Haare nicht mehr so seidenweich wie damals, als ich vor zwei Wochen durch die dunklen Strähnen gestrichen hatte.

Ah, heute war er wirklich wacher als gestern. Er schlug meine Hand weg und in seinen Augen erkannte ich, dass er sich gekränkt fühlte.

„Komm schon, eine schöne heiße Dusche wird dir gut tun. Wir machen derweil Frühstück und dann kannst du dich stärken, okay?“

Er starrte mich wortlos an. Seinem Blick fehlte jegliche Intensität, und trotzdem hielt ich gespannt den Atem an. Dieser Moment entschied, ob er mich wieder duldete oder nicht. Gestern hatte er nicht mehr die Kraft, meine Anwesenheit zu hinterfragen. Was, wenn er mich jetzt wieder rauswarf? Seine blauen Augen fixierten mich, als versuche er, meinen Anblick einzuordnen.

„Warum bist du wiedergekommen?“, fragte er leise, wobei seine Stimme noch ein wenig heiser klang.

„Weil du elender Sturkopf schon wieder nicht auf dich selbst aufpassen kannst.“

„Ich hatte dich weggeschickt.“

Ich schluckte leicht. Das war mir schmerzlich bewusst. Trotzdem musste ich Fassung wahren. „Habe ich schon jemals auf dich gehört?“, fragte ich neckend.

Er neigte den Kopf, sah mich schief an. Ich befürchtete schon, er würde sauer werden, doch er sagte nichts, sah mich nur weiter unverwandt an.

„Glaub mir, du warst letztes Mal sehr deutlich und ich bin auch nicht dein Babysitter. Aber trotzdem bin ich hier.“

„Trotz meiner Worte... bist du wiedergekommen. Freiwillig.“ Ich hätte erwartet, Ärger in seiner Stimme zu hören, aber er wirkte darüber nicht mal erbost. Er analysierte nur. „Das erscheint mir ziemlich dumm.“

Wahrscheinlich war es das auch. Ich schluckte schwer. „Ich werde gehen, wenn du es von mir verlangst.“ Obwohl ich es ernst meinte, war mir bei dem Gedanken, er könnte das wirklich machen, richtig flau im Magen.

Sein Blick glitt wirklich nur flüchtig über meine Gestalt. Realisierte er, dass ich an all seinen Kritikpunkten meiner Person gefeilt hatte oder war er dafür gerade nicht zugänglich? Er tat mir zumindest nicht den Gefallen, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Stattdessen sah er mir nur wieder aufmerksam in die Augen. Was genau er dachte, wusste ich allerdings auch nicht.

„Geh duschen.“, meinte ich sanft. „Wir machen Frühstück, okay?“

Er starrte mich noch einen Moment an, doch schließlich nickte er nur widerwillig und krabbelte aus dem Bett. Das verbuchte ich mal als Sieg für mich. Er hätte mich wegschicken können, aber er tat es nicht. Vermutlich war es nur eine Duldung auf Zeit, doch diesmal würde ich vorsichtiger sein, genauer auf mein Verhalten achten und mich nicht einfach abschütteln lassen.

Mokuba und ich gingen in der Küche und bereiteten Frühstück zu.

„Er hat sich doch schon ganz gut erholt.“, bemerkte ich.

Mokuba seufzte schwer. „Ich wette, er setzt sich auch gleich wieder an seine Erfindung.“

„Dann zwingen wir ihn eben dazu, zu essen.“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es spricht ja nichts dagegen, wenn er seine Erfindung beendet. Und ich denke, je stärker wir ihn dabei unterstützen, desto schneller ist er fertig. Wir müssen ja nur dafür sorgen, dass er sich dabei nicht über alle Maßen verausgabt.“

Der Kleine hielt inne in seinen Vorbereitungen fürs Frühstück und sah mich verwundert an. „Traust du dir das etwa zu?“

„Man kann es ja wenigstens versuchen.“, meinte ich fest. „Du hast selbst gesagt, er kann nicht anders arbeiten. Dann ist es doch falsch, sein Verhalten ändern zu wollen. Wenn wir ihn so weit kriegen, dass er zumindest genug isst, trinkt und schläft, ist das alles ja wieder ganz unproblematisch.“

Mokuba dachte darüber nach. „Wenn das so einfach wäre.“

„Man braucht nur einen Zugang zu ihm.“

„Und wie?“

„Du hast gesagt, er schläft in der Zeit so gut wie nicht. Das heißt aber, er schläft, und unterbricht demzufolge auch seine Arbeit. Wenn wir wissen, wann er diese Unterbrechungen ansetzt, haben wir einen Ansatzpunkt.“

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. „Du hast das ganze echt gut analysiert.“

„Ich versuche, eine vernünftige Lösung zu finden, weil ich im Gegensatz zu dir nicht der Meinung bin, man sollte ihn von seiner Arbeit abhalten. Was er tut, ist nämlich absolut genial. Also weißt du, wonach sich seine Unterbrechungen richten?“

„Hm…“ Er überlegte. „Er hat mal irgendwas davon gesagt, er würde in Abschnitten arbeiten. Aber wie die aussehen, weiß ich nicht.“

Na gut, das ließ sich bestimmt herausfinden. Ich war mir sicher, dass man Kaiba knacken konnte, wenn man seinen Rhythmus erkannte. Und das würde ich auch. Es musste einfach einen Weg geben, dass er seine Genialität ausleben konnte, ohne so sehr darunter zu leiden.

Wir richteten das Frühstück her und begaben uns dann nach oben. Und wie Mokuba vermutet hatte, saß Kaiba wieder inmitten seiner Einzelteile. Aber wenigstens hatte er geduscht und frische Kleider angezogen.

Mokuba wollte die Tabletts auf dem Tisch aufbauen, aber ich wies ihn an, sie um Kaiba herum auf den Boden zu stellen, damit wir uns zu ihm gesellen konnten. Kaiba selbst nahm es zwar mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis, sah aber nicht weiter auf.

Mir fiel auf, dass sein Blick im Vergleich zum letzten Mal eher orientierungslos über die Einzelteile glitt. Wahrscheinlich hatte ich ihn gestern inmitten eines seiner Abschnitte unterbrochen und jetzt fiel es ihm schwer, wieder Anschluss zu finden. Aber das war gut, dann konnte man ihn wenigstens noch ansprechen.

Ich nahm ein Brötchen und drückte es ihm vorsichtig in die Hand. „Iss etwas.“, meinte ich sanft. „Wenn du dich stärkst, kannst du danach besser arbeiten.“

Nur zögerlich nahm er es entgegen, betrachtete es abschätzig. Dann sah er doch mal zu mir auf, bedachte mich mit einem kritischen Blick. Ich erwiderte seinen Blick gelassen, konzentrierte mich darauf, mich nicht in diesem momentan sehr klaren Blau zu verlieren. Scheinbar hatte er wirklich viel Kraft aus der ihm auferlegten Pause ziehen können, denn die Erschöpfung von gestern war ihm gar nicht mehr anzusehen.

Wir hätten diesen Starrwettbewerb noch ewig fortführen können, denn inzwischen war ich an diese intensiven blauen Augen zumindest stark genug gewöhnt, um mich davon nicht mehr völlig hypnotisieren zu lassen. Aber dann entdeckte ich etwas, dass mich doch schmunzeln ließ. Das war mir vorhin gar nicht aufgefallen.

„Du hattest recht, weißt du?“

Er neigte den Kopf etwas, starrte mich verständnislos an. „Womit?“

„Damit, dass du ein empfindlicherer Hauttyp bist als ich.“ Ich grinste ihn breit an. „Du hast richtig viele kleine Sommersprossen bekommen.“

Hatte er wirklich, und zwar einmal quer über den Nasenrücken und ganz leicht auf den Jochbeinen. Genau da, wo die Haut damals vom Sonnenbaden gerötet gewesen war. Die Sommersprossen waren nur klein und schwach ausgeprägt, aber dennoch deutlich erkennbar. Und sie sahen zum Niederknien niedlich aus. Bestimmt wurden sie stärker sichtbar, wenn er länger der Sonne ausgesetzt war.

Aber Kaiba selbst schien nicht so begeistert davon. Hastig schlug er sich eine Hand vor die Nase, verdeckte so die Sommersprossen und starrte mich vernichtend an.

Wow, das hörte er wohl wirklich nicht gern. Empfand er Sommersprossen tatsächlich als Makel auf seiner sonst so lupenreinen Haut? Die sahen doch süß aus. Allerdings verkniff ich mir diesen Satz lieber.

Ich spürte, wie Mokuba sich näher zu mir beugte. „Empfindliches Thema!“, zischte er warnend.

War Kaiba wirklich der Meinung, die Sommersprossen würden ihn entstellen? Verdammt, die Dinger verliehen seinem Gesicht ein unschlagbar schöne Nuance, eine Charakteristik, die mehr wert war als perfekte makellose Haut.

„Hätte nicht gedacht, dass du der Typ für Sommersprossen bist.“, meinte ich sachlich. Ein bisschen nachstochern war ja wohl erlaubt. Oder auch nicht, denn sein Blick wurde gerade wirklich giftig. Oha, das könnte glatt ein Drahtseilakt werden, an dessen Ende er mich vielleicht doch noch rauswarf. Dabei meinte ich es durchaus als Kompliment.

„Du hast zwar unfassbar blaue Augen und helle Haut, aber vergleichsweise dunkles Haar.“

„Unfassbar blau?“ Seine Stimme war ein dunkles Knurren.

„Du redest dich um Kopf und Kragen!“, wisperte Mokuba. Aber helfen wollte er mir anscheinend nicht.

Seine blauen Augen waren auch ein empfindliches Thema? Was durfte man denn überhaupt ansprechen? „I-ich mein cool-blau. Extrem cool sogar.“

Er kniff die Augen zusammen, starrte mich durchdringend an. „Cool… blau?“

„Babyblau?“

Ich sah, wie sich ihm die Nackenhaare dabei aufstellten. Ehe er ansetzen konnte, etwas zu sagen, fuhr ich hastig fort. „Ein sehr intensives helles Himmelblau?“

„Himmelblau?“

„Du weißt schon. Ein bisschen heller als azurblau, fast so hell wie lichtblau, ohne den Stich ins grünliche. Aber ein wenig dunkler als weißblau und auf jeden Fall vollkommen rein.“

Nein, er wusste es nicht, das zeigte sein verständnisloser Blick. Ich hatte ganz vergessen, dass er Malen nicht leiden konnte. Demzufolge würde Kunst generell nicht sein Fachgebiet sein. Und mit Farbenlehre konnte er bestimmt auch nichts anfangen.

„Doch, helles himmelblau kommt hin. Sehr intensiv und gesättigt, unvergleichlich in seiner Reinheit“

Kaiba sah mich an, als wäre ich geisteskrank, aber zumindest schien es ihn davon abzulenken, wegen den Sommersprossen sauer zu sein. Dabei hatte ich es doch wirklich gut getroffen. Vielleicht behielt ich trotzdem lieber meine Meinung für mich, auch wenn es schade war, dass er in seinem Irrsinn perfekt zu sein, nicht erkannte, wie unfassbar schön ihn diese Feinheiten machten.

„Komm schon, iss dein Brötchen.“, meinte ich ruhig, um ihn von mir wegzulenken.

Eine Weile lang starrte er mich noch durchdringend an, ehe er langsam die Hand runternahm, mit der er seine Nase abgeschirmt hatte und seine Aufmerksamkeit dem Brötchen widmete.

Ich beschloss, ihn erst mal in Ruhe zu lassen. Wenn er sauer wurde oder wir aufeinander losgingen, brachte das hier gar nichts. Also entfernte ich mich mit Mokuba ein wenig von ihm.

„Was sollte das?“, fragte Mokuba. „Wolltest du ihn ärgern?“

Ich schüttelte den Kopf. „Woher sollte ich wissen, dass er so empfindlich auf Sommersprossen reagiert?“

Der Kleine seufzte resigniert. „Er meint immer, sie lassen ihn kindlicher aussehen und würden seine Autorität untergraben.“ Er verdrehte die Augen. „Außerdem sind Sommersprossen eine Hyperpigmentierung, also ein sichtbarer Makel der Haut, die zu extrem auf Sonnenlicht reagiert.“

Ja, so ein dämlicher Gedankengang passte zu Kaiba. Makel, pah! Perfektion war langweilig, solche Feinheiten machten besonders. Obwohl ich darüber schmunzeln musste. So ein mächtiger einflussreicher Mann fürchtete wegen ein paar Punkten im Gesicht um seine Autorität? Das war doch paranoid!

Wir frühstückten in aller Ruhe und beobachteten dabei Kaiba. Inzwischen hing sein Blick wieder an seinem Modell und den Einzelteilen, wanderte unstet darüber. Er suchte wieder Anschluss an seine unterbrochenen Gedankengänge. Aber wenigstens aß er dabei das Brötchen, wenn auch dermaßen langsam und bedächtig, dass er vermutlich bis zum Abendessen damit beschäftigt war.

Es war langwierig und auch ziemlich langweilig, doch trotzdem nahm ich all meine Geduld zusammen, um Kaiba den Tag über genau zu beobachten während Mokuba sich nach dem Frühstück abseilte. Irgendwann fand er scheinbar wieder Anschluss an seine Gedankengänge vom Vortag und machte sich an die Arbeit. Es war ja wirklich bewundernswert, wie konzentriert und detailliert er arbeiten konnte. Aber für den Zuschauer doch ziemlich öde.

Zumindest erkannte ich irgendwann ein Schema in seiner Arbeit. Mit ein bisschen Fantasie waren die Einzelteile um ihn herum doch nicht wahllos verteilt, sondern in kleine abgegrenzte Felder sortiert. Ich beobachtete, dass seine Hände immer wieder zielsicher zu einem Feld wanderten und einzelne Teile herausfischten. Und Kaiba sah dabei nicht mal hin. Es war naheliegend, dass jedes Feld einem Gedankenabschnitt zugeordnet war. Also hieß das, ich musste nur warten, bis eine Fläche abgearbeitet war und konnte ihn dann jederzeit unterbrechen. Genial.

Am Abend nutzte ich diese neue Erkenntnis und sprach ihn an.

„Du solltest mal Pause machen.“, bestimmte ich.

Tatsächlich reagierte er sofort, sah fragend zu mir auf. „Mir geht es gut. Ich komme schon klar.“

Erstaunlich, wie viel es ausmachte, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Er wirkte ja fast schon entspannt. Das änderte aber nichts daran, dass er schon wieder seit fünf Stunden am Stück arbeitete.

„Du solltest auf Lauren hören und mehr auf dich achten.“

Das Argument schien bei ihm zu fruchten. Zumindest kam er etwas unbeholfen auf die Beine. War ja schön, wie folgsam er reagierte, aber es ärgerte mich, dass er das wohl nur tat, weil ich Lauren ins Spiel brachte. Ihm war ihre Meinung anscheinend sehr wichtig, was mich wieder zu der Frage brachte, welches Verhältnis zwischen den beiden vorherrschte.

„Wie wäre es, wenn du dich auf die Terrasse setzt und ich dir etwas zu Essen bringe?“

Er nickte nur, wandte sich mit schwerfälligen Schritten um. Also eilte ich zu Mokuba und bat ihn, etwas herzurichten. Nach Kaibas letzter Reaktion auf meine Kochversuche, wagte ich es nicht, selbst etwas in der Küche zu suchen und der Kleine würde seinen Geschmack sowieso viel besser kennen.

Als ich wieder nach Kaiba sah, hatte er sich bereits auf einer der Liegen auf der Terrasse niedergelassen. Er bedeckte mit einer Hand seine Augen, wirkte jetzt ein wenig erschlagen.

„Alles klar?“, fragte ich vorsichtig, während ich mich auf dem zweiten Liegestuhl niederließ.

Er nickte nur vage.

Ich warf einen Blick nach oben zum strahlendblauen Himmel. „Zu grell?“

Er murrte leise. Nur langsam und zögerlich öffnete er die Augen, blinzelte träge.

„Ein bisschen überempfindlich nach der langen Arbeit?“, fragte ich spitz.

„Unsinn!“ Fast schon beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Warum blinzelst du dann so oft?“ Wahrscheinlich wäre mir das bei keinem anderen Menschen aufgefallen, aber er hatte so lange dichte Wimpern, die dermaßen im Kontrast zu diesem hellen Blau standen, dass seine Augenpartie einfach unglaublich markant, ein riesiger Blickfang war.

„Weil es der natürlichen Funktion des Auges entspricht, zu blinzeln, um die Hornhaut feucht zu halten.“, erwiderte er bissig.

Sachliche Argumente, die brachte er oft, wenn er sich verteidigte. „Na gut, dann müssen deine Augen in Anbetracht der Frequenz, in der du blinzelst, ziemlich trocken sein. Trockene Augen können ihre Ursache darin haben, wenn über einen längeren Zeitraum die Lidschlagfrequenz verlangsamt war, zum Beispiel wenn man lange konzentriert arbeiten und dabei die Augen wegen der Detailgetreue anstrengen musste.“

Sein Blick wurde immer so niedlich, wenn man anders reagierte als er erwartete. So schön groß und blau und er rammte einen Eckzahn in die Unterlippe. Herrlich. Irgendwie genoss ich es, ihn wieder so natürlich, ein bisschen privater zu erleben und insgeheim wünschte ich mir, es würde immer so zwischen uns sein.

Aber er fasste auch immer schnell eine Gegenstrategie. „Ich könnte auch einfach nur etwas im Auge haben.“, merkte er trocken an. „Das ist kein Beweis für eine Überanstrengung.“

„Aber ein Indiz.“

Er runzelte die Stirn. „Woher plötzlich dieses Vokabular?“

„Bin ja nicht völlig ungebildet.“ Ich würde ihm bestimmt nicht auf die Nase binden, dass ich in den letzten zwei Wochen tatsächlich versucht hatte, meine Allgemeinbildung auf Vordermann zu bringen, nur um ihm ein bisschen ebenbürtiger zu werden. Verdammt, seine Meinung war mir viel zu wichtig. Aber zumindest nickte er fast anerkennend.

Bis Mokuba mit dem Essen kam, hingen wir unseren Gedanken nach, wobei ich mir sicher war, dass Kaiba schon wieder bei seiner Erfindung war. Zumindest wirkte sein Blick vollkommen konzentriert, obwohl er ins Leere starrte. Dank meiner Erkenntnis, wann ich ihn unterbrechen konnte, war er zugänglicher, aber ganz bekam er sein Projekt doch nicht aus dem Kopf.

Mokuba kam mit einem Tablett mit drei Tellern zu uns. Fisch mit Reis, Sauce und Salat. Sowas mochte Kaiba also? Interessant. Ob mich das so begeistern sollte, wusste ich noch nicht. Aber ich konnte ja erst mal probieren. Es schmeckte gar nicht mal schlecht. Der Fisch zerfiel geradezu unter der Gabel und alles schien perfekt abgestimmt zu sein. Der Koch hatte hier schon einiges auf dem Kasten. Das schien Mokuba auch so zu sehen, denn er schaufelte alles in sich hinein, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.

Nur Kaiba war nicht ganz so begeistert. Eher abwesend stocherte er im Essen herum, nahm ab und an mal einen Bissen.

„Hat deine Theorie nicht funktioniert?“, fragte Mokuba leise. „Er ist immer noch so angespannt.“

„Doch, ich zeig es dir.“ Wenn Mokuba sah, dass es funktionierte, war er bestimmt nicht mehr ganz so negativ gegen Kaibas Erfinderwahn eingestellt. Ich musste nur kurz überlegen, welches Thema ich wählen sollte.

„Kaiba, du bist mäkelig wie ein Mädchen.“, skandierte ich. Ein Guter Auftakt wie ich fand. Kleine Streitereien waren einfach unser Ding. Und in gewisser Weise hoffte ich sogar darauf. Ich wollte ihn lebhaft und leidenschaftlich sehen wie bei unseren Auseinandersetzungen. Die letzten Tage hatte er eher mechanisch wie eine Puppe gewirkt und das hatte mir fast schon Angst gemacht.

Allein mit dem Heben einer Augenbraue konnte er demonstrieren, wie angepisst er war. „Bitte?“ Oh, wie bedrohlich er dieses eine Wort hervorbringen konnte. Seine Stimme klang so ruhig, dass es an die allbekannte Ruhe vor dem Sturm, ach was dem Hurrikan, erinnerte. Ganz klar, ich bewegte mich auf millimeterdünnem Eis. Allerdings war das gefährliche Aufblitzen in seinen Augen schon ziemlich anregend.

„Dieses Essen ist der Wahnsinn, aber anscheinend nicht gut genug für deinen erlesenen Geschmack.“

Sein Blick glitt zu seinem fast unangerührten Teller.

„Oder hast du Angst zu fett zu werden?“

Ich sah, wie es in ihm arbeitete, wie er analysierte, was ich gerade versuchte. Dann stellte er den Teller neben sich auf den Boden, wandte sich mir mehr zu und vernichtete mich allein schon mit einem so intensiven Blick, dass ich Angst hatte, darunter zu Eis zu erstarren. „Vielleicht habe ich auch einfach keinen Hunger.“, knurrte er mit gefährlich dunkler Stimme. „Auch wenn das für eine dumme Töle wie dich unglaublich klingen mag, Wheeler, es gibt tatsächlich Menschen, die nicht gleich alles in sich hineinstopfen. Aber verständlich, dass ein armer Schlucker wie du frisst bis zum Umfallen!“

Er biss an, knüpfte an unsere alten Streitereien an. Aber irgendwie war sein Konter einfallslos und ohne Elan.

„Kann ja nicht jeder so ein reicher Pinkel sein!“, fauchte ich.

„Und du am allerwenigsten!“

Mokuba beobachtete unseren Streit, war anscheinend zufrieden damit, dass sein Bruder wieder mehr Elan hatte. „Ich halte mich da lieber raus.“ Er rutschte von der Liege und verschwand. Wahrscheinlich war er unserer Streitereien eh überdrüssig.

Ich wappnete mich innerlich für den Streit mit Kaiba, doch der stand nur plötzlich auf und verließ die Terrasse. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das schon wieder sollte, aber dann eilte ich ihm hinterher. Inzwischen hatte er sich wieder bei seinem Modell niedergelassen.

„Das wars?“, fragte ich ein wenig verwirrt.

„Mokuba ist beruhigt, wozu diese Farce weiterspielen?“

Er hatte also gleich erkannt, was meine Absicht gewesen war. Aber er ging gar nicht darauf ein. Irgendwie verhielt er sich wirklich sehr merkwürdig.

„Willst du denn nicht wenigstens noch etwas essen?“

„Hab keinen Hunger.“ Er sah nicht mal auf. „Aber ich würde es bevorzugen, wenn du jetzt gehst.“

Was brachte es, hierzubleiben? Er würde sich sowieso wieder über Stunden in seine Arbeit stürzen und heute ließ er sich vermutlich nicht nochmal von mir davon abhalten. Also würde ich morgen wieder nach ihm schauen.

Fertigstellung

Einen Tag später ging ich erst abends wieder zu ihm. Dafür brachte ich ihm aber auch etwas zu essen mit. Als ich in sein Zimmer kam, saß er wie am Vortag auf dem Boden und betrachtete sein Modell. Oje, er hatte wahrscheinlich wieder ohne Pause gearbeitet.

Ich stellte unser Essen auf den Tisch, ehe ich näher trat und vor ihm in die Hocke ging. Sein Blick wirkte nicht so konzentriert wie die letzten Tage sondern eher müde. Vorsichtig strich ich über seine Stirn, fühlte seine Temperatur. Schon wieder zu warm.

Erst jetzt schien er mich überhaupt zu bemerken. Er sah auf, doch entgegen meiner Erwartung wirkte er nicht überrascht oder erbost darüber, dass ich ihn berührte. Nein, er lächelte schwach aber unendlich erleichtert, wobei seine Augen in einem weichen, hellen Blau leuchteten. Ein wirklich schönes, anziehendes Lächeln.

„Ich bin fertig.“, hauchte er heiser.

„Ja, das sieht man.“ Er wirkte unglaublich erschöpft und seine Augen waren ganz glasig. Da er bis jetzt nichts gegen den Körperkontakt sagte, glitt ich mit der Hand von seiner Stirn weiter durch sein Haar. Ich mochte es, wie weich sich diese dunklen Strähnen zwischen meinen Fingern anfühlten. Wie kühle Seide. Erstaunlich wie wenig ihn solch vertraute Gesten störten, wenn er seinen Erfinderwahn auslebte.

„Nein! Störrisch schüttelte er den Kopf. „Mit dem Modell! Ich bin fertig mit dem Modell.“

Überrascht blickte ich auf die Konstruktion in seinen Händen. Wahnsinn, jetzt sah es wirklich aus wie das Skelett eines echten Fußes, unfassbar detailgetreu. „Das ist großartig.“ Wirklich erstaunlich, was er da erschaffen hatte. Aber viel erfreuter war ich darüber, dass er jetzt endlich aufhören würde, sich körperlich so zu verheizen.

„Komm, ich habe uns Essen mitgebracht.“ Vorsichtig zog ich ihn auf die Beine. Er stand nicht sonderlich sicher, hatte kaum Spannung im Körper, wie jemand, der sich einfach lange nicht bewegt hatte und auch jetzt dafür nicht mehr so recht die Kraft fand. Behutsam zog ich ihn zum Sofa, damit er darauf niedersinken konnte. Sein Körper strahlte schon wieder eine beunruhigende Hitze aus.

Vorsichtig nahm ich ihm das Modell ab und stellte es auf die andere Seite des Tisches. Jetzt wurde es Zeit, ihn wieder aufzupäppeln.

„Hier.“ Ich hielt ihm einen mitgebrachten Burger hin. Mir war klar, dass er vermutlich kein großer Fan dieses Essens war, aber nach den letzten Tagen konnte er ein paar Kalorien gut gebrauchen. Entgegen meiner Erwartung moserte er auch gar nicht groß herum, sondern griff kommentarlos zu. Während er also begierig seinen Burger verdrückte, packte ich noch weitere Burger, Pommes, Chicken Nuggets und Softdrinks auf den Tisch. Seine Augen leuchteten begeistert auf, als er die große Auswahl sah. Scheinbar hatte er wirklich riesigen Hunger.

Ich nahm mir selbst auch einen Burger, während ich ihn beobachtete. Es war eine wahre Wohltat, zu sehen, dass er für seine Verhältnisse wirklich ordentlich zulangte. Wahrlich ein gutes Zeichen, denn solange er mit seiner Erfindung beschäftigt gewesen war, hatte er kaum einen Bissen zu sich nehmen wollen. Also mussten seine Gedanken jetzt davon befreit sein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Fan von Fast Food bist.“, meinte ich schmunzelnd, als er nach den Pommes angelte.

„Warum hast du es dann mitgebracht?“ Seine Stimme klang immer noch ein wenig heiser, aber auch das lag vermutlich an der Erschöpfung.

„Ich dachte, du könntest es jetzt ganz gut vertragen.“

Er nickte andächtig, während er am Strohhalm seines Colabechers saugte. Dafür, dass er die letztes Mal als Getränk des Pöbels beschimpft hatte, schien sie ihm jetzt doch sehr zuzusagen. Mir war das nur recht, dass er sich ordentlich stärkte. Wenn er sich danach schlafen legte und ausruhte, würde er bestimmt schnell wieder auf dem Dampfer sein. Aber als er sich gesättigt zurücklehnte und ich ihm vorschlug, ins Bett zu gehen, schüttelte er nur entschieden den Kopf.

„Ich würde gern auf die Terrasse.“, murmelte er. Ich verstand zwar nicht, was er da wollte, aber ich half ihm trotzdem auf die Beine und begleitete ihn nach draußen. Er lief mit meiner Hilfe sogar vorsichtig, trat allerdings nur zögerlich mit dem Gips auf, als wäre er es immer noch nicht gewohnt.

Er sank auf einen der Liegestühle, streckte sich darauf aus. Wollte er jetzt ausspannen? Ich beobachtete, wie er tief durchatmete und sich entspannte. In seinen Augen war so viel Erleichterung zu erkennen. Sein ganzes Gesicht wirkte geradezu friedlich.

„Es ist endlich ruhig.“, wisperte er.

Ich sah mich um. Inzwischen versank die Sonne langsam am Horizont. Es war ein lauer Sommerabend, wie es sie oft zu dieser Jahreszeit gab. Ich persönlich liebte solche Nächte. Diese Atmosphäre, wenn die Sonne den Himmel in ein warmes Licht tauchte und die Welt still wurde. Die letzten Singvögel verstummten, nur das leise Rascheln des Windes in den Bäumen untermalte die Ruhe. Und dann war da ein dezenter Geruch in der Luft. Es roch mild nach Gras.

„Ja.“ Ich nickte. „Ein wirklich friedlicher Abend.“

„Nein… Es ist ruhig in meinem Kopf.“, murmelte er.

„Was?“ Ich setzte mich ans Ende seines Liegestuhls, betrachtete seinen eingegipsten Fuß.

„Keine Zahlen, Skizzen oder Bauteile.“ Er fuhr sich müde über die Augen. „Keine Gedanken, einfach nur Stille…“

Die Erleichterung darüber war ihm wirklich anzusehen. Wie quälend musste es für ihn sein, von dieser Idee seiner Erfindung, seinen eigenen Gedanken gefangen zu sein? Für jemanden wie Kaiba, der eigentlich immer die Kontrolle haben wollte, kam das bestimmt einem Alptraum gleich. Niemand würde das je nachvollziehen können, aber ich konnte förmlich spüren, welche Last damit von ihm abgefallen war.

„Hast du morgen Physiotherapie?“ Vorsichtig umfasste sein Bein. Ich erinnerte mich noch an die Übungen, die Lauren mit ihm gemacht hatte und vermutlich wäre es nach dem tagelangen Sitzen gut, die Muskeln seines lädierten Beines mal aufzulockern.

„Weiß nicht.“ Er gähnte verhalten, beobachtete träge, wie ich seine Wadenmuskulatur massierte. Innerlich fragte ich mich, ob er nur zu müde war, mich wegzuschicken oder ob ihm meine Anwesenheit im Moment doch recht war. Immerhin hatte ich scheinbar als einziger einen Draht zu seinem Erfindergeist.

„Das finden wir schon raus.“, meinte ich. „Wenn es dich nicht stört, würde ich die wieder begleiten.“

Schien ihn kaum zu interessieren. Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, während er mich betrachtete. „Deine Haare sind anders.“, murmelte er.

„Ja.“ Es war ihm also doch aufgefallen.

„Und neue Kleider.“

Ich nickte. Er nahm es zur Kenntnis, aber er verlor kein Wort darüber, was er davon hielt, während er nun gedankenverloren gen Himmel starrte. Ob er wusste, wie unfassbar schön sich das Licht der untergehenden Sonne in seinen Augen spiegelte? Im Moment wirkte das Blau fast schon flüssig. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der Ruhe so sehr genießen konnte.

„Willst du vielleicht lieber ins Bett?“, fragte ich leise. Er schlief gleich ein, das sah man deutlich. Doch er schüttelte nur den Kopf. „Nur noch ein paar Minuten.“, nuschelte er.

Allerdings hielt er keine paar Minuten mehr durch, ganz wie ich es mir gedacht hatte. Kurz darauf war er eingeschlafen. Sturkopf! Und trotzdem war ich einfach nur zufrieden. Zu wissen, dass er nicht mehr Geißel seiner Erfindung war und jetzt bestimmt schnell wieder fit sein würde, machte mich einfach nur glücklich.

Morgen würde sich vermutlich entscheiden, ob er jetzt wieder die Nase voll von mir hatte und mich erneut vor die Tür setzte. Mir war klar, dass ich damit rechnen musste, aber je mehr Einblick ich in seine Seele, seine Persönlichkeit bekam, desto weniger konnte ich mich einfach damit abfinden. Es war dumm von mir gewesen, mich dermaßen auf ihn einzulassen, aber inzwischen hatte ich ihn wirklich in mein Herz geschlossen. Er hatte Schwächen und Macken, die ihn erstaunlicherweise unglaublich sympathisch machten, gerade weil sie seine so eiskalte perfekte Fassade bröckeln ließen. Aber am meisten imponierte mir, zu was er wirklich fähig war, auch wenn seine größte Stärke zugleich seine größte Schwäche darstellte. Absolute Genialität, die ihn selbst einfach überrollte.

Ich strich andächtig über seinen Bauch. Anfänglich hatte ich schon befürchtet, seine durch den Erfinderwahn bedingte Hungerkur hätte ihn zu sehr abmagern lassen. Immerhin war er vorher schon sehr schlank gewesen. Aber so rapide schien es doch nicht zu sein, zumindest nicht so schlimm, dass er es nicht innerhalb einer Woche würde ausgleichen können. Trotzdem konnte ich mir gut vorstellen, dass seine Gesundheit auf Dauer irgendwann darunter leiden würde.

Vorsichtig hob ich ihn an und trug ihn in sein Bett. Draußen würde es in der Nacht einfach zu kalt werden, um ihn dort zu belassen und eine Erkältung konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Vorsorglich begrub ich ihn unter seiner Decke, strich noch einmal durch sein weiches Haar, ehe ich ihn für heute in Ruhe ließ. Vielleicht sollte ich mal lieber meine Gedanken ordnen, als mich weiter in diesen Schwärmereien für seine Person zu verlieren. Ja, er war eine verdammt starke Persönlichkeit, ein wirklich einzigartiger, faszinierender Mensch, aber was brachte mir all das, wenn er mich sowieso nicht in seiner Nähe haben wollte?

Kopfschüttelnd ging ich in die Küche. Ich würde noch auf Mokuba warten und ihm den neuesten Stand mitteilen, bevor ich nach Hause ging. Bis er kam, hatte ich noch genug Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen.

Kaiba war ein sehr schöner Mann, das konnte ich nicht bestreiten. Aber ich stand nicht auf Männer, ich war nicht schwul. Warum nur machte mir sein Anblick dann jedes Mal das Herz so leicht? Ich fühlte so sehr mit ihm wie ich es bei keiner meiner Freundinnen je getan hatte. Dass er so sehr unter seiner Genialität litt, tat mir fast schon selber weh, obwohl es mich eigentlich nichts anging. Ich spürte einfach den Drang, ihm so nah wie möglich zu sein und so viel wie möglich über ihn herauszufinden.

Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloss. Endlich kam Mokuba nach Hause. Schnell schüttelte ich die Gedanken an Kaiba ab, verwarf sie vorerst als ausgeuferte Schwärmerei.

„Was machst du denn hier?“, fragte der Kleine überrascht, während er langsam näher kam und sich zu mir an den Tresen setzte.

„Ich wollte dich nur auf den neuesten Stand bringen, bevor ich nach Hause gehe.“

„Und?“ Erwartungsvoll sah er mich an.

„Kaiba ist fertig mit seiner Erfindung.“, begann ich monoton, verjagte den Gedanken daran, wie fesselnd sein erleichtertes Lächeln gewesen war.

Mokuba atmete sichtbar erleichtert auf. „Ein Glück. Dann hat dieser Blödsinn endlich ein Ende.“

Blödsinn? Begriff Mokuba denn überhaupt nicht, was sein Bruder da eigentlich leitstete? Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar dazu, sondern erzählte dem Kleinen lieber alle Neuigkeiten.

„Wenn er jetzt schläft, ist das schon mal gut.“ Mokuba verschränkte die Hände ineinander, wie Kaiba selbst es auch manchmal tat, wenn er etwas analysierte. „Dann kann er sich morgen noch kurieren und dann ist er hoffentlich wieder der Alte.“

Kurieren wie von einer Krankheit. Mokuba verstand es wirklich nicht.

„Was wird Kaiba mit der Erfindung anfangen?“, fragte ich gezwungen ruhig.

„Nichts.“ Der Kleine zuckte mit den Schultern. „Er baut sie und danach beschäftigt er sich damit nicht mehr. Wie bei den Händen. Erst verwendet er so viel Energie darauf und dann lässt er sie unter seinem Bett verstauben.“

Das war in der Tat unlogisch. Warum sollte Kaiba die Erfindungen einfach ruhen lassen, wenn er sich dafür vorher so aufopferte?

Mokuba gähnte leicht. „Begleitest du Seto morgen wieder zur Physiotherapie?“

Also musste er morgen doch in die Praxis. „Würde ich ja, aber ich weiß nicht, ob ihm das so recht wäre.“ Er hatte sich vorhin ja nicht wirklich dazu geäußert.

„Ach, ich denke schon.“ Der Kleine winkte ab. „Und wenn nicht wird er dir das schon mitteilen. Aber ich glaube, er wird dich dulden. Du warst ihm ja in den letzten Tagen eine große Hilfe.“

Hm, sollte ich mich tatsächlich wieder dem Risiko aussetzen, von ihm vor die Tür gesetzt zu werden oder vorher selbst gehen? Wahrscheinlich wäre es für mich besser, jetzt den Rückzug anzutreten.

Der Kleine seufzte schwer. „Lauren wird wahrscheinlich auch froh sein, wenn sie hört, dass Seto seine Geniephase wieder überwunden hat.“

Mokuba betitelte es die ganze Zeit schon negativ. Irgendwie stieß mir das sauer auf, aber gerade interessierte mich etwas anderes viel mehr. „Dein Bruder und Lauren stehen sich recht nah, oder?“

„Sicher, sie waren ja schließlich zwei Jahre lang ein Paar.“

So war das also. Ich hatte etwas in der Richtung schon vermutet, aber es ließ mich trotzdem aufhorchen. Zwei Jahre waren immerhin eine lange Zeit. „Aber sie haben sich im Guten getrennt.“, spekulierte ich. „Sonst hätte er sie ja nicht für seine Behandlung ausgesucht.“

„Da ist aber einer neugierig.“ Mokuba schmunzelte leicht.

Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, bei Kaiba lässt sich ja kaum einschätzen, wie sein Liebesleben aussieht.“

„Hm.“ Jetzt wirkte der Kleine eher nachdenklich. „Das ist ein sehr privates Thema.“

Verständlich. Das war vielleicht doch zu intim, um so locker flockig darüber zu reden. Immerhin konnte ich ja schon dankbar für die Erkenntnis sein, dass die beiden Mal ein Paar gewesen waren. Das beantwortete schon mal meine Fragen, die ich Kaiba damals auf der Terrasse gestellt hatte. Er war ein Beziehungsmensch, und höchstwahrscheinlich keine Jungfrau mehr.

Mokuba schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch, sah mir jetzt entschlossen ins Gesicht. „Weißt du was? Ich werde dir davon erzählen.“

„Im Ernst?“, fragte ich zweifelnd.

„Ich glaube, du hast zu Seto einen besonderen Zugang. Wenn du die äußeren Faktoren kennst, vielleicht findest du dann auch einen Weg, ihm gegen diesen Erfinderwahn zu helfen.“

Ich sollte ihm nicht helfen, einen Weg zu finden, diesen Prozess möglichst unbeschadet zu durchlaufen. Nein, ich sollte ihn gänzlich davon abbringen. Das war absolut unmöglich! Wenn Kaiba die Möglichkeit hätte, diese Geistesblitze zu umgehen, würde er es vermutlich selbst tun. Zumindest im Moment.

Ich nickte Mokuba zu. Ja, ich würde alle Informationen sammeln, die er mir gab. Aber nicht, um Kaiba abzuhalten, sondern um ihn zu unterstützen. Ich konnte mir nämlich gut vorstellen, dass er die Dinge wesentlich entspannter angehen könnte, wenn er wüsste, dass er dabei unterstützt wurde.

„Okay.“ Mokuba atmete noch einmal tief durch, ehe er begann: „Als Seto 15 war, brach er sich die Hand.“

Durch Gosaburo, das wusste ich ja.

„Für die Heilung brauchte er natürlich auch Physiotherapie und dabei lernte er Lauren kennen. Sie war damals 18 und noch in der Ausbildung, aber sie nahm sich der Hand meines Bruders an. Die beiden verliebten sich und wurden ein Paar.“

Soweit nicht ungewöhnlich. Eigentlich war es nicht mal sonderlich überraschend, dass Kaiba sich eine Frau gesucht hatte, die älter als er selbst war.

„An sich waren sie ein absolut perfektes Paar, ein richtig starkes Team. Sie haben in allem harmoniert – bis auf einer Sache.“

„Seinem Erfinderwahn?“

Mokuba nickt ernst. „Sie kam nicht damit klar, dass er sich dafür selbst aufrauchte. Egal, was sie versuchte, sie konnte ihn in diesen Phasen nicht erreichen und sie ertrug es einfach nicht, wie ferngesteuert und selbstzerstörerisch er dabei agierte.“

„Also haben sie sich getrennt, weil er es nicht ändern konnte und sie nicht damit klar kam.“ Wie feige! Anstatt ihm zu helfen, machte sie sich aus dem Staub.

„Ja. Aber wie du schon vermutest hast, haben sie sich im Guten getrennt.“

Ich konnte mir das nur schwer vorstellen. Eigentlich war Kaiba gar nicht der Typ, der Wert darauf legte, nach einer gescheiterten Beziehung noch Kontakt zu halten. Warum sollte er jemanden in seiner Nähe halten wollen, der mit einer seiner grundlegenden Eigenschaften überhaupt nicht zurecht kam?

„Deswegen ist es wichtig, dass Seto einen Weg findet, das abzuschalten.“ meinte der Kleine überzeugt.

„Nur weil eine Frau meint, sie kommt damit nicht zurecht?“ Was für ein blöder Grund! Wieso sollte er sich wegen einer Frau ändern? Spekulierte Mokuba darauf, dass Kaiba und Lauren wieder zusammenkommen würden, wenn er seine angeblich so störende Begabung ablegen könnte? Was für ein Unsinn! Entweder man liebte seinen Partner mit allen Ecken und Kanten oder gar nicht. So einfach war das!

Der Kleine seufzte schwer. „Es wäre besser für meinen Bruder. Er selbst vertritt seitdem ja selbst die Meinung, dass ihn keine Frau mit diesem Manko lieben könnte.“

Bitte? „So ein Schwachsinn!“ Nur deswegen musste er ja jetzt nicht zu einem Einsiedler werden. Wegen einer enttäuschten Liebe!

Doch Mokuba redete weiter. „Egal, wie aufrichtig sie ihm ihre Liebe beteuern, er lässt sie alle abblitzen, degradiert sie zu One-Night-Stands.“

Okay… der Sprung vom Beziehungsmenschen zum Womanizer wegen einer enttäuschten Liebe? Klang wie eine Trotzreaktion.

Dann hatte er eine längere Beziehung und mehr Frauen als ich gehabt. Damals auf der Terrasse kam mir das noch unfassbar wichtig vor, um einen Menschen einzuschätzen. Aber jetzt musste ich Kaibas damaliger Aussage zustimmen. Eigentlich war es egal.

Trotzdem war das alles doch echt unfair! Von allen Seiten wurde Kaiba eingeredet, dass sein Erfinderwahn falsch und unerwünscht wäre. Mir kam gerade das ungute Gefühl, dass Kaiba dabei ziemlich auf verlorenem Posten stand. Er leistete Unfassbares, aber keiner um ihn herum schätzte das. Stattdessen bekam er immer nur zu hören, er würde damit alle nur sinnlos in Sorge stürzen. Wenn er seine Erfindung fertiggestellt hatte, hörte er statt Lob und Anerkennung nur, dass er zum Glück endlich mit diesem Blödsinn fertig sei. Bitter! Noch bitterer war nur, dass ihm auch noch vorgeworfen wurde, er allein wäre Schuld am Scheitern der Beziehung zu Lauren. Sie ließen es sogar zu, dass er dachte, keine Frau der Welt könnte ihn deswegen lieben. Wie unfassbar grausam das war!

„Hätte er nicht die Duelldisk erfunden, würdet er auch nicht so eine erfolgreiche Firma besitzen.“, raunte ich gereizt.

Aber Mokuba zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. „Ein Produkt macht noch keine Firma. Und nur, weil ein bis zwei brauchbare Dinge darunter waren, ändert das ja nichts daran, dass Setos Erfinderwahn nicht nur für ihn allein eine ganz schöne Last ist.“

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Er war ein absolutes Ausnahmetalent, könnte wahrscheinlich Revolutionäres erreichen, wenn ihm nicht von allen Seiten Steine in den Weg geworfen würden. Da war es doch kein Wunder, dass er seine Erfindungen danach einfach nicht mehr beachtete. Ihm wurde ja die ganze Zeit gesagt, dass es eh nur Blödsinn sei.

Ruckartig stand ich auf. Ich hatte keinen Nerv mehr, mir das weiter anzuhören. „Es ist schon spät. Ich werde besser nach Hause gehen.“

Mokuba blinzelte irritiert über meine heftige Reaktion. „Schlaf doch hier. Wir haben genügend Gästezimmer.“

Wenn ich hier blieb, hieß das ja doch, ich machte mich von Kaibas Entscheidung abhängig, ob er überhaupt meine Nähe wollte. Trotzdem nahm ich Mokubas Angebot dankbar an. Kaibas Entscheidung war mir egal, ich würde bleiben. Damit er wenigstens einen Verbündeten an seiner Seite hatte.

Praxisbesuch

Ich schlief ganz entspannt aus, genau wissend, dass Kaiba eh nicht früher aufstehen würde. Also konnte ich mich ruhigen Gewissens erst gegen 11:00 Uhr aus dem Bett schwingen und mich dann langsam und gemütlich um das Frühstück kümmern. Mokuba war schon weg und ich hatte keine Ahnung ob und wo sich hier ein Koch herumtrieb, also machte ich mich selbst ans Werk.

Bewaffnet mit Kaffee, Saft und belegten Brötchen begab ich mich in sein Zimmer. Es wunderte mich nicht sonderlich, dass Kaiba tatsächlich noch schlief. Er war tief eingekuschelt in seine Decke und sein Gesicht wirkte jung und unschuldig. Verdammt, dieser Kerl machte es einem wirklich nicht leicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn er so einen Anblick bot!

Unsanfter als beabsichtigt rüttelte ich an seiner Schulter und riss ihn damit etwas grob aus dem Schlaf. Er schreckte auf, sah sich orientierungslos um, ehe sein Blick zu mir wanderte. Was für ein atemberaubend weiches Blau in seinen Augen schimmerte.

„Du bist immer noch hier?“, fragte er verschlafen.

„Um dich zur Therapie zu begleiten, wenns dir genehm ist.“

Er musterte mich ausführlich, ehe er schließlich nickte.

Ein Glück. „Du musst langsam mal aufstehen, wenn du nachher zur Physiotherapie willst.“

Er starrte mich einen Moment durchdringend an, was mit dem verschlafenen Blick echt niedlich aussah. „Und deswegen weckst du mich?“

„Naja, das Aufwachen stellt ja wohl eine grundlegende Voraussetzung dar, um aufstehen zu können, meinst du nicht?“

„Das ergibt Sinn…“ Müde fuhr er sich durchs Haar, gähnte verhalten.

Warum nur musste er morgens so unfassbar ansehnlich sein? Er war so faszinierend, wenn man ihn sonst nur als kalten Firmenchef kannte. Unwillig schüttelte ich den Kopf. „Ich habe Frühstück gemacht, aber ich nehme an, du möchtest vorher duschen.“

Er bedachte mich mit einem schiefen Blick, nickte aber. Vielleicht irritierte es ihn, dass ich seinen Rhythmus doch schon ganz gut einschätzen konnte. Und er war nun mal stark auf sein Aussehen und seine Körperpflege bedacht, da war es nur logisch, dass er sich nicht ungeduscht an den Frühstückstisch setzen würde.

Etwas schwerfällig kletterte er aus dem Bett und huschte ins Badezimmer. Während er duschte, breitete ich das Frühstück auf dem Tisch aus. Hoffentlich gefiel ihm meine Auswahl überhaupt. So ganz kannte ich seinen Geschmack noch nicht, aber er mochte Lachs, wenn ich nach dem Essen, das Mokuba damals auf die Terrasse gebracht hatte, urteilte. Also hatte ich Lachsbrötchen gemacht.

Mein Blick glitt zu dem Modell, das ich am Abend auf dem Tisch abgelegt hatte. Bis jetzt hatte ich es gar nicht genau in Augenschein genommen, dabei war es echt sehenswert. So viele verwinkelte kleine Details. Ich zog Schuh und Socke aus, um meinen Fuß mit dem Konstrukt zu vergleichen. Erstaunlich. Jede Sehne war übertragen und der konstruierte Fuß genauso beweglich wie mein eigener. Wie viel Herzblut in diesem Modell steckte…

Ich schreckte hoch, als Kaiba aus dem Badezimmer kam. Doch den Blick zu ihm hätte ich mir lieber verkneifen sollen, denn er trug nur ein Handtuch um die Hüften. Verdammt!

Er schien sich an meiner Anwesenheit gar nicht zu stören, sondern ging vollkommen gelassen zu seinem Kleiderschrank. Anstatt sich das Handtuch umzubinden, hätte er sich damit lieber abtrocknen sollen, denn seine Haut schimmerte feucht, zwang mich geradezu hinzusehen.

In aller Ruhe suchte er sich neue Kleider heraus. Hatte er einfach vergessen, dass ich hier war? Ich räusperte mich laut, aber er warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, runzelte leicht die Stirn. „Was?“

„I-ich wollte dich nur drauf aufmerksam machen, dass ich noch hier bin.“ Ich versuchte, es sachlich klingen zu lassen, aber meine Stimme klang seltsam hoch.

Schien ihn nicht weiter zu interessieren. Im Gegenteil, er löste das Handtuch von seinen Hüften und warf es achtlos aufs Bett. „Ich dachte, du bist nicht schwul, also wo ist das Problem?“ Obwohl er sich um einen neutralen Ton bemühte, klang es fast schon provokativ.

Gut, dass er sich abgewandt hatte, sonst hätte er gesehen, dass ich dank seiner Aktion knallrot angelaufen war. Was für ein geiler Körper! Sein Hintern sprang mich geradezu an, so sexy war er. Rund und knackig, absolut formvollendet. Die Haut umspannte diese perfekten Rundungen so seidig, dass ich den Wunsch verspürte, reinzukneifen. Zum Glück zog er sich relativ zügig frische Shorts über, denn der Anblick legte mein Denken vollkommen lahm.

„K-kein Problem.“, raunte ich heiser.

Allerdings währte meine Erleichterung darüber nur kurz, denn die Shorts klebten an der feuchten Haut, zeigten sehr deutlich die Konturen und waren zudem ein wenig verrutscht. Verführerisch! Durch diese nur spärliche Verhüllung wirkte es verlockend wie eine verbotene Frucht.

Ich versuchte, meinen Blick davon zu lösen, aber wo sollte ich schon groß hinschauen? Zu diesen langen trainierten Beinen, die unfassbar anziehend wirkten? Zu dem Rücken, der so schön definiert von makelloser Haut umspannt wurde?

Mir war einfach nur heiß und mein Herz schlug schnell und laut in meiner Brust. Warum brachte mich sein Anblick nur so aus dem Konzept?

Ich fixierte angespannt das Modell auf dem Tisch, versuchte, meine Gedanken wieder zu ordnen und durchzuatmen. Mein Gesicht musste feuerrot sein und das durfte er auf keinen Fall sehen. Schlimm genug, dass mir die Hitze nicht nur ins Gesicht geschossen war, sondern ich sie im ganzen Körper spürte. Unfassbar! Dieser Typ war doch nicht normal!

Ich riss mich zusammen, kämpfte all diese Gefühle nieder. Als er sich neben mir auf der Couch niederließ, hatte es sich glücklicherweise gelegt. Zögerlich sah ich zu ihm. Er musterte mich skeptisch, während er ein T-Shirt in seiner Hand umkrempelte. Seine Brust hatte ich schon ein paar Mal gesehen, deswegen konnte ich mich ganz gut beherrschen, nicht zu genau hinzuschauen. Dass der Anblick genauso attraktiv war, wie seine Rückseite, verdrängte ich.

„Man könnte meinen, es ist dir peinlich.“, bemerkte er, wobei in seinem Blick leichter Spott aufleuchtete. Anscheinend fand er das auch noch amüsant. Das Funkeln seiner Augen wirkte sogar noch intensiver als sonst, weil sein nasses Haar fast schwarz glänzte und dadurch einen noch stärkeren Kontrast zu dem hellen Blau bildete.

Ich schnaubte. „Es ist nur merkwürdig, gerade den eiskalten, distanzierten Firmenchef, der rein gar nichts von sich preisgeben will, plötzlich nackt vor sich zu haben.“ Wenn ich mir diese Antwort nur selbst glauben könnte…

Schulterzuckend zog er das T-Shirt doch endlich mal an. „Es hat dich keiner gezwungen hinzusehen.“

„W-wer sagt, dass ich das getan habe?“

Er zog eine Augenbraue hoch, während sich sein Blick in meinen bohrte, als versuche er, mich zu ergründen. „So abgelenkt warst du also...“

Was meinte er denn? Er nickte in Richtung Kleiderschrank. „Dir ist wohl gar nicht aufgefallen, dass eine der Schranktüren ein großer Spiegel ist.“

Oh nein! Das hieß, er hatte meine Reaktion auf seinen Anblick sehr genau sehen können. Das war nicht nur peinlich, das war vernichtend! Ich schluckte unbehaglich, denn seine blauen Augen beobachteten mich lauernd, als erwarte er eine bestimmte Reaktion von mir.

„Frühstück?“, fragte ich ausweichend. Wenn er das Thema nicht fallen ließ, würde ich bald von der Terrasse springen, so peinlich war das!

Einen Moment noch starrte er mich an, aber schließlich nickte er und griff nach einer Kaffeetasse.

Mir wurde gerade klar, dass dieser Mistkerl sich verdammt bewusst war, welche Wirkung er auf andere hatte. Er war eitel, das wusste ich ja, aber wenn ich die Situation überdachte, war er sich seines Körpers dermaßen bewusst, dass er selbst meine Blicke auf seiner Haut als reine Bestätigung betrachtete. Gut für mich, dass hieß mit ein bisschen Glück, er dachte, ich wäre nur von seiner Schönheit fasziniert, aber vielleicht verband er das gar nicht mit Begehren meinerseits. Zumindest hoffte ich das.

Ich begehrte ihn ja auch gar nicht. Nein, ich fand ihn nur ganz ansehnlich. Für einen Mann.

Seufzend schnappte ich mir ein Brötchen und konzentrierte mich lieber darauf. Ihn anzusehen bekam mir gerade einfach nicht.

Mein Blick fiel erneut auf das Modell. Dafür, dass er vorher so sehr darauf fixiert war, beachtete er es jetzt tatsächlich kaum noch. Ich nahm es hoch und betrachtete es erneut eingehend. Wirklich erstaunlich, dass die Zehen genauso beweglich waren wie meine eigenen. Aber…

„Was soll der Fuß eigentlich können?“, fragte ich kritisch.

„Na das, was ein Fuß halt kann.“ er klang nicht mal interessiert.

„Du meinst laufen?“ Ich sah doch wieder zu ihm. Fiel ihm dabei denn gar nichts auf?

Er zuckte nur mit den Schultern, verstand anscheinend nicht, worauf ich hinauswollte.

„Aber ein Fuß kann von allein nicht laufen, zumindest nicht ohne Bein, dass ihn bewegt. Oder?“

Da! Seine Augen wurden mit einem Mal groß und ungläubig. Daran hatte er wohl wirklich nicht gedacht. Er ließ das Brötchen in seiner Hand sinken und starrte das Modell an. „Er kann nicht laufen.“, stellte er verblüfft fest. Ein wenig fassungslos fuhr er sich durchs Haar. „Er kann nur mit den Zehen wackeln.“

Bei seinem hoffnungslos verwirrten Blick musste ich lachen. Vielleicht war es unpassend, aber irgendwie war das schon wieder niedlich. Seto Kaiba, das größte Genie überhaupt, war in der Lage, einen menschlichen Fuß nachzubauen, aber dachte nicht daran, dass ein Fuß ohne Bein gar nicht laufen konnte.

„Du lachst mich aus?“, fragte er jetzt sichtlich erbost. Mein Lachen stieß ihm wirklich sauer auf. Wahrscheinlich dachte er, ich machte mich über ihn lustig.

„Nein!“ Abwehrend hob ich die Hände, wurde schlagartig ernst. Ich wollte auf keinen Fall, dass er dachte, ich würde ihn nicht ernst nehmen. „Ich finde es unfassbar genial, dass du tatsächlich in der Lage bist, so etwas zu entwickeln. Und dass du sowas einfach ohne Skizzen scheinbar aus dem Ärmel schütteln kannst, ist ziemlich krass!“

Bei dem Wort »krass« blitzten seine Augen gefährlich auf. Klar doch, er brauchte nicht noch einen, der ihn dafür kritisierte, aber das war auch nicht meine Absicht.

„Ich weiß nicht, wie ein Mensch zu solch einer Genialität fähig sein kann.“, gestand ich ehrlich. „Ich hab irgendwie dabei das Gefühl, vor Ehrfurcht auf die Knie fallen zu müssen. Was du leistest, ist der Wahnsinn, aber – und das ist echt nicht böse gemeint – ein kleines bisschen unheimlich.“

Er lauschte angespannt und auch ein wenig verwundert. Vielleicht irritierte es ihn, dass ich ihn in der Hinsicht positiv bestärkte.

Ich musste schmunzeln. „Sei nicht sauer, aber dass du so etwas unfassbar Geniales erschaffen kannst und gleichzeitig vollkommen vergisst, dass ein Fuß ohne Bein nicht laufen kann, ist schon ein starker Kontrast. Und irgendwie holt es dich von diesem Götterpodest wieder herunter und macht dich menschlicher“

„Menschlicher?“, fragte er verständnislos. „Die Erfindung macht mich in deinen Augen also unmenschlich?“

„Eher übermenschlich.“ Ich musste meine Worte mit Bedacht wählen. Das war ein empfindliches Thema und wenn ich ihm dabei auf die Zehen stieg, würde er mich in seiner Nähe nie wieder dulden. „Dieses Modell…“ Ich hob das kleine Konstrukt vorsichtig hoch, betrachtete es nachdenklich. „…zeigt ziemlich deutlich, dass du die Fähigkeit hast, in höheren Sphären zu denken als ein normaler Mensch. Ich meine, dieses Ding ist so detailgetreu, einfach perfekt konstruiert. Und das alles aus dem Kopf? Dass du so verdammt intelligent und genial bist, flößt einem schon mächtig Respekt ein.“

Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.“

„Auf nichts.“ Kopfschüttelnd stellte ich das Modell wieder auf den Tisch. „Ich wollte nur sagen, dass ich dir Respekt dafür zolle und deine Arbeit bewundere.“

Solch aufrichtige, lobende Worte irritierten ihn sichtlich. Kein Wunder, wenn er es sonst nur gewohnt war, dafür Kritik und Unverständnis entgegengebracht zu bekommen. Er senkte den Blick, wirkte eher betreten als geschmeichelt.

Ein merkwürdiger Kontrast. Er hatte diesbezüglich gar kein richtiges Selbstbewusstsein, sondern sah es als Manko. So sehr er Anerkennung für seinen Körper, seine Firma und seinen Reichtum genoss, so unangenehm schien es ihm für seinen überragenden Intellekt zu sein. Das war doch grausam!

Ich würde gern mehr darüber wissen, aber ich sah ihm an, dass das einfach kein gutes Thema für ihn war. Das erste Mal seit langem wirkten seine Augen jetzt verschlossen und distanziert.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“, murmelte ich.

Er schüttelte den Kopf „Bist du nicht.“ Er weigerte sich aber weiterhin, mich anzusehen. Anscheinend hatte er keine Lust mehr, mich weiter zu beachten. Und trotzdem schickte er mich nicht weg. Vielleicht hatte ich ihn ja trotz allem dazu angeregt, neugierig zu werden. Alle anderen kritisierten ihn für seine Genialität, aber ich zollte ihm dafür Anerkennung. Vielleicht erkannte er ja, dass ich ein wertvoller Verbündeter für ihn sein könnte.

Mit einem Mal stand er auf und ging mit Kaffee und Brötchen bewaffnet in Richtung Terrasse. Seine Schritte waren langsam und tapsig, als wäre er es trotz den zwei Wochen immer noch nicht gewohnt, mit dem Gips zu laufen. Ich folgte ihm schnell, öffnete die Terrassentür. Man könnte meinen, er hätte damit gerechnet, denn er hatte ja beide Hände voll. Ohne ein Wort des Dankes ließ er sich auf der Liege nieder.

„Was willst du hier draußen?“

„Sonne tanken?“ Er machte es sich auf der Liege bequem, blinzelte träge dem blauen Himmel entgegen, während er einen Schluck vom Kaffee trank. „Ist noch ein bisschen Zeit bis zur Therapie.“

Wow, er war ja wirklich entspannt, verglichen mit den letzten Tagen. „Keine Angst vor neuen Sommersprossen?“, fragte ich grinsend.

Er ließ sich davon allerdings gar nicht beirren. „Du riskierst, dass ich dich vor die Tür setze, Wheeler.“, bemerkte er trocken, ehe er in sein Brötchen biss.

Mir blieben die Worte im Halse stecken. Auch wenn er das sehr ruhig rüberbrachte, verstand ich den Nachdruck dahinter. Er reagierte nicht gleich so aggressiv wie beim letzten Mal, aber Sommersprossen waren für ihn wohl immer noch ein Ärgernis und ich konnte es mir nicht leisten, ihn zu verstimmen. Also schwieg ich und ließ ihn einfach die Sonne genießen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er gerade nach so kräfteraubenden Erfinderphasen Ruhe und Entspannung sehr genoss.

Wir genossen die Stille, bis es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. Schwerfällig und träge kam er auf die Beine, machte sich eher unmotiviert auf den Weg. Irgendwann zwischendurch sammelte er noch seine Krücken ein. Vielleicht traute er sich doch nicht zu, ohne sie auf Reisen zu gehen.

Ich folgte ihm einfach, wusste nicht so genau, wo er eigentlich hinlief. Wo war Roland? Sollte der uns nicht fahren? Anscheinend nicht, denn Kaiba dirigierte uns in die Garage. Nette Autos. Wirklich eine nette Auswahl an Luxusschlitten und Sportwagen, alle gepflegt und auf Hochglanz poliert.

„G-gehören die alle dir?“

„Wem denn sonst? Meinem Butler?“ Schnaubend humpelte er an einem Ferrari und einem Lamborghini vorbei.

„Wow!“ Begeistert betrachtete ich die ganzen Nobelkarossen. Kaiba besaß ja wirklich Geschmack. An der Wand befand sich ein ganzes Arsenal an Werkzeugen und Zubehör. Hatte Kaiba etwa einen Mechaniker, der sich um die Wagen kümmerte?

Ich fragte ihn danach. Jetzt blieb er stehen, ließ seinen Blick wohlmeinend über die Autos wandern. „Ich brauche keinen Mechaniker. Wenn etwas anliegt, repariere ich es selbst.“

„Autos reparieren kannst du also auch?“

„Reparieren, tunen, umbauen...“ Er zuckte vage mit den Schultern. „Ist eine nette Entspannung für zwischendurch, auch wenn die meisten Wagen hier inzwischen scharf an den Grenzen der Legalität kratzen.“

„Wieso das?“

„Weil man die meisten Umbauten eintragen lassen muss und es meistens nicht so gut ankommt, wenn das Fahrzeug überragend schnell oder laut ist.“ Er verdrehte die Augen, ehe er weiterhumpelte.

Autos tunen war für ihn eine Entspannungsübung? Wer hätte gedacht, dass ihn sowas interessierte? Reich sein musste ja echt Spaß machen, wenn man sich solche Hobbys leisten konnte.

„Kannst du mit dem Bein denn fahren?“, fragte ich kritisch. An sich war es ja das linke Bein, also könnte er wohl eine Automatik bedienen.

„Vermutlich schon, aber warum sollte ich?“ Er lief auf einen schwarzen BMW zu, allerdings auf die Beifahrerseite, und stieg ein. Ich überlegte einen Moment, ob ich das richtig verstand, aber schließlich kletterte ich einfach auf den Fahrersitz. Damit hatte Kaiba wohl gerechnet, denn vollkommen unbeeindruckt hielt er mir den Fahrzeugschlüssel hin.

„D-du lässt mich wirklich fahren?“, fragte ich hoffnungsvoll. So ein edles Auto?

Er nickte, bedachte mich gleichzeitig mit einem strengen Blick. „Für jeden Schaden, den du verursachst, kommst du schön selber auf!“

War ja klar. Also eine Schramme und ich würde den Rest meines Lebens dafür zahlen. Aber andererseits würde ich vermutlich in meinem ganzen Leben nie wieder die Chance haben, so einen edlen Schlitten zu fahren und wenn er seine Autos so liebevoll pflegte war das auch noch ein absoluter Vertrauensbeweis. Also griff ich zu und startete den Motor. Schnurrte wie ein Miezekätzchen. Ich grinste freudig, als ich die Einfahrt hinunterrollte.

Eines musste man Kaiba lassen, er war ein angenehmer Beifahrer. Er murrte nicht, wenn ich zu ruppig bremste oder zu rasant um die Kurve fuhr. An so einen sportlichen Wagen musste man sich erst gewöhnen. Nein, er hielt artig den Mund, während ich den Anweisungen des fest eingebauten Navis bis zu unserem Ziel folgte.

Er stieg aus, war sich wohl ziemlich sicher, dass ich ihm folgen würde. Von außen hatte ich das Gebäude erkannt. Es war ein Komplex, in dem viele der renommiertesten und teuersten Ärzte der Stadt ihre Praxen hatten. Diese Lauren arbeitete also für die Elite. Wundervoll, dass dieses Weib auch noch erfolgreich war! Zähneknirschend folgte ich Kaiba in den Fahrstuhl und anschließend in die Praxis für Physiotherapie und Osteopathie.

Es gab kein Wartezimmer sondern nur einen Empfang, an dem Kaiba überschwänglich von einer zugegebenermaßen ziemlich niedlichen Schwester begrüßt wurde. Dem Leuchten in ihren Augen entnahm ich, dass sie schon eine kleine Schwäche für ihn hatte. Dieses begeisterte Funkeln nahm sogar noch zu, als sie verkündete, die Sitzung würde mit einer von ihr ausgeführten Massage beginnen. Interessant. Wenn sie sich so darauf freute, musste Kaiba entgegen aller Erwartungen ein relativ erträglicher Patient sein.

Die Kleine geleitete Kaiba in einen Raum mit einer Behandlungsliege und leitete ihn an, Hose und Shirt auszuziehen. Schien ja Gang und Gebe zu sein, bei diesen Behandlungen strippen zu müssen. Allerdings war Kaiba ja auch nicht unbedingt schüchtern, wie er heute Morgen deutlich gezeigt hatte.

Kaiba folgte gehorsam den Anweisungen und legte sich anschließend auf den Bauch. Anscheinend kannte er den Ablauf schon. In Windeseile und äußerst euphorisch machte sich die Kleine daran, seinen Rücken zu massieren. Ich beobachtete das Ganze von einem Stuhl in der Ecke aus, aber ich erkannte selbst von hier, dass sie offensichtlich großen Gefallen daran fand.

Kaiba selbst schien es jedoch nicht so sehr zu genießen wie sie. Scheinbar war seine Muskulatur wirklich verspannt und die Lockerung durch die Massage teilweise schmerzhaft. Vielleicht lag es an der starken Verkrampfung durch die ungünstige Haltung beim Erfinden, aber vielleicht lag es auch an der Unbedachtheit der Kleinen.

„Siri!“, knurrte er, als es scheinbar besonders unangenehm war. „Nicht so doll!“

„E-entschuldige.“ Hastig ließ sie von dem Punkt, den sie gerade bearbeitet hatte, ab. „Aber die Verspannung ist schon ganz schön massiv.“ Jetzt strich sie fast schon zärtlich über seine Wirbelsäule und setzte als nächstes an seinem Nacken an. „Hier auch, aber ich bin vorsichtig, versprochen.“

Trotzdem konnte es nicht wirklich entspannend sein, denn sein Gesichtsausdruck blieb angespannt.

Eigentlich dachte Kaiba ja immer noch, ich würde mitkommen, weil mich Physiotherapie so wahnsinnig interessierte. Also konnte ich bestimmt auch näher herangehen, ohne dass er es hinterfragte. Ich gesellte mich an den Behandlungstisch und beobachtete, wie Siris Finger über die weiche durch das Massageöl glänzende Haut glitten. Ihre Bewegungen waren flink, wirkten aber nicht so gekonnt wie bei Lauren, und es schien für Kaiba immer wieder unangenehm zu sein. So verspannt hatte er eigentlich gar nicht gewirkt. Seine Bewegungen waren immer fließend und souverän gewesen, aber vielleicht war er einfach schon so geübt darin, Schmerzen zu überspielen.

Siri sah zu mir auf. „Du bist der, der sich für Physio interessiert, oder? Lauren hat davon erzählt.“

Sie hatte mich also erwähnt? Na gut, das konnte ich ja nutzen. Ich nickte. „Ich würde mir gerne einen Einblick in den Beruf verschaffen.“

Da lächelte sie. „Glück für dich, dass du dir so ein Prachtexemplar dafür ausgesucht hast.“

Ich sah, wie Kaiba bei der Betitelung auffahren wollte, aber als Siri auf eine scheinbar sehr unangenehme Stelle drückte, sank er mit einem gequälten Keuchen zurück auf die Liege. Ziemlich fies!

„Da siehst du, wie vorteilhaft es ist, den Körper genau zu kennen. Schon ein klein wenig Druck an der richtigen Stelle und selbst der sturste Patient wird handzahm.“ Ihr Schmunzeln war ein bisschen zu liebevoll, um neutral gemeint zu sein. Sie hatte an Kaiba wirklich einen Narren gefressen. Aber ihre Aussage ließ darauf schließen, dass er nicht von Anfang an so ein kooperativer Patient gewesen war.

„Wenn du willst, zeige ich dir ein paar Kniffe.“, meinte sie, strich dabei fast schon liebevoll über seine Wirbelsäule. Sie mochte ihn wirklich. Seltsamerweise störte mich das bei Siri nicht so sehr wie bei Lauren. Sie war zwar niedlich, aber wenn ich Kaibas Blick richtig gedeutet hatte, für ihn nicht von Interesse.

Ich war geneigt, das Angebot anzunehmen, denn das wäre ja wirklich die perfekte Gelegenheit, mein Vorhaben, einmal seine weiche Haut zu streicheln, in die Tat umzusetzen. Aber bevor ich zustimmen konnte, meldete Kaiba sich zu Wort.

„Ich bin doch keine Übungspuppe!“, murrte er wenig überzeugend. Wahrscheinlich gefiel es ihm gar nicht, ihr so ausgeliefert zu sein.

„Ich werde dich nicht anfassen, wenn es dir nicht recht ist.“, erklärte ich ruhig. Kaiba nicht zu verärgern war wichtiger als das hier.

Er knurrte leise. Anscheinend passte ihm das wirklich nicht. „Lern das Handwerk an jemand anderem! Reicht schon, wenn Siri mich durch ihre Tollpatschigkeit in den Wahnsinn treibt.“

Als Antwort drückte sie erneut auf eine empfindliche Stelle rechts neben seiner unteren Wirbelsäule. Das schien wirklich wehzutun, denn wie auch bei dem Mal davor verzog er das Gesicht und knurrte leise. Dass sie ihn damit maßregeln wollte, fand ich ziemlich unfair.

„Vielleicht kann ich dir helfen.“, schlug ich vor. Auch wenn er eigentlich deutlich gemacht hatte, dass er das nicht wollte, vielleicht konnte ich ihm ja doch helfen. „Ich hab zwar keine Ausbildung darin, aber meine eine Exfreundin hab ich auch manchmal massiert.“ Ehe er widersprechen konnte, legte ich eine Hand auf die empfindliche Stelle. Ein verkrampfter Muskel, mehr nicht. „Sie hat mir immer gesagt, wenn ein Muskel noch zu verspannt ist, dann bringt dieses Ausstreichen, was Siri hier versucht, nichts.“

Ich wartete geduldig, ob er etwas gegen meine Berührung sagte oder tat, aber das schien er nicht vorzuhaben. Vielleicht wartete er ab, ob ich das Problem tatsächlich beheben konnte. Also klopfte ich leicht mit den Handkanten auf die betroffene Stelle.

Natürlich würde Siri das alles wesentlich besser können als ich mit meinem Laienwissen, aber ich vermutete mal, dass sie ihre Faszination von seiner Anwesenheit fahrig und unkonzentriert werden ließ. Sonst hätte sie garantiert gemerkt, dass der Muskel einfach nur so verspannt war, dass ihre Knettechnik wehtun musste. Und mir konnte das nur recht sein, denn seine Haut war wirklich verdammt weich.

„Ist es okay so?“, fragte ich vorsichtig.

Er nickte, hatte sogar die Augen geschlossen. „Du hast so weiche Hände...“ Ja, das schien ihm tatsächlich zu gefallen. Ich grinste triumphierend. Dann hatte sich die Mühe ja doch ausgezahlt, ganz wie erhofft.

Bis jetzt hatte ich das gar nicht registriert, aber seine Haut war gar nicht so makellos wie gedacht. Über der rechten Niere hatte er eine längliche Narbe, die mir vorher gar nicht aufgefallen war. Sie war sehr blass, also wohl schon älter und sie entstellte ihn auch nicht. Aber sie zeigte deutlich, dass auch er nicht perfekt war. Wieder eine Charakteristik mehr, die ihn menschlicher machte.

Als ich spürte, dass sich die Verspannung langsam löste, legte ich meine flache Hand auf die Stelle und bewegte sie darauf schnell hin und her.

„Weißt du überhaupt, was du da machst?“, fragte Siri argwöhnisch.

„Keine Ahnung, aber bei meiner Exfreundin hat es immer geholfen und bei Kaiba auch. Oder?“ Ich sah ihm prüfend ins Gesicht. Er nickte nur träge, schien meine Berührungen gänzlich zu genießen.

Siri seufzte schwer, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich war wohl etwas abgelenkt, entschuldige.“ Versöhnlich strich sie über seinen Nacken. „Dann erkläre ich dir wenigstens, was du da gerade bewirkst.“ Sie deutete auf meine Hand. „Durch die schnelle Bewegung der Handfläche erzeugst du ein Muskelzittern, dass das Gewebe lockert und die Muskeln entspannt.“

Okay. Interessierte mich überhaupt nicht, solange es funktionierte. Und dass es das tat, spürte ich, denn der Muskel war jetzt nicht mehr so hart.

„Ich übernehme wieder.“, bestimmte sie, wischte meine Hände von seinem Rücken. Erst dachte ich, sie wäre vielleicht sauer, weil ich mich in ihre Arbeit eingemischt hatte, aber sie lächelte nur. „Vielleicht ist der Beruf wirklich etwas für dich. Du scheinst zumindest Talent zu haben.“

Ich schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Wirklich ein nettes Kompliment, aber eigentlich stellte ich mir meine Zukunft anders vor, als wildfremde Menschen zu massieren. Außer für den privaten Gebrauch fand ich das keineswegs reizvoll. Kaiba war nur eine ansehnliche Ausnahme.

Bis Siri mit der Massage fertig war, hielt ich mich zurück und beobachtete nur. Jetzt war sie wohl wirklich konzentrierter, denn Kaiba schien das Ganze nicht mehr so unangenehm zu sein.

Als Lauren in den Raum kam, beendete Siri abrupt die Massage und trat vom Behandlungstisch zurück. Vielleicht hatte sie so viel Respekt vor dieser Frau.

„Wollen wir mal sehen, ob die Massage Wirkung gezeigt hat.“, meinte Lauren, während sie mit ihren Händen über Kaibas Rücken glitt. Man sah, dass sie da wesentlich mehr Erfahrung hatte, denn ihre Finger wanderten viel gezielter die Wirbelsäule entlang. „Schon ganz gut. Nur noch ein paar kleine Blockaden.“ Ihre Hände wanderten zum Oberschenkel des linken Beines, strichen auch dort über die Haut und die Muskeln bis runter zur Wade. „Keine besonderen Verspannungen im Bein.“

„Ist doch gut, oder?“, murmelte Kaiba.

„Normalerweise ja.“ Ihre Hände glitten an seinem Bein wieder hoch und die eine kam auf seinem Hintern zum liegen. Verdammt, stieß mir das sauer auf! Für eine Behandlung war das garantiert nicht nötig! Wenn die beiden eine Beziehung hatten, war ihr sein Körper vertraut, schon klar. Aber jetzt waren sie getrennt und diese Berührung absolut unpassend. Sie musste sein Bein behandeln und vielleicht auch seinen Rücken. Aber sie hatte kein Recht, ihre Hand an so einer intimen Stelle abzulegen und so zu tun, als wäre es selbstverständlich, ihn dort zu berühren!

„Aber bei dir sagt mir das, dass du trotz Gehgips nicht besonders viel gelaufen bist, obwohl ich dir schon mehrfach gesagt habe, dass das wichtig für die Genesung ist.“ Ihre Stimme klang streng, aber ihr Blick, mit dem sie ihn betrachtete, war unpassend liebevoll. „Einmal aufsetzen.“

Während er sich hinsetzte, schickte Lauren Siri aus dem Raum. Als sich ihr Blick auf mich richtete, dachte ich schon, sie würde auch mich nicht dulden, aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen machte sie sich daran, seinen Rücken nach Blockaden abzutasten. „Du hast wieder zu viel gesessen.“, merkte sie an.

„Aber dafür bin ich jetzt fertig mit meiner Erfindung.“ Er suchte ihren Blick, sah sie erwartungsvoll und auch ein bisschen stolz an.

Sie erwiderte seinen Blick nur kurz, ehe sie sich wieder an ihre Arbeit machte. „Dann kannst du dich ja jetzt auf die Genesung deines Beines konzentrieren.“

Das saß! Kein Lob, keine geteilte Freude darüber. Sie formulierte es nicht so, aber ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie wenig sie die Erfindung interessierte. Für sie war nur wichtig, dass sie vom Tisch war. Wenn ich Mokuba richtig verstanden hatte, war aber auch mit keiner anderen Reaktion zu rechnen gewesen. Trotzdem wirkte Kaiba darüber ernüchtert.

Während der restlichen Behandlung blieb er wortkarg und zurückhaltend, war gar nicht gewillt, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, auch wenn sie es immer wieder versuchte. Lauren schien das irgendwann einfach zu akzeptieren. Erst am Ende, als er sich Hose und Shirt wieder anzog, suchte sie nochmal seine Aufmerksamkeit. Sie nutzte den Moment, als er auf der Liege saß und sich den Schuh band, um sich von hinten an seinen Rücken zu schmiegen und ihr Kinn auf seiner Schulter abzulegen.

„Ich weiß, das liegt nicht in deiner Natur, aber du solltest wirklich besser auf dich achten, Süßer.“ Bedächtig hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“ Warum war sie so anschmiegsam, wenn sie doch getrennt waren? Hoffte sie auf ein erneutes Aufblühen ihrer Beziehung?

Wenn ja, dann war das wohl nicht in seinem Sinn. „Das brauchst du nicht.“, sagte er kühl. Dann sprang er von der Liege und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Damit schien sie nicht gerechnet zu haben, denn sie starrte ihm verblüfft hinterher, während ich mir schnell seine Krücken schnappte und ihm hinterherrannte. Innerlich grinste ich darüber nur.

Explosion

Erst im Fahrstuhl holte Kaiba ihn wieder ein. Äußerlich wirkte er ruhig, aber ich sah ihm an, dass er sauer war. Seine Augen wirkten dunkel und verschlossen, so dass ich seine Gedanken nicht lesen konnte, aber schon immer hatte es deutliche Anzeichen gegeben, die mir gezeigt hatten, wann es nicht ratsam war, mit ihm Streit anzufangen.

Kaiba zu provozieren war für mich immer eine Art Sport gewesen, aber ich hatte von Anfang an verstanden, seine Signale zu deuten. Wenn er sowieso schon richtig gereizt war, wäre es absolut dumm gewesen, ihn weiter zu ärgern.

Und auch jetzt waren seine Signale deutlich.

Das deutlichste Zeichen, war die angespannte Kiefermuskulatur, das unkontrollierte Zucken seiner rechten Augenbraue und das gefährliche Glimmen in diesem eiskalten Blick. Meistens rammte er noch seinen Eckzahn in die Unterlippe und biss darauf herum, bis sie anschwoll. Seine Körpersprache hatte er wesentlich besser im Griff. Da gab es nur eine Kleinigkeit, die seinen Gemütszustand verriet. Wenn er aufgebracht war, sah man das an seiner linken Hand. Dann kratzte er nämlich immer mit dem Nagel des Zeigefingers über den Rücken des Daumens. Wahrscheinlich unbewusst, denn teilweise kratzte er die Haut sogar blutig. Mir war schon oft die kleine Narbe an der Stelle aufgefallen.

Auch jetzt zuckte seine Augenbraue und er kratzte über seinen Daumen. Laurens Reaktion schien ihn richtig zu ärgern. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen, also folgte ich ihm nur stumm zum Wagen und kletterte wieder auf den Fahrersitz.

„Fahr einfach!“, knurrte er.

Das erste Mal seit langem verfiel er wieder in seine Rolle als eiskalter Firmenchef, wirkte distanziert und bedrohlich, obwohl er nur dasaß und aus dem Fenster starrte. Allein seine Aura jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken. Ich traute mich nicht mal, ihn zu fragen, wohin ich eigentlich fahren sollte. Also fuhr ich einfach durch die Stadt.

Ich wusste nicht genau, was ihn daran so wütend gemacht hatte. Dass Lauren ihm dermaßen wegen der Erfindung vor den Kopf gestoßen hatte? Vielleicht auch, dass sie sich ja genau deswegen getrennt hatten, sie ihm wieder gezeigt hatte, wie sehr sie seinen Erfinderwahn missbilligte und gleichzeitig versuchte, erneut mit ihm anzubändeln. Ja vielleicht stieß ihm genau das so sauer auf.

Offiziell wusste ich nichts von der Beziehung oder den Trennungsgründen, also konnte ich ihn schlecht darauf ansprechen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte er sich mir zu. „Fahr mich zur Firma!“

„Was willst du da?“, fragte ich überrascht.

„Nach dem Rechten sehen.“

Als Firmenchef bekam er Respekt und Anerkennung. Vielleicht versuchte er damit, die Enttäuschung über das ausbleibende Lob für seine Erfindung auszugleichen. An sich würde auch gar nichts dagegen sprechen, wenn er nur mal kurz nachsah, aber Kaiba war nicht der Typ, der sich mit einem kurzen Blick zufrieden gab und wenn er sich jetzt in seiner Arbeit vergrub, würde er wieder viel zu viel sitzen und zu wenig laufen. Also musste ich ihn davon abbringen.

„Wenn du unbedingt in die Firma willst, dann nur durch den Haupteingang.“, bestimmte ich. Jetzt konnte er sich aussuchen, ob er seine Eitelkeit weit genug überwinden wollte. Ich pokerte mal darauf, dass sein Stolz ihn daran hindern würde, mit Gips an seinen Mitarbeitern vorbeizulaufen.

„Nein! Es gibt einen nicht öffentlichen Zugang durch die Tiefgarage. Wir nehmen den!“

Ich schüttelte vehement den Kopf. „Nö.“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, wirkten immer dunkler und gefährlicher. Hoffentlich verschätzte ich mich nicht. „Was heißt hier nö?“, knurrte er.

„Entweder durch den Haupteingang oder gar nicht!“

„Was zum Teufel soll der Scheiß?“ Ein schmaler Grat. Inzwischen zuckte seine Augenbraue und er kratzte unkontrolliert über den Daumen. Alle Signale standen auf Gefahr und normalerweise würde ich spätestens jetzt den Rückzug antreten.

„Wenn du dich wieder in deine Firma eingraben willst, obwohl wir beide wissen, dass das deiner Genesung nicht helfen wird, dann kann ich dich davon nicht abhalten.“, erwiderte ich gezwungen ruhig. Ich hatte meine Stimme gut unter Kontrolle, aber innerlich kämpfte ich mit blanker Panik. Was, wenn er ins Lenkrad griff oder mir einen Schlag verpasste? Ein fahrendes Auto war kein guter Ort zum Streiten. „Aber ich werde dich dabei nicht unterstützen. Also Haupteingang oder gar nicht.“

In seinen Augen glühte der Zorn. Er stand kurz davor, zu explodieren. „Was glaubst du, wer du bist, du verblödeter Köter!“, fauchte er laut und ungehalten. „Du hast nicht das Recht, mir irgendwas vorzuschreiben!“

„Ich schreibe dir nichts vor, ich verweigere dir nur meine Unterstützung bei so einem bescheuerten Vorhaben!“

„Raus aus meinem Auto!“, schrie er nun wütend. Spätestens jetzt wirkte er richtig furchteinflößend. „Ich brauch dich nicht, also verpiss dich!“

Das konnte er gern haben.

Ich schaltete den Motor ab, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und kletterte schnell aus dem Auto. Mit eiligen Schritten entfernte ich mich davon.

Von mir aus konnte er sich gern heiser schreien und austoben. Er war ja so auf mich fixiert gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, wohin ich uns gefahren hatte. An einen abgelegenen See am Stadtrand. Früher war es ein Badesee gewesen, doch heute würde wohl niemand mehr auch nur einen Fuß in dieses zu einem trüben Tümpel verkommene Gewässer halten. Ich kam hin und wieder trotzdem gern an diesen abgelegenen Ort, denn hier war sonst keine Menschenseele.

Kaiba würde auch sehr schnell gemerkt haben, dass ich uns quasi in die Pampa gebracht hatte, denn ich hörte, wie die Beifahrertür aufflog. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er auf mich zukam, aber ich war viel schneller und wendiger als er.

Vorsichtig rutschte ich die Uferböschung herunter und bahnte mir einen Weg durch das Schilf auf dieser Seite des Sees. Ich versteckte schnell den Autoschlüssel, denn das verschaffte mir den einzigen aber entscheidenden Vorteil. Anschließend kletterte ich den kleinen Hang wieder rauf.

Ich musste zu Kaiba nur genug Abstand halten und hoffen, dass meine Theorie stimmte. Nach jahrelangen Streitereien behauptete ich mal, Meister seiner Wutausbrüche zu sein. Er war dabei impulsiv und energisch, aber nicht wirklich ausdauernd. Nein, seine Wut war wie ein Tornado. Heftig, aufbrausend und nach wenigen Minuten verpufft. Er reagierte sich mit einem lauten, markerschütternden Gebrüll ab und kam danach wieder auf den Boden der Tatsachen, um damit abzuschließen.

Deswegen war es auch immer besser, ihn zum Explodieren zu bringen, als die Wut in ihm weiter schwelen zu lassen. Dann war er nämlich auch nicht nachtragend. Genau wie bei unseren Streitereien in der Schule. Er hängte sich nicht an einem Thema auf, über das er grollen konnte, im Gegensatz zu mir. Wenn ich damit am nächsten Tag das gleiche Thema angeschnitten hatte, reagierte er zuerst immer ruhig, musste erst neu von mir aufgeputscht werden. Eigentlich eine gute Eigenschaft. Hoffentlich verkalkulierte ich mich damit nicht.

Er kam auf mich zu, geladen und sichtlich aggressiv. Allein seine Aura strahlte die reinste Bedrohung aus. „Was soll der Mist?“, fluchte er. „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren, du dämliche Töle?“

„Ich gebe dir nur Zeit, dich abzuregen, bevor du was Dummes tust.“

„Ich tu hier etwas Dummes?“ Seine Augen funkelten vor kalter Wut. „Du fährst uns mitten ins Nirgendwo und denkst allen Ernstes, du könntest mir vorschreiben, was ich tun soll?“ Jetzt schrie er, oder besser gesagt, er brüllte laut und furchteinflößend wie ein Löwe. „Du weißt rein gar nichts, du intelligenzverkrüppelter Bastard! Du verstehst nichts und ich lege auch keinen Wert darauf, von dir verstanden zu werden!“ Er kam bedrohlich näher. „Ich brauche dich nicht, bilde dir das bloß nicht ein! Also misch dich nie wieder in mein Leben ein!“

Okay, das war eine heftigere Reaktion als gedacht. Er schoss eine ganze Salve an wüsten Beschimpfungen und Flüchen auf mich ab. Ich musste ihm lassen, dass er mich mit wirklich kreativen Beleidigungen effektiv in den Boden rammte. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich diesem Ansturm einfach nichts entgegensetzen können. Wer hätte gedacht, dass er auf so hohem Niveau beleidigen konnte. Bei den meisten Worten musste ich erst mal nachdenken, was das überhaupt heißen sollte. Ich konnte wahrscheinlich froh sein, wenn ich keinen Hörsturz von seinem Gebrüll bekam.

Als seine Schimpftirade endlich endete, war er außer Atem und seine Wangen ganz rot. Ich war noch immer fassungslos, wie umfassend sein Vokabular mit Beleidigungen gespickt war, aber ihm schien es gut getan zu haben, sich Luft zu machen.

Bis hierhin stimmte meine Theorie. Eine heftige Explosion und dann wurde er ruhiger. Allerdings hatte er sich immer noch nicht abgeregt, das zeigte das Glimmen in seinen Augen deutlich. Dabei hatte er noch gar nicht die ganze Situation erfasst. Ich konnte nur hoffen, dass ich richtig lag und er sein Pulver bald gänzlich verschossen hatte. Danach konnte ich ihn immer noch besänftigen. Allerdings verstand ich jetzt ziemlich gut, warum seine Geschäftspartner solche Angst vor ihm hatten. Er verursachte bei mir allein mit seinem Blick das Gefühl, um mein Leben rennen zu müssen.

„Du wirst von hier aber nicht ohne mich wegkommen.“, warf ich ein, vergrößerte vorsorglich den Abstand zwischen uns, denn ich sah, dass er das bis jetzt noch nicht bedacht hatte und auch nicht gerade erfreut darüber war. „Wir sind zu weit draußen, als dass du mit dem Fuß nach Hause laufen könntest und du hast kein Handy dabei. Ich habe den Autoschlüssel versteckt, also bringt es dich auch nicht weiter, wenn du mich in dem Tümpel ertränkst.“ - und der Gedanke stand ihm sehr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er knurrte leise und die Intensität seines Blickes wollte einfach nicht abnehmen. Die Situation passte ihm gar nicht, aber er musste anerkennen, dass er doch auf mich angewiesen war. „Was soll der ganze Mist überhaupt?“, raunte er bissig.

„Schon klar, du bist sauer und gekränkt, weil dir Laurens Verhalten nicht passt.“

Dass ich ihren Namen in den Mund nahm, machte ihn nur noch wütender, das zeigte sein Blick. Wenn ich den nicht schon so gewohnt wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich panisch wegrennen. Er hatte mich schon so oft bedrohlich angeschaut, dass ich mich davon inzwischen nicht mehr einschüchtern ließ. Zumindest nicht mehr so doll.

„Reagier dich doch erst mal ab, bevor du übereifrige Pläne schmiedest.“

Er schnaubte, starrte mich weiter vernichtend an. Aber er hörte zu. Das meiste Pulver war bereits verschossen, jetzt glimmte nur noch ein kleiner Rest.

Ich holte tief Luft und hoffte, dass er mir die nächsten Worte nicht allzu übel nahm. „Durch Mokuba weiß ich über eure Beziehung Bescheid, und auch über die Trennungsgründe.“

Das passte ihm wirklich nicht und die Wut in seinen Augen flammte wieder auf. „Es geht dich rein gar nichts an!“, zischte er.

„Nein, tut es nicht.“ Ich blieb gezwungen ruhig. „Aber ich verstehe, dass es dich sauer macht, was sie abgezogen hat. Das war wirklich mies von ihr!“

Sein Blick war absolut hasserfüllt. „Du hast keine Ahnung! Halt dich aus meinem Leben raus!“ Das konnte er wohl gar nicht leiden. Sein Liebesleben und seine Gefühlswelt behielt er lieber für sich und er wollte auch nicht, dass irgendjemand darin wühlte, ihm vielleicht sogar noch aufzeigte, was ihn bewegte.

Und wie immer, wenn Kaiba sich auf zu privater Ebene angegriffen fühlte, zog er sich zurück. Kein Pulver mehr übrig, also fuhr er seinen Schutzwall hoch. Er wandte sich von mir ab und brachte mehr Abstand zwischen uns. Jaja, sobald seine Privatsphäre betroffen war, machte er dicht. Aber jetzt durfte ich nicht lockerlassen, sondern musste mich festbeißen.

„Mokuba und Lauren sind sich einig, dass sie deine Erfindungen nicht mögen, das ist mir schon aufgefallen.“

„Halt die Klappe!“ Er ging einfach weiter, wollte das einfach nicht hören. Allerdings konnte er mir mit dem Gipsfuß kaum davonlaufen.

„Ich glaube, Mokuba denkt, du könntest mit Lauen wieder zusammenkommen, wenn du diese Erfinderphasen nicht mehr hättest, und wenn ich ihr Verhalten von vorhin richtig deute, will sie das ja wohl auch.“

Wusste er das schon oder war ihm das neu? Vielleicht lag ich ja auch falsch, aber als Außenstehender würde ich meine Beobachtungen genau so zusammenfassen.

Und scheinbar traf ich einen Punkt, denn jetzt wirbelte er herum und starrte mich vernichtend an. „Was macht das schon?“, knurrte er. „Ich kann es nun mal nicht ändern.“ Er verpasste mir einen groben Stoß gegen die Brust, der mich zurücktaumeln ließ. Anscheinend war ich ihm zu nah auf die Pelle gerückt. „Und warum sollte ich es überhaupt versuchen, nur weil es anderen nicht passt?“

Gute Einstellung. Auch wenn er selbst diesen Erfinderwahn als qualvoll empfinden musste, er würde damit nicht für andere aufhören, selbst wenn er es könnte. Das erklärte auch seine unterkühlte Abfuhr von vorhin. Egal, welche Geschütze Lauren auffuhr, er würde sie nie zurücknehmen. Dafür war er einfach zu stolz. Dieses Wissen verschaffte mir Genugtuung.

„Du sollst es doch auch gar nicht ändern!“, rief ich eindringlich, wahrte aber trotzdem jetzt mehr Abstand zu ihm. „Genau darum geht es doch!“

„Du willst mich also dazu überreden, zu tun, was ich eh tue?“ Er schnaubte abfällig. „Du bist sogar noch dämlicher als ich dachte.“

Er war immer so reizend, wenn er sich ärgerte. „Ich wollte dich darin nur bestärken.“, erwiderte ich gezwungen ruhig. Auch wenn ich wirklich Verständnis für seine Situation hatte, er reizte mich gerade bis aufs Blut mit seinen ewigen Beleidigungen und seiner feindlichen Haltung. „Ich finde, du definierst den Wert deiner Erfindungen viel zu sehr über Mokubas und Laurens Meinung. Aber sie sind nicht so wertlos, wie dir immer gesagt wird. Dein Erfinderwahn ist auch nicht die reinste Belastung für deine Umgebung und erst recht kein Blödsinn! Nein, er ist wertvoll und sollte unterstützt werden.“

„Was weißt du schon?“ Und erneuter Rückzug. Er wandte sich wieder ab und lief in Richtung des kleinen Sees.

Diesmal setzte ich ihm nicht nach. Meine Worte mussten für ihn schwer begreiflich sein und er würde seine Zeit brauchen, um sie zu verstehen, zu deuten und dann für sich selbst zu beurteilen. Entweder er glaubte mir oder er strafte mich Lügen und verbannte mich wieder aus seinem Leben.

Ich ging zurück zum Wagen und lehnte mich dagegen. Während er nachdenken konnte, wartete ich geduldig und starrte Löcher in die Luft. Es war warm heute und der Himmel strahlend blau. Wirklich ein schöner Tag, um ihn unter freiem Himmel zu verbringen. Also schloss ich die Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Kaiba würde sich schon wieder beruhigen.

Wie lange ich dastand, wusste ich nicht, aber irgendwann wurden mir die Augen schwer von der Wärme und der Ruhe. Ich schüttelte den Kopf, um die Müdigkeitzu vertreiben. Wurde Zeit, einen erneuten Versuch zu wagen. Kaiba hatte inzwischen genug Zeit gehabt, alles zu durchdenken und langsam sollten wir wohl von hier verschwinden. Mich machte die intensive Sonneneinstrahlung nur müde, aber Kaiba war wesentlich empfindlicher und würde das noch viel deutlicher spüren als ich.

Schwerfällig stieß ich mich vom Wagen ab und ging runter zum See. Kleine morsche Stufen führten die Böschung hinunter zu einem ziemlich marode aussehenden Steg. Kaiba schien das allerdings nicht zu beunruhigen, denn er hatte es sich an dessen Ende bequem gemacht, lag ausgestreckt auf den verwitterten Holzplanken und ließ die Füße herabbaumeln.

Bei jedem Schritt, den ich über den Steg lief, knirschte es bedrohlich unter meinen Füßen. Trotzdem ging ich weiter und setzte mich neben Kaiba. Er hatte einen Arm über die Augen gelegt und wie nicht anders zu erwarten waren seine Nase und die Jochbeine gerötet. Das würde bestimmt noch ein paar hübsche Sommersprossen mehr geben.

Ich legte vorsichtig meine Hand auf seinen Bauch. Was mich dazu bewegte, konnte ich gar nicht sagen, es war eher ein Impuls, dem ich folgte. Kaiba tat auch gar nichts dagegen, also warum nicht.

Der Stoff seines schwarzen T-Shirts war unangenehm heiß unter meinen Fingern, aber trotzdem zog ich sie nicht zurück. Obwohl ich nicht direkt seine nackte Haut berühren konnte, fühlte es sich aufregend an. Ich konnte seine Muskeln ertasten und seine Atemzüge spüren. In gewisser Weise war diese Berührung, obwohl so simpel, sehr intim und dass er es einfach zuließ, jagte mir wohlige Schauer über den Rücken. Und es zeigte, dass seine Wut wirklich abgeflaut sein musste, sonst wäre er nicht so zutraulich.

„Ist dir nicht heiß?“, fragte ich.

Er murrte leise. „Zu heiß und zu hell.“

„Zu hell?“

„Was du bei deiner damaligen Aufzählung von Gründen für Lichtempfindlichkeit vergessen hast, ist der absolut simpelste.“, nuschelte er. Seine Stimme klang träge und kraftlos.

„Der wäre?“

„Genetische Benachteiligung.“ Vorsichtig hob er seinen Arm und blinzelte ein wenig gequält der Sonne entgegen.

„Ich weiß zwar nicht, was das heißt, aber ich finde, gerade du kannst wirklich nicht über schlechte Gene klagen.“ Schmunzelnd strich ich von seinem Bauch langsam höher. Was für einen schön definierten Körper meine Finger da ertasteten. Nein, er war zu schön, um über sowas zu klagen.

„Weißt du, was der Unterschied zwischen blauen und braunen Augen ist?“

„Die Farbe?“

„Die Pigmentierung!“ Er seufzte schwer, als hielte er mich für begriffsstutzig. „Je dunkler die Augenfarbe ist, desto mehr Pigmente sind in der Regenbogenhaut eingelagert. Und Pigmente schützen vor Sonnenlicht und Helligkeit.“

Ich überdachte, was er mir damit sagen wollte. „Du meinst also, du bist wesentlich lichtempfindlicher als ich, weil deine Augen auch viel heller sind und demzufolge weniger Pigmente beherbergen.“

Er nickte, starrte blinzelnd in den Himmel.

Mir war bis jetzt gar nicht klar gewesen, dass die Augenfarbe tatsächlich auch über die Lichtempfindlichkeit bestimmte, aber blaue Augen deshalb als Manko zu betrachten, ging entschieden zu weit. „Du hast unfassbar schöne Augen, was macht es da, wenn du die Helligkeit ein kleines bisschen schlechter verträgst?“

Schwerfällig setzte er sich auf, schüttelte dabei unwirsch meine Hand ab. „Du bist schuld, dass ich hier in der Hitze schmoren muss!“, murrte er. Und dass sie ihm nicht bekam, erkannte man an der geröteten Haut sehr deutlich. Allerdings sah er damit irgendwie niedlich aus. Es unterstrich noch deutlicher das weiche Blau seiner Augen. Sie wirkten jetzt nicht mehr verschlossen, also grollte er mir auch nicht mehr. „Du hättest dich auch in den Schatten setzen können.“ Ich deutete auf eine Baumgruppe gar nicht weit vom Wagen. „Es war deine eigene Entscheidung dich mitten in die pralle Sonne zu legen.“

Auf eigene Fehler hingewiesen zu werden, konnte er gar nicht leiden, das hatte er in der Vergangenheit gezeigt. Aber er schien jetzt wirklich kein Pulver mehr zu haben, denn außer einem kleinen Knurren kam nichts über seine Lippen.

„Willst du noch in die Firma?“

Er schüttelte träge den Kopf, wirkte jetzt eher müde und erschlagen.

„Dann fahr ich dich jetzt nach Hause, okay?“ Ich wollte aufstehen, doch er ergriff meinen Arm und hielt mich zurück.

Sein Blick bohrte sich in meinen, als versuche er mich zu analysieren. „Warum ist es dir so wichtig, was ich von meinen Erfindungen halte? Ist doch meine Sache.“

Es interessierte ihn also doch. Mit ein bisschen Glück könnte er mich wirklich als einen Verbündeten sehen, wenn er mir glaubte. „Ich finde, du hast das Potenzial Unglaubliches zu erreichen. Du hast ein einzigartiges Talent, das man unbedingt fördern sollte. Stell dir vor, was du alles erreichen könntest, wenn du dich nur noch aufs Erfinden statt auf die Leitung deiner Firma konzentrieren würdest.“

Er bedachte mich mit einem kritischen Blick. „Ausgerechnet du willst mir sagen, dass ich diese… Anfälle ausleben soll?“

Anfälle? Das war ein ziemlich hässliches Wort dafür, aber ich nickte. „Was du dabei erschaffst ist einmalig genial. Du solltest an den Erfindungen dranbleiben, statt sie nach Fertigstellung einfach in die Ecke zu werfen.“

„Wozu denn?“ Sein Blick wich meinem aus, glitt lieber über den See.

Es ärgerte mich, dass er diesbezüglich überhaupt kein Selbstbewusstsein hatte. Wie nur könnte ich das ändern? „Mokuba und Lauren sind dagegen, weil du dich dabei dieser starken körperlichen Tortur aussetzt. Ich glaube nicht, dass es direkt gegen die Erfindungen gerichtet ist.“

„Macht keinen Unterschied. Ich kann es nicht ändern, falls dir das entgangen ist.“

„Aber mit ein bisschen Unterstützung von außen kannst du diese Phasen durchleben, ohne dich körperlich dermaßen zu überfordern.“

„W-was?“ Jetzt sah er mich doch an, aus großen ungläubigen Augen. „Wie?“

„Du arbeitest phasenweise, ganz einfach. Wenn man dich beobachtet, kann man das gut erkennen, weil die auch die Teile, die du in deiner Erfindung verbaust, danach sortierst.“

Wenn ich seinen irritierten Blick richtig deutete, wusste er selbst das gar nicht.

„Du bist nicht ansprechbar, wenn du dich mitten in deiner Arbeit befindest, aber hast du gerade eine dieser Phasen abgeschlossen, kann man dich aus deiner Arbeit herausholen. Man muss dich also nur zum rechten Zeitpunkt abpassen und dann bist du eigentlich ganz pflegeleicht.“

Er starrte mich vollkommen fassungslos an. Wahrscheinlich konnte er es einfach nicht glauben, dass ausgerechnet ich einfach daherkam und entdeckte, wie er seinen Erfinderwahn schadlos durchleben konnte, nachdem doch alle anderen daran gescheitert waren. Dabei war es so offensichtlich.

Ich lächelte, stolz über meine Erkenntnis. „Weißt du, was das heißt? In Zukunft kannst du dich deinen Erfindungen widmen, ohne dich dafür aufzuopfern.“

„Ich könnte zumindest körperlich unversehrt bleiben.“, murmelte er nachdenklich. Er starrte wieder aufs Wasser. Wieso begeisterte ihn das nicht? „Aber ich bleibe weiterhin eine Marionette meiner eigenen Gedanken.“

Ich senkte betreten den Blick. Klar war es toll, wenn er sich körperlich nicht mehr opfern musste, aber es änderte nichts daran, dass er es nicht kontrollieren konnte.

„Du hast keine Vorstellung davon, wie qualvoll es ist, einfach von diesen Visionen überrannt zu werden und sich dem gar nicht entziehen zu können.“ Er schloss die Augen, sein Gesicht wirkte angespannt, als würde ihn allein der Gedanke daran stressen.

„Vielleicht lässt sich auch das ändern.“, meinte ich vorsichtig.

„Na klar doch!“ Er schnaubte sarkastisch. „Ich kann mir ja einfach so lange auf den Kopf hauen, bis die Idee weg ist.“

„Widmest du dich dem Erfinden eigentlich nur, wenn du diese Geistesblitze hast?“

„Reicht doch!“

„Vielleicht nicht. Vielleicht ist deine Genialität wie ein Vulkan. Wenn du sie die ganze Zeit unterdrückst, kommt sie mit diesen Visionen explosionsartig zum Vorschein, aber wenn du sie immer wieder in kleinen Dosen ablässt, kannst du es dadurch vielleicht abfangen.“

Er starrte mich kurz nachdenklich an, ehe er sich ruckartig erhob. „Mir scheint, du hast keine Ahnung von Vulkanen. Die explodieren nämlich nicht immer nur ein bisschen. Ich würde jetzt gern nach Hause.“

Damit war das Gespräch für ihn wohl beendet. Sollte mir recht sein. Ich hatte ihm gesagt, was wichtig für ihn war und ich wusste, dass er mir Respekt für meine Entdeckung zollte, auch wenn er mir meine Vulkantheorie nicht glaubte. Ich allerdings fand, es wäre eine Idee, der man nachgehen sollte. Es stimmte doch, wenn er sich nur noch seinen Erfindungen widmen würde, könnte er Revolutionäres erreichen.

Aber erst mal ließ ich das Thema ruhen. Ich ging ins Schilf, um den Schlüssel zu holen. Dort hatte ich ihn unter einem Stein versteckt, um ihn auch wiederzufinden. Eine unfassbar blöde Idee, wie sich zeigte. Ungeschickterweise hatte ich den Schlüssel mit dem Bart voran in die Erde gesteckt. Als ich ihn aus dem Boden zog, war er in zwei Teile gebrochen. Verdammt! Kaiba würde mich umbringen und das zu recht. Innerlich ohrfeigte ich mich dafür. Ich war vorhin so gehetzt gewesen, dass ich dabei den Schlüssel viel zu rabiat gehandhabt haben musste.

Zerknirscht sammelte ich die Schlüsselüberreste auf und folgte Kaiba, der bereits am Wagen wartete. Anscheinend sah er mir meinen Missmut schon von weitem an. „Hast du den Schlüssel verloren?“, fragte er kritisch.

„Nein…“ Zögerlich zeigte ich ihm den Schlüssel. „Nicht verloren.“

Er verdrehte nur die Augen. „Warum überrascht mich das so gar nicht?“ Kopfschüttelnd schnappte er sich den Griff des Schlüssels und schloss mit der darin integrierten Fernbedienung den Wagen auf. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, kletterte er auf den Fahrersitz. Was sollte das bringen? Wollte er jetzt im Wagen grollen?

Ich machte vor Schreck einen Satz rückwärts, als das Auto plötzlich ansprang. Was zum? Hatte er etwa einen Ersatzschlüssel im Auto? Hastig kletterte ich auf den Beifahrersitz, bevor er noch ohne mich losfuhr. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, da rollte er auch schon an.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte ich verblüfft.

„Kurzgeschlossen.“, antwortete er knapp.

Logisch, ein Genie wie er konnte das bestimmt im Schlaf. Aber das hieß ja eigentlich, er hätte die ganze Zeit von hier verschwinden können. Also warum hatte er es nicht getan?

Als ich ihn danach fragte, bedachte er mich nur mit einem schiefen Blick. „Du hast nicht viel Ahnung von Autos, oder?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Moderne Autos haben eine elektronische Wegfahrsperre, die unter anderem Benzinpumpe und Zündung blockiert, wenn sie eingeschaltet ist.“, erklärte er sachlich. „Wie bei den meisten Fahrzeugen wird auch bei diesem hier die Wegfahrsperre ausgeschaltet, wenn man per Funkfernbedienung die Türen entriegelt.“

Ich überlegte kurz. „Ohne Fernbedienung hättest du also die Wegfahrsperre überwinden müssen.“

„- und das Türschloss knacken. Das hätte aber hässliche Kratzer gegeben.“

„Aber ein Genie wie du hätte auch die Wegfahrsperre überwinden können, richtig?“

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Sicher. Aber es wäre wesentlich aufwendiger und ohne Werkzeug eine schmutzige Angelegenheit.“

Kaiba, das Technikwunder.

„Soll ich dich zuhause absetzen?“

Die Frage kam so plötzlich, dass sie mir wie ein eiskalter Schlag ins Gesicht vorkam. Wie dumm von mir, einfach anzunehmen, dass er mich brav wieder mit zu sich nahm. Wozu auch, er brauchte mich doch nicht.

„S-sicher.“, meinte ich leise. Ich sagte ihm meine Adresse und er tippte es ins fest eingebaute Navi ein. Eigentlich ziemlich sinnlos, immerhin wohnte ich an einer großen Hauptstraße. Die müsste er auch so finden. Aber nein, er folgte brav der Routenplanung bis direkt vor meine Haustür.

„Danke.“, murmelte ich, als er den Motor ausschaltete.

„Sicher.“ Mit einem Mal beugte er sich zu mir rüber. Sein Gesicht kam meinem sehr sehr nah, so dass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spürte. Sein Blick glitt zu mir, bohrte sich in meinen. Was starrte er mich so intensiv an? Mir liefen Schauer über den Rücken bei diesem hellen Blau und seine Nähe ließ mein Herz rasen. Was sollte das werden?

„Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn man versucht, mich zu etwas zu zwingen, Wheeler.“, sagte er bedrohlich ruhig. „Noch einmal so eine Aktion wie dein toller Ausflug in die Einöde heute und ich zeig dir noch eine Seite an mir, die du nicht kennst. Und glaub mir, die möchtest du auch lieber nicht kennenlernen.“ Seine Stimme klang fast schon sanft, als er das sagte. Das machte es nur noch beängstigender. Kaiba wusste sehr genau, dass er wesentlich furchteinflößender war, wenn er nicht brüllte sondern diese eiskalte Beherrschtheit an den Tag legte.

Ich schluckte schwer. „V-verstanden.“

„Gut.“ Er lehnte sich zurück. „Dann steig jetzt aus.“

Widerwillig schnallte ich mich ab. Derweil glitten seine Finger erneut zum Navi und tippten jetzt seine Adresse ein. „Dein Orientierungssinn ist nicht sehr ausgeprägt, oder?“

Er hielt mit seinen Eingaben inne, sah mich schief an. „Wozu, wenn mein Auto schon weiß, wo ich hin muss?“

„Schon gut.“ Darüber konnte ich nur schmunzeln. Seto Kaiba, Genie auf so vielen Ebenen und gleichzeitig so untalentiert in anderen Angelegenheiten. Wie unfair wäre es, ihn jetzt nicht mehr weiter studieren können? „Kann ich zu deiner nächsten Physiotherapie wieder mitkommen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“

„Danke.“ Zuversichtlicher kletterte ich jetzt aus dem Auto. „Dann sehen wir uns da, du orientierungsloses Genie.“ Ich verschwand schnell im Hausaufgang, bevor er mich mit seinem bösen Blick noch aufspießte.

Eingeständnis

Drei elend lange Tage musste ich warten, bis ich ihn wiedersehen konnte. Mir kam es vor, als würde die Zeit gar nicht vergehen wollen.

Warum nur? Warum hatte ich immer mehr das Gefühl, ihn in meinem Leben haben zu müssen? Zugegeben, er faszinierte mich mehr als jeder andere es jemals könnte und ich empfand ein Gefühl tiefer Zuneigung, wenn ich ihn sah. Er war interessant, faszinierend, liebenswert… und so unbeschreiblich genial.

In gewisser Weise war er perfekt. Jeder kleine Makel, jede Schwäche fügte sich so gut in dieses Bild ein, machte ihn noch wesentlich sympathischer und interessanter. Er hatte so viele kleine Eigenheiten und Macken, die ihn erst richtig ausmachten und ich konnte es kaum erwarten, noch mehr davon zu entdecken.

Ungeduldig wartete ich darauf, dass mir die Tür zur Villa geöffnet wurde. Ich wollte ihn endlich wiedersehen, meinen kleinen Sturkopf.

Ein Bediensteter öffnete endlich nach einer gefühlten Ewigkeit und teilte mir mit, dass die Therapie bereits angefangen hatte. Also beeilte ich mich lieber.

Ich wollte gerade eintreten, als ich durch die Tür laute Stimmen hörte. Eine gehörte definitiv Kaiba, die andere war weiblich. Vielleicht Lauren. Ein Streit? Na das war doch mal interessant.

Auch wenn es unhöflich war, trat ich einfach mal ein. Tatsächlich Lauren. Sie stand dicht vor Kaiba, die Arme vor der Brust verschränkt und starrte ihn wütend an. Er erwiderte ihren Blick ebenso sauer.

„Das akzeptiere ich nicht!“, zischte sie erbost.

„Ist mir egal! Und ich diskutiere darüber auch nicht mehr mit dir!“, knurrte er. „Also kannst du jetzt entweder gehen oder deinen Job machen.“

Sie spießte ihn noch einen Moment lang mit ihrem Blick auf, ehe sie die Hände in die Luft warf und „Schön!“ fauchte. Trotzig ging sie um den Behandlungstisch herum und nahm ihre Position ein. Sie war sichtlich erzürnt. Wollte Kaiba sich wirklich jetzt von hier behandeln lassen? Das könnte ziemlich schmerzhaft für ihn werden. Trotzdem zog er brav Shirt und Hose aus und setzte sich auf die Liege.

Diesmal war die Behandlung wirklich wesentlich schneller und schmerzhafter für Kaiba. Ich sah ihm das deutlich an, aber er brachte keinen Mucks über seine Lippen. Wer wusste schon, was das für ein merkwürdiger Zwist zwischen den beiden war. Ich hielt diesmal lieber Abstand, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Als die Behandlung vorbei war, ging Lauren, ohne sich von mir oder Kaiba zu verabschieden. Hinter ihr fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss.

„Sie wirkt ziemlich ungehalten.“, merkte ich an.

„Soll sie nur.“ Kaibas Bewegungen waren steif und zögerlich, als er sich wieder anzog. Anscheinend hatte ihre Behandlung wirklich wehgetan.

„Sie hat ihren Frust an dir offensichtlich ungehemmt ausgelassen.“

„Verständlich, wenn ich die Ursache dafür bin, oder?“ Er massierte sich ein wenig gequält den Nacken. Also hatte er ihr absichtlich seinen Körper überlassen, damit sie ihren Ärger über ihn daran zum Ausdruck bringen konnte? Das klang masochistisch. Oder selbstlos, wenn er ihr damit half, es besser zu ertragen.

„Ich hab zwar nicht so viel Erfahrung, aber wenn du willst, kann ich mal schauen, ob ich da was retten kann.“ War ja nicht mit anzusehen, wie er sich die Schultern rieb. Ich wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern positionierte mich entschlossen hinter ihm. Wenn es ihm nicht passte, würde er mich das schon wissen lassen.

Ich nutzte, dass er noch auf der Liege saß und legte meine Hände auf seine Schultern, strich vorsichtig über seinen Nacken. Die Verspannungen waren deutlich spürbar und ich hatte auch genau gesehen, dass Lauren mit ihren Händen in dem Bereich zugange gewesen war. Aber sie musste eindeutig sauer sein, denn anscheinend hatte sie diesen Fakt wirklich nur genutzt, um ihm damit Schmerzen zuzufügen, die Verspannungen aber nicht beseitigt.

Vorsichtig kreiste ich mit den Handflächen über den Verhärtungen, massierte anschließend die harten Muskeln. Zuerst hatte ich bedenken, dass ich ihm bei einer falschen Behandlung nur noch mehr Schmerzen zufügen könnte, aber er ließ kein Unwohlsein verlauten. Und tatsächlich bekam ich die Muskeln locker.

„Vielleicht wäre der Beruf wirklich was für dich.“, murmelte er leise. Darüber konnte ich nur grinsen, denn das hieß, es gefiel ihm.

„Wahrscheinlich wäre es effektiver, wenn du das Shirt ausziehen würdest.“ War es vermessen, das zu fordern? Ich konnte es zumindest versuchen und die Frage war ja unverfänglich, wenn er sie auf die Massage bezog. Anders schien er es auch nicht zu verstehen, denn anstandslos zog er das Oberteil aus und ließ es achtlos auf den Boden fallen.

Gut, dass er mit dem Rücken zu mir saß, sonst hätte er jetzt mein breites Grinsen gesehen. Ich genoss diese Situation voll und ganz. Auch wenn ich ihn schon das letzte Mal in der Praxis massiert hatte, war das hier ganz anders. Wir waren ungestört und die Massage eine recht intime Angelegenheit. Unter meinen Fingern fühlte sich seine Haut so weich und warm an wie ich es mir immer vorgestellt hatte und ich musste dieses Gefühl mit niemandem teilen.

„Du hattest recht mit Lauren.“, murmelte er plötzlich.

„Inwiefern?“ Ich war überrascht, dass er mir tatsächlich vom Grund des Streits erzählen wollte. Das kam einem absoluten Vertrauensbeweis gleich.

Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, damit ich leichter die Muskeln auflockern konnte. „Sie will wieder eine Beziehung.“

Angespannt knirschte ich mit den Zähnen. Dieses elende Weib versuchte es also wirklich. Ich musste mich konzentrieren, um ihn meine innere Unruhe nicht merken zu lassen und die Massage sanft zu halten. „Ich nehme an, sie war deswegen so erzürnt, weil du sie abgewiesen hast.“

Er nickte nur.

Sehr gut! Er hatte sie in ihre Schranken verwiesen und in Zukunft würde sie hoffentlich ihre Finger von ihm lassen. Naja, ganz würde das wohl nicht gehen, wenn sie seine Physiotherapeutin war. Vorsichtig glitt ich von seinem Nacken weiter über seinen Rücken, ertastete weitere Verspannungen im unteren Drittel.

„Warum hast du sie für deine Therapie ausgesucht?“, fragte ich leise. Das ergab sich mir nicht, wenn sie doch getrennt waren?

Er zuckte nur mit den Schultern. „Sie ist gut ihn ihrem Job.“

„Nur deswegen?“

Irritiert sah er mich über die Schulter hinweg an. Er verstand nicht, worauf hinauswollte. Ich selbst auch nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich am Ende meiner Beziehungen nie den Wunsch verspürt hatte, noch weiter in Kontakt mit meiner Exfreundin zu bleiben. Und Kaiba war nicht unbedingt der sentimentale Typ. Ihm musste aber doch klar gewesen sein, dass die Therapie auch mit viel körperlicher Nähe verbunden war.

Mir kam gerade eine Vermutung. Hatte er vielleicht selbst gehofft, ihre Liebe hätte noch eine Chance? Das würde erklären, warum er zu ihr gegangen war. Wenn ich überdachte, was ich über die Beziehung wusste, musste Kaiba sie wirklich geliebt und ihre Abweisung wegen seinem Erfinderwahn ihn zutiefst getroffen haben. Nur ihretwegen hatte er das Vertrauen in jede Beziehung verloren.

Es ergab Sinn. Ja, vielleicht hatte er wirklich gedacht, sie könnten einen Neuanfang starten, aber als sie ihn mit seiner Erfindung erneut abwies, schien sich dieser Gedanke zerschlagen zu haben. Wahrscheinlich war er deswegen gerade emotional angegriffen und vertraute sich mir nur aus einem schwachen Moment heraus an.

Mir fielen keine tröstenden Worte ein, die angemessen erschienen. Wie auch, wenn ich innerlich froh darüber war, dass die beiden nicht mehr zueinander fanden? Er konnte mit ihr nie glücklich werden, das war doch offensichtlich. Also strich ich nur stumm über seinen Rücken und massierte die weiche Haut.

Aber irgendwann schien es ihm zu reichen und er sprang vom Behandlungstisch. Er war ein unruhiger Geist, lief wie von der Tarantel gestochen aus dem Raum. Ich wusste nicht genau, was ihn dazu bewegt hatte, allerdings war es ja auch nicht das erste Mal, dass ich Kaiba nicht verstand.

Seufzend umrundete ich den Behandlungstisch und angelte sein Shirt vom Boden. Was auch immer ihm in den Sinn gekommen war, es musste ja verdammt wichtig sein, wenn er sich nicht mal mehr davor anziehen konnte.

Verstohlen schnupperte ich an dem Shirt. Es roch ganz nach ihm, so vertraut und angenehm. Ja, ich mochte seinen Duft. Eigentlich ungewöhnlich, denn er war durchaus männlich und eine wenig herb, keineswegs süß und lieblich wie bei einer Frau. Und trotzdem sprach er mich ungemein an. Innerlich könnte ich mich dafür ohrfeigen. In letzter Zeit liefen meine Gedanken viel zu oft in die falsche Richtung und ich sollte sie durch solch dumme Aktionen wie mit dem T-Shirt nicht auch noch fördern.

Ich folgte Kaiba lieber schnell, um zu sehen, was er trieb. Wie nicht anders zu erwarten fand ich ihn in seinem Zimmer. Er stand vor seinem Schreibtisch und hielt den konstruierten Fuß in der Hand – oder das, was davon übrig war. Anscheinend hatte Lauren ihre Wut daran ausgelassen.

Oh nein, das musste Kaiba wirklich treffen. Dieser Angriff ging unter die Gürtellinie.

Vorsichtig trat ich neben ihn. „Tut mir leid.“, murmelte ich. „Das ist echt mies!“

„Ich hätte damit rechnen müssen.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wenn man bedenkt, dass ihre Wut ihre Ursache in meinen Erfindungen hat, ist es logisch, dass sie sie daran ausgelassen hat.“ Vorsichtig stellte er das lädierte Konstrukt zurück auf den Tisch. „Die Beschädigungen sind nicht so massiv, dass ich es nicht reparieren könnte und selbst wenn, wäre es letztendlich egal. Es ist ja nur ein Modell, das keinerlei Funktion erfüllen kann.“

„Im Gegensatz zu den Händen?“

„Ja, das wäre in der Tat ärgerlicher gewesen.“ Sein Blick fiel auf das T-Shirt in meiner Hand. Ohne ein weiteres Wort griff er danach und zog es über.

Er war gar nicht sauer? Wirklich merkwürdig.

„Liebst du sie noch?“

Ups, die Frage kam schneller über meine Lippen als ich nachdenken konnte. Wahrscheinlich war das mehr als unpassend.

Er hielt mitten in der Bewegung, sein T-Shirt zu richten, inne, und schwieg. Lange schwieg er einfach nur, wirkte gedankenverloren. „Sie hat mich gerettet, als ich dachte, die Finsternis verschlingt mich.“, murmelte er. Sein Blick wurde abwesend, regelrecht entrückt, als erinnere er sich an etwas zurück. „Sie war mein Licht...“

Was sollte das heißen? Wovor sollte sie ihn denn gerettet haben? Ich sah, wie er ins Nichts starrte, als wäre er mit den Gedanken ganz weit weg. Vielleicht erinnerte er sich an ihre erste Begegnung. Was auch immer es war, es machte den Eindruck, als wäre er noch nicht gewillt sich davon zu lösen. Lauren musste ihm wahnsinnig viel bedeutet haben und obwohl er ihr beim letzen Treffen eine Abfuhr erteilt hatte, konnte er wohl einfach nicht mir ihr abschließen.

„Gerettet? Wie denn?“ Vielleicht war es unpassend, reinzugrätschen, aber ich musste es wissen. Was hatte sie für ihn getan, dass er so sehr an ihr hing?

Aber er antwortete darauf nicht. „Ich muss zu Dr. Hikawe.“, meinte er stattdessen. Er richtete sein Shirt und ging an mir vorbei zum Schrank. Damit war das Thema wohl beendet.

Heute war also die Kontrolluntersuchung? Waren schon wieder drei Wochen vergangen? Na gut, dann hatte das erst mal Priorität. Wenn er auf meine Frage nicht antworten wollte, könnte ich ihn schlecht dazu zwingen. Es machte auch keinen Sinn, nochmal nachzuhaken, denn Kaiba würde einfach dicht machen.

„Soll ich dich fahren?“

„Du denkst ernsthaft, ich gebe dir nach dem letzten Mal nochmal einen Schlüssel?“, fragte er spöttisch.

Mist!

„Ich muss mich noch umziehen und dann können wir los.“

Jaja, er für den Arzt machte er sich wieder fein. Eitler Pfau! Allerdings sagte ich nichts dagegen sondern sah ihm lieber zu, als er sich in eine schwarze Hose und ein weißes Hemd kleidete. Als er fertig war, folgte ich ihm in die Garage. Diesmal fuhr er, natürlich brav nach Navi. Scheinbar konnte er sich wirklich keine Strecken merken, aber ich nahm es nur mit einem leichten Schmunzeln zur Kenntnis.

Wie beim letzten Mal auch kam Kaiba gleich an die Reihe, kaum dass wir das Krankenhaus betreten hatten. Wieder wurden Röntgenaufnahmen gemacht. Kaiba saß auf dem Behandlungstisch, baumelte mit den Füßen, während der Arzt die Aufnahmen eingehend studierte. Äußerlich wirkte er ruhig, aber inzwischen kannte ich gut genug, um zu bemerken, dass er das ganz und gar nicht war. Sein Blick glitt unstet über die zahlreichen Instrumente und aus dem Fenster. Außerdem kratzte er schon wieder über den Daumenrücken. Wahrscheinlich war er nervös wegen der Diagnose. Nachdem die erste Woche so ein herber Rückschlag gewesen war, fürchtete er wohl auch bei dieser Untersuchung, nicht überzeugen zu können. Immerhin hatte er sich die letzten Wochen kaum bewegt.

„Soweit ganz gut.“ Der Arzt nickte zufrieden. „Der Bruch ist gemessen an den Erwartungen wirklich hervorragend verheilt.“

Das schien Kaiba schon mal zu beruhigen, denn er atmete erleichtert aus.

Während er einen neuen Gips anlegte, tastete Dr. Hikawe mit den Händen Kaibas Wade ab. Schließlich wanderten seine Hände auch zum unversehrten Bein und untersuchten es. „Der Muskelabbau ist doch stärker vorangeschritten als er sollte.“

Kaiba zuckte vage mit den Schultern. Was sollte er dazu auch groß sagen?

„Sie sollten die Bewegungsmöglichkeit, die sie haben, auch nutzen. Das soll ja nicht nur verhindern, dass die Muskeln zu stark verkümmern, sondern auch einer Thrombose entgegenwirken.“

„Ich werde besser darauf achten.“, murmelte Kaiba.

„Gut.“ Dr. Hikawe nickte. „Und bis dahin gebe ich Ihnen eine Spritze zur Sicherheit.“

„A-aber die Tabletten sind doch schon dagegen.“

„Trotzdem.“ Er ging zu einem Medizinschrank und holte eine Spritze und eine Ampulle hervor. „Wir wollen ja nur sicher gehen. Stellen sie sich hin.“, meinte er, während er die Spritze aufzog.

Widerwillig kam Kaiba dem nach.

„Öffnen Sie schon mal die Hose.“

Ruckartig wirbelte er zum Arzt herum. „Wieso?“

Aber der grinste nur. „Was glauben Sie denn, wo die Spritze hinkommt?“

Da schien Kaiba ein Licht aufzugehen, aber er sah alles andere als begeistert aus. Er fletschte leicht die Zähne, während er sich auf dem Behandlungstisch stützte und der Arzt zu Werke ging. Als ihn die Nadel in den Hintern piekte, knurrte er leise.

Auch wenn ich nur einen Blick auf den Poansatz erhaschen konnte, war das wirklich ein verdammt netter Anblick. Was für ein formidables Hinterteil. Langsam aber unausweichlich gestand ich mir selbst ein, dass ich seinen Körper wesentlich attraktiver und anziehender fand als ich sollte. Aber inzwischen konnte ich mich ganz gut damit arrangieren. Es war nichts Falsches daran, jemanden schön zu finden, egal welches Geschlecht er hatte. Dass der Anblick zum Teil auch meinen Unterleib ansprach, ignorierte ich geflissentlich.

„Gehen wir!“

Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass Kaiba bereits an mir vorbeigegangen war. Schnell folgte ich ihm aus der Praxis und kletterte ins Auto, bevor er ohne mich losfuhr.

„Was willst du jetzt machen?“, fragte ich neugierig. Wenn alles gut ging, müsste er den Gips in zwei Wochen los sein. Aber wie wollte er sich bis dahin beschäftigen?

„Ich muss mir irgendwas suchen, bei dem ich mich mehr bewege.“ Er sagte es, als wäre das doch logisch.

„Und was?“

„Keine Ahnung.“

Durchdacht wie immer. Aber Kaiba hatte schon vor seinem Erfinderwahn nicht gewusst, was er mit sich anfangen sollte. „Es ist schönes Wetter. Wie wäre es, wenn du in deinem Garten spazieren gehst?“

Er zog nur wortlos eine Augenbraue hoch.

„Ist doch genial. Dort kann dich keiner sehen und es ist nicht so weit, wenn du erschöpft bist.“

„Es ist wirklich schönes Wetter.“, murmelte er. Plötzlich fuhr er rechts ran. Was sollte das denn werden? „Es ist ziemlich warm, perfektes Badewetter also.“ Er sah mich unverwandt an. Sein Blick wirkte sehr mild, das Blau richtig weich. „Ich komme schon zurecht, also geh lieber mit deinen Freunden schwimmen als mit mir in der Hitze zu schmoren.“

Edel von ihm gedacht, aber lieber würde ich bei 40 °C mit Wintermantel bei ihm sein, als ihn schon wieder ziehen lassen zu müssen. Auch wenn er mich nicht rauswarf, hatte ich Angst, dass er vielleicht doch irgendwann genug von meiner Nähe haben könnte. „D-das macht mir nichts, ehrlich.“, meinte ich hastig.

Aber er schüttelte nur den Kopf. Für ihn ergab es keinen Sinn, dass ich seine Gegenwart einer angenehmen Abkühlung vorziehen sollte und ich wusste nicht so recht, wie ich ihm das unverfänglich erklären sollte.

„Ich bin dir dankbar dafür, dass du mir so viel deiner Zeit gewidmet hast.“, meinte er. Es klang ziemlich sachlich, sehr nach Firmenchef. Als würde er es sagen, weil es sich so gehörte. „Aber du musst mir nicht rund um die Uhr Gesellschaft leisten, bis ich den Gips losgeworden bin. Du solltest lieber den Sommer genießen.“ Als er das sagte, schimmerte in seinen Augen etwas, das ich mit viel Interpretation als leichtes Bedauern auslegen könnte. Aber was bedauerte er? Dass er mich wegschickte oder dass er den Sommer wegen dem Gips nicht nutzen konnte?

Ich murrte leise. Wenn er das so sah, brachte es nichts, sich ihm aufzudrängen. Noch stand er gut zu mir, aber wenn ich ihn zu sehr nervte, würde er mich vermutlich doch wieder verjagen. „In Ordnung.“, murmelte ich. „Aber wenn du erlaubst, würde ich trotzdem weiter gern der Physiotherapie beiwohnen.“

„Hast du denn noch nicht genug Einblick in den Beruf?“

„Er fasziniert mich halt.“

„Wie du meinst.“ Er zuckte vage mit den Schultern. „Ich werde dich nicht davon abhalten.“

Wenigstens etwas. Und er klang auch nicht abgeneigt. Vielleicht genoss er meine Nähe irgendwo doch. Das machte mir wenigstens ein bisschen Hoffnung.

Ich verabschiedete mich von Kaiba und kam seiner Idee nach, mit Yugi und Tea schwimmen zu gehen. An sich freute ich mich ja, die beiden mal wieder zu sehen, aber diese Turteltauben klebten fast immer aneinander, da fiel nicht besonders viel Aufmerksamkeit für mich ab.

Während ich die beiden dabei beobachtete, wie sie im Schwimmbecken miteinander tobten, fragte ich mich, wie es wohl wäre, mit Kaiba im Wasser zu planschen. Er hatte selbst gesagt, dass er Schwimmen liebte, also müsste er doch leicht in einen Pool zu locken sein, zumindest wenn er den Gips endlich mal los war. Und eine Wasserschlacht wäre ein guter Vorwand für viel Körperkontakt. In seinem Element mit ein bisschen Spaß könnten wir vielleicht ein ganz neues Level in unserer Beziehung erreichen.

Es erschien mir selbst widersinnig, aber ich hatte mir ein neues Ziel in den Kopf gesetzt: die höchstmögliche Ebene der Vertrautheit mit Kaiba erreichen, egal was das hieß. Ich wusste nicht, wohin genau das führen sollte, aber es war mein innigster Wunsch. Ich wollte, dass er mir vertraute, in mir seinen engsten Verbündeten sah.

Selbst in meinen eigenen Ohren klang das ein bisschen schwul, aber inzwischen war mir das egal. Ich konnte meine Gefühle für Kaiba nicht klar definieren, ich wusste nur, dass ich ihm tiefe Zuneigung entgegenbrachte, die mich an ihn fesselte.

Auch wenn es mir ein bisschen Angst machte, solche Gefühle für einen Mann zu hegen, wollte ich einfach sehen, wohin uns das führte.

Siri

Vier Tage später ging ich besonders früh zur Villa. Kaiba hatte mir erlaubt, ihn zur Therapie zu begleiten, aber er hatte nicht gesagt, dass wir uns erst da treffen konnten.

Fröhlich pfeifend schlenderte ich durch die Flure. Inzwischen fand ich Kaibas Zimmer ja im Schlaf. Vielleicht schlummerte er ja noch friedlich und machte meine Lieblingsgeste, wenn ich ihn weckte: den Waschbären.

Doch gerade als ich die Tür öffnen wollte, wurde sie von innen aufgerissen. Siri stieß fast gegen mich, als sie so hastig aus dem Zimmer eilte. Einen Moment lang wirkte sie irritiert, aber dann schenkte sie mir ein flüchtiges Lächeln, ehe sie sich an mir vorbeischob und in Richtung Haustür hastete.

Was zum Teufel hatte Siri hier zu suchen? Es war noch zu früh für eine Therapie. Hatte sie hier etwa übernachtet? Oh nein, Kaiba hatte doch nicht etwa mit ihr…

Ruckartig stieß ich die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Er stand vor dem Kleiderschrank und fischte ein T-Shirt heraus. Aber der Anblick war deutlich. Zerwühltes Bett und dieser unverkennbare Geruch in der Luft. Dieser Mistkerl!

Ungehalten lief ich auf ihn zu. „Wie konntest du das tun?“, rief ich wütend.

Irritiert drehte er sich zu mir um. „Was?“

Dieser Blick! Müde, verständnislos, als wäre er sich keiner Schuld bewusst und dazu noch dieses zufriedene Leuchten in seinen Augen. Argh! „Siri! Wie konntest du nur mit ihr schlafen?“

Unbeeindruckt hob er eine Augenbraue, bedachte mich mit einem kritischen Blick. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Ja, was ging es mich an? Eigentlich nichts. Und doch konnte ich nicht anders, als zu kochen vor Wut. Was genau mich daran so rasend machte, konnte ich gar nicht sagen. Vielleicht, weil mir Siri leid tat, aber vorrangig, weil ich mich dadurch hintergangen fühlte. Nur warum?

Kaiba war nicht verpflichtet, sich vor mir zu rechtfertigen, aber trotzdem kam es mir so vor, als hätte er mir mit seiner Aktion mit voller Wucht in den Magen geboxt. Vielleicht hatte ich zu viel in unsere bisherige Beziehung hineininterpretiert. Vielleicht war er aber auch nur ein riesen Arschloch!

„Du elender Bastard!“, schrie ich wütend, während ich auf ihn zulief.

Es war nicht seine Schuld, dass ich mich irgendwelchen absurden Fantasien hingegeben hatte. Ich wusste ja eigentlich gar nicht, was ich letztendlich von ihm wollte, wie konnte ich da von ihm erwarten, dass er darauf Rücksicht nahm? Zugegeben, dass es mich inzwischen dermaßen traf, wenn er mit jemand anderen intim wurde, schockierte mich selbst, aber mit seinem Sexleben hatte ich nichts zu tun. Und obwohl ich wusste, dass es mich gar nichts anging, machte es mich gleichzeitig so unfassbar wütend.

Ich gab dem Drang nach, ihm meine Faust mit voller Wucht in dieses unverschämt schöne Gesicht rammen zu wollen. Doch Kaiba verfügte selbst wenn er noch nicht ganz wach war, über raubtiergleiche Reflexe. Er fing meinen Schlag mit einer Hand ab, bevor ich mein Ziel erreichte.

Allerdings schien er, obwohl ja nichts passiert war, wirklich verdammt erzürnt darüber zu sein. In seinen Augen flammte blanke Wut auf, die mir eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Sein Griff um meine Faust verstärkte sich so erbarmungslos, dass meine Finger schmerzten.

„Hast du sie noch alle?“, zischte er erbost.

Ich sah, dass er dazu ansetzte, mich wegzustoßen, aber in mir schwelte immer noch so verdammt viel Wut, dass ich ihm einfach wehtun wollte! Mit aller Kraft trat ich ihm auf den eingegipsten Fuß.

Damit schien er nicht gerechnet zu haben, denn er stieß einen Laut der Überraschung aus und taumelte zurück. Gut so! Ich nutzte die Gelegenheit und verpasste ihm einen Stoß gegen die Brust, so dass er rücklings aufs Bett fiel. Ehe er sich wieder aufrichten konnte, sprang ich hinterher, stemmte meine Beine neben seiner Hüfte ins Bett und umfasste seine Handgelenke, um ihn festzupinnen. Seine eigentliche körperliche Überlegenheit brachte ihm so gar nichts mehr.

„Was soll der Scheiß?“, fluchte er. „Lass los!“ Er versuchte sich aufzubäumen, mit aller Kraft gegen mich zu stemmen, und trotz der für ihn verdammt nachteilhaften Position, kostete es mich alle Mühe, ihn unten zu halten. Ich spürte, dass er dazu ansetzte, mir sein Knie zwischen die Beine zu rammen, aber das konnte ich verhindern, indem ich mich auf seine Oberschenkel setzte.

„Wheeler, du verblödeter Köter!“ So langsam war purer Hass in seinen Augen erkennbar. Klar, aus seiner Sicht hielt ich ihn völlig grundlos fest. Und ich konnte ihm auch nicht erklären, warum ich so wütend war.

„Wie konntest du nur mit Siri schlafen?“, fauchte ich. „Du hattest doch überhaupt kein Interesse an ihr.“

„Was geht dich das an?“ Er fletschte leicht die Zähne, als sich mein Griff um sein Handgelenk verstärkte.

„Du hast nur mit ihr geschlafen, um Lauren zu treffen! Du hast sie nur benutzt!“ Dass es so war, wussten wir beide. Er hatte sich nie für Siri interessiert, was sollte also sonst dahinter stecken? An sich war das wirklich eine miese Nummer von ihm gewesen.

„Dir ist Siri doch völlig egal!“, zischte er. Sein Blick war so feindselig und kalt. „Und du weißt rein gar nichts!“

Durchschaute er mich wirklich? Natürlich ging es nicht um Siri, aber ich konnte ihm doch schlecht sagen, dass ich mich von ihm betrogen fühlte. „Dann sag mir, dass ich falsch liege!“, meinte ich gezwungen ruhig.

Er schnaubte leicht. „Du hast doch keine Ahnung!“ Anscheinend hatte er keine Lust mehr mit mir zu reden, denn er wandte den Blick ab, starrte jetzt die Terrassentür feindselig an. Ich fragte ihn danach, wovon ich denn keine Ahnung hätte, aber er ignorierte mich einfach. Er hatte sehr genau erkannt, dass er körperlich gerade nichts gegen mich ausrichten konnte, aber mit mir reden musste er deswegen noch lange nicht.

Über uns breitete sich eine drückende Stille aus, die mir Zeit gab, meine Gedanken zu ordnen und mein Temperament ein wenig zu zügeln. Was tat ich hier eigentlich? Ich führte mich wirklich auf, als hätte er mich betrogen. Aber wir hatten keine Beziehung und ich damit gar kein Recht, sein Handeln persönlich zu nehmen. Ich wollte mir Hoffnungen machen, die er zerschlagen hatte, na und? Vielleicht war das der Stoß vor den Kopf, den ich brauchte, um unsere Beziehung zueinander wieder in einem vernünftigen Licht zu sehen.

Allerdings fiel das verdammt schwer, wenn er so ansehnlich unter mir lag, mit nach wie vor nacktem Oberkörper und so einem schönen Gesicht. In seinen Augen war die Wut langsam einem melancholischen Blick gewichen, der ihn fast schon ein bisschen verletzlich aussehen ließ.

Wenn ich die Situation überdachte, war die Nacht vermutlich Resultat einer Kurzschlussreaktion gewesen. Kaiba hatte Siri vermutlich nicht selbst zu sich bestellt und sie hätte keinen Grund gehabt, ihn hier allein aufzusuchen. Sicher, sie hatte Interesse an ihm gehabt, aber ich glaubte trotzdem nicht, dass sie einer spontanen Eingebung folgend einfach mal vorbeigeschaut hatte. Außerdem war Kaiba normalerweise ein sehr verstandgesteuerter Mensch, der nicht jeden der an seiner Tür klingelte, gleich ins Bett zog.

„Lauren war hier.“ Nur eine Vermutung, aber sie war das Bindeglied zwischen Kaiba und Siri. Und seinem entgeisterten Blick zufolge lag ich richtig. Jetzt starrte er mich nämlich feindselig an, wie immer wenn es ihm zu sehr in seine Privatsphäre ging.

Er versuchte sich erneut aufzubäumen, aber ich hielt ihn weiter unten. Warum wusste ich selbst nicht so genau. An sich war meine größte Wut verflogen und gar kein Grund da, ihn festzuhalten. Allerdings hatte man ja nicht oft die Gelegenheit, dass Kaiba einem wortwörtlich unterlag. Und der Anblick war schon verdammt sehenswert mit dem verwuschelten Haar, den intensiv – wenn auch feindselig – glühenden Augen und dem freien Oberkörper, bei dem sich die Muskeln so ansehnlich anspannten.

Immer noch hing dieser unverkennbare Geruch in der Luft, der zu verruchten Fantasien verführte und unweigerlich drängte sich mir die Frage auf, wie es wohl wäre, mit ihm zu schlafen. Er war bestimmt auch im Bett der dominante Typ und fordernd. Seine Augen mussten wahnsinnig erotisch aussehen, wenn er erregt war, der Blick lustverhangen.

Wenn ich ihn so betrachtete, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn er sich unter mir räkeln würde, lasziv und willig vor Verlangen, und wie es wohl wäre, wenn ich seinen Körper mit den Fingern und der Zunge erkunden könnte. Ob ich es schaffen würde, dass er sich gehen und vollkommen fallen ließ? Im Moment verspürte ich wirklich den Drang, den Geschmack seiner Haut zu kosten, zu sehen wie er auf Liebkosungen reagierte.

Verdammt! Innerlich ohrfeigte ich mich dafür, meine Gedanken so sehr schweifen zu lassen. Es schockierte mich, tatsächlich so ein Verlangen nach ihm verspürt zu haben. Inzwischen hatte ich mich ja damit abgefunden, dass meine Gefühle für ihn überraschend stark waren und seine Schönheit mich faszinierte. Aber dass sein Anblick mittlerweile sogar meine niederen Instinkte dermaßen heftig ansprach, war doch ein bisschen beängstigend.

Er starrte mich intensiv an, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Und trotzdem sahen sie noch weich genug aus, um einladend zu sein. Die Gelegenheit jetzt war einmalig und absurd. Es wäre zweifellos dumm, ihn einfach zu küssen. Aber irgendwie auch verdammt reizvoll. Mein Verstand schrie geradezu auf, diesen Blödsinn zu unterlassen, aber ich wollte nicht vernünftig sein. Ich wollte nur einmal kosten, wie er schmeckte und wie weich seine Lippen waren.

Ich beugte mich vor, ließ mich einfach von diesem Wunsch leiten. Allerdings schien Kaiba in dem Moment ganz andere Pläne zu haben. Während meiner Überlegungen hatte sich mein eiserner Griff um seine Handgelenke gelockert und anscheinend musste er das ausgerechnet jetzt nutzen, um sich zu befreien. Während ich mich also zu ihm herabbeugte, kam er gleichzeitig auf die großartige Idee, seine Hände zu befreien und sich aufsetzen zu wollen.

Wir stießen auf halber Strecke dermaßen brutal mit den Köpfen zusammen, dass für einen Augenblick Sterne vor meinem geistigen Auge tanzten. Der Schmerz war wirklich heftig, mir wurde richtig schwindelig davon. Keuchend sank ich auf Kaiba, der nach unserem Zusammenstoß wieder zurück in die Laken geglitten war.

„Du elender Betonschädel!“, knurrte er gequält.

„Musst du sagen!“ Der Typ hatte ja im wahrsten Sinne des Wortes einen Dickschädel. Aber wenigstens schien er jetzt genauso starke Kopfschmerzen zu haben wie ich. Und vielleicht war es ganz gut so. Ein unbedachter Kuss hätte leicht unser mühsam zueinander aufgebautes Verhältnis zerstört. Und das jetzt war auch nicht schlecht. Ich lag auf ihm, den Kopf an seiner Schulter. Abgesehen von den Kopfschmerzen eine ziemlich angenehme Position.

Vorsichtig sah ich zu Kaiba auf. Vielleicht passte es ihm ja gar nicht, dass ich auf ihm lag und wenn er meine eigentliche Absicht vorhin erkannt hatte, war er eventuell auch sauer darüber. Aber im Moment machte es nicht den Anschein, als würde er mich wegstoßen wollen. Er lag einfach nur da, die Augen geschlossen und die Hand gegen die Stirn gepresst.

Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Brust. Auch jetzt tat er nichts dagegen. Ein Kuss wäre vielleicht unangebracht, aber er ließ meine Berührungen, meine Nähe zu. Und im Moment konnte ich für die Nähe, die er bot, dankbar sein. Ich spürte seine warme Haut unter meinen Händen und das Heben und Senken seiner Brust. Wer hätte gedacht, dass allein schon ein Herzschlag sinnlich sein konnte?

„Lauren war wirklich hier.“, murmelte er leise.

Ich horchte auf. Wollte er mir wirklich erzählen, was gestern passiert war? Wie sehr musste er mir vertrauen?

„Sie erzählte etwas von vorverlegter Therapiesitzung, weil sie heute angeblich nicht könne. Deswegen hatte sie auch Siri im Schlepptau.“

Was für eine fadenscheinige Ausrede! Warum konnte dieses Biest nicht endlich die Finger von ihm lassen?

„Am Anfang sah es wirklich aus, als würde sie es ernst meinen. Wir gingen ins Behandlungszimmer und Siri führte ihre Massage durch. Aber als fertig war, hat Lauren sie sofort aus dem Raum geschickt.“

Um freie Bahn zu haben. Intrigante Zicke! Sie hatte Siri erst zum Spielball gemacht, indem sie sie als Vorwand mitgenommen hatte.

„Ich hatte ja schon geahnt, dass Lauren wieder mit ihren zuckersüßen Versprechungen und emotionalen Plänkeleien anfangen würde, aber diesmal war sie so überraschend… subtil.“

Ich wusste zwar nicht, was subtil bedeutete, aber es klang, als hätte sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt.

Ich spürte, wie er schwer ausatmete. „Anstatt noch irgendetwas zu sagen, stürzte sie sich quasi gleich auf mich und küsste mich, unerbittlich fordernd und trotzdem ganz zärtlich.“

Allein die Vorstellung stieß mir sauer auf. Ohne mein Zutun kratzten meine Finger über seine Brust, gruben sich in die festen Muskeln.

Er schluckte leicht. „Es ist schwer, jemanden wegzustoßen, der so genau weiß, was dir gefällt. Vielleicht hat es deswegen länger gedauert, als es sollte. Aber als ich es schließlich getan habe, war sie außer sich.“

Konnte ich mir vorstellen. Aber es erleichterte mich auch. Damit hatte Lauren alles aufgefahren, was ihr möglich war, und sie konnte ihn trotzdem nicht zurückgewinnen.

„Sie hat mich beschimpft und beleidigt, wie ich es noch nie zuvor gehört habe. Alles treffend, alles unter der Gürtellinie.“

Und dass ihm das doch ein bisschen an die Nieren gegangen war, hörte ich in seiner Stimme deutlich. „Was hat sie gesagt?“, fragte ich leise.

Er schwieg eine Weile, so dass ich fast schon Angst hatte, dass ihn meine Stimme ihn aus seiner Erzählung gerissen hätte. Aber schließlich sprach er weiter, leiser und ein wenig zögerlicher, als wäre es ihm unangenehm. „Sie meinte, ich solle doch froh sein, dass es wenigstens eine Frau gäbe, die mich halbwegs zu nehmen wüsste, und ich bräuchte mich gar nicht erst der Vorstellung hingeben, dass es auch nur einen Menschen auf der Welt gibt, der mich so akzeptieren und lieben könnte, wie ich bin.“

Das war hart! Und falsch! In mir kochte kalte Wut hoch. Wie konnte sie ihm nur solche Flausen in den Kopf setzen? Und wie konnte er das alles auch noch glauben?

„Sie irrt sich!“, meinte ich eisern. „Es ist leicht, dich zu lieben, wenn man dich nur kennt. Und dein Erfindergeist macht dich nur noch besonderer und liebenswerter.“

Er war so einzigartig, dass ich nicht daran zweifelte, er könnte scharenweise Verehrer um sich sammeln, deren Gefühle aufrichtig für ihn wären.

Er überging meine Bemerkung und erzählte weiter. Vermutlich hatte er gerade den Kopf nicht frei, um zuzuhören. Das war vielleicht auch besser so, denn indirekt hätte er es auch als Liebesgeständnis verstehen können. Ich gab es inzwischen auf, mir einzureden, ich würde nichts für ihn empfinden, aber so schonungslos direkt musste ich ihm das auch nicht sagen.

„Ich weiß, dass mir egal sein sollte, was Lauren sagt, doch ihre Worte waren trotzdem ein Tiefschlag. Wahrscheinlich hat sie damit sogar recht.“ Er schnaubte leicht.

Unfassbar, dass er es wirklich glaubte!

„Kaum dass Lauren gegangen war, tauchte Siri plötzlich hinter mir auf. Sie meinte, sie hätte unser Gespräch belauscht und würde sich Sorgen deswegen machen. Sie meinte, Lauren läge falsch.“

Den Rest konnte ich mir selber denken. Nachdem Lauren ihn dermaßen attackiert hatte, musste Siri leichtes Spiel gehabt haben. Sie bewunderte ihn aufrichtig und wahrscheinlich war es genau das gewesen, was er in dem Moment gebraucht hatte. Einfach jemanden, der ihm das Gefühl gab, begehrenswert und wertvoll zu sein. Und dass er Lauren damit auch noch empfindlich treffen würde, war vermutlich nur ein netter Bonus.

„Was hat Lauren nur für dich getan, dass du ihre Meinung trotz allem so wichtig nimmst?“, fragte ich leise. Vielleicht ging es zu weit, aber ich musste wissen, was sie für ihn so unsagbar wichtig gemacht hatte. Egal, was sie tat, er konnte einfach nicht mit ihr abschließen. Was bot sie ihm trotz der Trennung noch?

Eine Weile schwieg er. Sein Blick wurde immer abwesender und ich dachte schon, er würde gedanklich ganz abdriften, als er schließlich erzählte. Seine Stimme war dabei so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.

„Gosaburo hat emotionale Schwächen verurteilt.“, murmelte er. „Er meinte, so ein Unsinn wie Liebe, Freunde oder Familie würden einen nur weich und angreifbar machen. Also drillte er mich dazu, hart zu sein und nichts zu empfinden. Keine Freude, kein Glück, nichts. Er sagte immer, nur so würde man in der Geschäftswelt bestehen.“

Was für ein grausamer Mann! Wie konnte man ein Kind nur so erziehen? Als wollte er aus Kaiba eine gefühlskalte Puppe machen, und leider war er seinem Ziel dabei näher gekommen, als mir lieb sein konnte.

„Wenn du nur lange genug so erzogen wirst, gewöhnst du dich irgendwann daran und nimmst es als selbstverständlich, allein zu sein. Das Leben war unter Gosaburo hart, unerbittlich und ziemlich freudlos. All das nahm ich so hin, schließlich kümmerte er sich im Gegenzug darum, dass Mokuba und ich zusammenblieben.“

„Und dann kam Lauren.“, vermutete ich.

Er nickte schwach. „Ich hatte vorher eine ziemlich hässliche Auseinandersetzung mit Gosaburo.“

Hässlich? Das war noch harmlos formuliert. Immerhin hatte dieser Mistkerl Kaiba die Hand gebrochen.

„Der Schmerz durch die Fraktur im Handgelenk war das intensivste Gefühl, dass ich seit Jahren gespürt hatte. Ziemlich erbärmlich, ich weiß.“

„Nein... ist es nicht.“, hauchte ich leise. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie fürchterlich die Jahre unter Gosaburo wirklich waren und ich ging davon aus, dass er mir das schlimmste auch nicht erzählen würde. Aber ich fühlte mit ihm, verstand, wie ausweglos ihm diese Zeit vorgekommen sein musste.

„Und dann traf ich Lauren.“ Bei dem Gedanken daran, entrang sich ihm ein trauriges Lächeln. „Ihre liebevolle Art und ihre Fürsorge waren für mich völlig ungewohnt, aber es fühlte sich gut an.“

Also verehrte er sie so, weil sie für ihn nach jahrelanger Gefühlkälte sein erster Kontakt zu menschlicher Wärme gewesen war?

„Sie war einfach so warmherzig und offen, dass es mir in ihrer Nähe leicht fiel, mich wohlzufühlen. Und je näher ich ihr war, desto mehr erkannte ich, dass ich Gosaburos Lebensweg nicht länger teilen konnte. Er war ein grausamer, herzloser Tyrann und ich wollte nicht so enden wie er.“

Ich verkniff mir die Anmerkung, dass ich bis vor einigen Wochen noch geglaubt hatte, er wäre genau so. Inzwischen kannte ich ihn und wusste, dass es einfach nicht stimmte, aber nach draußen vermittelte er schon sehr stark den Eindruck eines eiskalten Geschäftsmoguls. Ganz hatte er die jahrelange Erziehung wohl nie abschütteln können.

„Also hast du ihn gestürzt.“, riet ich.

Er nickte nur. „Ich fühlte mich stark und sicher mit dem Wissen, dass Lauren hinter mir stand. Sie war nicht nur eine kleine Verliebtheit sondern mein Halt, mein Anker im Leben. Ohne sie hätte ich vielleicht nie den Mut gefunden, Gosaburo vom Thron zu stoßen.“

Okay... das war wirklich schwer zu toppen. Lauren hatte ihm die Kraft gegeben, jahrelanger Tyrannei zu entrinnen und ein neues, erfolgreiches Leben aufzubauen. Klar, dass er ihr gegenüber dafür eine ewigwährende Dankbarkeit empfinden würde.

Nur wie konnte sie ihm einerseits so sehr helfen und ihm andererseits das Leben wegen den Erfindungen so schwer machen? Verstand sie ihn doch nicht gut genug, um deren Bedeutung für ihn zu erkennen oder ging es ihr wirklich nur darum, dass er sich körperlichen Extremen aussetzte?

Für mich sah es so aus: es gab eine Zeit, da war sie Balsam für seine Seele, sein Segen und seine heile Welt gewesen. Doch jetzt war es Vergangenheit, dieser Lebensabschnitt vorbei und wie ich fand, brauchte er jemanden, der zu seinem jetzigen Leben, seinen momentanen Wünschen und Träumen passte und ihn dabei begleitete. Nur ob er das auch so sah?

„Du hattest wirklich Glück, bei der ersten Liebe gleich so einen starken Menschen wie Lauren zu treffen.“, hauchte ich vorsichtig. „Aber wenn die Zeit gekommen ist, muss man einfach weiterziehen. Ihr könnt beide nicht glücklich werden, wenn ihr euch aneinander klammert, obwohl ihr beide wisst, dass ihr nicht mehr zusammen passt.“ Ich meinte es ehrlich und hoffte, dass er es nicht als zu bevormundend aufnahm. Innerlich musste er allerdings wissen, dass ich recht hatte.

Er schnaubte abfällig. „Als wäre das so leicht!“

„Niemand hat gesagt, dass es leicht ist.“

„Hm...“ Er schloss die Augen und dachte nach. Glaubte er mir? Hoffentlich, denn wenn er nicht endlich mit Lauren abschloss, würde der Weg nie frei für mich werden.

„Es war Siri gegenüber wirklich unfair.“, murmelte er nach einer Weile leise.

Anfangs war das auch mein Gedanke gewesen. Allerdings hatte sie ihn verführt und nicht umgekehrt. „Siri ist erwachsen und sie wird gewusst haben, worauf sie sich einlässt.“ Auch wenn sie sich jetzt vielleicht Hoffnungen auf eine Beziehung machte, war sie selbst schuld. Kaiba hatte nie Interesse an ihr gezeigt und eine Nacht würde daran nichts ändern. Inzwischen konnte ich ihm sein Techtelmechtel mit Siri nicht mal mehr verübeln. Besser mit ihr als mit Lauren, oder?

„Und dich scheint es auch verletzt zu haben.“

Erschrocken schnappte ich nach Luft. Ich? Er machte sich wirklich Gedanken um mich? Oh nein, wenn er merkte, dass es mich wirklich getroffen hatte, was dachte er dann, warum?

Zögerlich sah ich zu ihm auf. Sein Blick war auf die Zimmerdecke gerichtet, wirkte melancholisch. Die ganze Situation gefiel ihm nicht.

Ich richtete mich ein wenig auf, um mich über ihn zu beugen, damit er mir in die Augen sehen musste. „Um mich musst du dir keine Sorgen machen, okay?“

Sein Blick glitt zu mir, wirkte aufrichtig und auch ein wenig bedrückt. „Ich wollte dir nicht wehtun.“, hauchte er leise.

„Ich weiß.“ Seine Entschuldigung war Balsam für meine Seele, aber gleichzeitig fragte ich mich auch, was in seinem Kopf vor sich ging. Wusste er, wie ich wirklich zu ihm stand? Wenn ja, wie wertete er es? Und wie stand er überhaupt zu mir? Inzwischen war ich mir sicher, dass ich ihm zumindest nicht egal war. Ihn interessierte es, was ich von ihm dachte, aber was er wirklich von mir hielt, ließ er mich nicht wissen.

Konnte ich es ihm vorwerfen? Wohl kaum. Ich selbst war ja auch nicht aufrichtig und sagte, was ich fühlte. In gewisser Weise pokerten wir uns beide aus. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn ich kleine Schritte auf ihn zumachte. Er selbst würde wohl kaum sein Pokerface fallen lassen.

Gegen meine Nähe hatte er nichts, also beugte ich mich vor und lehnte meine Stirn an seine. Ich konnte ja einfach mal ausreizen, wann es ihm zu viel wurde. Auch jetzt sagte er nichts dagegen, sondern beobachtete mich nur aufmerksam mit diesen zum Verlieben blauen Augen.

Meine Hand glitt in sein dunkles Haar, strich vorsichtig durch die weichen Strähnen. Ein bisschen überraschte es mich schon, dass er sich das alles gefallen ließ, aber es stimmte mich auch optimistisch.

„Du verwirrst mich, Seto.“, gestand ich. Ich hoffte, dass Ehrlichkeit und mehr Intimität bei ihm Anklang fanden. Zumindest kam es mir persönlich langsam unpassend vor, dass wir uns so nah waren und trotzdem immer nur beim Nachnamen nannten.

„Du mich auch… Joey.“

Ah, er sprang darauf an. Das verbuchte ich mal als kleinen Sieg. Und zumindest wusste ich jetzt, dass er auch über mich nachdachte. Er wusste vermutlich nur selbst nicht, wie er zu mir stand.

Das brachte mich zwar nicht in der Hinsicht weiter, wie er für mich empfand, aber es machte Hoffnung. Er konnte ja nicht völlig abgeneigt sein, wenn er mich so nah an sich heranließ. Und diese Situation jetzt war schon verdammt intim. Wir waren uns so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte und es ein Kinderspiel wäre, ihn jetzt zu küssen. Es wäre so leicht…

Aber vielleicht zu forsch. Kleine Schritte!

Seufzend löste ich mich von ihm und stand auf. Seine Nähe konnte einen aber auch ganz wuschig machen. Ich musste erst mal tief durchatmen, um meine Gedanken wieder zu ordnen.

Eines wusste ich jetzt ganz genau. Ich wollte Seto. Nicht nur aus Neugier, nicht nur für einen flüchtigen Kuss oder eine kurze Affäre. Nein, ich wollte, dass er mir gehörte, für mich das gleiche empfand wie ich für ihn.

Ich hatte lange genug abgestritten, etwas von ihm zu wollen. Aber Gefühle ließen sich nicht ewig verdrängen. Und inzwischen war ich mir sicher, dass es nicht nur eine kleine Schwärmerei oder kurze Verliebtheit war. Ich empfand für ihn so viel, wie ich es noch nie für einen anderen Menschen getan hatte. Und dass obwohl er ein Mann war. Sprach das nicht für aufrichtige Liebe, wenn das Geschlecht plötzlich keine Rolle mehr spielte?

Ich bemerkte, wie er sich langsam aufsetzte und mich verwirrt musterte. Insgeheim würde schon gern wissen, was er von der Situation erwartet hätte. Vielleicht hätte er einen Kuss sogar zugelassen. Vielleicht musste ich das aber auch gar nicht wissen.

„Willst du frühstücken?“, fragte ich stattdessen.

Er nickte nur zögerlich.

Mein neuer Plan stand fest. Ich würde ihn für mich erobern. Egal, wie viel Geduld und Mut das erfordern würde, wenn ich etwas wollte, dann holte ich mir das auch. Ich würde alles tun, damit er sich in meiner Nähe wohlfühlte und dann Schritt für Schritt immer weiter auf Tuchfühlung gehen.

Ich ging in die Küche und bereitete uns etwas zu Essen vor. Während ich Kaffee kochte, tauchte Mokuba plötzlich hinter mir auf. Der Kleine sah mich ziemlich irritiert an, als ich ihn begrüßte.

„Was machst du denn hier, Joey?“, fragte er verwundert.

„Naja, eigentlich war ja heute Physiotherapie angedacht und ich wollte Seto dahin begleiten. Willst du mit uns frühstücken?“

„Ihr nennt euch inzwischen beim Vornamen?“

„Ja…“

Der Kleine umrundete mich, beobachtete mich aufmerksam. „Warum? Ihr habt euch immer nur angegiftet.“

„Zeiten ändern sich.“, meinte ich ausweichend.

„Und Gefühle auch?“

Abrupt hielt ich inne, die Brötchen zu belegen. Wusste Mokuba etwas?

„Ich hab das Gefühl, du verstehst meinen Bruder besser als alle anderen. Als wärt ihr trotz eurer Streitereien auf einer Wellenlänge.“ Er lehnte sich neben mir gegen den Tresen, beobachtete mich aufmerksam. „Und er reagiert auf dich, er vertraut dir. Dabei ist Seto wirklich nicht der vertrauensseligste.“

Er reagierte auf mich? Was hieß das nun wieder? „Nur wie steht er zu mir?“, fragte ich direkt.

„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Seto lässt sich nie in die Karten schauen. Aber ich weiß, dass er dich gern um sich hat.“

Das brachte mir nicht so viele neue Erkenntnisse.

„Aber viel interessanter wäre, wie du zu meinem Bruder stehst.“ Mokub grinste mich frech an. „Ich hab das Gefühl, er liegt dir schon sehr am Herzen.“

„Das tut er wirklich.“ Warum sollte ich es leugnen? Und vielleicht fand ich in dem Kleinen sogar einen Verbündeten. Also erzählte ich ihm von meinen Gedanken und Plänen.

Allerdings wirkte Mokuba nicht so euphorisch wie gedacht. „Du willst mit meinem Bruder zusammenkommen?“, fragte er skeptisch. „Er ist aber nicht schwul.“

„Das bin ich auch nicht.“ Ich fuhr mir durchs Haar. Wie sollte ich ihm das erklären? „Und trotzdem habe ich noch nie so viel für einen Menschen empfunden wie für deinen Bruder.“

„Das ist schräg.“

„Ja vielleicht. Aber was soll ich machen?“

Der Kleine zuckte mit den Schultern, während er Saft aus dem Kühlschrank holte und damit drei Gläser füllte. „Irgendwie wäre es ja witzig, wenn ihr zusammenkommen würdet. Ausgerechnet ihr, die ewigen Streithähne.“

„Würde es dich denn stören, wenn es so wäre?“

„Warum sollte es?“ Er lächelte mich groß an. „Ich mag dich, Joey, und solange mein Bruder glücklich ist, ist es mir egal, mit wem.“

Gut, dann hatte ich ja zumindest schon mal Mokubas Segen. Jetzt musste ich nur noch Seto überzeugen.

„Denkst du, ich hab überhaupt Chancen?“, fragte ich vorsichtig. „Ich meine, ich hab das Gefühl, dass er mir gegenüber schon sehr aufgeschlossen ist, aber ich weiß einfach nicht, was er über mich denkt.“

„Da kann ich dir auch nicht helfen. Wie gesagt, er trägt sein Herz nicht unbedingt auf der Zunge.“

„Hm, Seto vertraut sich wohl niemandem an.“ Wie ärgerlich. Es machte die ganze Sache nur schwerer, wenn er sich immer so bedeckt hielt.

Der Kleine nickte, während er noch ein paar Weintrauben aufs Tablett packte „Gosaburo war immer der Meinung, dass Gefühle eine Schwäche sind und er hat Seto dahingehend gedrillt, sie nie offen zu zeigen.“

Wirklich makaber! Aber kein Wunder, dass mein kleiner Sturkopf so reserviert war. Nur wie sollte ich ihn dann knacken?

„Wenn du wissen willst, wie mein Bruder in Beziehungsfragen tickt, könntest du Lauren fragen.“

Ich könnte auch in eine Schlangengrube springen, aber vermutlich wäre beides nicht förderlich für meine Gesundheit. Nein, ich würde es lieber auf meine Weise versuchen. „Was macht er gern außer arbeiten?“, fragte ich stattdessen.

„Schwimmen. Darin ist er richtig gut.“

Hatte Seto ja damals erzählt. „Ich dachte, er betreibt es nur als Sport.“

„Und als Ausgleich, ja.“ Mokuba bedeutete mir, das Tablett anzuheben. Er ging neben mir her, als ich damit durch die Villa lief. „Früher hat Seto auch an Wettbewerben teilgenommen, und er war wirklich verdammt gut. Bis er sich die Hand brach.“

„Und dann wollte er nicht mehr?“, fragte ich, während ich vorsichtig die Treppen erklomm.

„Naja, durch so eine Verletzung fällst du sehr lange aus und danach hast du einen riesigen Trainingsrückstand. Seto hatte einfach nicht mehr die Zeit, diesen Rückstand noch aufzuarbeiten, weil er ja kurz danach die Firma übernahm.“

„Aber trotzdem schwimmt er immer noch gern.“

Mokuba nickte. „Wasser ist einfach sein Element.“

Gut zu wissen. Dann würde er sich dort auch wohlfühlen. Ich würde das gern für mich nutzen, nur wie, wenn er mit dem Gips nicht ins Wasser durfte?

„Danke für die Informationen.“, meinte ich.

„Mehr kann ich nicht tun, um dir zu helfen.“ Mokuba zuckte mit den Schultern. „Ich lass euch beim Frühstücken allein.“

Auch gut. Als ich mit Frühstück beladen wieder in sein Zimmer trat, war Seto angezogen und saß auf der Couch. Sein Blick glitt nur flüchtig über das Mitgebrachte, ehe er zu mir wanderte. Vielleicht lauerte er auf meinen nächsten Schritt. Den hatte ich mir allerdings selbst noch nicht überlegt.

Ich setzte mich zu ihm, goss uns beiden Kaffee ein, während er mich ununterbrochen beobachtete.

„Heute wird dann vermutlich keine Physiotherapie mehr stattfinden.“, stellte ich fest.

Er schüttelte den Kopf. „Da bist du wohl umsonst hergekommen.“

„Das denke ich nicht.“ Ich schenkte ihm ein freundliches Lächeln, als er mich fragend ansah. Für mich lohnte sich nun mal jeder Tag, an dem ich bei ihm sein konnte. Und ich genoss es, mit solch kleinen Neckereien seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Er blinzelte verwirrt, schien nicht so ganz zu durchschauen, was sich eigentlich hier abspielte.

„Willst du nichts essen?“

Er schüttelte den Kopf, strich sich nachdenklich durchs Haar. „Ich bin doch noch recht müde.“, murmelte er stattdessen.

War das die höfliche Bitte, zu gehen? Vielleicht war das alles doch zu viel auf einmal gewesen und er wollte sich selbst Zeit einräumen, das Ganze zu überdenken.

Schritt für Schritt, das hatte ich mir vorgenommen. „Dann lasse ich dich nach dem Frühstück allein.“

Er nickte. Mit einem Mal wurde sein Blick allerdings wieder unnachgiebig forschend und er musterte mich aufmerksam. „Ich denke, nach der letzten Nacht wird es keine weiteren Physiotherapiesitzungen mehr geben.“

Ich schluckte unbehaglich. Damit hatte er wohl recht und ich wusste auch, was er andeuten wollte. Ohne Therapie hatte ich keinen Vorwand mehr, den ich vorschieben konnte, um ihn zu besuchen.

Oder den perfekten.

„Ich glaube, es wäre ziemlich leichtsinnig, die Therapie für die letzten Tage ganz wegzulassen.“ Ich versuchte, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. „Wenn du willst, könnte ich die letzten Sitzungen durchführen. Ich glaube, dafür habe ich schon genug gelernt.“

Sein Blick wirkte skeptisch.

„Wenn es unangenehm ist oder wehtut, kannst du auch jederzeit Stopp sagen.“

Ein wenig zögerlich nickte er. „Vielleicht wäre das wirklich besser als nichts.“

Strike! Besser ging es doch gar nicht.

„Aber nicht mehr heute.“

Das musste ich wohl so hinnehmen. Zumindest stimmte mich die Aussicht, ihn demnächst persönlich behandeln zu können wieder zuversichtlich. Da war es dann auch verschmerzbar, sich direkt nach dem Frühstück wieder zu verabschieden. Das gab uns beiden drei Tage Zeit, um die Situation zu überdenken.

Bevor ich ging, nutzte ich jedoch die Gelegenheit, dass er noch saß, um ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf den Schopf zu hauchen und noch einmal durch sein weiches Haar zu streicheln. Dann lief ich eilig aus dem Raum, ehe er die Möglichkeit hatte, zu reagieren.

Swimmingpool

Drei Tage konnten wirklich unerträglich lang sein. Ich nutzte die Zeit, um mich über Massagen und Physiotherapie zu belesen, damit ich bei unserem Wiedersehen perfekt vorbereitet war. Eigentlich wäre das Wetter ideal gewesen, um baden zu gehen, denn inzwischen wurde es jeden Tag heißer. Aber ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf meine Studien. Seto konnte ja schließlich auch nicht in den Pool springen. Leider.

Gut vorbereitet aber völlig nervös ging ich schließlich wieder zur Villa. Allein der Gedanke, ihn gleich wiederzusehen, bereitete mir Herzklopfen. Ich hatte trotz intensiver Überlegungen einfach keinen ausgefeilten Plan zustande gebracht. Inzwischen war ich mir allerdings ziemlich sicher, dass mir kein Plan der Welt etwas bringen würde. Seto war zu schlau, um das nicht zu durchschauen, also baute ich darauf, einfach zu sehen, wie sich die Situation entwickelte.

Ich entdeckte Seto in seinem Zimmer auf seinem Bett. Anscheinend hatte er sein Interesse an den Händen wiedererlangt, denn die Erfindung lag neben ihm, während er an einer kleinen Box hantierte.

„Baust du eine zweite Fernbedienung?“, fragte ich neugierig.

Er nickte, sah aber nicht auf. Oh nein, hoffentlich war er nicht schon wieder in seinem Erfindermodus gefangen. Er musste sich doch noch vom letzten erholen und dann würde er sich wieder nicht genug bewegen.

Ich setzte mich vorsichtig neben ihm aufs Bett und strich behutsam über seine Stirn. Jetzt sah er doch auf, bedachte mich mit einem irritierten Blick. Ein Glück, seine Augen waren ganz klar. Kein Erfindermodus.

„Wollte nur sehen, ob du Fieber hast.“, meinte ich schnell.

Er neigte den Kopf etwas, sah mich schief an. „Als würde ich für so eine Kleinigkeit hier Tage brauchen.“

Darüber konnte ich nur schmunzeln. „Wollte deine Genialität nicht anzweifeln.“ Ich sah ihm tief in die Augen. „Aber hast du dich dann in den letzten Tagen überhaupt bewegt?“

Er nickte, erwiderte meinen Blick aufmerksam. „Ich war jeden Tag im Garten spazieren. Zufrieden?“

„Ja.“ Das stimmte mich wirklich zufrieden. Er achtete sorgsam auf sich, mehr konnte ich gar nicht verlangen. Ich strich durch sein dunkles Haar, ehe ich wieder vom Bett aufstand. Je undurchschaubarer ich für ihn blieb, desto größer rechnete ich meine Chancen aus. Und es schien zu funktionieren, denn er folgte mir mit den Augen, als versuchte er, mich zu ergründen. Er konnte so niedlich dreinschauen, wenn er etwas nicht verstand.

„Sollen wir dann gleich mit der Therapie beginnen oder willst du deine Arbeit noch beenden?“

„Bin schon fertig.“, murmelte er. Schwerfällig kletterte er vom Bett und streckte sich, ehe er mir in den Behandlungsraum folgte.

Ich hatte alle Mühe, mir ein triumphierendes Grinsen zu verkneifen, als er sich entkleidete und nur noch in Shorts auf den Behandlungstisch setzte. Ich mochte seinen Anblick einfach, die schön definierten Muskeln und die weiche Haut. Und jetzt würde er sich ganz in meine Hände geben.

„Willst du dich denn nicht hinlegen?“ Wenn er auf dem Bauch lag, wäre die Massage wahrscheinlich wirkungsvoller.

Er schüttelte nur den Kopf. „So verspannt bin ich nicht.“

„Ganz wie du willst.“ Wenn er lieber sitzen wollte, nahm ich das so hin. Ich verteilte etwas Massageöl auf meinen Händen und legte sie dann auf seine Schultern. Eigentlich eine nicht mal intime Geste, doch er zuckte darunter zusammen. „Ist es unangenehm?“, fragte ich besorgt. Hoffentlich nicht. Ich wollte ihm so viel Gutes tun, aber wie, wenn ihm meine Berührungen nicht gefielen?

Er murrte leise. „Du musst das Öl mit den Händen vorwärmen, bevor du es einsetzt. Das ist Grundwissen!“

Oha, mein Fehler. Ich hatte mich in so viele Techniken und Details eingelesen, dass mir wirklich ein wenig die Grundlagen entfallen waren. Aber ich konnte sehr lernfähig sein, wenn ich etwas wirklich wollte.

„Ich gelobe Besserung.“ Behutsam hielt ich meine Hände auf seinen Schultern, bis das Öl warm genug war. Wenigstens ließ er mich trotzdem gewähren. Ich strich langsam über seinen Rücken, betrachtete ihn eingehend. Wie schön seine Haut durch das Öl doch glänzte, richtig verführerisch. Aber erst mal musste ich ihm die Massage zukommen lassen, die er benötigte, bevor ich seinen Anblick genießen konnte. Also knetete ich erst seinen Nacken und schließlich seine Rückenmuskulatur durch.

„Wie kommt es, dass du wieder Interesse an den Händen hast?“, fragte ich beiläufig. Mokuba hatte ja erzählt, dass er sich normalerweise nach Fertigstellung nicht mehr damit befasste.

„Hab ich nicht. Aber vielleicht hat die Erfindung ja doch noch mehr Potenzial.“

„Du beschäftigst dich damit, obwohl es dir eigentlich egal ist?“ Das erschien mir ziemlich unlogisch.

Er wandte sich um und sah mich schief an. „Hast du nicht gesagt, es wäre schade, dass ich nicht an den Erfindungen dranbleibe?“

Hatte ich, richtig. Beschäftigte er sich jetzt etwa damit nur deswegen? Hatten meine Worte bei ihm tatsächlich bewirkt, dass er jetzt den wahren Wert seiner Arbeit erkannte? Wahnsinn! Ich war unfassbar stolz auf mich, so etwas bei ihm erreicht zu haben. Immerhin war Seto ja wirklich ein unglaubliches Talent, das man auf jede erdenkliche Weise unterstützen sollte.

Ich konnte mir ein glückliches Grinsen nicht verkneifen, während ich jetzt seine untere Rückenmuskulatur auflockerte. „Dafür scheint es doch aber gut voranzugehen, oder nicht?“

Er schnaubte. „Es ist ziemlich anstrengend.“

„Anstrengend?“

„Naja...“ Er zuckte vage mit den Schultern. „Wenn ich so eine Vision habe, dann weiß ich ja, was ich entwickeln will. Die Hände haben bestimmt viel Potenzial, aber ich weiß einfach nicht, was ich daran noch weiterentwickeln soll.“

Ihm fehlten also die Ideen? Schwer vorstellbar. „Also baust du erst mal die zweite Fernbedienung, weil dir nichts anderes einfällt?“

„Erbärmlich, ich weiß.“

„Nein nein. Das ganz bestimmt nicht.“ Nichts, was er entwickelte, konnte erbärmlich sein. Besänftigend massierte ich seinen Nacken, damit er sich wieder entspannte. „Vielleicht gehst du das Ganze nur zu krampfhaft an.“

„Inwiefern?“

„Weil du die Hände weiterentwickeln willst, nur um sie weiterzuentwickeln?“

Er warf mir einen verständnislosen Blick über die Schulter hinweg zu. „Warum denn sonst?“

„Du versuchst, es zu erzwingen und das funktioniert nicht.“

Ich beugte mich vor, wanderte mit den Händen über seine Seiten zu seinem Bauch. Dadurch war ich ihm wirklich sehr nah, und ich genoss es voll und ganz. Ich lehnte fast schon an seinem Rücken, spürte die Wärme seiner Haut durch mein T-Shirt hindurch. Sein Geruch umschmeichelte meine Nase und bereitete mir ein tiefes Wohlgefühl. Fast bildete ich mir ein, er würde sich sogar ein wenig gegen mich lehnen.

„Also soll ich es lassen?“, fragte er leise.

„Nein.“ Ich strich zärtlich über seinen Bauch. „Du sollst dich nur nicht darin verbeißen. Entspann dich einfach. Bestimmt kommt dir eine zündende Idee, wenn du etwas Abstand gewinnst.“

„Um das große Ganze im Blick zu behalten?“

„Wer weiß, vielleicht inspiriert dich ja ein völlig unscheinbarer Alltagsmoment.“

„Hm.“ Darüber musste er wohl nachdenken. Mir hingegen erschien es logisch. Vielleicht konnte er so einen Geistesblitz wirklich nicht erzwingen, sondern musste auf eine Eingebung warten. Anscheinend war er ja völlig ungeübt, sich seinen Erfindungen außerhalb dieses „Genie-Modus“ zu widmen.

Nach einer Weile drehte er sich mir wieder zu. Dadurch, dass ich immer noch so weit vorgebeugt war, war sein Gesicht meinem jetzt ganz nah. Seine blauen Augen wirkten aus dieser Entfernung unvorstellbar intensiv und sinnlich, obwohl darin ein Ausdruck lag, den ich nicht deuten konnte.

„Was für einen Therapieansatz verfolgst du eigentlich damit, mir den Bauch zu kraulen?“

Hoppla! Meine Berührungen waren tatsächlich schon lange keine Massage mehr. Ich hatte mich einfach hinreißen lassen, die Nähe auszukosten so gut es ging. Zwischenzeitlich waren meine Hände nicht nur über seinen Bauch sondern auch über seine Brust gewandert, hatten mit Begeisterung den dargebotenen Körper erkundet.

„Hab den Hüftbeuger gesucht?“, versuchte ich es kleinlaut.

Er musterte mich noch einen Moment lang, ehe er einfach nur nickte und sich von mir löste. Erst dachte ich, es wäre ihm zu viel, aber als wäre nichts gewesen, legte er sich einfach nur auf den Rücken und wartete darauf, dass ich zum zweiten Teil der Therapie überging. Eigentlich schade, denn damit war die Gelegenheit für weiteren engen Körperkontakt vorbei. Und ich behauptete jetzt mal, dass ihm meine Nähe nicht allzu unangenehm gewesen sein konnte, denn er hätte mich ja auch wesentlich früher von sich stoßen können.

Allzu viel musste ich allerdings nicht mehr beitragen. Ohne mein Zutun, winkelte er das eine Bein an und ließ das andere vom Tisch baumeln, um den Hüftbeuger zu strecken. Und auch bei den weiteren Übungen kam ich mir eher wie ein Assistent vor. Na gut, wenigstens blieb mir dadurch viel Zeit, mir seinen Anblick genau einzuprägen, vom schön definierten Oberkörper bis zu diesen endlos langen Beinen.

Nachdem er sich letztendlich wieder angezogen hatte, sah er mich erwartungsvoll an, als wollte er mich fragen: »Was jetzt?«. Bezüglich einer Inspiration für seine Erfindungen schien er sich ganz auf meine Leitung zu verlassen. In gewisser Weise machte mich das wirklich stolz, denn damit stellte ich ja quasi seine Muse dar und ich konnte sicher sein, dass er mich vorerst nicht wegschicken würde.

„Es ist ziemlich warm heute.“, stellte ich fest. „Wie wäre es, wenn wir uns an den Pool legen?“

Seiner Mimik nach wirkte er nicht allzu begeistert davon. Kein Wunder, mit Gips konnte er ja schlecht ins Wasser.

„Vertrau mir, es wird dir schon gefallen.“

Und er ließ sich darauf ein. Wenn auch widerwillig schwang er sich in Badeshorts und begleitete mich zum Pool. Während er sich umzog, nutzte ich die Zeit, um den Schuppen zu durchsuchen, den Mokuba mir damals bei seinem Geburtstag gezeigt hatte. Lauter Equipment zum Baden, aber mich interessierte hauptsächlich die Schwimmmatratze. Seto konnte zwar nicht ins, aber wenigstens mit der Matratze aufs Wasser. War doch besser als nichts.

Als er zum Pool kam, wirkte er allerdings nicht sonderlich begeistert von meinem Vorschlag. „Dir ist schon klar, dass ich in der prallen Sonne verbrennen werde, oder?“, murrte er.

„Sonnenmilch.“ Ich grinste breit. Eincremen übernahm ich gern für ihn.

Er schnaufte völlig unbegeistert, ließ es aber zu, dass ich ihm den Rücken einschmierte. Während er auch auf seinem restlichen Körper Sonnencreme verteilte, zog ich mich bis auf die Badeshorts aus. Mir fiel auf, dass Setos Blick über meinen Körper glitt, aber ich konnte in seinen Augen nicht lesen, was er dachte. Bisher hatte ich ihn zwar schon sehr oft sehr freizügig gesehen, aber er mich im Gegenzug noch nie. Hoffentlich fand er meinen Anblick genauso ansprechend wie ich seinen.

Ich glitt langsam ins Wasser, genoss die Abkühlung an diesem heißen Tag, während Seto eher teilnahmslos am Beckenrand saß. Wenn ich seinen Blick richtig deutete, frustrierte es ihn sichtlich, nicht ins Wasser zu können, aber vielleicht konnte ihn mein Plan ja doch milde stimmen.

Ich zog die Matratze ins Wasser, brachte sie nah an den Beckenrand. „Kletter rauf.“

Misstrauisch betrachtete er das Angebot. „Es wäre wohl ziemlich dumm, mit Gips aufs Wasser zu gehen. Was, wenn ich sinke?“

„Ich passe schon auf, okay?“

Er fixierte mich mit seinem zweifelnden Blick, war wohl keineswegs zufrieden mit meinem Plan. Na schön, besserten wir nach. Ich kletterte aus dem Pool und eilte in die Küche, um Frischhaltefolie zu holen. Damit bewaffnet, kehrte ich zu ihm zurück.

„Die schützt den Gips vor Wassertropfen.“, erklärte ich, während ich seinen Fuß damit einwickelte.

„Das hilft nicht viel, wenn ich ins Wasser falle.“

„Dann fall doch einfach nicht rein!“ Ich hatte schon drauf geachtet, dass die Matratze nicht so leicht sinken würde. Die war dick und stabil genug, damit Seto darauf wirklich trocken blieb. Ich verstand seinen Argwohn ja, aber ich würde es ihm ja nicht vorschlagen, wenn ich mir nicht sicher wäre.

„Das ist eine blöde Idee!“ Sein Blick wirkte störrisch und unnachgiebig.

„Mag sein, dass es im ersten Moment so klingt, aber ich hab das genau durchdacht. Auf dieser superdicken Matratze sind selbst Yugi und Tea nicht gesunken, als sie zu Mokubas Geburtstag darauf fast schon übereinander hergefallen sind.“

Seine Augen blitzten gefährlich auf. „Ich weiß nicht, was mich daran mehr anwidert: die Vorstellung, wie dieser Gartenzwerg und das billige Mädchen Unzucht auf meinem Grundstück treiben oder die Tatsache, dass du mich auch noch auf einem von den beiden besudelten Ort auf den Pool treiben lassen willst, wo ich quasi wie auf einer Insel gestrandet bin.“

„Billiges Mädchen?“

„Gardner bemüht sich vielleicht um Stil, aber sie sieht einfach nur billig aus. Bei ihren Outfits braucht man nicht mal mehr seine Fantasie anstrengen, um zu wissen, wie sie nackt aussieht.“ Er beobachtete mich aufmerksam, als erwarte er eine heftige Gegenreaktion. Immerhin hatte er gerade gegen meine Freunde geschossen.

Ich konnte darüber allerdings nur lachen. „Das hab ich ihr auch schon gesagt.“ An sich war seine Kritik ja treffend, warum sollte ich also sauer sein.

Er schnaubte leicht. „Und trotzdem willst du mich auf eine von deren Körpersäften durchtränkte Matratze steigen lassen?“

„Sie haben nur rumgeknutscht und sich nicht wie wild gepaart!“ Trotzdem kam ich nicht umhin, festzustellen, wie wahnsinnig anregend dieser vorwurfsvolle Blick war. Er zog dabei einen kleinen Schmollmund, der zum Küssen einlud.

„Wild und hemmungslos körperliche Intimitäten auf meiner Matratze ausgetauscht!“ Er fletschte unbegeistert die Zähne. Spielte meinem Plan nicht gerade in die Hände. Mist. Am liebsten würde ich ihm demonstrieren, wie widerstandsfähig diese Matratze wirklich war, indem ich ihm zeigte, dass sie auch dem Austausch körperlicher Intimitäten standhielt. Aber vorerst versuchte ich es anders.

„Oh, gerade fällt mir ein, dass die beiden ja die grüne Matratze hatten. Das hier ist ja die Blaue.“

„Wir haben gar keine grüne Matratze.“, bemerkte er misstrauisch.

„War wohl eine andere Party. Jedenfalls weiß ich, dass diese Matratzen superstabil sind.“ Ich kletterte erneut ins Wasser und hielt die Matratze fest. „Na komm, wir versuchen es einfach.“

Er zweifelte immer noch, das sah ich. Allerdings war er nicht mehr ganz so resolut dagegen eingestellt. Ich sah ihm tief in die Augen, hoffte dass er in den meinen meine absolute Aufrichtigkeit lesen konnte. „Ich passe auf dich auf, versprochen. Du kannst mir vertrauen, okay?“

Eine ganze Weile starrte er mir stumm in die Augen, aber schließlich nickte er. Nur langsam und äußerst vorsichtig kletterte er rauf, beobachtete dabei die ganze Zeit misstrauisch das Wasser. Aber die Matratze hielt, was sie versprach. Vorsichtig zog ich sie vom Beckenrand weg. „Siehst du, es hält.“

„Und wenn eine Welle kommt?“

„Du bist ja nicht auf dem Meer, sondern nur im Pool. Es ist ein schöner, warmer Tag und so kannst du dich nicht nur sonnen, sondern gleichzeitig auch abkühlen.“ Und innerlich grinste ich darüber, dass er am Ende des Tages in der Sonne bestimmt ein paar Sommersprossen mehr bekommen würde.

Nur sehr langsam konnte er sich mit der Situation anfreunden, aber schließlich entspannte er sich. Er legte sich auf den Bauch, ließ das gesunde Bein und die Arme ins Wasser baumeln und schloss die Augen. Anscheinend fühlte er sich im Wasser wirklich wohl.

Eine ganze Weile genossen wir einfach den Sommer. Ich nutzte, dass der Pool wirklich groß war und schwamm ein paar Bahnen, während Seto döste. Aber irgendwann merkte ich, dass sein Blick auf mir ruhte. Er beobachtete mich. Nur warum? Schaute er sich als erfahrener Schwimmer meinen Stil an? Der war sicherlich nicht perfekt, schon klar. Aber vielleicht lag sein Augenmerk auch auf meinem Körper. Ich war muskulöser als er, wirklich gut trainiert. Allerdings fand ich Setos Körper wesentlich besser definiert. Er wirkte athletisch, gazellengleich, während ich einfach nur der typische Sportler war. Trotzdem konnte ich mich sehen lassen und vielleicht empfand er das ja auch so. Zumindest wirkte sein Blick nicht angewidert.

Ich schwamm zu ihm, hielt mich an der Matratze fest und betrachtete ihn eingehend. Auch wenn er mich genau beobachtete, wirkte sein Blick träge. Eigentlich schade, denn ich wüsste zu gern, was er bei meinem Anblick gedacht hatte. Nur in diesem müden Blick konnte ich nicht viel lesen.

„Wie gefällt es dir?“, fragte ich neugierig.

„Ist annehmbar.“, murmelte er.

„Klar, ideal ist es nicht.“ Ich legte vorsichtig meine nasse Hand auf seinen Rücken, um seine erhitzte Haut zu kühlen. „Aber besser als nichts, oder?“

Er nickte vage, war allerdings wohl nicht in der Stimmung, zu reden. Auch gut. Ich begnügte mich damit, ein paar Bahnen durchs Wasser zu ziehen und hin und wieder über seine Haut zu streicheln, um sie zu kühlen. Ich kümmerte mich dabei insbesondere um seine Stirn und sein dunkles Haar. Wenn er so empfindsam bei Sommersprossen war, lag vielleicht auch das Risiko eines Sonnenstichs höher. Und trotzdem schien er es voll und ganz zu genießen, auf dem Wasser zu sein.

Alles lief perfekt. Bis es schief ging.

An sich war die Matratze wirklich ideal. Sie war so dick und stabil, dass es nur mit Gewalt möglich wäre, sie zu kentern und das würde ich nie tun. Allerdings schaffte Seto es auch ganz allein.

Ich hatte keine Ahnung, was in ihn gefahren war, aber mit einem Mal schien es, als würde er hochschrecken und aufstehen wollen. Völlig unbedacht, als hätte er vergessen, wo er war, kam er auf die Beine und versenkte dabei seine Unterlage, die ihn bis dahin so zuverlässig getragen hatte.

Verdammter Mist! Hastig schwamm ich zu ihm, während er wieder auftauchte und erschrocken nach Luft schnappte. Ich packte ihn an der Hüfte und zog ihn zum Beckenrand.

„Alles okay?“, fragte ich besorgt. Ich hielt ihn fest umklammert, damit er nicht absank.

Er nickte atemlos, sah mich ein wenig erschrocken an.

„Was ist denn passiert?“

„Keine Ahnung.“ Er wischte sich das nasse Haar aus der Stirn. „Ich muss wohl eingedöst sein.“

Oje, damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Seufzend lehnte ich meine Stirn an seine. „Entschuldige, dass ich nicht richtig aufgepasst habe.“ Wie unendlich dumm von mir! Jetzt würde er mir doch nie wieder vertrauen.

„Ich hatte plötzlich eine Idee für die Hände.“, hauchte er, suchte nach meinem Blick. Wie begeistert seine blauen Augen trotz dieser Lappalie strahlten. Unfassbar schön.

„Und was?“

„Ich muss den Akku verbessern und dann kann ich sie umprogrammieren, so dass sie sprachgesteuert sind.“

Das... klang grenzenlos genial. Aber war das überhaupt machbar? Ach klar, mein kleines Genie würde das garantiert hinbekommen.

Ich lächelte anerkennend. „Siehst du? Wenn du es nicht erzwingst, kommt die Idee von ganz allein.“

Er nickte, strahlte dabei übers ganze Gesicht. „Dank deiner Idee mit dem Pool.“

Wie sehr ihn das doch begeisterte. Und obwohl ihm diese bahnbrechende Idee gekommen war, schien er nicht gleich in den Erfindermodus abzutauchen. Vielleicht klappte es ja wirklich, dass er diese fast schon zwanghaften Phasen umgehen konnte, wenn er sich einfach von sich aus mehr dem Erfinden widmete. Wie viele Möglichkeiten ihm das eröffnen würde.

Trotz dieser Entdeckung konnte ich im Moment nur daran denken, wie umwerfend schön er aussah, wenn er so lächelte. Unglaublich anziehend. Ich würde ihn so gern einfach küssen, und vielleicht war der Moment dafür gar nicht so schlecht.

Wir waren einander ganz nah, ich müsste mich nur vorbeugen. Und so begeistert wie er mich gerade anlächelte, würde er es vielleicht sogar zulassen. Immerhin war er gerade anscheinend von einem absoluten Glücksgefühl erfasst. Seine Augen fixierten mich dabei, glänzten verführerisch sinnlich.

Ich würde es einfach riskieren.

Doch gerade als ich mich überwinden wollte, zerstörte ein Aufschrei die Situation.

„Seto!“ Mokuba kam zu uns gerannt, während ich schnell von ihm abwich. „Was ist denn passiert?“ Der Kleine kniete sich an den Beckenrand, um seinen Bruder besorgt zu mustern.

„Bin ins Wasser gefallen.“ Und trotzdem konnte Seto nicht aufhören zu lächeln. „Aber ich hatte eine Idee, wie ich die Hände weiterentwickeln kann.“

Sofort verdrehte Mokuba genervt die Augen. „Anstatt dich schon wieder mit diesen blöden Erfindungen zu beschäftigen, solltest du endlich mal anfangen, dich um deine Gesundheit zu kümmern! Dein Gips ist im Wasser. Vielleicht solltest du dir lieber darüber Sorgen machen!“

So eine harsche Ansprache brauchte es doch jetzt echt nicht, oder? Ich sah Seto an, wie seine Laune immer weiter sank. Sah Mokuba denn gar nicht, dass sein Geistesblitz diesmal ganz anders, sogar wünschenswert war?

„Wir kümmern uns schon um einen neuen Gips.“, warf ich eilig ein.

„Und der Rest? Was wenn der Unsinn jetzt wieder von vorn anfängt?“

Setos Augen wurden dunkel und ich erkannte darin aufkeimenden Zorn. Diesmal ließ er sich nicht wie sonst einreden, seine Idee wäre wertlos. Wirklich lobenswert, aber zwischen den Brüdern könnte es dadurch zum handfesten Streit kommen.

„Es ist kein Unsinn!“, knurrte ich. Okay, ich konnte auch nicht vermitteln. Mir ging Mokubas negative Einstellung auf die Nerven und es ärgerte mich noch viel mehr, dass er diese perfekte Situation hatte zerplatzen lassen. „Und wir werden uns schon um den Gips kümmern, also werd nicht gleich hysterisch!“

Beide Brüder sahen mich irritiert an. Dabei hatte ich doch recht.

Mokuba schnaubte leicht. „Macht doch, was ihr wollt!“ Darüber fluchend, wie unvernünftig wir doch wären, stapfte er davon. Auch gut!

Ich näherte mich Seto wieder an. „Es ist kein Unsinn, okay?“, meinte ich sanft.

Er nickte nur, aber seine Euphorie war verflogen. „Ich sollte lieber aus dem Wasser raus.“

Richtig. Ich sah ihm zu, wie er sich aus dem Becken zog und bedauerte die verpasste Chance. Was, wenn uns keiner gestört hätte? Hätte er es dann zugelassen?

Egal, es würde noch weitere Gelegenheiten geben. Ich kletterte ebenfalls aus dem Wasser und holte zwei Handtücher. „Wir fahren zu Dr. Hikawe, damit er dir einen neuen Gips verpasst.“

Er nickte, während er sich abtrocknete. „Ich brauch meine Krücken.“

Richtig, mit dem nassen Gips würde er nicht auftreten können. Also holte ich ihm schnell die Gehhilfen. Es wunderte mich nicht mal, dass er schnurstracks in sein Zimmer humpelte, um sich neue Klamotten anzuziehen. Selbst in so einer Situation achtete er noch penibel auf seine Erscheinung. Allerdings blieb er recht wortkarg, als er mir den Autoschlüssel reichte und mich ihn in einem schicken Ferrari zum Krankenhaus fahren ließ. Vielleicht zweifelte er doch an seiner Idee, nachdem sich die erste Freude darüber gelegt hatte. Zumindest schien er sehr nachdenklich.

Dr. Hikawe empfing uns sofort, allerdings wirkte er nicht sehr erfreut. Während er den durchnässten Gips aufschnitt, bedachte er Seto mit einem tadelnden Blick. „Sie dürfen auf die letzten Tage nicht leichtsinnig werden.“, meinte er. „Es hat schon seinen Grund, dass Sie den Gips noch eine Woche tragen sollen.“

„War ein Unfall.“, murmelte Seto nur.

Der Arzt schüttelte leicht den Kopf, während er den Knöchel abtastete. Dann glitten seine Hände weiter über die Wade. „Zumindest scheinen Sie sich jetzt mehr bewegt zu haben, der Muskulatur nach zu urteilen.“

„War jeden Tag spazieren.“

„Sehr gut.“

„Die Genesung ist doch schon sehr vorangeschritten, oder?“, fragte ich lauernd.

Dr. Hikawe nickte.

„Wäre es denn dann nicht möglich, eine Gipsschiene anzulegen, die abnehmbar ist?“ Oh ja, ich hatte mich in das Thema eingelesen. Mir fehlte zwar die medizinische Ausbildung, um einzuschätzen, wie Setos Verletzung momentan einzuordnen war, aber ich hatte gelesen, dass ein Gehgips auch abnehmbar sein konnte. Ihm selbst schien das völlig neu zu sein, denn er sah mich so ungläubig an, als wäre ich ein Außerirdischer.

„Nun...“ Dr. Hikawe lehnte sich zurück und betrachtete abschätzig den Knöchel. „Theoretisch ist es möglich. Aber auch wenn es nur noch eine Woche ist, schätze ich das Risiko, jetzt schon ohne Gips mit dem Knöchel aufzutreten, als zu hoch ein.“

„Das müsste er ja nicht.“, warf ich ein. „Wenn er mit dem Gips weiter die Physiotherapie einhält und regelmäßig läuft, dafür aber die Krücken nutzt, wenn er den Gips ablegt, dürfte es doch gehen oder?“

So ganz überzeugt schien der Arzt noch nicht zu sein.

„Kommen Sie, so könnte er bei den Temperaturen wenigstens zwischendurch mal in den Pool.“

Eine gefühlte Ewigkeit lang, starrte er nur konzentriert auf den Knöchel. Aber schließlich gab er nach. Vielleicht ließ ihn ja Setos faszinierend hoffnungsvoller Blick einknicken. Zumindest auf mich wirkte das Blau seiner Augen fast schon hypnotisierend, wenn er mich so ansah.

„In Ordnung.“ Dr. Hikawe seufzte schwer. „Aber nur unter den Bedingungen, die Ihr Begleiter schon erwähnt hat.“ Er sah Seto streng in die Augen. „Kein Auftreten ohne Gips und weiterhin regelmäßig Therapie und Übungen.“

Seto nickte schnell, wirkte noch ganz überrumpelt von der Entscheidung. Welche neuen Möglichkeiten ihm das einräumen würde. Er könnte in den Pool gehen, vielleicht sogar schwimmen. Wahrscheinlich war es allein schon eine Erleichterung endlich mal diesen Klotz am Bein für ein paar Minuten loszuwerden.

„Gut.“ Während er jetzt die neue Gipsschiene anlegte, erklärte er die Auflagen dazu. „Nachts sollten Sie den Gips auf jeden Fall tragen und tagsüber nicht länger als sagen wir drei Stunden pro Tag ablegen.“

„Was ist mit Schwimmen?“, fragte ich.

„Nein!“ Dr. Hikawe schüttelte energisch den Kopf. „Auch wenn die Belastung beim Schwimmen geringer ist als beim Laufen, sollten Sie damit noch warten, bis der Gips endgültig ab ist. Danach ist es die ideale Sportart, um die Muskeln wieder zu trainieren. Aber jetzt noch nicht. Man unterschätzt zu leicht, welche Kraft Wasser auswirken kann.“

Hm, nicht gut. Aber Setos Begeisterung schien das nicht zu schmälern. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. Gut so. Zuversicht stand ihm wirklich besser als Resignation.

„Sehen Sie es so.“ Jetzt lächelte der Arzt fast schon sanft. „Sie sind schon auf der Zielgeraden. Nur noch eine Woche und der Gips ist ab.“

Seto nickte, rang sich zumindest zu einem kleinen, schüchternen Lächeln durch.

Als ich ihn wieder nach Hause fuhr, beobachtete er mich die ganze Zeit aufmerksam. „Wie bist du darauf gekommen?“, fragte er leise.

Ich zuckte vage mit den Schultern. „Naja bei den Temperaturen dachte ich, es wäre doch toll, wenn du den Gips auch mal zum Baden ablegen könntest. Und bei meiner Recherche bin ich relativ schnell auf die Lösung gestoßen.“ Bei seinen fast schon vor Dankbarkeit strahlenden Augen, musste ich lächeln. „Ich denke, das macht dir die letzte Woche schon einfacher, oder?“

Er nickte, wirkte überaus zufrieden.

Als wir bei ihm zuhause ankamen, nutzte er gleich mal die neugewonnenen Möglichkeit und humpelte zum Pool. Er setzte sich an den Beckenrand und krempelte die Hosenbeine hoch, während ich mich neben ihm niederließ. Neugierig beobachtete ich, wie er den Gips abmachte und dann den Fuß vorsichtig ins Wasser tauchte.

„Und?“, fragte ich. „Wie fühlt es sich an?“

„Ziemlich ungewohnt.“ Er bewegte den Fuß im Wasser hin und her, erzeugte kleine Wellen. „Irgendwie fremd und gleichzeitig ganz leicht.“

„Trotzdem gut?“

Er sah mich an, lächelte schwach. „Unglaublich gut.“

Das sah man. Er wirkte im Moment einfach nur erleichtert. Wie sehr ich diesen Anblick liebte. Und trotzdem entschied ich mich dafür, mich jetzt zurückzuziehen. Im Moment war er mir wirklich dankbar für die Idee und meine Überlegung bestand darin, dass er über mich nachdenken und mich eventuell auch vermissen konnte, wenn ich jetzt ging. Guter Plan.

„Ich sollte jetzt gehen.“, meinte ich, während ich aufstand. „Ich komme dann in drei Tagen für die nächste Physiotherapie wieder, okay?“

Irritiert sah er zu mir auf. „Willst du denn nicht bleiben?“

Bei diesem ziemlich niedlichen Blick war es schwer, ihn jetzt allein zu lassen. Aber ich hielt an meinem Plan fest. Je mehr Zeit ich ihm gab, desto mehr Zuneigung konnte er für mich entwickeln.

„Ich komme in drei Tagen wieder, versprochen.“, meinte ich fest. „Dann hast du genug Zeit, deiner Idee mit den Händen nachzugehen, ohne dass ich dich dabei störe.“ Damit ließ ich ihn sitzen. Allerdings konnte ich es mir einfach nicht verkneifen, noch einmal durch sein weiches Haar zu streicheln, ehe ich ging.

Bis jetzt lief das alles doch ganz hervorragend. Ich erkannte in Setos Augen, dass er über mich nachdachte und er ließ meine Nähe immer mehr zu. Das alles war noch kein Garant dafür, dass er sich letztendlich wirklich auf mich einließ, aber meine Chancen stiegen kontinuierlich. Und mehr konnte ich mir im Moment gar nicht wünschen.

Firmenpolitik

Als ich drei Tage später wiederkam, fand ich Seto im Pool vor. Anscheinend nutzte er die neue Möglichkeit wirklich mit Vorliebe. Er selbst blieb jedoch nur am Beckenrand, während Mokuba hinter ihm begeistert im Wasser tobte.

Ich näherte mich dem Pool und ließ mich neben Seto am Beckenrand nieder. In den letzten Tagen hatte er ein bisschen Farbe bekommen, war also regelmäßig draußen gewesen.

„Joey.“ Sein Blick war träge, als hätte er bis jetzt gedöst und trotzdem wirkte er auch ein bisschen erfreut darüber, mich zu sehen.

„Du scheinst das Wasser ja sehr zu genießen.“

„Hm, gibt nichts Besseres.“ Bei dem zufriedenen Leuchten in seinen Augen glaubte ich ihm das gern.

„Wenn es nach Seto ginge, würde er aus dem Pool gar nicht mehr rauskommen.“, feixte Mokuba. Er kam zum Beckenrand geschwommen und lächelte mich groß an. „Einen größeren Gefallen als die Idee mit dem abnehmbaren Gips hättest du meinem Bruder kaum tun können.“ Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. Sehr gut, dann hatte ich ja mein Ziel erreicht.

Mein Blick fiel auf Setos Hände. „Vielleicht solltest du zwischendurch doch mal aus dem Wasser raus. Deine Finger sind schon ganz schrumpelig. Dann können wir auch gleich mit der Therapie beginnen.“

Schwerfällig und träge zog er sich aus dem Wasser und setzte sich an den Beckenrand. Hm, der Anblick seines nassen, im Sonnenlicht glänzenden Körpers hatte schon was. „Ich brauch den Gips.“, murmelte er.

Ich folgte seinem Blick zu den Liegestühlen in einigen Metern Entfernung. „Lass ihn noch ab, dann kann ich deine Wadenmuskulatur gleich mit auflockern. Wo sind deine Krücken?“

„Da drüben.“ Er deutete auf die andere Seite des Beckens. Nett wie ich nun mal war, holte ich sie ihm und half ihm dann auch noch beim Aufstehen. Ich umfasste sicherheitshalber seine Hüfte, während er die Gehhilfen sortierte. Anscheinend war es gar nicht mehr gewohnt, den Fuß zwischendurch nicht abstellen zu können, denn er schwankte ein wenig.

„Du bist eiskalt.“, stellte ich verwundert fest.

Er bedachte mich mit einem schiefen Blick. Bis jetzt war es mir gar nicht aufgefallen, aber seine Lippen hatten schon eine leicht bläuliche Nuance. „Ist doch normal, wenn man im Wasser war.“

„Schon, aber du bist ziemlich ausgekühlt.“ Instinktiv zog ich ihn näher an mich, um ihn mit meinem Körper zu wärmen, auch wenn er dadurch meine Kleidung durchnässte. Allerdings schien das nicht in seinem Sinn zu sein.

„Macht nichts.“ Er löste sich von mir. „Ich zieh mich um und dann können wir die Therapie anfangen.“ Ohne mir noch die Gelegenheit für eine Erwiderung zu geben, humpelte er davon.

Hm, war ich ihm zu nahe getreten? Das war ja fast schon abweisend gewesen.

Neben mir zog sich Mokuba aus dem Wasser. „Seto kann mit zu viel Fürsorge nichts anfangen, das ist er einfach nicht gewohnt.“

„Soll heißen?“

„Du hast ihn zu sehr bemuttert.“

So war das also. Aber er hatte bisher meine Fürsorge auch hin und wieder zugelassen. Musste ja ein schmaler Grat sein, wann es ihm zu viel wurde. Gosaburo hatte ihn so geprägt. Ihm fiel es schwer, Nähe und Wohlwollen richtig einzuschätzen, aber ich könnte ihm bestimmt dabei helfen.

„Aber wenn du es ihm nicht als Fürsorge verkaufst sondern anders, ist es für ihn okay.“ Der Kleine knuffte mir in die Seite und grinste frech. „Mein Bruder ist überglücklich, wieder in den Pool zu können. Damit hast du bei ihm einen Stein im Brett.“

Ich nickte. „Wasser ist sein Element, wie du schon sagtest.“

„Ja.“ Der Kleine lächelte. „Aber du hast ihm noch mehr geholfen.“

„Womit?“, fragte ich verwundert.

„Er beschäftigt sich wieder mit den Händen, weißt du das?“

Ich nickte angespannt. „Und ich nehme an, das ist dir nicht recht.“

„Na ja...“ Er trat von einem Bein auf das andere als fühlte er sich ertappt. „Am Anfang nicht. Ich dachte, er vergräbt sich wieder in seinem Erfindermodus, aber diesmal war es anders. Er war nicht wie besessen davon sondern ganz normal ansprechbar.“

„Weil es keine plötzliche Vision ist.“ Dass er diesmal wirklich an seiner Erfindung arbeiten konnte, ohne geistig gleich auszuklinken, erleichterte mich unglaublich. Vielleicht stimmte meine Theorie dann tatsächlich und er könnte diese Phasen umgehen, wenn er sich selbst regelmäßig damit beschäftigte.

„Das meinte Seto auch. Er hat gesagt, er hätte bewusst nach einer Verbesserungsmöglichkeit gesucht.“ Der Kleine gluckste glücklich. „Stell dir nur vor, er könnte diese Anfälle damit für immer umgehen. Wäre das nicht cool?“

„Ja, allerdings.“ Es blieb abzuwarten, ob es damit wirklich erledigt war. Das würde die Zeit zeigen müssen.

„Schon erstaunlich, dass du meinen Bruder nach ein paar Wochen besser verstehst als Lauren nach zwei Jahren.“, meinte Mokuba nachdenklich. „Vielleicht würdest du wirklich ganz gut an seine Seite passen.“

Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer vor Freude, als er das sagte. Ich tat Seto gut und er erkannte das. Damit könnten die Voraussetzungen für eine Beziehung eigentlich nicht besser stehen, denn die Brüder standen sich sehr nahe und Seto war Mokubas Meinung wichtig.

„Ich hoffe nur, dass er das auch so sieht.“

„Bestimmt. Mit dir an seiner Seite kann er seinen Erfinderwahn auf eine gesunde Weise ausleben. Er kann sein, wie er ist und das rechnet er dir hoch an.“

„Hoffentlich hast du recht.“ Ein bisschen überraschte es mich, dass Mokuba tatsächlich so begeistert war. Bis jetzt hatte er sich ja eisern gegen alles ausgesprochen, was mit dem Talent seines Bruders zu tun hatte. Aber jetzt? Ich könnte mir vorstellen, dass es Seto das Leben so viel leichter machen würde, wenn er Mokuba hinter sich wüsste. „Dann solltest auch du deinen Bruder darin bestärken, wirklich dranzubleiben.“

„Das werde ich.“, meinte er entschlossen. „Solange er auf diese Weise seine Erfindungen ausleben kann, werde ich alles tun, um ihn zu unterstützen.“ Er lächelte verschmitzt. „Und ich nehme an, dir wird er dafür noch wesentlich dankbarer sein.“

Man, der Zwerg war ganz schön indiskret. Aber insgeheim hoffte ich, dass er recht hatte. Auch wenn wir eigentlich bisher weder Freunde noch sonstwas waren, hoffte ich inständig, dass Setos Gefühle und damit auch meine Chancen wuchsen.

Gutgelaunt machte ich mich nach einem kleinen Abstecher über die Küche auf den Weg zum Behandlungsraum. Seto saß schon auf der Liege und wartete ganz ungeduldig. Ich ging an ihm vorbei und drückte ihm dabei ein getoastetes Sandwich in die Hand. Ich hatte mir damit wirklich Mühe gegeben, es liebevoll mit Salat und Tomaten belegt. Seto allerdings blinzelte nur völlig irritiert, als er das Essen in seiner Hand betrachtete.

„Im kalten Wasser verbraucht der Körper sehr viel Energie, um die Kerntemperatur zu erhalten. Deswegen hat man nach dem Schwimmen immer Hunger.“, erklärte ich.

Abschätzig betrachtete er das Essen, während ich schon mal etwas Massageöl in meinen Händen erwärmte. Schließlich überwand er seine Skepsis und aß es langsam. Gut so. Derweil strich ich schon mal vorsichtig über seine Schultern und seinen Rücken. Seine Haut war immer noch kalt. Ein Wunder, dass er nicht zitterte. Kurzentschlossen umfasste ich seine Taille und schmiegte mich an seinen Rücken.

Er sah zu mir, als würde er stumm fragen, was das sollte. Ich erwiderte seinen Blick vollkommen gelassen, während ich genoss, wie einladend weich dieses Blau gerade wirkte.

„Kalte Muskeln ziehen sich zusammen und lassen sich nicht auflockern. Deswegen ist Wärme Grundlage jedes Therapieansatzes.“ Gute Erklärung wie ich fand. Und anscheinend war ihm das recht.

„Wenn du das sagst.“ Ich konnte seinen Blick nicht ganz deuten, aber seine Stimme klang wie ein provokatives Schnurren, ein dunkler, sonorer Bass, der direkt meine Lenden anzusprechen schien. Angespannt hielt ich den Atem an, bis er den Blick wieder abwandte. Wahnsinn, ich hatte mich gerade wirklich sehr stark zusammenreißen müssen, um ihn nicht einfach zu küssen. Dieser Mann machte mich fertig!

Ich verharrte eng an seinen Rücken geschmiegt, bis seine Haut wieder angenehm warm war. Dann begann ich damit, seine Nackenmuskulatur zu massieren.

„Wie läuft es mit den Händen?“, fragte ich neugierig.

„Hm, den Akku zu verbessern war leicht.“

„Und der Rest?“

Er brummte leise. „Die Franzosen kümmern sich drum.“

„Hä?“

„Die Franzosen, mit denen ich vor ein paar Wochen einen Vertrag abgeschlossen habe, vertreiben eine Software, die auf Sprache reagiert.“

„Für Spielzeug?“ Eigentlich führte Seto doch eine Spielefirma.

„Sprechendes Spielzeug ist ja keine Neuheit mehr auf dem Markt.“

„Sowas wie Furby?“ Dieses komische, plüschige Vieh, dass auf bestimmte Worte reagierte?

Er nickte, seufzte leise und wohlig, als ich über seine Wirbelsäule strich.

„Was wolltest du ursprünglich damit anfangen?“

„Interaktive Videospiele, die eine sprachliche Steuerung als Komponente beinhalten.“

Das Spiel würde also auf mein Wort reagieren? Genial! Als absoluter Spielefan begeisterte das mein Zockerherz zutiefst. Das musste doch eine Milliardenidee sein, wenn er das umsetzen konnte. „Da musst du auf jeden Fall dranbleiben!“, meinte ich energisch.

Verständnislos sah er mich an. „Warum ist das wichtig?“

„Erkennst du denn nicht, wie absolut genial das ist? Damit wirst du steinreich.“

„Bin ich schon.“ Spöttisch hob er eine Augenbraue an. Meine Begeisterung belustigte ihn wohl. „Aber aus deiner Reaktion schließe ich mal, dass du ein Fan dieser Videospiele bist.“

„Definitiv! Die Kaiba Corp. bringt mit Abstand die besten Spiele raus.“

„Und das von dir.“

Stimmte schon. Aber selbst als wir noch spinnefeind waren, hatte ich jedem Spiel seiner Firma entgegen gefiebert. Yugi bekam von seinem spielbegeisterten Großvater ja immer alle Neuerscheinungen und wir hatten zig Wochenenden durchgezockt. Auch wenn es für mich natürlich immer einen faden Beigeschmack gehabt hatte, dass ich diesen Spielspaß meinem Erzfeind verdankte, musste ich neidlos anerkennen, dass er etwas von seinem Job verstand.

„Mit den Spielen selbst habe ich nicht sonderlich viel zu tun.“, erklärte er ruhig. „Ich programmiere die Software und meine Kreativteams entwickeln zu den dadurch gewonnenen Möglichkeiten Interaktionen und eine Storyline. Und wenn das Spiel durch die Softwareentwickler, Grafikdesigner und Programmierer in der Rohfassung fertig ist, mache ich einen Probelauf, ob mir das Spiel plausibel und vertretbar erscheint. Dann verpasse ich der Grafik noch den letzten Schliff und fertig.“

Interessant. Ich hatte allerdings auch nie erwartet, dass er sich all die Geschichten und Charaktere ausdachte. Man musste ihm aber lassen, dass er in diesen Kategorien dann wirklich die besten der besten beschäftigte. „Warum bearbeitest du die Grafik, wenn du so viele Mitarbeiter hast?“

„Meine Grafiker heben die Grafik auf den neuesten und höchsten Standard, aber ich habe einen ganz anderen Blickwinkel darauf. Ich verpasse ihnen nur eine kleine, individuelle Note.“

Ja, das stimmte allerdings. Alle Spiele seiner Firma hatten in der Grafik kleine, einzigartige Feinheiten, die vielleicht nicht notwendig waren, sie aber optisch einprägsam machten.

„Ist das eine Art psychologischer Trick?“, fragte ich. Eigentlich wäre das ziemlich clever. Wenn ich an die Spiele der Kaiba Corp. dachte, kamen mir dazu gleich passende Bilder in den Kopf. Bei anderen Spielen musste ich zumindest länger nachdenken.

„Ein Wiedererkennungswert, ja.“

Andächtig massierte ich den unteren Bereich seines Rückens, während ich über das Gehörte sinnierte. Auch wenn Seto selbst nichts mit dem Inhalt des Spiels zu tun hatte, hinterließ er in jedem einzelnen seine persönliche Note.

„Wenn ich die Software habe, muss ich sie umprogrammieren. Das wird ein hartes Stück Arbeit.“

„Warum?“

„Weil ich mich mit der Software nicht auskenne und erst einarbeiten muss?“

Für jemanden, der sowieso den ganzen Tag mit Computersprachen beschäftigt war, konnte das doch kein großes Problem sein, oder? Ach, ich verstand einfach nichts von moderner Technik.

„Und wann bekommst du die Software?“

„Vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht auch morgen.“

Wie schade. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, was er damit alles anfangen würde.

Ich streichelte noch einmal über seine Wirbelsäule, ehe ich mich von ihm löste, damit er sich wieder seinen Beinübungen widmen konnte. Dabei brauchte er meine Hilfe nicht und ich genoss einfach nur den Anblick, wenn er sich auf dem Behandlungstisch räkelte.

Als er schließlich damit fertig war, machte ich mich daran, seine Wadenmuskulatur aufzulockern. Beim gesunden Bein ließ er es auch problemlos zu, aber als ich mich weiter in Richtung des lädierten Knöchels vorarbeitete, zuckte er fast schon panisch weg.

„Tut es weh?“, fragte ich besorgt. Eigentlich müsste es doch schon so weit verheilt sein, dass meine Berührungen nicht schmerzhaft sein dürften.

Er schüttelte den Kopf, bedachte mich mit einem zweifelnden Blick. „Das nicht. Aber...“

Ah, ich verstand schon. „Keine Sorge, ich wollte den Knöchel ja gar nicht berühren. Ich wollte nur die Fußmuskulatur ein wenig massieren.“

„Nein!“ Er rückte von mir ab, ging in Abwehrhaltung. Anscheinend war er immer noch ein wenig überempfindlich, was das betraf. An seinen Fuß wollte er einfach keine unnötigen Berührungen lassen. Ein bisschen überzogen, wie ich fand. In vier Tagen wäre er den Gips ja sowieso endgültig los.

„In Ordnung.“ Kopfschüttelnd reichte ich ihm den Gips und wartete, bis er sich angezogen hatte.

„Was jetzt?“, fragte ich gespannt. Ich überließ es ihm, ob er mich noch länger duldetet oder nicht. Mal schauen, was er wollte.

„Muss mich noch bewegen.“ Ein wenig ungelenk rutschte er vom Tisch.

„Draußen im Garten?“

Er nickte, ging wortlos voran. Das brachte mich nicht wirklich weiter, ob ihm meine Nähe recht war oder nicht. Vielleicht musste man es bei Seto einfach so sehen: solange er nicht sagte, dass er mich nicht um sich haben wollte, konnte ich mich als willkommen betrachten. Also folgte ich ihm einfach.

Wir wollten gerade in den Garten, als laute Stimmen aus der Eingangshalle zu uns drangen.

„Nun warte doch mal!“, rief Mokuba, allerdings erfolglos. Lauren lief einfach an ihm vorbei und schnurstracks auf Seto zu.

Verdammt, was wollte sie denn schon wieder? War sie wegen der Sache mit Siri hier? Dann könnte es wirklich hässlich werden. Instinktiv spannte ich mich an, bereit einzugreifen, wenn nötig.

„Können wir reden?“, fragte sie ruhig. Zumindest auf den ersten Blick schien sie nicht auf Streit aus zu sein. Sie wirkte gefasst und friedfertig. Vielleicht wollte sie sich wirklich nur unterhalten.

Seto schien das auch so zu sehen, denn er nickte. „Gehen wir in mein Zimmer.“

Er ließ sie wirklich nochmal in sein Zimmer, nachdem sie das letzte Mal sie ausgetickt war? Zähneknirschend trottete ich ihnen hinterher, aber am Treppenabsatz warf er mir einen warnenden Blick zu, der mir wohl sagen sollte, dass ich bei dem Gespräch nichts zu suchen hatte. Toll!

Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um nicht gegen seinen Willen mitzugehen. Also blieb ich vor den Stufen stehen und sah den beiden missmutig nach.

Aussprache

Bei ihren letzten Besuchen hatte Lauren ihn angeschrien, niedergemacht und sein Modell zerstört. Mir war wirklich nicht wohl dabei, dass er ihr trotzdem nochmal die Gelegenheit bot, sich mit ihm unter vier Augen zu unterhalten.

Mokuba knuffte mir in die Seite. „Machst du dir Sorgen?“

Ich nickte unwillig. „Ihre letzte Konfrontation verlief für deinen Bruder nicht gerade gut.“

„Ich weiß.“ Der Kleine nickte ernst. „Aber Seto kann gut auf sich selbst aufpassen. Er weiß, was er tut.“

„Ich zweifle ja auch nicht an ihm sondern an ihr.“ Auch wenn er auf sich aufpassen konnte, Lauren hatte die Fähigkeit, ihn emotional zu treffen.

„Hm.“ Mokuba dachte kurz nach. „Eigentlich bin ich überhaupt nicht dafür, aber wenn du wissen willst, was abgeht, könntest du über Setos Arbeitszimmer auf die Terrasse kommen.“

Stimmt, die Terrasse war wirklich groß. Ich hatte nicht darauf geachtet, aber es konnte ja sein, dass man sie von mehreren Zimmer begehen konnte.

„Und das Arbeitszimmer ist nicht abgeschlossen?“

„Nein. Seto arbeitet ja momentan nicht darin. Er schließt es nur ab, wenn er da wichtige Dokumente oder seinen Laptop hat.“

Gut, das war zumindest eine Möglichkeit. Ich wollte mich schon auf den Weg machen, als mich Mokuba zurückhielt. Ungewohnt ernst sah er mir in die Augen. „Ich rate dir, lass dich nicht von meinem Bruder dabei erwischen. Wenn er merkt, dass du ihm nachspionierst, wird er dir das verdammt übel nehmen.“

Ich nickte zögerlich. Verdammt, da hatte er recht. Vielleicht war es nicht ganz angebracht von mir, ihnen nachzuschleichen, aber ich tat es ja nur, weil ich mich sorgte. Und ich würde vorsichtig sein.

Ich kam mir vor wie ein Dieb, als ich durch sein Arbeitszimmer schlich. Das Zimmer war dunkel und angenehm kühl im Vergleich zur vorherrschenden Sommerhitze. Allerdings hatte ich gerade keinen Nerv, mich genauer umzusehen.

Möglichst lautlos wollte ich die Glastür aufschieben, doch da hörte ich schon Stimmen. Mist! Seto und Lauren waren nicht im Zimmer sondern auf der Terrasse. Um ein Haar wäre ich ihnen in die Arme gerannt. Hastig presste ich mich an die Wand, um mich zu verstecken. Hoffentlich hatten sie mich nicht gesehen. Ich hielt gespannt den Atem an, lauschte ob jemand näherkam. Nein, ein Glück.

Immerhin hatte ich es geschafft, die Tür einen Spalt breit aufzuschieben. Ideal, um zu lauschen.

„Also hast du mich tatsächlich durch diesen blonden Anfänger ersetzt?“, fragte Lauren. Redete sie von mir? Ich und sie ersetzt? Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Genau das war mein Ziel, aber hatte ich das tatsächlich schon erreicht? Seto hatte mir gegenüber nie amouröse Geständnisse hingelegt, allerdings trug er sein Herz ja auch nicht unbedingt auf der Zunge. Ich konnte mir ein glückliches Grinsen bei der Vorstellung nicht verkneifen.

„Er hat natürlich nicht deine Erfahrung oder dein Geschick, aber für die letzten Sitzungen reicht es schon aus.“ Was redete Seto denn? Das ergab keinen Sinn.

„Schön!“ Lauren schnaubte leicht. „Die Massage war ja auch nur ein Angebot als Wiedergutmachung.“

Oh... Es ging nur um die Massagen. Blöd von mir. Da hatte ich mich wohl zu falschen Hoffnungen hinreißen lassen.

„Ich denke, diese körperliche Nähe wäre für uns beide nicht gut.“ Ah, er blieb in der Defensive. Sehr gut. Hoffentlich akzeptierte sie es.

„Aber seine körperliche Nähe ist okay, oder wie?“

„Das ist etwas anderes.“

Sie schnaubte. „Warum ist dieser Kerl überhaupt ständig hier? Nur für die Therapie? Wohl kaum!“

Oha! Jetzt schoss sie gegen mich. Wenn sie mich als Dorn im Auge empfand, wusste sie dann um meine wahren Absichten?

„Es geht hier nicht um Joey.“

„Was will er von dir?“

Er schwieg einen Moment, ehe er antwortete. „Ich bin mir nicht sicher.“

Was hieß das? Er war sich nicht sicher?

„Du weißt es nicht?“ Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter. „Warum duldest du ihn dann?“

„Er hilft mir und versteht mich.“

„Also seid ihr sowas wie Freunde?“

Ich horchte gespannt auf seine Antwort. Ja als was sah er uns denn?

„Keine Ahnung.“

„Oder mehr?“

„Mehr?“

Laurens Stimme klang wirklich ungewohnt ruhig und weich. Anscheinend erzürnte der Gedanke sie nicht mal. „Hast du denn nie darüber nachgedacht, dass er mehr von dir wollen könnte?“

Sie ahnte es also doch.

Seto seufzte schwer. „Ich weiß es nicht. Kurzzeitig hatte ich auch den Eindruck, aber inzwischen werde ich aus seinem Verhalten nicht mehr schlau. Er verhält sich völlig irrational.“

Bitte? Ich tat hier alles, um seine Zuneigung zu gewinnen und er fand mich irrational? Das war nicht gut. Ich hätte gedacht mein Spiel aus bezirzen und Abstand halten, würde ihn neugierig machen. Aber wenn ich ihn damit nur verunsicherte, würde er sich nie auf mich einlassen.

„Würdest du denn mehr wollen?“, fragte Lauren. Ja, das interessierte mich auch.

„Was?“

„Naja, für mich wäre das natürlich äußerst schmeichelhaft. Dann könnte ich mir auf die Fahne schreiben, dass mich keine Frau ersetzen konnte und du deswegen das Ufer gewechselt hast.“

Ihrer Stimme nach meinte sie es wohl neckend, aber Seto fasste es nicht so auf. „Du bist nicht mehr Teil meines Liebeslebens, also halt dich da raus! Es geht hier auch nicht um Joey, also komm endlich zum Punkt und sag, warum du hier bist!“, knurrte er. Defensive hoch, wie immer, wenn es ihm zu privat wurde. Also war er auch Lauren gegenüber kein offenes Buch.

Eine Weile herrschte Stille. Was jetzt? War sie gegangen? Knutschten sie rum? Ich konnte nichts sehen und das machte mich irre! Irgendwie musste ich einen Weg finden, sie beobachten zu können und unentdeckt zu bleiben. Vielleicht bot der Schreibtisch einen Sichtschutz.

Vorsichtig schlich ich durchs Zimmer, genau darauf bedacht, nicht in ihr Sichtfeld zu kommen. Ich kroch unter den großen Schreibtisch. Das Versteck schien wirklich ideal zu sein, denn der Tisch reichte an drei Seiten bis zum Boden, perfekter Sichtschutz. Und der Fußraum darunter war gigantisch groß. Ich konnte ganz locker sitzen und die beiden beobachteten. Sollten sie doch mal in meine Richtung schauen, wäre immer noch genug Platz, um mich komplett vor ihren Blicken unter dem Tisch verstecken zu können. Wahrscheinlich würden sie mich aber sowieso nicht sehen. Der Raum war immerhin doch recht düster durch die zugezogenen Vorhänge vor den Fenstern. Das einzige Tageslicht drang durch die Terrassentür.

Jetzt waren Seto und Lauren in meinem Blickfeld, aber ganz schlau wurde ich aus dem Anblick nicht. Sie standen beide einfach nur da und schauten sich an. Vielleicht fochten sie ein stummes Duell, das ich nicht nachvollziehen konnte.

Schließlich seufzte Lauren geschlagen auf. „Ich bin nicht hier, um zu streiten.“

„Bis jetzt hast du noch nicht gesagt, was du willst.“ Wie angespannt er wirkte, das sah ich selbst von hier. Anscheinend wusste er noch nicht, worauf das Ganze hinauslief.

Lauren wirkte mindestens genauso gespannt, aber sie schien tatsächlich nicht auf Streit aus zu sein. Sie senkte den Blick, als wäre ihr das Gespräch unangenehm. „Weißt du eigentlich, wie sehr dein Argwohn mir wehtut? Früher hättest du mich nie so angesehen.“

„Ich behaupte mal, dass meine Haltung berechtigt ist.“ Er gab kein bisschen nach. Irgendwie hart. „Warum bist du nun hier?“

„Um genau zu sein, bin ich mir noch nicht sicher.“

Seto wich einen Schritt zurück, baute mehr Abstand auf. „Für uns gibt es keine gemeinsame Zukunft, Lauren.“ Er sagte es ruhig, doch in seiner Stimme hörte ich einen Unterton, den man als Bedauern interpretieren könnte. „Es gibt einfach keinen Weg, der uns beide nochmal zusammenführen würde.“

„Das ist mir klar.“ Sie wandte sich ab, trat an die Brüstung und ließ ihren Blick über den Garten gleiten. Sie schwieg einige Minuten. Die Szene wirkte in der Zeit fast schon eingefroren. Niemand bewegte sich, beide standen sie einfach nur steif da.

Sie sollte endlich zum Punkt kommen, verdammt! Diese Spannung brachte mich um. Konnte es etwa tatsächlich sein, dass Lauren bereit war, einen Schlussstrich zu ziehen? Machte sie endlich Platz für mich?

„Siri hat mir erzählt, was zwischen euch vorgefallen ist.“ Laurens Stimme klang monoton, fast schon sachlich. Trotzdem zuckte Seto unter dem Satz unmerklich zusammen. „Und falls du dich fragst, ob mich das getroffen hat: Ja. Das hat es mich in der Tat.“

Jetzt sah sie doch auf, bedachte ihn mit einem ernsten Blick. „Mir ist klar, dass du nach unserer Trennung andere Frauen hattest, aber Siri ist etwas anderes.“

„Es war nicht meine Absicht, dich damit zu treffen.“, sagte er zögerlich. Vielleicht zweifelte er ja seine eigene Aussage an. Ob es nicht eventuell doch eine kleine Rolle gespielt hatte, wusste nur er selbst.

„Darum geht es nicht.“

„Nein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Als Siri es mir erzählt hat, war ich unglaublich wütend. Ich bin gleich hergekommen.“ Ihr Blick wurde sehr nachdenklich und auch traurig. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du das nur tun konntest. Es kam mir vor, als hättest du mich betrogen.“ Sie lachte, doch es klang unecht, fast schon hysterisch. „Und auf einmal wurde mir klar, was das heißt. Als wir zusammen waren, hättest du mich nie im Leben betrogen. Du warst immer ehrlich und treu.“

„Wir sind aber nicht mehr zusammen.“

„Du hättest nicht mit ihr geschlafen, wenn in deinen Augen noch die kleinste Chance für uns bestanden hätte.“

„Lauren...“ Seine Stimme wurde ein wenig sanfter und ich sah, dass er unkontrolliert über seinen Daumenrücken kratzte. Im Moment wirkte sie sehr verletzlich und das brachte ihn in Zwiespalt. Sollte er sie trösten? Sie tat mir ja schon selber leid.

„Vielleicht hast du recht und wir sollten endlich damit abschließen.“

„Vermutlich wäre es wirklich das beste.“ Er atmete schwer aus. „Solange wir nicht loslassen, werden wir nie in der Lage sein, mit anderen an unserer Seite glücklich zu werden.“

„Richtig.“ Jetzt lächelte sie schwach. „Alles, was wir noch füreinander tun können, ist Frieden zu schließen.“

Ja! Sie schlossen miteinander ab. Besser konnte es nicht für mich laufen. Da konnte ich es auch tolerieren, dass sie sich nun in seine Arme schmiegte. Eine letzte Umarmung war schon erlaubt. Eine sehr lange, feste Umarmung. Ich sah, dass sie ihm leise Worte ins Ohr hauchte, doch ich verstand nichts. Er nickte, wisperte ebenfalls etwas, ehe sie sich voneinander lösten.

Eine gefühlte Ewigkeit standen sie sich gegenüber und sahen sich an. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber in ihrem war der Abschiedsschmerz deutlich erkennbar. Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, all den gemeinsamen Erinnerungen, konnten sie nun in Frieden auseinander gehen. Für beide ein schwerer aber notwendiger Schritt in die Zukunft. Mit feuchten Augen schenkte sie ihm noch ein letztes, trauriges Lächeln, ehe sie zügig von der Terrasse stürmte.

Oha! Eigentlich hatte ich gerade genau das beobachtet, was ich mir wünschte. Sie ließ ihn gehen, machte den Weg frei für mich. Aber der Abschied gerade war von solcher emotionaler Intensität getragen, dass selbst mir davon ganz flau im Magen wurde. Ich spürte den Abschiedsschmerz wie ein unangenehmes Prickeln auf der Haut.

Seto lehnte inzwischen an der Brüstung. Er hatte die Augen geschlossen, atmete tief durch. Irgendwie wirkte er ein bisschen gequält. So leicht nahm er es anscheinend doch nicht, denn er kratzte schon wieder über seinen Daumenrücken.

Irgendwie tat es mir leid, aber ich konnte ihn jetzt schlecht trösten. Offiziell hatte ich ja nichts mitbekommen. Vermutlich war es auch am besten, wenn er jetzt einfach mal ein paar Minuten seine Ruhe hatte.

Möglichst lautlos schlich ich zurück ins Erdgeschoss. Ich setzte mich auf die Stufen. Egal, wie lange es dauerte, ich würde warten. Ich wollte einfach sichergehen, dass es ihm gut ging.

Allerdings verging Stunde um Stunde und nichts geschah. Hatte er sich jetzt in seinem Zimmer verschanzt? Vielleicht sollte ich nachschauen. Nur ein kurzer Blick, ob er zurechtkam.

Ich klopfte an seine Zimmertür, doch es kam keine Antwort. Vorsichtig trat ich ein. Das Zimmer war leer, aber dafür stand die Terrassentür offen. Draußen fand ich Seto dann. Er lag auf der Liege und starrte gedankenverloren vor sich hin.

„Hey.“ Ich ging vor ihm in die Hocke, strich vorsichtig über sein Knie, damit er auf mich aufmerksam wurde. Ein wenig erschrocken zuckte er zusammen. Anscheinend hatte er mich wirklich nicht bemerkt. Er sah mich aus so traurigen blauen Augen an, dass es mir schier das Herz brach. Allein dieser Blick reichte aus, damit ich einen Klos im Hals und feuchte Augen bekam.

„Alles klar?“, fragte ich sanft.

Er nickte. „Sicher.“, meinte er lahm.

Schien mir nicht so. Ich stand auf und holte aus dem Bad einen feuchten Lappen. Damit bewaffnet ging ich zu ihm zurück und setzte mich an den Rand seines Stuhls. Wortlos griff ich nach seiner Hand und wusch sie ab. Er hatte seinen Daumenrücken dermaßen aufgekratzt, dass das Blut in einem dünnen Rinnsal bis über seinen Zeigefinger und sein Handgelenk geflossen war. Wahrlich eine schlechte Angewohnheit.

Teilnahmslos beobachtete er, wie ich seine Haut säuberte und schließlich die Verletzung kühlte. „Ich habe dich warten lassen.“, murmelte er leise. „Das war unhöflich, entschuldige.“

Immer so auf Etikette bedacht. „Ist egal.“ Ich schüttelte beschwichtigend den Kopf. Wegen mir brauchte er sich wirklich keine Gedanken zu machen. „Sicher, dass alles klar ist?“

„Warum fragst du?“

Ich hob kurz den Lappen an, der sich inzwischen rot gefärbt hatte und deutete auf die Wunde, aus der immer noch ein ganz dünnes Rinnsal Blut quoll. Wahrscheinlich hatte er die Stelle immer wieder und wieder aufgekratzt, seit Lauren vor einigen Stunden gegangen war. „Das machst du immer, wenn du aufgebracht bist.“

Andächtig betrachtete er die Wunde. „Sowas weißt du?“

„Ich kann deine Mimik und Gestik ziemlich genau lesen. Wenn wir uns gestritten haben, musste ich ja schließlich rechtzeitig wissen, wann der Bogen überspannt ist.“

„Du kannst mich lesen?“

„Ein bisschen.“

Sein Blick ruhte auf mir, musterte mich nachdenklich. Da war immer noch diese tiefe Traurigkeit, aber vielleicht konnte ich ihn davon ablenken. „Und was kannst du im Moment lesen?“, fragte er lauernd.

Hm, was sollte ich darauf antworten? Sollte ich ehrlich sein und ihn auf Lauren ansprechen. Ich könnte ja mal ausreizen, ob er mir genug vertraute, um mir zu erzählen, was geschehen war.

Ich holte tief Luft. „Ich kann lesen, dass du traurig bist und aufgewühlt. Wahrscheinlich wegen Lauren.“

Dass es stimmte, wusste ich ja und er selbst wirkte auch nicht sonderlich überrascht. „Man muss kein Hellseher sein, um das zu erraten.“, murmelte er. Sein Blick glitt abwesend zum strahlendblauen Himmel, als hätte er das Interesse am Gespräch verloren. Ich allerdings fand es doch ziemlich erstaunlich, dass man ihm das so deutlich ansah. Normalerweise gewährte er ja auch nie so einen deutlichen Einblick in seine Gefühlswelt. Also konnte ich das wohl als Vertrauensbeweis betrachten.

„Ist sie wieder ausfallend geworden?“, fragte ich vorsichtig. Ich kannte das Gespräch ja, aber ich wollte sehen, ob er mir davon erzählte.

„Nein, wir haben alle Differenzen beigelegt.“ Trotzdem sah er mich nicht an.

„Aber das ist doch gut, oder nicht?“

„Sicher.“

„Und warum schaust du dann so aus traurig drein, als wäre jemand gestorben?“, fragte ich behutsam.

Jetzt sah er doch wieder zu mir. Sein Blick wurde ein bisschen dunkler, defensiver. „Warum kommst du eigentlich immer wieder her?“

Ah, die Frage, die Lauren aufgeworfen hatte. Ich wusste sehr genau, warum ich hier war, aber der Zeitpunkt, ihm das zu sagen, war ungünstig. Der Abschied von Lauren traf ihn doch schwer und er brauchte Zeit, das zu verdauen. Da konnte ich ihm ja schlecht jetzt meine Aufwartung machen.

„Ich denke einfach, meine Nähe und meine Gesellschaft tun dir ganz gut.“, antwortete ich ehrlich.

Er zog die Augenbraue hoch. „Also bist du hier, um mich mit deiner Anwesenheit zu therapieren?“

„Nein, keine Therapie. Ich bin nur der Meinung, dass wir einander etwas geben.“

„Und was gebe ich dir?“

Ich nahm den Lappen von seiner Hand. Inzwischen war die Blutung gestillt und die Wunde glänzte rötlich. „Soll ich dir das verbinden?“

Er sah mich schief an, beließ aber seine Hand in meiner. „Was gebe ich dir?“, fragte er erneut.

Bei seinem erwartungsvollen Blick musste ich lächeln. „Du bist der faszinierendste Mensch, der mir je begegnet ist. Allein in deiner Nähe sein zu dürfen, gibt mir mehr als du ahnst.“

„Ja, aber was denn?“

Dass er so neugierig sein musste. Wäre die Situation nur ein bisschen anders, wäre es ideal, um ihm meine Liebe zu gestehen. Aber dieser Funken Traurigkeit in seinen Augen wollte einfach nicht verschwinden. Ich musste irgendwie ausweichen. „Ich kenne dieses Gefühl, das dich gerade beschäftigt. Nach einer Trennung habe ich auch immer an mir gezweifelt und mich gefragt, was ich denn überhaupt zu bieten hab.“

In seinen Augen sah ich, dass ich den Nagel auf den Kopf traf, ihn die Antwort jedoch nicht zufriedenstellte. Trotzdem fuhr ich einfach fort. „Aber das musst du nicht. Du hast so viel zu bieten. Du bist wahnsinnig schön, unfassbar intelligent und so einzigartig in deinem Wesen. Du hast mehr zu bieten als man sich je erträumen könnte.“

Er senkte den Blick. Anscheinend machten ihn meine Worte verlegen, denn seine Wangen nahmen eine rötliche Nuance an. Niedlich. Vielleicht war ihm das noch nicht oft gesagt worden.

„Habt ihr euch voneinander verabschiedet?“, fragte ich sanft.

Er nickte, vermied es aber weiter, mich anzusehen.

„Bist du unglücklich darüber?“

Darüber musste er wohl selbst erst mal nachdenken. Er schwieg eine ganze Weile, ehe er leise antwortete: „Wir haben uns schon vor langer Zeit getrennt, aber es war nie so abschließend wie heute. Bisher war da immer noch irgendwie ein sporadischer Kontakt. Jetzt ist es endgültig vorbei.“

Das verstand ich und ich hatte ja auf der Terrasse auch gesehen, wie schwer ihm dieser Abschied fiel. „Jemanden gehen lassen zu müssen, tut immer weh.“ Ich sah, dass er schon wieder dazu ansetzte, über die frische Wunde zu kratzen. Anscheinend war dieser Reflex tief bei ihm drin. Ich fasste seine Hand fester, um ihn davon abzuhalten und drückte sie tröstend. Als er aufsah, fing ich seinen Blick auf, erwiderte ihn. Wenigstens sah ich in seinen Augen, dass ich den Punkt traf. Hoffentlich fühlte er sich verstanden von mir.

„Aber der Schmerz wird vergehen und Platz für etwas Neues, vielleicht viel Besseres machen.“

Seine blauen Augen waren einfach zum Verlieben, wenn er mich so fragend ansah. „Du klingst, als wärst du dir da sicher.“, murmelte er.

„Was Trennungen angeht, habe ich ausnahmsweise mehr Erfahrung aus du.“ Ich strich über seinen Handrücken. „Glaub mir, es wird wieder besser.“ Und am besten mit mir.

„Vielleicht.“ Er seufzte leise. „Ich muss es nur erst mal verdauen.“

Ja, daran würde er noch zu knabbern haben. An sich war es ja damit für ihn die erste große Trennung. Wahrscheinlich sollte ich mich lieber zurückziehen und ihm seine Ruhe lassen.

Ich stand auf und ging ins Bad. So ein Ordnungsfreak wie Seto hatte natürlich auch einen perfekt gefülltes Medizinschränkchen. Ich schnappte mir einen Verband daraus und ging wieder zu ihm auf die Terrasse.

„Gib mir deine Hand.“

Zögerlich kam er meiner Aufforderung nach und reichte sie mir. Er beobachtete teilnahmslos, wie ich sie bandagierte. Dicker als nötig und optisch kein Kunstwerk, aber es hielt.

Zufrieden mit mir betrachtete ich das Meisterwerk. „Das sollte deinen Daumen vor weiterem Schaden schützen.“

Er nickte nur knapp, während er kritisch seine Hand betrachtete.

„Ich gehe lieber, damit du deine Ruhe hast, okay?“

Wieder nur ein Nicken.

„Wenn es dir recht ist, komm ich dann für eine letzte Massage wieder, bevor du deinen Gips loswirst.“ Irgendwie musste ich ja noch einen Fuß in der Tür halten.

„Okay.“, wisperte er.

„Das wird schon wieder.“ Sein trauriger Blick war wirklich herzzerreißend, aber im Moment konnte ich ihm nicht helfen. Also ging ich lieber, bevor ich mich noch zu etwas Dummen verleiten ließ.

Kammermusik

Nach drei Tagen ging ich wieder zu Seto. Ein letztes Mal Therapie, bevor er morgen seinen Gips loswurde. Ich ging erst abends zu ihm, denn ursprünglich hatten wir ja abgesprochen, dass ich erst am nächsten Tag zu ihm kam, um ihm morgens die letzte Massage zu geben. Aber ich war so aufgeregt, dass er den Gips tatsächlich loswurde und ich vermisste ihn wahnsinnig. Ich hatte es einfach nicht ausgehalten, zuhause zu bleiben. Bestimmt fieberte er selbst auch dem nächsten Tag entgegen und dabei könnte ich ihm vielleicht die Wartezeit ein wenig verkürzen.

Hinzu kam ja auch noch, dass mir langsam die Zeit davonlief. Wir hatten nie darüber gesprochen, aber was war, wenn er den Gips nicht mehr brauchte? Dann wären auch die Massagen überflüssig und ich hätte keinen Vorwand mehr herzukommen. Also musste ich heute mein Glück versuchen und hoffen, dass er Lauren inzwischen weit genug überwunden hatte, um für meine Avancen offen zu sein.

Als ich durch die Flure zu seinem Zimmer lief, vernahm ich Musik. Der Klang eines Klaviers drang an mein Ohr. Spielte Seto etwa? Ich verstand ja nicht viel davon, aber für jemanden, der seit 14 Jahren spielte, klang das ziemlich stümperhaft. Oder es war Kunst.

So lautlos wie möglich schlüpfte ich ins Zimmer. Seto saß wirklich vor dem Klavier, allerdings schien er nicht selbst zu spielen. Sein Blick hing konzentriert an den Tasten, wirkte nicht ganz zufrieden. Mich schien er gar nicht wahrzunehmen.

„Hand eins: spiel drei.“, sagte er laut. Und schon erklang eine andere Melodie als davor, allerdings genauso unmelodisch. Die Tasten wurden nicht so schnell hintereinander angeschlagen, dass eine flüssige Melodie entstand.

Vorsichtig trat ich näher. Mir entkam ein Laut der Verblüffung, als ich sah, wer da spielte. Die beiden Skeletthände saßen an verschiedenen Stellen des Klaviers und die eine drückte auf die Tasten, schlug immer wieder die gleiche Reihenfolge an.

„Anscheinend hast du die Software doch schon erhalten.“, stellte ich fest. Und nicht nur das, er hatte die Hände damit sogar schon programmiert.

Seto zuckte zusammen, als ich ihn so unvermittelt ansprach. Er sah mich an, als fragte er sich, wo ich denn plötzlich herkam. Trotzdem war sein Blick ganz klar, kein Erfindermodus.

„Hand eins: Stopp!“ Die Musik verklang und das Modell stagnierte auf den Tasten. „Was machst du denn hier?“, fragte er verwirrt. „Waren wir verabredet?“

„Nein nein.“ Ich lächelte ihn unbekümmert an, doch innerlich fragte ich mich gerade, ob er über meinen Besuch überhaupt erfreut sein würde. „Ich dachte nur, ich leiste dir am letzten Abend mit Gips Gesellschaft, damit die Zeit schneller vergeht.“

Er sah mich schief an. „Warum sollte sie denn langsamer vergehen?“

Stimmte wohl. Er war ja anscheinend gut beschäftigt, was brauchte er da meine Gesellschaft? Irgendwie kam ich mir jetzt blöd vor. „Ungeduld?“, fragte ich kleinlaut.

Da blitzten seine Augen auf. „Ich nehme an, nicht ich bin hier der Ungeduldige.“

„Scheint mir auch so.“ Trotzdem nahm er es locker auf und ein schwaches Lächeln, das bei ihm ziemlich anziehend wirkte, erschien auf seinen Lippen. Vielleicht freute er sich ja doch, dass ich vorbeigekommen war.

„Du scheinst schon gut vorangekommen zu sein.“ Ich deutete auf die Hände.

„Als gut würde ich das nicht bezeichnen.“ Er blickte wieder zum Klavier, knirschte leicht mit den Zähnen. „Die Software zu programmieren, ist nicht so leicht.“

„Aber die Hände reagieren doch aufs Wort.“

„Mit zu langsamen Bewegungen allerdings. Vielleicht bräuchten sie stärkere Prozessoren dafür.“

Ich fand es erstaunlich, dass sie überhaupt reagierten, aber Seto wirkte sichtlich unzufrieden mit dem Resultat.

„Ich wollte ihnen Bewegung durch Klavierspielen beibringen, aber es klappt nicht so recht.“ Er seufzte frustriert. „Schon wieder der gleiche, blöde Fehler wie bei dem Fuß. Ohne Arme können sie nur etwa eine Oktave spielen.“

Darüber konnte ich nur schmunzeln. Solche Kleinigkeiten übersah er gern, weil er sich so auf die Details fixierte. Irgendwie süß.

„Es sind doch nur Prototypen.“, meinte ich sanft. „Alle Fehler, die du jetzt erkennst, kannst du ja auch ausbessern.“

„Soll ich etwa Arme bauen?“ Verständnislos sah er zu mir.

„Irgendwann mal, wieso nicht?“ Unter seinem skeptischen Blick setzte ich mich neben ihn auf die Klavierbank. „Welches Lied wolltest du den Händen beibringen?“

„Kein Bestimmtes. Nur eine kleine Melodie, aber wie gesagt, die Bewegungen sind zu langsam.“ Er legte die rechte Hand aufs Klavier neben das Modell. „Hand eins: spiel zwei.“

Die Skeletthand schlug wieder die Tasten an, spielte langsam einen Ton nach dem anderen. Setos Hand dagegen schien die gleiche Tonabfolge um eine Oktave versetzt zu spielen, allerdings flüssiger und schneller. „Siehst du den Unterschied?“, fragte er.

Ich nickte. Er spielte auch nicht schnell, aber der Unterschied im Tempo zwischen ihm und dem Modell war schon verdammt offensichtlich. Nicht nur das, bei der Skeletthand sahen die Bewegungen fast schon schwerfällig aus, bei Seto dagegen federleicht, als würde er die Tasten gar nicht richtig berühren.

„Hand eins: Stopp!“, sagte ich, freute mich, dass das Modell auch auf mich hörte. Unter Setos irritiertem Blick nahm ich die Hand vom Klavier und betrachtete sie. „Du hast ihr Schühchen angezogen?“, fragte ich schmunzelnd. Tatsächlich befand sich an jedem Finger ein kleiner Stoffschuh. Irgendwie niedlich. „Hast du die auch selbst gemacht?“

„Als könnte ich nähen.“ Er nahm das zweite Konstrukt an sich. Auch dem hatte er winzige Schuhe angezogen. „Die Dinger hab ich ein paar von Mokubas Sammelfiguren geklaut. Ich kann ja schließlich nicht zulassen, dass die Hände meine Tasten zerkratzen.“

„Ist das Klavier denn wertvoll?“

Er zuckte vage mit den Schultern. „Kommt drauf an. Das hier ist ein Blüthner Klavier aus dem 19. Jahrhundert. Für ein Konzert wäre es wohl ungeeignet, aber es hat einen Sammlerwert und einen charakteristischen Klang, den ich persönlich sehr schätze. Wenn es um den materiellen Wert geht, ist sicherlich der originale Steinway in der Empfangshalle höherwertig, aber was soll man mit einem Konzertflügel in einem Zimmer?“

Ich verstand nicht genug von Klavieren, um ihm zu folgen. „Klingt das Klavier in der Vorhalle denn anders?“

„Es ist größer und klangvoller. Damit kannst du eine ganze Halle mit Musik erfüllen. Das hier ist eher für Kammermusik.“ Seine Hand strich andächtig über die Tasten.

„Was kannst du darauf spielen?“

Er bedachte mich mit einem schiefen Blick, als fände er die Frage merkwürdig. „Man kann alles auf einem Klavier spielen.“

Ich runzelte die Stirn. „Also könntest du jedes Lied, wenn ich dir die Noten dazu besorge?“

„Naja, es wäre vielleicht besser, du lässt mich das gewünschte Lied einmal hören.“, meinte er ausweichend. „Noten lesen ist nicht gerade meine Stärke.“

Er konnte Klavier spielen, aber keine Noten lesen? Wie ging das denn? Trotzdem begeisterte mich die Erkenntnis, dass er dann einfach nach Gehör arbeiten konnte. „Könntest du etwas für mich spielen?“ Schon seit ich das Klavier das erste Mal gesehen hatte, hoffte ich auf eine Hörprobe.

„Bist du denn musikalisch interessiert?“

Naja, eigentlich war ich das nicht. Ich kannte mich in der Richtung nicht wirklich aus, sondern ging eher danach, was gut für mich klang. Trotzdem nickte ich einfach mal.

Er überlegte einen Moment, ehe er entschlossen seine Hände auf dem Klavier positionierte. Dann spielte er. Seine Finger glitten mit einer bewundernswerten Leichtigkeit über die Tasten.

„Für Elise, das kenne ich.“, rief ich erfreut.

„Ein Klassiker für jeden Pianisten.“

Ja, das hatte ich auch mal gehört. „Wie Smoke on the Water für Gitarristen, richtig?“

Er nickte.

„Kannst du auch etwas anderes spielen? Vielleicht etwas schnelleres?“ Ich wollte einfach sehen, wie gut er wirklich war.

„Sicher.“ Er schlug eine andere Melodie an und jetzt flogen seine Finger regelrecht über die Tasten, so schnell, dass ich ihnen mit den Augen kaum folgen konnte. Bei ihm sah das so mühelos aus, auch mal über Kreuz zu spielen.

„Die eigentliche Kunst des Klavierspielens liegt allerdings nicht darin, schnell zu spielen.“, bemerkte er. Er sah mich an, während seine Finger weiter in dieser Rekordgeschwindigkeit tanzten. Er ließ es wirklich so aussehen, als wäre es kinderleicht, wenn er nicht mal hinschauen musste. „Die Kunst ist, mit Gefühl zu spielen, dem Zuhörer eine Stimmung zu vermitteln.“

Die Melodie wurde leichter und beschwingter, klang fröhlich, so dass ich das Gefühl hatte, dazu tanzen zu können.

„Wenn du gut darin bist, kannst du den Zuschauer von höchster Extase in tiefste Trauer stürzen lassen...“

Jetzt spielte er langsamer, die Melodie wurde schwer und düster, richtig erdrückend und traurig.

„... und ihn dann wieder in ein Hochgefühl bringen.“

Das Lied wurde wieder heller und fröhlicher, klang wie ein Happy End nach dem dramatischen Höhepunkt. Verdammt, das hatte er wirklich gut drauf. Wenn er spielte, riss mich die Melodie einfach mit und er wusste sehr genau, wie er damit Emotionen beim Zuhörer wecken konnte. Aber am erstaunlichsten fand ich, dass er dabei die ganze Zeit mit mir Blickkontakt halten konnte und kein einziges Mal auf die Tasten schauen musste. Als würde er das Klavier blind kennen.

„Du hast wahnsinnig schöne Hände.“, hauchte ich. Wahrscheinlich war das nicht die Reaktion, die er erwartet hatte, aber es platzte einfach aus mir heraus. Und es stimmte doch. Große, geschmeidige Hände mit schönen, langen Fingern und ausgeprägten Knöcheln, die wahnsinnig elegant über die Tasten tanzten. Selbst die noch nicht verheilte Wunde an seinem Daumen änderte nichts daran.

Er hielt inne in seinem Spiel, runzelte die Stirn. „Weil ich Klavier spielen kann?“

„Weil sie kräftig und trotzdem so unglaublich gefühlvoll sind.“ Wie erregend musste es sein, von solchen Händen gestreichelt zu werden? „Richtige Pianistenhände.“

Er neigte verständnislos den Kopf, als fragte er sich, was ich ihm damit sagen wollte. „Ob man spielen kann oder nicht, liegt wohl eher an der Übung und nicht an den Händen, oder?“

Innerlich schlug ich den Kopf gegen eine imaginäre Wand. „Ich meinte es als Kompliment.“, erklärte ich ruhig. „Ich wollte nur sagen, dass du sehr schöne Hände hast.“

Sein Blick glitt zu seinen Fingern, die nach wie vor auf den Tasten ruhten und dann wieder zu mir. So ganz schien er es immer noch nicht einordnen zu können, denn er sah mich einfach nur nachdenklich an.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?“

Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verwirrst du mich nur.“

„Inwiefern?“, fragte ich erstaunt.

„Weiß nicht.“ Ein wenig betreten senkte er den Blick wieder auf die Tasten. Langsam bewegten sich seine Finger wieder darüber, spielten eine leise Melodie. Versuchte er wegzulenken, weil ihm das Thema auf einmal unangenehm wurde? Immerhin hatte er ja gerade eingestanden, dass er mich nicht richtig einschätzen konnte. Allerdings wusste ich gerade nicht, ob das wirklich positiv war. Bei allem, was sich seinem Verständnis entzog, machte er nämlich sehr schnell dicht und er hatte ja schon zu Lauren auf dem Balkon gesagt, dass er mich nicht verstand. Verdammt, meine Taktik ging nicht auf.

Ich versuchte, das Thema wieder in für ihn angenehmere Bahnen zu lenken. „Unabhängig von den Händen scheinst du zumindest Talent zu haben.“

„Ich denke, das hat weniger mit Talent als mit Übung zu tun. Ich spiele seit vierzehn Jahren, da verinnerlicht man das natürlich. Und kaum ein Instrument ist wohl so leicht zu lernen wie das Klavier.“

War Klavierspielen etwa genauso ein Tabuthema wie die Erfindungen? Konnte er dahingehend auch keine Komplimente vertragen? Ich wollte schon innerlich die Augen verdrehen, als er fortfuhr.

„Ich habe allerdings ein exzellentes Gehör, ein perfektes Rhythmusgefühl und ein überragendes, musikalisches Verständnis.“, fügte er schon ein kleines bisschen stolz hinzu. „Von daher würde ich sagen, dass ich durchaus ein gewisses musikalisches Talent habe, das mir erlaubt, nicht nur technisch perfekt zu spielen.“

Ah, doch kein Schwachpunkt. „Das definitiv.“

„Ist allerdings auch nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, dass mathematisches und musikalisches Verständnis mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zusammenhängen.“

„Also sind Musiker auch gute Mathematiker?“ Bei ihm traf es ja zu, denn er war ein verdammtes mathematisches Genie.

„Nicht immer, aber überdurchschnittlich häufig.“

„Ich finde, du spielst wirklich sehr gefühlvoll.“, sagte ich sanft.

Auch dieses Kompliment nahm er mit einem leichten Stirnrunzeln auf, und diesmal bildete ich mir sogar eine winzige Röte auf seinen Wangen ein. Irgendwie schienen meine wohlmeinenden Worte heute einfach nicht den gewünschten Effekt zu haben.

Ich biss mir auf die Unterlippe. So ein Mist! Ich wollte ihn doch für mich gewinnen, aber wie, wenn ihn jedes liebe Wort verschreckte. Mir lief die Zeit davon und er drohte, dichtzumachen, sobald ich auch nur das leichteste Lob aussprach. Wie sollte ich ihn da bezirzen oder auch nur ansatzweise verführen können?

„Gosaburo hat den Steinway in der Vorhalle gekauft.“ Anscheinend wollte er mein Kompliment einfach überspielen, also ging ich darauf ein.

„Ich dachte, er wollte dir alles, was mit Gefühl zu tun hat, austreiben.“, murmelte ich. „Wieso hat er das Klavier dann zugelassen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Er mochte den Klang, aber hatte selbst kein musikalisches Verständnis. Er hat nie begriffen, wie es ist, zu spielen.“

Also war das eine kleine Zufluchtsstätte für ihn gewesen unter diesem eiskalten Tyrannen.

„Außerdem ist ein Klavier in diesen elitären Kreisen natürlich ein sehr angesehenes Instrument, besonders wenn man sich auch noch so ein edles Exemplar leistet.“ Er schaute konzentriert auf die Tasten, als wollte er mich dabei einfach nicht ansehen. „Ein Kind, das Klavierspielen kann, erweckt einen gebildeten und disziplinierten Eindruck. Deswegen hat er mich oft für seine Gäste spielen lassen.“

„Zum Präsentieren?“

Er nickte. „Solange es ihm Vorteile verschafft hat oder repräsentativ war, duldete er es. Wie das Schwimmen ja auch. Solange ich immer schön gewonnen habe, konnte er sich mit seinem erfolgreichen Ziehsohn rühmen.“

Also stand immer Erfolgsdruck dahinter. Das erklärte auch, warum er immer so aufs Gewinnen fixiert war. Immerhin wurde er ja anscheinend auch darauf getrimmt. Zum Glück war er ein mental sehr starker Mensch und hatte sich dadurch weder Klavierspielen noch Schwimmen verleiden lassen. Seto hatte wirklich schon harte Zeiten durchlebt. Umso inniger war mein Wunsch, dass er glücklich wurde, am besten mit mir.

„Musik kann für Nichtkenner ziemlich trocken und langweilig sein.“, erklärte er. An zu intimen Themen hielt er sich nicht lange auf. Also würde ich einfach akzeptieren, was er bereit war, zu erzählen, während er jetzt wieder eine leise Musik spielte.

„Ach was.“, meinte ich lahm. Auch wenn er recht hatte.

„Chopin zum Beispiel ist ziemlich schwere Kost. Nicht gerade interessant für den Zuhörer.“

„Hm.“ Es stimmte schon, das Lied, das er gerade spielte, war bestimmt ein Meisterwerk von irgendeinem Meister, aber privat würde ich mir das nie anhören. Mich interessierten nur seine schlanken Finger, die so geschickt über die Tasten glitten.

„Dich scheint die Musik auch nicht sonderlich anzusprechen.“ Er bedachte mich nur mit einem flüchtigen Blick, ehe er wieder auf die Tasten schaute.

„Doch doch.“, meinte ich schnell. „Du spielst sehr schön, wirklich.“

„Schön spielen hat damit nichts zu tun. Hättest du Ahnung, wüsstest du, dass diese Nummer ein wahnsinnig hohes spielerisches Niveau verlangt.“ Er schlug eine hellere Melodie an. „Allerdings macht Niveau das Stück auch nicht interessanter.“

Woran sollte man das erkennen? Egal, was er spielte, bei ihm wirkte einfach alles so mühelos.

„Mein Vater meinte immer, durch Musik kannst du den Zuhörer zum Träumen verleiten oder zum Nachdenken bringen, alles nur durch eine kleine Melodie.“, erklärte er.

Sein Vater? Von dem sprach er nicht gerade oft. „Zum Träumen?“, fragte ich erstaunt.

Er nickte. „Wenn du dem Zuhörer eine Geschichte gibst, die er sich zu der Musik denken kann, dann kann er sich besser darauf einstellen.“

„Klingt zumindest interessant.“ Und alles, was mir half, ihn besser zu verstehen, war einen Versuch wert.

„Schließ die Augen und ich zeig es dir.“

Gehorsam folgte ich seinen Anweisungen.

„Atme tief und entspannt.“ Sein Spiel wurde leise, beruhigend weich. „Stell dir einen kleinen See vor. Die Ufer sind naturbelassen und zugewuchert.“

Vor meinem inneren Auge versuchte ich mir vorzustellen, was er beschrieb. Ein kleiner See mitten im Wald. Am Ufer wuchs Schilf und hohes Gras. Einige Bäume streckten ihre Kronen bis über das klare Wasser, in dem kleine Fische schwammen. Die Musik beschrieb eine friedliche Atmosphäre, obwohl die Melodie recht hell war.

„Hast du ein Bild?“

Ich nickte, konzentrierte mich genau auf meine Fantasie.

„Der See wird jetzt den Wandel der Jahreszeiten durchleben.“ Seine Stimme war ein sanftes Hauchen, das mir angenehme Schauer über den Rücken jagte. „Sei einfach offen dafür, die Melodie wird dich leiten.“

Ich konnte mir schwer vorstellen, dass das funktionierte, aber ich wollte es probieren. Andächtig lauschte ich der Musik. Immer die gleiche, helle Melodie. Langsam setzte dazu eine zweite Melodie ein, die wohl den Wandel darstellen sollte. Ich versuchte, sie zu interpretieren und mein inneres Bild anzupassen.

Langsam wurde das Gras am Ufer dunkler und die Blätter an den Bäumen grün, gelb und rot. Schließlich wurde die bunte Pracht der Kronen braun und fiel zu Boden. Einzelne Blätter landeten auf die Wasseroberfläche und tanzten darüber. Zurück blieben kahle Bäume.

Die Melodie wurde erst schwerer und stiller, dann dunkler und bedrohlicher. Langsam fror der See ein und Schnee breitete sich am Ufer aus. Durch die Luft tanzten Schneeflocken, entwickelten sich zu einem eisigen Sturm. Innerlich fröstelte ich, war froh, als die Musik leichter wurde, und damit auch der düstere Himmel über meinem kleinen See wieder aufklarte.

Der Schnee schmolz und unter dem starren Eis erwachte wieder Leben. Von einem über die Oberfläche gebeugtem Schilfhalfm fielen einzelne Wassertropfen auf die noch gefrorene Fläche. Als das Eis schmolz, tropften sie in den See, direkt über einem Fisch, der seine Bahnen durch den neu erwachten See zog. Auch am Ufer vorbei an frisch erblühten Blumen, von denen ein kleiner Schmetterling seinen Rundflug über das Gebiet startete.

Je länger Seto spielte, desto mehr schien meine Fantasie auszuufern, immer detailierter zu werden. Ich erkannte sogar kleine Hasen am Ufer, die zum Trinken kamen. Als die Melodie abrupt endete, erschrak ich regelrecht.

„Und?“ Neugierig musterte er mich, als ich die Augen öffnete.

„Wahnsinn!“ Ich erzählte ihm von meinen Eindrücken. Je mehr ich berichtete, desto mehr begannen seine Augen zu leuchten. Anscheinend begeisterte ihn das wirklich.

„Erstaunlich, dass du wirklich so viel hineininterpretieren kannst.“

„Das hat mir deine Musik doch vorgegeben.“

Er lächelte schwach. „Ich habe dir ein Bild und eine Idee gegeben, aber wie deine Gedanken durch die Musik wandern, kann ich nicht beeinflussen.“ Allerdings schien es ihn zu freuen, dass er meine Fantasie geweckt hatte.

„Hm.“ Das stimmte wohl. Wie blöd, zu glauben, er könnte meine Gedanken mit der Musik steuern. Er hatte mir nur eine Richtung vorgeschrieben und ich war ihr bereitwillig gefolgt. „Trotzdem hätte ich dir noch stundenlang zuhören können.“ Mein schöner, kleiner See war vor meinem geistigen Auge wirklich lebendig geworden. Eine tollte Erfahrung.

„Ab und an ist es ganz entspannend, zu spielen.“, meinte er. „Normalerweise bin ich zu eingespannt in der Firma, um Zeit dafür zu finden.“

„Steht deine Firma denn noch?“

„Natürlich steht sie noch!“ Er bedachte mich mit einem misstrauischen Blick. „Warum? Hast du etwas anderes gehört?“

„Nein.“ Ich musste lächeln. „Und das, obwohl du seit so vielen Wochen nicht mehr da warst.“

Er verdrehte genervt die Augen und zugleich wurden sie um einiges kühler. Oha, schlechtes Thema. „Ich bin nicht unabdingbar, schon klar. Das weiß ich auch so!“ Schnaufend nahm er mir die Skeletthand ab, die ich bis jetzt gehalten hatte, stand auf und stellte beide Modelle auf seinen Schreibtisch. „Ich verbringe so viel Zeit in der Firma, wie mir selbst angemessen erscheint, aber ich lebe da nicht wie die Medien immer so schön behaupten.“

Mir war es immer so vorgekommen, dass er seine gesamte Freizeit in der Firma verbrachte. Aber was wusste ich schon? Ich hatte ja gar keinen Einblick in seinen normalen Tagesablauf. „Dir scheint aber schon viel Zeit angemessen zu sein, oder?“

Er bedachte mich mit einem äußerst giftigen Blick. Anscheinend passte ihm das Thema gar nicht. So distanziert hatte er mich schon lange nicht mehr angesehen und das ausgerechnet heute. Mir lief doch so schon die Zeit davon.

„Massage?“, fragte ich kleinlaut. Verdammt, seine Funktion als Firmenchef war ihm wichtig und Kritik daran konnte er gar nicht vertragen. Warum hatte ich damit nur angefangen? Ich musste ihn ablenken.

„Du hast keine Ahnung, was überhaupt mein Job ist oder was ich mache, wenn ich in der Firma bin.“ Sein Blick war kalt, regelrecht erzürnt. „Ob du es glaubst oder nicht, meine Arbeit hat viele Aspekte, mit denen ich mich gern beschäftige. Es ist nicht nur trockener Schreibkram.“

Er hatte also Freude an seiner Arbeit? Das hätte ich wirklich nie vermutet. Allerdings war es jetzt zu spät, darüber nachzudenken, denn er wirkte sichtlich erbost darüber.

„Es tut mir leid, okay?“

Entnervt fuhr er sich durchs Haar. „Vielleicht solltest du gehen.“

Oha, er war wirklich sauer. So ein Mist! Nur durch eine unbedachte Bemerkung verspielte ich hier meine letzte Chance. Das durfte einfach nicht sein!

Energisch stand ich auf und schritt auf ihn zu. „Es tut mir wirklich leid.“ Ich sah ihm eindringlich in die Augen, die gerade so kühl wirkten. „Es war dumm und unbedacht von mir, zu glauben, ich könnte deine Arbeit beurteilen.“

Ich meinte es absolut aufrichtig. So ein Urteil stand mir ja gar nicht zu. Trotzdem blieb sein Blick abweisend und er verschränkte die Arme vor der Brust, absolute Abwehrhaltung.

Mir blieb nur, es mit absoluter Ehrlichkeit zu versuchen. „Als Firmenchef wirkst du immer so streng und gereizt, als würde dich alles nerven. Du hast recht, ich weiß wirklich nicht, was deine Aufgaben sind, ich bin nur nach dem gegangen, was ich wahrgenommen habe. Und du musst zugeben, dass du immer in der Firma warst, wenn irgendetwas war und wir dich gesucht haben.“

Er knurrte leise, aber immerhin wurde sein Blick eine kleine Nuance weicher.

„Ich habe dich privat kennengelernt, so völlig anders als dein Firmenchefimage. Nimm es mir nicht übel, aber da ist der Gedanke, dass du Freude an deiner Arbeit hast, etwas überraschend.“

„Trotzdem ist das allein meine Sache!“

Ich nickte eifrig. „Deine Firma geht mich nichts an, schon klar.“

„Exakt.“ Nur langsam ließ er seine Abwehr wieder sinken, aber immerhin tat er es.

„Du könntest mir davon erzählen.“, meinte ich etwas sanfter. Als er damals in der Limousine so sauer gewesen war, hatte es auch geholfen, ihn zu besänftigen. „Wie wäre es, wenn wir uns auf die Couch setzen, ich dir den Rücken massiere und du mir von deiner Arbeit erzählst?“

Er starrte mich einen Moment durchdringend an, dachte angestrengt nach. War er unschlüssig? Für einen kurzen Moment machte es den Anschein, als wollte er etwas sagen, aber schließlich schüttelte er einfach nur unmerklich den Kopf. Erneut verschränkte er die Arme vor der Brust und trat einige Schritte zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. „Es ist doch schon recht spät.“, meinte er nur.

Die indirekte Bitte zu gehen. Mist! „In Ordnung.“ Ich seufzte geschlagen. „Ist es dir recht, wenn ich dich morgen trotzdem zum Arzt begleite?“

„Wie du willst.“ Bei ihm klang es völlig gleichgültig. Er schenkte mir kaum noch Beachtung, sah einfach an mir vorbei.

„Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.“, meinte ich leise. Letzter Versuch.

Er wandte mir den Rücken zu, starrte nachdenklich aus dem Fenster. „Bist du nicht. Ich muss nur... nachdenken.“

„Worüber?“ Irritierte ich ihn immer noch so sehr? Ich hatte doch diesmal wirklich ganz offen und ehrlich versucht, auf ihn zuzugehen. Ohne taktieren.

„Einiges.“ Er schüttelte leicht den Kopf, ehe er wieder zur mir sah. „Wenn du morgen unbedingt mitkommen willst, kannst du meinetwegen eines der Gästezimmer benutzen. Mokuba kann dir sicherlich eines zeigen.“

„Okay.“ Niedergeschlagen verließ ich sein Zimmer. Da war heute eh nichts mehr zu retten. Vielleicht konnte ich es als winzig kleinen Erfolg verbuchen, dass er mir anbot, hier zu übernachten. Anscheinend war er sich nicht ganz schlüssig, ob ich wirklich gehen oder bleiben sollte, also das Gästezimmer als Kompromiss. Das war aber auch schon alles Positive. Morgen war meine letzte Chance, ihn von mir zu überzeugen und die Zeichen standen momentan nicht gut.

Auch ohne Mokubas Hilfe fand ich das Gästezimmer wieder, in dem ich schon einmal übernachtet hatte. Es war mit einem großen, weichen Bett ausgestattet, aber ich bezweifelte, dass ich diese Nacht viel Schlaf bekommen würde.

Entscheidungstag

Ich hatte in der Nacht so verdammt wenig geschlafen. Wie sollte man denn zur Ruhe kommen, wenn alles auf der Kippe stand? Mir blieb kaum noch Zeit, Seto von mir zu überzeugen und der Abgang am Abend war da eher ein ziemlicher Rückschlag.

Unruhig wälzte ich mich im Bett und dachte darüber nach, was ich denn noch tun konnte. Wenn alles nichts half, blieb mir am Ende nur die direkte Konfrontation. Zumindest würde ich nicht lockerlassen, bis ich alles versucht hatte.

Nachdem ich doch noch zumindest ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, quälte ich mich ein wenig zerknirscht aus dem Bett. Für Müdigkeit war an so einem entscheidenden Tag einfach keine Zeit. Schnell vollzog ich eine Katzenwäsche, ehe ich zu Setos Zimmer schlurfte. Es war recht früh, also schlief er hoffentlich noch. Allerdings sah es nicht so aus. Als ich eintrat, saß er am Schreibtisch und arbeitete an seinem Laptop.

„Du bist schon wach?“, fragte ich erstaunt.

„Frühes Aufstehen ist die Tugend all derer, die am Tage viel zu erledigen haben.“, murmelte er abwesend. Klang wie eine Binsenweisheit. Sein Blick haftete weiter hochkonzentriert am Laptop, als würde er mich gar nicht richtig wahrnehmen.

„Was treibst du da eigentlich?“ Ich umrundete den Tisch und warf einen Blick auf den Bildschirm. Allerdings konnte ich nur erkennen, dass er irgendein Programm geöffnet hatte und darin schrieb. Vielleicht war das die Software für die Sprachsteuerung.

„Ich versuche, das Programm zu optimieren, damit die Hände weniger Prozessorleistung brauchen.“

„Und du keine neuen Prozessoren einbauen musst?“

„Das wird sich kaum vermeiden lassen.“

„Wozu dann die Arbeit?“

Jetzt sah er doch auf, bedachte mich mit einem kritischen Blick. „Die Hände sind nicht so groß, dass ich da einen gigantischen Prozessor einbauen kann. Der muss schon an die Größe der Modelle angepasst sein. Dementsprechend wird auch die maximale Leistung begrenzt sein.“

„Verstehe.“ Das war mir zu hoch am frühen Morgen. Ich unterdrückte ein Gähnen, während ich nickte. „Frühstück?“

Anscheinend erkannte er, dass ich nichts von dem verstand, was er da gerade tat, denn sein Blick wirkte ein wenig resigniert, als er nickte.

„Ich kümmere mich darum. Dann kannst du weiter an deinem Programm schreiben.“ Das sollte in seinem Sinn sein. Also ging ich in die Küche und bereitete Frühstück zu. Als ich es nach oben brachte, hatte er den Laptop inzwischen geschlossen und starrte nachdenklich vor sich hin.

„Alles okay?“ Ich stellte das Tablett auf den Tisch, ehe ich zu ihm ging. Schnell packte ich seine Hand und hielt ihn davon ab, erneut seinen Daumen aufzukratzen. In den letzten Tagen tendierte er ungewöhnlich oft dazu.

Er erwiderte meinen Blick, musterte mich nachdenklich. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er etwas sagen, aber dann schloss er den Mund wieder und nickte einfach nur.

„Dann lass uns frühstücken.“ Ich war mir sicher, dass ihm etwas auf der Seele brannte, doch wenn er nicht darüber reden wollte, konnte ich ihn nicht zwingen. Besonders redselig war er heute sowieso nicht, denn auch während wir aßen, verlor er kein Wort.

Seine Stimmung gefiel mir nicht. Wenn er so schweigsam war, machte es mir die ganze Sache nicht gerade einfacher. Inzwischen kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass ich ihm kein Gespräch aufzwingen konnte.

„Soll ich dir jetzt die letzte Massage geben, bevor du deinen Gips loswirst?“ Fragen konnte man ja mal.

Einen Moment lang sah er mich nur nachdenklich an, aber schließlich nickte er stumm. Wortlos zog er sein Shirt aus und setzte sich mit dem Rücken zu mir gewandt vor mich.

Hier? „Ich hab hier kein Massageöl.“, meinte ich vorsichtig. Nicht, dass er es sich anders überlegte.

„Ist egal.“, murmelte er nur.

Okay, dann so. Ich wärmte meine Hände noch kurz an meiner Kaffeetasse vor, ehe ich sie entschlossen auf seine Schultern legte und mit meiner Massage begann. Sein Nacken war völlig angespannt. Merkwürdig. Ob ihn die Sache mit Lauren noch so beschäftigte? Vielleicht hatte er auch Angst, dass nachher doch noch etwas schief lief und er den Gips nicht loswurde. Was auch immer es war, er wirkte deswegen sichtlich angespannt.

Die Atmosphäre war generell sehr merkwürdig. Mich erinnerte es ein bisschen an dieses Gefühl des letzten Urlaubstages, bevor man den Urlaubsort verließ. Oder wenn man jemanden für lange Zeit nicht wiedersah, dann war es auch so. Herannahender Abschied, so fühlte es sich an. Das behagte mir gar nicht.

Ich führte gewissenhaft meine Massage durch, doch je mehr sie sich dem Ende näherte, desto unruhiger wurde ich. Was, wenn das hier wirklich das letzte Mal war, dass ich ihm so nah kommen konnte? Was, wenn es hier endete?

Kaum, dass ich seine Rückenmuskulatur aufgelockert hatte, da stand er auch schon auf und zog sich wieder an.

„willst du nicht deine Übungen machen?“, fragte ich verwundert.

Er schüttelte nur den Kopf. „Wird auch so gehen.“

Immer noch so defensiv. Ich probierte einfach mal einen Vorstoß. Kurzentschlossen stand ich auf und positionierte mich vor ihm. Ich suchte seinen Blick, auch wenn ihm das sichtlich nicht behagte. In seinen Augen war ein unstetes Flackern und immer wieder unterbrach er den Blickkontakt, indem er nach unten oder zur Seite sah. Dabei konnte er einen normalerweise in Grund und Boden starren.

„Du machst dir Sorgen über etwas, das sehe ich dir an.“

Sofort wurde sein Blick wieder distanzierter. Er machte dicht, damit hatte ich schon gerechnet.

Ungerührt und ein wenig sanfter fuhr ich fort. „Ich weiß nicht, was dich beschäftigt, aber es scheint dich sehr stark zu belasten. Und auch, wenn ich weiß, dass es dir nicht liegt, will ich, dass du weißt, dass ich dir zuhören werde, falls du doch irgendwann darüber reden willst.“

Er neigte den Kopf, als wöge er ab, wie er mein Angebot werten sollte. Dabei wollte ich doch einfach nur, dass er mir vertraute. Wenigstens rang er sich zu einem schwachen Nicken durch. „Ich werde es mir merken.“ Aber ob er wirklich darauf zurückkam?

Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn er ging einfach an mir vorbei.

„Wir sollten los.“, meinte er nur.

Naja, zumindest wollte er mich beim Arzttermin dabei haben. Immerhin etwas. Und er überließ mir sogar wieder die Ehre, zu fahren.

Die ganze Fahrt über schwieg er und sah aus dem Fenster. So langsam verzweifelte ich daran. Wie sollte ich denn noch irgendetwas erreichen können, wenn er partout nicht bereit war, zu reden? Seine distanzierte Abwehrhaltung verunsicherte mich völlig. Vermutlich würde er mir nur eine reinhauen, wenn ich es wagte, ihn zu küssen. Die Situation passte einfach überhaupt nicht und ich wusste nicht, wie ich das noch drehen sollte. Wie auch, wenn ich keine Ahnung hatte, was ihn so massiv beschäftigte? Vielleicht wurde es besser, wenn der Gips abkam.

Ich konnte nicht viel machen, außer ihm hinterher zu laufen und mit ihm gemeinsam auf den Arzt zu warten. Selbst als Seto schon auf dem Behandlungstisch saß und auf Dr. Hikawe wartete, wirkte er nicht aufgeregt oder nervös wie beim letzten Mal. Nein, er saß nur da, so leblos und unbeweglich wie eine Puppe und starrte nachdenklich ins Leere. Dabei war heute doch der Tag aller Tage.

Erst als der Arzt den Raum betrat, erwachte er aus der Starre.

„Dann wollen wir mal schauen.“, meinte Dr. Hikawe enthusiastisch. Wenigstens er war gut drauf. Geübt schnitt er den Gips auf und tastete den Knöchel ab. Dann glitt er auch zur Fußsohle und übte darauf Druck aus. „Haben Sie Schmerzen oder ist es unangenehm?“

Seto schüttelte den Kopf. Und endlich kam wieder Leben in seine Augen. Ah, langsam ergriffen ihn also doch die Neugier und die Anspannung. Er beobachtete jede Bewegung des Arztes ganz genau und sein Blick flackerte zwischen Hoffen und Bangen.

„Soweit ganz gut.“ Der Arzt nickte zufrieden und ließ von dem Knöchel ab. „Wir werden das Ganze nochmal röntgen, aber ich denke, die Fraktur können wir als geheilt betrachten.“

Seto nickte eifrig und seine Augen begannen faszinierend zu leuchten. Ein Glück. Zuversicht riss ihn wenigstens aus dieser nachdenklichen Phase heraus. Bereitwillig ließ er das Röntgen über sich ergehen, nur um danach ungeduldig auf dem Behandlungstisch herumzurutschen, während wir auf die Aufnahmen warteten.

„Es wird schon alles gut sein.“, meinte ich beschwichtigend.

Er sah mich schief an. „Hast du einen Röntgenblick oder woher weißt du das?“

„Nein, aber es gibt keinen Grund, warum es nicht gut sein sollte.“

Darüber verdrehte er nur die Augen. „Das ist eine dämliche Argumentation.“

„Aber eine, die zutrifft.“ Davon war ich überzeugt. „Probier doch einfach mal, aufzutreten, dann merkst du, ob es okay ist.“

Er hob eine Augenbraue, sah mich zweifelnd an. „Wäre das nicht ziemlich riskant, ohne vorher das Resultat der Röntgenbilder abzuwarten?“

„Du wirst doch merken, ob es unangenehm ist oder wehtut. Und du musst ja nicht gleich voll auftreten.“ Entschlossen positionierte ich mich vor ihm und hielt ihm meine Hand hin. „Ich stütze dich, damit du es ganz vorsichtig probieren kannst, okay?“

Sein Blick blieb kritisch, aber nach einigem guten Zureden, ließ er sich doch dazu bewegen, es wenigstens zu versuchen. Er fand mit seinem gesunden Bein recht schnell festen Stand, ehe er an meinen Schultern Halt suchte. Sein Griff war sehr behutsam und zögerlich, aber ich genoss es, dass er mir jetzt wieder so nah war.

Wirklich sehr langsam und vorsichtig ließ er den anderen Fuß sinken. Zuerst berührten seine Zehen ganz flüchtig den Boden, doch er zuckte sofort zurück.

„Tut es weh?“, fragte ich besorgt.

Er schüttelte den Kopf. „Ist nur ungewohnt.“

Seine Finger krallten sich fester in meine Schultern, als er es erneut probierte. Ich umfasste sicherheitshalber seine Hüfte und hielt gespannt den Atem an. Ganz vorsichtig setzte er mit dem Ballen auf. Ich spürte seinen Impuls, erneut wegzuzucken, aber diesmal riss er sich zusammen. Langsam setzte er immer weiter auf, bis er ganz auf dem Boden stand. Noch verlagerte er allerdings kein Gewicht auf das betroffene Bein.

„Geht es so?“, fragte ich leise.

Er nickte. „Es fühlt sich merkwürdig an. So ungeschützt.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Ich zog ihn enger an mich, so dass ich ihn gut halten konnte. „Versuch, darauf zu stehen.“, hauchte ich leise. Seine Nähe und sein Geruch waren so angenehm. Am liebsten wollte ich mich einfach an ihn lehnen und nie wieder loslassen. Aber das hier war wichtiger.

Ich spürte, wie er zögerlich sein Gewicht verlagerte. Bis er wirklich sicher auf beiden Beinen stand, hielt ich gespannt den Atem an. Hoffentlich klappte das hier und er konnte die Krücken endlich in die Ecke treten.

Zum Glück ging es wirklich. Er konnte problemlos stehen, was ihn selbst zu ein bisschen zu verwundern schien. Überrascht sah er auf. „Es geht tatsächlich.“ Seine Augen strahlten mich vor Begeisterung an und sein Lächeln war einfach herzerweichend. Endlich sah er wieder glücklich aus. Und unglaublich schön.

Vielleicht wäre die Gelegenheit jetzt günstig. Wir standen so nah beieinander, dass ich die Wärme seines Körpers deutlich spürte und das Blau seiner Augen wirkte ganz weich und einladend. Nur wie sollte ich vorgehen? Gleich impulsiv den ganzen Weg oder sollte ich ihm die Möglichkeit geben, mir das letzte Stück entgegen zu kommen?

Verdammt, bis jetzt hatte ich nie darüber nachgedacht, wie ich die Sache überhaupt angehen wollte. Und wie sollte er darauf reagieren? Was, wenn er mich wegstieß und ich alle meine Chancen vertat, weil das Timing nicht stimmte? Immerhin war der Abschied von Lauren noch nicht lange her.

So langsam bekam ich Panik. Ich hatte mir immer wieder eine Gelegenheit wie jetzt erhofft, aber jetzt fehlte mir der Mut, das Ganze durchzuziehen. Ich hatte einfach Angst, dass er mich abwies und aus meinem Leben verschwand. Vielleicht wäre es klüger, zu warten, bis sich eine bessere Gelegenheit bot. Nur wann sollte die kommen, wenn nicht heute? Es war so kompliziert.

Mein Herz blieb fast stehen vor Schreck, als er all meine Überlegungen überflüssig machte. Mit einem Mal lagen seine Lippen auf meinen, unerwartet weich und so kurz, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, den Kuss zu erwidern. Trotzdem war das Gefühl so überwältigend und intensiv, wie ich es bisher noch nie bei einem simplen Kuss erlebt hatte. Mein Denken war völlig lahmgelegt, jeder Gedanke ausgelöscht. Nur mein eigener Herzschlag dröhnte laut und schnell in meinen Ohren.

Fassungslos konnte ich ihn nur anstarren, während er meinen Blick mit großen, schreckgeweiteten Augen erwiderte. Er hatte mich geküsst. Nach all meinen Taktiken, Planungen und Strategien, die ich mir überlegt hatte, war es schließlich er, der den ersten Schritt gemacht hatte. Nur langsam drang zu mir durch, was das hieß. Er hatte Gefühle für mich. Das bedeutete, mein sehnlichster Wunsch könnte wahr werden. Wir könnten zusammenkommen, eine Beziehung haben und glücklich sein. Wahnsinn!

Erst als er abrupt von mir wegrückte, erwachte ich aus meiner Starre. Ja, er hatte mich geküsst, aber bis jetzt war von mir keinerlei Reaktion gekommen. Kein Wunder, dass er sich jetzt sichtlich unwohl fühlte. Auf seinen Wangen war eine leichte Röte, aber er schenkte mir keine Beachtung mehr, sondern kämpfte sich in den zweiten Schuh.

Ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun oder sagen sollte. Wie sollte ich auch klar denken, wenn ich immer noch von Glücksgefühlen überwältig war? Vielleicht sollte ich ihm einfach sagen, was ich für ihn empfand.

Doch gerade, als ich auf ihn zugehen wollte, öffnete sich die Tür und Dr. Hikawe kam mit den Röntgenaufnahmen herein. Als er Seto neben dem Behandlungstisch stehen sah, wirkte er kurz irritiert, aber schließlich lächelte er. „Sie haben also schon mal probiert, ob sie wieder normal laufen können?“

Seto nickte nur stumm, vermied es weiterhin stur, in meine Richtung zu schauen.

„Die Aufnahmen haben bestätigt, was ich schon vermutet habe. Die Fraktur ist vollständig verheilt. Sie können wieder ganz normal laufen.“

Wieder nur ein Nicken.

Dr. Hikawe tat die Schweigsamkeit seines Patienten nur mit einem Schulterzucken ab, ehe er fortfuhr. „Die nächsten sechs Wochen sollten Sie trotzdem langsam angehen lassen. Wie wir schon beim letzten Mal besprochen haben, können Sie gerne schwimmen gehen, aber joggen und springen sollten Sie vorerst vermeiden.“

„Ich werde aufpassen.“, meinte Seto knapp.

„Gut. Dann sehen wir uns in sechs Wochen zur Nachkontrolle wieder.“

„Danke Doktor.“ Wie es die Höflichkeit verlangte, gab Seto dem Arzt noch schnell die Hand, ehe er sehr zügig das Behandlungszimmer verließ.

Der Arzt sah ihm verwirrt hinterher. „Da hat es aber jemand eilig.“

„Er ist nur so begeistert davon, wieder laufen zu können.“, meinte ich ausweichend. Am liebsten wollte ich ihm einfach nur hinterher.

„Verständlich.“ Dr. Hikawe nickte. „Solange er daran denkt, sich weiter zu schonen, ist nichts dagegen einzuwenden.“

„Ich werde ihn daran erinnern.“ Schnell verabschiedete ich mich und eilte ebenfalls nach draußen. Ich musste Seto einholen, bevor er noch ohne mich davonfuhr und mir keine Möglichkeit gab, das Ganze zu klären. Wahrscheinlich kam es ihm so vor, als hätte ich ihn zurückgewiesen. Schließlich war von mir ja gar keine Reaktion gekommen.

Ich hastete die Treppen runter, raus aus dem Krankenhaus. Zu meiner Erleichterung war Seto noch da. Doch er war nicht allein. Oh nein, keinen Meter von ihm entfernt stand Kato, dieser elende Schläger. Und er wirkte sehr sehr sauer.

Klärung

Oh nein, was hatte denn dieser elende Schläger hier zu suchen? Ausgerechnet jetzt!

Schnell eilte ich an Setos Seite, bevor dieser Gorilla es noch wagte, ihn anzugreifen. Ich würde es auf keinen Fall ein zweites Mal zulassen, dass irgendjemand Seto verletzte. Ich würde ihn beschützen, egal, wie es mit uns weiterging.

„Was willst du hier?“, fragte Seto kalt. Sein ganzer Körper war angespannt und er diesmal wirklich auf der Hut. Das letzte Mal hatte ein einziger Moment der Unaufmerksamkeit ihm den Gips eingebracht. Kein Wunder, dass er jetzt so wachsam wirkte.

Kato kam bedrohlich näher. „Habt ihr kleinen Wichser eigentlich eine Ahnung, was ihr mir eingebrockt habt? Knast!“

Ich sprang instinktiv vor Seto, als Katos Hand in einer aggressiven Bewegung nach oben schnellte. Aber er griff nur in seine Innentasche und holte einen Brief hervor. Noch keine Gefahr. Trotzdem behielt ich meine Position lieber inne, als Kato mir das Schreiben entgegen schleuderte. Es war vom Gericht und kündigte eine Haftstrafe von zwei Monaten an. Unwillkürlich musste ich schlucken. Anscheinend gab der Schläger uns die Schuld dafür.

„Jeder muss für das gerade stehen, was er tut.“, meinte Seto ruhig. Auch wenn er es gut überspielte, ich hörte die Anspannung in seiner Stimme. „Niemand hat dich gezwungen, so zu handeln, wie du es getan hast, also gib uns nicht die Schuld, wenn du jetzt dafür die Konsequenzen tragen musst.“

Katos Blick wurde noch finsterer und er biss vor Wut die Zähne so fest zusammen, dass ich es knirschen hörte. Schon möglich, dass Setos Worte logisch und richtig waren, aber das hieß noch lange nicht, dass sie unser Gegenüber besänftigten. Im Gegenteil.

„Du Bastard hättest nicht gleich zu den Bullen rennen müssen!“, schrie er nun laut. „Ich schwöre dir, das wirst du bereuen! Dafür wirst du bezahlen!“

Oha! Seine ganze Wut richtete sich jetzt gegen Seto, nicht mehr gegen mich. Allerdings ließ der sich seine Unruhe nicht anmerken. „Du hast jetzt die Chance, dich umzudrehen, zu gehen und später deine Strafe wie ein Mann abzusitzen.“, erklärte Seto sachlich. Ich bewunderte ihn dafür, wie gut er sich im Griff hatte. „Ansonsten wird das hier deine Situation nur verschlimmern.“

„Ach ja?“ Überraschend schnell und kraftvoll stieß er mich einfach zur Seite und stand nun direkt vor Seto. „Ich werde dafür sorgen, dass du unsere Begegnung nie wieder vergisst, du verwöhntes Fretchen! Du wirst deines Lebens nicht mehr froh, das schwöre ich dir!“

Oh nein, er wollte Seto angreifen! Dieser riesige, gigantische Gorilla wirkte vielleicht plump, aber wenn er wollte, konnte er wahnsinnig kraftvoll und unberechenbar zuschlagen. Ich musste schnell dazwischen gehen.

Aber bevor ich bei den beiden ankam, spielte sich alles vor meinen Augen unfassbar rasant ab. Kato wollte nach Seto schlagen, aber der war wesentlich schneller und eleganter als dieser grobemotorische Schläger. Mit Leichtigkeit wich Seto aus, rammte seinem Gegner kraftvoll das Knie in den Magen und anschließend den Ellbogen in den Nacken. Sehr effektiv. Ich unterschätzte immer wieder, wie gut Seto sich verteidigen konnte. Kato konnte dem gar nichts entgegen setzen, er sank einfach röchelnd zu Boden.

Schnell eilte ich zu Seto und zog ihn von diesem Schläger weg. Auch wenn er gerade am Boden lag, die Sache war noch nicht vorbei. Da! Kato kam langsam und schwerfällig wieder auf die Beine. In seinen Augen glomm blanker Hass.

„Du Ratte!“, zischte er. Kaum dass er stand, stürmte er blind vor Zorn erneut auf uns zu. Ich wusste, dass Seto durchaus sehr gut auf sich achten konnte, aber Kato war verdammt stark und unberechenbar. Er musste Seto nur einmal falsch erwischen, insbesondere, weil dieser jetzt zwar keinen Gips mehr brauchte, aber bei weitem noch nicht seine volle Agilität zurückerlangt hatte. Ich konnte doch nicht riskieren, dass ihm etwas geschah. Das würde ich mir nicht verzeihen.

Kurzentschlossen sprang ich vor und rammte Kato meine Faust ins Gesicht. Dieser elende Koloss musste einfach zu stoppen sein. Allerdings taumelte er durch meinen Schlag nur einige Schritte zurück, ehe er mich wütend anstarrte.

„Halt dich zurück!“, rief Seto mir zu. Sein Blick fixierte konzentriert unseren Gegner, aber anscheinend wollte er meine Hilfe nicht. War mir egal, ich würde ihn jetzt nicht allein lassen. Ich hatte schon genug Prügeleien erlebt, um zu wissen, wie das lief.

Kato starrte mich wütend an. Ich rechnete damit, dass er wieder auf mich losgehen würde, doch stattdessen schnellte er in Setos Richtung vor. Nein! Nur über meine Leiche! Mit aller Kraft warf ich mich gegen Katos Seite und stieß ihn von Seto weg. Er sollte mich meinetwegen grün und blau prügeln, aber wehe, er rührte meinen Seto an!

Es funktionierte. Jetzt konzentrierte Kato sich tatsächlich auf mich. Auch wenn mir klar war, dass eine Auseinandersetzung schmerzhaft werden könnte, ging ich ihm entgegen. Einfach, damit Seto aus der Schusslinie kam.

Zwischen uns entstand eine richtige Rauferei. Ich konnte einige Gute Treffer landen, aber Katos Schläge waren wesentlich kraftvoller. Als er mich an der Schläfe traf, wurde mir für einen kurzen Moment sogar schwarz vor Augen.

„Genug jetzt!“ Seto mischte sich unvermittelt in unsere Rangelei ein und beendete sie kinderleicht, indem er Kato gezielt die Faust gegen den Solarplexus schlug. Die Berührung sah nicht mal sonderlich kraftvoll aus, aber anscheinend war sie sehr effektiv, denn der Schläger sank einfach röchelnd zusammen. Mit beneidenswerter Gelassenheit platzierte er einen Fuß auf Katos Rücken, um ihn am erneuten Aufstehen zu hindern.

„Ich habe doch gesagt, du sollst dich da raushalten!“, murrte Seto, wobei er mich mit vor der Brust verschränkten Armen kritisch betrachtete.

„Ich wollte dir nur helfen.“, murmelte ich matt. Die Prügelei hatte mich ausgelaugt und mir zudem ein paar schöne Blessuren eingebracht. Schon jetzt spürte ich ein unangenehmes Pochen an meiner linken Schläfe und meinen Rippen. Das würde ein paar schöne blaue Flecken geben.

„Es ist ziemlich unbedacht, sich unkontrolliert in eine körperliche Auseinandersetzung zu stürzen, wenn man sie auch so einfach und effektiv beenden kann.“

Sehr sachlich, danke! Normalerweise würde ich wahrscheinlich vor Wut in die Luft gehen. Immerhin hatte ich die Prügel kassiert, weil ich ihn schützen wollte. Aber im Moment war ich einfach nur froh, dass er unversehrt war.

Ich wollte etwas erwidern, als plötzlich Blaulicht und Sirenen von allen Seiten aufleuchtete und zwei Polizeiwagen in unserer Nähe zum Stehen kamen. Gleich vier Polizisten stiegen aus und eilten zu uns.

„Ich hab Sie gerufen.“, meinte Seto nur. Er blieb die ganze Zeit auf Katos Rücken stehen, während er den Polizisten die Situation erklärte und ihnen das Schreiben überreichte, das dieser uns vorhin entgegen geworfen hatte. Erst dann ließ er vom Unterlegenen ab.

Allerdings blieb Kato nicht viel Zeit zum Durchatmen. Grob wurde er auf die Beine gezogen und seine Hände auf dem Rücken gefesselt. Ein Glück.

Mir war gar nicht aufgefallen, dass sich während unserer Rangelei eine kleine Menschenmenge um uns herum versammelt hatte. Gut so, die konnten wenigstens bezeugen, dass die Prügelei von Kato ausgegangen war. Ich musste auch meine Sichtweise der Geschichte erzählen, allerdings konnte ich mich kaum auf meine Aussagen konzentrieren. Immer wieder glitt mein Blick zu Seto, der abseits des Trubels mit einem Polizisten redete. Ich musste aufpassen, dass er nicht klammheimlich ohne mich verschwand. Immerhin stand der Kuss noch unausgesprochen im Raum.

Nachdem ich alles gesagt hatte, was mir einfiel, durfte ich gehen. Zum Glück, ich sah nämlich gerade, dass Seto in Richtung seines Autos ging. Schnell eilte ich ihm nach und fing ihn ab, bevor er einsteigen konnte.

„Was passiert jetzt weiter?“, fragte ich atemlos.

Seto schenkte mir nur einen flüchtigen Blick. „Sie werden ihn mitnehmen und dem Richter vorführen. Wahrscheinlich kann er seine Haft dann gleich mit Verlängerung antreten.“

Aha. „Das meinte ich nicht.“ Mich interessierte viel eher, wie er unser Verhältnis zueinander sah.

Er starrte stur geradeaus, einfach ins Nichts. Anscheinend wollte er mich im Moment nicht ansehen. „Es gibt nichts weiter zu bereden.“ Seine Stimme klang monoton. Trotzdem entdeckte ich in seinen Augen einen traurigen Glanz. Ich wollte die Situation so gern mit ihm klären, aber nicht hier. Nicht in der Öffentlichkeit.

„Ich fahre dich erstmal nach Hause und dann können wir reden, okay?“, meinte ich ruhig. „Ich bin der Meinung, wir haben da doch noch etwas zu besprechen.“ Auch wenn mir klar war, dass ihm die Situation wirklich unangenehm sein musste, wenn er so unwissend in der Luft hing, wollte ich, dass wir unsere Ruhe hatten, wenn wir das klärten. Ich wollte ihm ehrlich sagen, was ich empfand, ungestört und aufrichtig. Jetzt, da ich wusste, dass er etwas für mich empfand, fühlte ich mich viel mutiger. Ich brannte darauf, ihm meine Gefühle offenzulegen und zu sehen, wohin uns das führte.

Und ich wollte ihn küssen. Sein Geschmack vorhin war nur flüchtig wahrnehmbar aber sehr verführerisch gewesen. Ich wollte mehr davon.

Setos Blick glitt unstet zwischen mir und dem kleinen Menschenauflauf hin und her, als wöge er ab, ob er sich lieber mir oder der neugierigen Meute stellen sollte, die die ganze Zeit tuschelte und mit dem Finger auf uns deutete. Schließlich stieg er unwillig schnaufend in den Wagen. Schon mal ein kleiner Triumph für mich, auch wenn er während der gesamten Fahrt eisern schwieg. Damit hatte ich schon gerechnet. Selbst als ich in die Garage fuhr und den Motor ausstellte, sagte er kein Wort. Er saß einfach nur steif da und sah aus dem Fenster.

„Können wir jetzt reden?“, fragte ich sanft. Die Garage war zwar kein sonderlich romantischer Ort, aber immerhin würden wir hier unsere Ruhe haben.

„Es gibt nichts zu bereden.“ Er blieb stur dabei und seine Stimme klang verstörend sachlich. „Das... vorhin war nur ein Reflex, ausgelöst durch dieses überwältigende Glücksgefühl, endlich wieder laufen zu können. Tut mir leid, wenn es in dir Abscheu oder Ähnliches hervorgerufen hat. Kommt nicht wieder vor.“ Und obwohl er das wirklich sachlich rüberbrachte, hörte ich die Verbitterung in seiner Stimme. Für ihn musste das wirklich wie eine eiskalte Abfuhr gewirkt haben.

Ehe ich etwas erwidern konnte, setzte er dazu an, aus dem Wagen zu klettern. Aber ich hatte damit schon gerechnet. Blitzschnell sprang ich aus dem Auto, umrundete es und fing Seto ab, bevor er mich einfach stehen lassen konnte. Ich platzierte meine Hände rechts und links von ihm auf der Karosserie, so dass er zwischen meinen Armen gefangen war. Und seinem Blick zufolge passte ihm das gar nicht. Aber zumindest blieb er erst mal. Er hätte sich ja auch genauso gut einfach aus meinen Armen befreien können.

„Was soll der Blödsinn?“, fragte er ungehalten.

„Meinst du nicht, wir sollten das endlich mal abschließend klären?“

Er schnaubte, wandte den Blick ab. „Ich hab doch schon gesagt, wie es war.“

„Nur leider glaube ich dir das nicht.“

Er starrte mich grimmig an, alles andere als angetan davon, dass ich es nicht einfach dabei beließ. Schon klar, er sprach nicht gern über das, was ihn bewegte oder was er empfand. Aber irgendwie mussten wir ja beide wissen, woran wir beieinander waren.

„Soll ich dir sagen, was ich glaube?“

Er biss die Zähne zusammen, wirkte sichtlich angespannt. „Na was denn?“

„Ich glaube, es geht dir wie mir.“

Seine Augen weiteten sich kurz vor Überraschung. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Mir allerdings war wichtig, dass er wusste, er stand nicht allein da. Nicht nur für ihn war die Situation neu und befremdlich. Aber schnell wurde das weiche Blau seiner Augen wieder dunkel und verschlossen. Er gab sich nicht gern verwundbar.

Zeit, ein bisschen offensiver zu werden. Ich konnte ja schließlich kaum erwarten, dass er diesbezüglich auch noch den ersten Schritt machen würde. Vorsichtig löste ich meine Hand vom Auto und legte sie auf seine Brust, direkt über sein Herz. Dann suchte ich seinen Blick, auch wenn er defensiv und verschlossen blieb. Wenigstens würde er die Aufrichtigkeit in meinen Augen sehen.

„Noch vor ein paar Wochen dachte ich, ich könnte dir nie im Leben ansatzweise irgendetwas wie Sympathie entgegen bringen.“

Seine Augen wurden noch eine Nuance dunkler und blitzten gefährlich auf.

Egal, ich redete einfach weiter. „Aber je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto sympathischer fand ich dich und desto mehr fing ich auch an, dich zu respektieren. Mehr noch. Ich begann, dich wirklich zu mögen.“

Er beobachtete mich aufmerksam, aber noch schien er nicht viel mit meinen Erzählungen anfangen zu können.

Also fuhr ich fort. „Irgendwann merkte ich, dass ich anfing, dich mehr zu mögen als nur wie einen Freund.“

Unter meinen Hand begann sein Herz mit einem Mal merklich schneller zu schlagen.

„Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben. Ich hab es verdrängt, verleugnet. Immerhin sind wir ja beide nicht schwul. Ich habe sogar versucht, mir einzureden, es wäre nur eine flüchtige Vernarrtheit, weil du so schön und so ganz anders als erwartest bist. Aber irgendwann kommt einfach der Punkt, an dem man sich selbst nicht mehr belügen kann.“

Er schnappte lautlos nach Luft, während seine Augen immer größer und weicher wurden. Zumindest erreichte ich ihn.

„Ich bewundere dich dafür, wie genial du bist, wie einzigartig und besonders. Es gibt keinen anderen Menschen auf der Welt, der mich jemals so faszinieren könnte.“

Schlagartig senkte er den Blick, wirkte mehr als verlegen. Meine Komplimente konnte er immer noch nicht einordnen. Aber mit ein bisschen Glück würde sich das sehr schnell ändern.

„Du bist nicht perfekt, das weiß ich.“ Die Aussage passte ihm nicht, das sah ich an seinem kurzen Zähnefletschen. Also fuhr ich schnell fort, ehe er es falsch verstand. „Aber genau das liebe ich an dir. Ich liebe es, dass dich selbst deine Marotten und kleinen Fehler nur noch vollkommener und wertvoller machen. Du kannst so unglaublich virtuos und kompliziert um siebzig Ecken denken, aber hast einen dermaßen schlechten Orientierungssinn, dass man Angst haben muss, du verläufst dich, wenn du dich nur einmal im Kreis drehst. Du kannst so eiskalt sein, dass man davon Gefrierbrand kriegt und auf der anderen Seite so warmherzig und liebevoll. Sieht man ja an Mokuba. Du bist autoritär und selbstbewusst und gleichzeitig so schüchtern, wenn man dir sagt, wie schön du bist.“

Die Worte sprudelten immer schneller aus meinem Mund wie ein Wasserfall, der sich einfach nicht mehr stoppen lassen wollte. Als wollten all meine Gedanken und Gefühle so schnell wie möglich ausgesprochen werden, nachdem ich sie zuvor lange eisern verschwiegen hatte. Für einen Rückzieher war es eh zu spät, da konnte er ruhig alles wissen, auch wenn er jetzt schon vor lauter Verlegenheit gar nicht mehr wusste, wo er hinschauen sollte.

„Ein so wohlbedachter, kontrollierter Mann wie du würde mich nie einfach nur aus einem Reflex heraus küssen, wenn dahinter keine aufrichtigen Gefühle stecken würden.“ Vorsichtig rückte ich näher an ihn heran. Mein Herz begann vor lauter Aufregung regelrecht zu rasen, als ich meine Hand ausstreckte und vorsichtig über seine Wange strich. Wenigstens sah er dadurch auf. Für einen Moment stockte mir bei diesen unglaublichen Augen der Atem, denn gerade wirkten sie faszinierend groß und das Blau unfassbar intensiv. Wenn er mich so ansah, konnte ich kaum noch klar denken. Trotzdem musste ich mich zusammenreißen.

„Ich glaube, wir beide sind über den Level eines flüchtigen Abenteuers hinaus. Das hier könnte etwas wirklich Ernstes werden. Ich will es unbedingt und ich werde alles daran setzen, dass es funktioniert.“

Nervös überwand ich den Abstand zwischen uns, brachte mein Gesicht so nah an seines, dass ich seinen hektischen Atem auf meiner Wange spürte. Meine Haut kribbelte davon und in seinen Augen sah ich die gleiche Aufregung, die auch mich erfasst hatte. Jetzt kam der entscheidende Moment.

„Du musst es nur zulassen.“, wisperte ich leise, ehe ich mich vorbeugte und vorsichtig meine Lippen auf seine legte. Diesmal dachte ich gar nicht darüber nach, wie ich vorgehen sollte, ich ließ mich einfach von meinem Gefühl leiten.

Seine Lippen waren wirklich sehr weich und sein Geschmack wahnsinnig betörend. Trotzdem machte mich die Anspannung schier rasend. Würde er erwidern oder nicht?

Mir kam es wie eine quälend lange Ewigkeit vor, bis er tatsächlich zaghaft erwiderte. Aber wenigstens tat er es und mein Herz schlug Purzelbäume vor lauter Glück. Erfreut und auch ein wenig überwältigt lehnte ich mich an ihn und intensivierte den Kuss. Ich wollte diesen Moment inhalieren, mir seinen Geschmack und dieses berauschend weiche Gefühl seiner Lippen einprägen.

So lange hatte ich gehofft, es würde mal so weit kommen, aber dass es jetzt wirklich so weit war, kam mir immer noch unrealistisch vor. Allein ihn zu küssen, bereitete mir schon größeres Bauchkribbeln als ich es bei meinen früheren Beziehungen je empfunden hatte. Meine Hände wanderten weiter in seinen Nacken und durch sein weiches Haar, um ihn bei mir zu halten.

Als wir uns voneinander lösten, sah ich ihm gespannt ins Gesicht. Ich hatte ihm meine Gefühlswelt offengelegt, aber wie sah er das? Hatte ihm der Kuss gefallen? Zumindest waren seine Wangen gerötet und seine Augen leuchteten warm. Ein wahnsinnig niedlicher Anblick.

„Das war interessant.“, hauchte er.

„Definitiv.“ Meine Finger fuhren weiterhin durch sein Haar, kraulten seinen Nacken. Seine Augen wirkten so weich und sinnlich, dass ich mich glatt nochmal in ihn verliebte. „Hat dir der Kuss gefallen?“

„Ich... denke schon.“ Das Rote auf seinen Wangen wurde noch eine Nuance dunkler und sein Blick regelrecht schüchtern. „Aber was... heißt das jetzt?“

Oh, sowas lag ihm wirklich nicht. Allerdings sah er wahnsinnig schön aus mit diesen scheuen, blauen Augen. Ich strich erneut über seinen Nacken, küsste ihn flüchtig auf den Mundwinkel. „Von meiner Seite aus heißt es, dass ich mit dir zusammen sein und sehen will, wohin uns das führt.“, hauchte ich zärtlich.

Meine Worte schmeichelten ihm, das sah ich, aber gleichzeitig wirkte sein Blick so hilflos, als wüsste er nicht genau, wie er dazu stehen sollte. Für mich war es schon merkwürdig, einen Mann zu küssen und es hatte Zeit gebraucht, um meine Gefühle zu ihm zu akzeptieren. Seto tat sich allerdings noch wesentlich schwerer damit, sich mit seiner Gefühlswelt zu arrangieren und ich verstand, dass es bei ihm wirklich Fingerspitzengefühl brauchte. Er hatte Gefühle für mich, aber vielleicht brauchte er noch Zeit, sie einordnen zu können.

„Die Situation ist für uns beide neu und seltsam, also kann ich verstehen, wenn du noch etwas Bedenkzeit brauchst, okay?“ Ich wollte nicht, dass er sich unter Druck gesetzt fühlte.

„Du willst warten?“, fragte er erstaunt.

„Bis du bereit bist und dich mit der Situation wohlfühlst? Auf jeden Fall.“ Lieber wartete und bangte ich, bis er eine Entscheidung getroffen hatte, als ihn zu verprellen, nur weil ich zu schnell zu viel wollte. „Wir können die Sache doch langsam angehen.“

Ich spürte, wie sein Herz wieder schneller schlug, während er mich fassungslos musterte. Nachdenklich glitt sein Blick über mein Gesicht. „Vielleicht solltest du dein Auge kühlen, bevor es anschwillt.“, murmelte er. Behutsam schob er mich von sich und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Gut, zumindest hatte ich ihm alles gesagt. Seto wusste, woran er bei mir war, also lag jetzt die Entscheidung bei ihm. Allerdings war ich guter Dinge, dass er mir mit genug Bedenkzeit eine Chance geben würde. Ich musste ihm nur einen Wohlfühlfaktor bieten.

Bereitwillig lief ich ihm nach in sein Zimmer. Während ich seiner Anweisung folgte und mich aufs Sofa setzte, wickelte Seto ein paar Eiswürfel aus der Minibar in ein Tuch. Damit bewaffnet kam er zu mir. Behutsam drückte er die Kühlung gegen meine Schläfe, während er sich neben mich setzte. Wenigstens verschaffte das ein wenig Linderung gegen das unangenehme Pochen hinter meiner Stirn.

„Wie geht es deinem Fuß?“, fragte ich vorsichtig. Vorhin hatten sich die Ereignisse ja überschlagen, da war das eigentliche Highlight dieses Tages ein wenig untergegangen.

Sein Blick glitt zu seinem frisch gesundeten Fuß. „Es fühlt sich noch ein bisschen wackelig an, darauf zu laufen, aber sonst ist alles okay.“

Ein Glück. „Dann kannst du die Krücken endlich in die Ecke treten.“

Er nickte und bei dem Gedanken daran, lächelte er sogar schwach. Das würde ihm das Leben endlich wieder leichter machen. Aber schnell wurde er wieder ernst und betrachtete mein Gesicht.

„Das wird ein blaues Auge geben.“, murmelte er.

„Und das auch noch völlig umsonst.“ Ich zuckte leicht zurück, als er ein wenig zu doll aufdrückte.

„Stimmt wohl.“ Trotzdem wirkten seine Augen sehr weich und sanft, während er mich betrachtete. „Hättest du auf mich gehört, wärst du heile aus der Sache herausgekommen.“

Ich schnaufte unwillig. „Ich wollte dich nur beschützen! Du hast keine Ahnung, zu was Kato alles fähig ist.“

Seine Augen blitzten spöttisch auf. „Und du hast keine Ahnung, zu was ich fähig bin.“

„Schon klar, du kannst verdammt gut auf dich selbst aufpassen.“ Ich seufzte geschlagen. Ich hatte ihm helfen wollen und mich stattdessen lächerlich gemacht.

„Allerdings rechne ich dir deine Motivation hoch an.“, meinte er leise und ein wenig verlegen.

Überrascht sah ich auf. „Wirklich?“

Er nickte. „Für mich wollte sich noch nie jemand prügeln oder in die Bresche werfen.“

Dann hatte er wohl gar keine Ahnung davon, was für Rangeleien er unter seinen Mitschülerinnen schon auslöste, wenn er eines der Mädchen nur streifte oder eine Millisekunde länger ansah als andere. Da waren abgebrochene Fingernägel noch harmlos.

Es fiel ihm sichtlich schwer, aber diesmal versuchte er, mir in die Augen zu sehen und den Blickkontakt zu halten. Er wirkte verlegen und betreten, als wüsste er nicht, ob er sich mir gegenüber wirklich so ehrlich und verletzlich zeigen sollte. „Du tust immer, was du willst, egal was man dir sagt. Du denkst nie nach, bevor du handelst, du tust es einfach.“

Was war das? Die Aufzählung der Fakten, die ihn an mir störten?

„Du bist so impulsiv und feurig, ohne Angst vor den Konsequenzen zu haben. Ganz anders als ich.“

Was?

Dadurch, dass er mir immer noch direkt in die Augen sah, konnte ich seine Aufrichtigkeit erkennen. Er versuchte, gnadenlos ehrlich zu sein, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel. „Ich stehe andauernd in der Öffentlichkeit und versuche dementsprechend schon im Voraus abzuwägen, wie sich welche Handlung auswirken könnte.“

Das stimmte wohl. Ich war unbedacht und er eher der Taktiker. Eigentlich ein Widerspruch.

„An sich ist es mir egal, wie ich bei anderen ankomme oder was sie über mich denken, aber ich will nicht überrascht werden.“ Der Aspekt schien ihm unangenehm zu sein, denn jetzt unterbrach er den Blickkontakt doch, wenn auch nur kurz. „Ich bin einfach nicht gut darin, spontan zu reagieren.“

Ja, dafür fehlte ihm die richtige Sozialisierung. Er konnte Smalltalk betreiben, aber er fühlte sich dabei nicht wohl, wenn er die Zügel beim Gespräch nicht in der Hand hielt.

„Du bist ein wirrer und ziemlich chaotischer Geist, aufbrausend und schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich weißt du selber nicht, was du als nächstes machst.“ Obwohl mir von den schmelzenden Eiswürfeln inzwischen Wasser ins Auge lief, konnte ich den Blick einfach nicht von ihm abwenden. Es kostete Seto Überwindung, so ehrlich zu sein, da wollte ich keine Sekunde verpassen. Erst recht nicht, weil er sich bemühte, ernst dreinzuschauen, dabei aber eine schüchterne Nuance in seinem Blick mitflackerte. Niedlich. Allerdings wusste ich immer noch nicht, worauf er eigentlich anspielte. Analysierte er nur, was uns unterschied oder wollte er auf etwas hinaus?

„Aber obwohl du so chaotisch bist, fühle ich mich in deiner Nähe inzwischen ganz wohl.“, gestand er. „Im Gegensatz zu früher finde ich deine unkonventionelle Art jetzt sogar erfrischend. Du bist nicht wie die anderen.“

Das nahm ich einfach mal als Kompliment.

„Ich dachte eigentlich, inzwischen könnte ich dich trotzdem gut einschätzen.“

Daran erinnerte ich mich noch schmerzlich. „Damals auf der Terrasse war deine Einschätzung zumindest sehr zutreffend, wenn auch wenig schmeichelhaft.“

Er nickte, ließ langsam das Tuch mit den Eiswürfeln sinken. „Zu dem Zeitpunkt kannte ich allerdings deine private Seite noch nicht und konnte sie dementsprechend in meine Beurteilung nicht mit einbeziehen.“

Dann hatte sich sein Bild von mir verbessert?

„Aber in letzter Zeit konnte ich dich überhaupt nicht mehr einschätzen.“, gestand er.

Jetzt wurde es interessant.

„Ich hatte schon das Gefühl, dass du dich mehr zu mir hingezogen gefühlt hast, aber dein Verhalten war für mich völlig unlogisch. Erst warst du fürsorglich und anschmiegsam und im nächsten Moment distanziert und weg.“

„Schon verstanden, meine Taktik war blöd.“ Ich seufzte geschlagen.

„Taktik?“, fragte er irritiert.

Anscheinend war ihm das bis jetzt nicht klar gewesen. „Naja...“ Verlegen rutschte ich auf dem Sofa herum. „Als ich endlich akzeptiert hatte, dass ich in dich verliebt war, wollte ich dich natürlich erobern. Und ich dachte, ich könnte dich auf mich neugierig machen, wenn mich vielleicht ein bisschen rar mache.“

Er überdachte das Ganze kurz. „Also warst du so anschmiegsam und hilfreich, weil das Teil deiner Taktik war?“

„Nein, weil ich dir nah sein wollte. Und natürlich wollte ich, dass du glücklich bist. Was meinst du, was für Schmetterlinge ich vor lauter Freude im Bauch hatte, als ich dir mit dem Gehgips das Leben so viel leichter machen konnte?“

Er neigte den Kopf etwas, sah mich jetzt leicht verständnislos an. „Du wolltest mir nah sein und mich durch deine Abwesenheit dazu bringen, mich in dich zu verlieben?“

„Im Nachhinein ganz schön blöd.“ Ich gab es ja zu. „Aber ich wusste ja nicht, dass ich dich damit so verwirre.“

„Warum warst du nicht einfach ehrlich?“

„Weil ich Angst vor deiner Reaktion hatte.“ Ich lachte verlegen. „Du hast so viel mehr zu bieten als man sich wünschen kann. Allein wie schön du bist. Das hat mich eingeschüchtert.“

„Ich hab dich eingeschüchtert?“, fragte er verwirrt.

„Du musst zugeben, meine Chancen standen nicht gerade gut. Wir hatten beide bisher nur Frauen und das hier ist absolutes Neuland. Außerdem bist du wie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich wusste einfach nicht, was du von mir denkst.“

Er nickte leicht, bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. „Ging mir bei dir genauso.“

„Um genau zu sein weiß ich immer noch nicht, was du von mir denkst.“

Schlagartig wurde er rot und wich meinem Blick aus. Klar war ihm das unangenehm, aber wenn ich mich überwunden hatte, musste er das jetzt auch mal machen. Und eigentlich hatte er es ja sogar leichter, weil er genau wusste, dass ich etwas für ihn empfand.

„Ich mach es dir noch leichter, okay?“ Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihm aus, strich wieder über seine Wange, damit er mich ansah. „Der erste Kuss ging von dir aus, also behaupte ich einfach mal, du empfindest auch etwas für mich.“

Ich sah ihm lange abwartend in die Augen, sah wie es in seinem hübschen Köpfchen arbeitete. Vielleicht musste er alle Fakten nochmal genau analysieren, obwohl für ihn ja gar kein Risiko mehr bestand. Zu dem Schluss schien er auch zu gelangen, denn schließlich rang er sich doch mal zu einem leisen. „Ja.“ durch. Er war so süß, wenn er mich verlegen und gleichzeitig ein wenig erwartungsvoll wie gerade ansah, ich musste ihn einfach küssen. Von ihm kam das ja fast schon einer Liebeserklärung gleich.

„Sind doch gute Voraussetzungen für den Anfang“, hauchte ich sanft. „Und beim Rest müssen wir einfach schauen, wie es sich entwickelt.“

Diesmal rang er sich sogar zu einem kleinen Lächeln durch. Die Aussicht darauf, dass wir es ganz ohne Druck angehen konnte, schien ihm einen Großteil der Anspannung zu nehmen. Ein Glück.

„Vielleicht sollten wir es wirklich einfach versuchen.“ wisperte er, ehe er mich erneut küsste.

Das verbuchte ich mal als Sieg. Was aus uns wurde, blieb abzuwarten, aber ich sah der Zukunft optimistisch entgegen. Zufrieden schlang ich meine Arme um seinen Nacken und genoss, dass er wirklich wahnsinnig gut küssen konnte.

Eines stand fest: ein Mann küsste definitiv anders als eine Frau. Nicht nur der Geschmack seiner warmen Lippen war ungewohnt, auch das Gefühl dahinter. Setos Küsse waren weich und sanft, aber obwohl er sich noch sehr vorsichtig herantastete, schon von einer leichten Dominanz getragen. Irgendwie aufregend. Ungewollt seufzte ich in den Kuss. Das Gefühl war aber auch wahnsinnig gut und dazu auch noch dieses Kribbeln im Bauch.

Darüber konnte er nur lächeln. „Man könnte meinen, es gefällt dir.“, wisperte er und in seinen Augen funkelte ein neckischer Glanz.

Daraus machte ich keinen Hehl. „Ich küsse dich wirklich unglaublich gern.“, schnurrte ich. „Könnte mein neues Hobby werden.“

„Hat wirklich was für sich.“ Er nickte andächtig. „Ich glaube, damit könnte ich mich anfreunden.“

„Wirst du auch müssen. Jetzt, da ich Blut geleckt habe, lasse ich nicht mehr so schnell locker.“ Zur Bekräftigung biss ich kurz aber zärtlich in seine Unterlippe. Als Reaktion darauf seufzte er dezent. Vielleicht mochte er kleine Bissattacken ja.

„Das verspricht, interessant zu werden.“, schnurrte er leise.

„Definitiv.“

Es würde ein Abenteuer werden. Für uns beide war diese Beziehung absolutes Neuland, aber ich würde alles daran setzen, dass es funktionierte.

Epilog

Möglichst lautlos schlüpfte ich ins dunkle Zimmer. Während ich näher ans Bett schlich, glitt mein Blick prüfend zum Gesicht des Schlafenden. Seine Gesichtszüge waren ganz entspannt, fast schon unschuldig und im fahlen Mondlicht wirkten sie noch weicher. Wie sehr ich diesen Anblick vermisst hatte.

Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken strich, ich durch sein weiches Haar und genoss das Gefühl dieser seidigen Strähnen unter meinen Fingern. Viel zu lange hatte ich darauf verzichten müssen. Eigentlich lächerlich, wie sehr ich es allein schon vermisst hatte, ihn einfach nur berühren zu können, über sein Haar zu streichen oder seine weiche Haut zu spüren. Aber seit wir zusammen waren, hatte ich mich doch sehr an seine Nähe gewöhnt. Mehr noch, ich brauchte sie inzwischen so sehr, dass mir egal war, wie sehr dieses nahezu kitschige Bedürfnis meinem Drang nach Unabhängigkeit widersprach. Für ihn machte ich eine Ausnahme.

Meine Hand wanderte von seinem Haar weiter zu seiner Wange, glitt über die warme Haut. Er seufzte leise und wohlig in sein Kissen, die Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen. Allein dieser Anblick machte mir das Herz so leicht.

Durch meine Berührung wachte er allerdings auf. Ich konnte nicht mal sagen, dass es mir leid tat, ihn aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen zu haben. Vielleicht war es egoistisch, aber ich wollte seine Aufmerksamkeit. Ich wollte, dass er mich mit diesen dunklen, treuen Augen ansah, in denen ich zu jeder Tag- und Nachtzeit seine bedingungslose Liebe erkennen konnte.

Genau das tat er jetzt auch. Mit noch vom Schlaf getrübten Blick schaute er zu mir auf. Ich liebte es, wie warm seine braune Augen wirkten, sie vermittelten mir immer ein Gefühl von Geborgenheit.

Er setzte sich so abrupt auf, dass ich erschrocken zusammenzuckte. Wie konnte er jedes Mal so schnell so wach sein? Zielsicher glitt seine Hand durch mein Haar bis in meinen Nacken und zog mich zu ihm. Seine Lippen legten sich auf meine, ganz sanft und so berauschend weich. Nahezu hungrig knabberte er an mir, während seine zweite Hand über meine Wange strich. Sein Finger wanderten dabei zärtlich über mein Jochbein und meinen Kieferknochen als müsste er sich vergewissern, dass ich wirklich vor ihm saß. Ich liebte es, dass ich in jeder seiner Gesten spüren konnte, wie sehr er auch mich vermisst hatte. Instinktiv legte ich meine Arme um seine Hüfte und zog ihn näher.

„Du bist wieder da.“, murmelte er mit belegter Stimme.

Ich nickte nur. Was sollte ich zu so einer offensichtlichen Feststellung auch sagen? Viel lieber genoss ich, wie seine Finger meinen Nacken kraulten und er jetzt sein Gesicht an meinem Hals vergrub.

„Ich wollte wachbleiben und auf dich warten.“, nuschelte er müde. „Aber dann ist es so spät geworden.“

„Der Flug hatte Verspätung. Entschuldige.“

Er seufzte leise, wobei sein warmer Atem mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. „Hauptsache, du bist gesund zurückgekommen.“

Natürlich war er nicht sauer. Wir beide wussten, dass ich hätte anrufen und ihn über die Verspätung informieren sollen, aber im gleichen Maße war uns beiden klar, dass ich das immer wieder vergaß. Er war darüber nie verärgert, genauso wenig wie darüber, dass ich ihn mitten in der Nacht weckte. Wie er meinte, zählte das wohl zu den Dingen, die ich bei aller Liebe fürs Detail immer wieder übersah.

Joey liebte wirklich bedingungslos, das hatte er von Anfang an getan. Er stellte keine Forderungen an mich oder versuchte, mich zu verändern. Von Anfang an hatte er mich so angenommen wie ich war. Selbst dass ich in diesen Beziehungsdingen einfach langsamer war als er, hatte ihn nie gestört.

„Zieh dich aus und komm ins Bett.“, flüsterte er leise. Er hauchte noch einen flüchtigen Kuss in meine Halsbeuge, ehe er sich von mir löste und wieder hinlegte.

Also machte ich mich daran, mich aus dem Anzug und den Schuhen zu schälen, ehe ich unter die Decke krabbelte. Nach dem langen Flug und der anstrengenden Reise fühlte ich mich wirklich müde und erschöpft, da hatte ich mir mein Bett wirklich herbeigesehnt. Erst recht, wenn noch jemand drin lag, der mich vermisste und jetzt mit offenen Armen empfing.

Kaum lag ich, da kuschelte Joey sich auch schon an meine Seite. Er bettete seinen Kopf auf meiner Schulter und platzierte seine Hand auf meiner Brust, kraulte sanft und wohltuend meine Muskulatur. Nachts war er immer anschmiegsam und verschmust, gerade wenn wir uns ein paar Tage nicht gesehen hatten.

„Ich hab dich wirklich vermisst.“, nuschelte er träge.

Schmunzelnd strich ich durch seinen blonden Schopf. Ja, das merkte man, denn regelrecht besitzergreifend hatte er sein Bein mit meinem verhakt und er war inzwischen so nah an mich herangerückt, dass er halb auf mir drauf lag.

„Ich dich auch.“ Das hatte ich, denn inzwischen genoss ich diese Nähe und Aufmerksamkeit wirklich. Unweigerlich legte ich meine Arme um seine Taille und zog ihn noch näher. Ja, ich musste zugeben, dass sogar kuscheln ganz nett sein konnte.

Nachts genoss ich es wirklich sehr, dass Joey so zahm war, aber tagsüber brauchte ich seine lebhafte, chaotische Seite.

Am Anfang unserer Beziehung hatte ich die Befürchtung, die Luft könnte aus der ganzen Sache sehr schnell raus sein, denn damals war Joey wirklich wahnsinnig bedacht darauf, mir alles recht zu machen und mir nicht zu widersprechen. Dabei waren seine aufbrausende Art und sein starker Charakter gerade das, in das ich mich bei ihm verliebt hatte. Da stieß mir diese Vorsicht sauer auf. Wie sollte es auch funktionieren, wenn er sich völlig verbog? Ich brauchte niemanden, der mir nach dem Mund redete, sondern jemanden, der seinen eigenen Kopf, seine eigene Meinung hatte.

Aber zum Glück war es so leicht, ihn zum Explodieren zu bringen. Ein kleines bisschen reizen und anstacheln hatte gereicht, damit er sein Temperament wiederfand.

Und von da an lief es wesentlich besser. Wenn wir stritten, dann energisch und ausdauernd, aber wesentlich respektvoller als früher. Außerdem waren die Versöhnungen jeden Streit wert und es brachte Feuer in die Beziehung.

Ich war froh, dass wir damals wirklich den Mut gefunden, es miteinander zu versuchen, obwohl ich anfangs doch sehr skeptisch war. Ich hätte nie vermutet, zu was sich uns Verhältnis letztendlich entwickeln würde. Zu einer soliden, aufrichtigen Beziehung, die tiefer ging als alles jemals zuvor. Selbst mit Lauren hatte ich nie diesen Grad der Vertrautheit erreicht, der jetzt zwischen Joey und mir herrschte. Und ich musste ehrlich gestehen: ich liebte diesen Mann mehr als ich jemals jemanden geliebt hatte. Auch wenn ich es viel zu selten aussprach, konnte ich mir sicher sein, dass Joey es wusste.

Zufrieden schmiegte ich meine Wange an seinen weichen Schopf und genoss das Gefühl, endlich wieder zuhause zu sein.
 

An Setos Seite schlief es sich wirklich gut. Ich konnte nie fest schlafen, wenn er nicht da war. Aber hier in seinen Armen, an seiner Brust, konnte man die ganze Welt vergessen.

Ich betrachtete nachdenklich sein Gesicht. Wenn er schlief, war es ganz entspannt, wirkte sehr jung und friedlich. Den Anblick konnte ich nicht oft genießen, denn normalerweise tendierte er dazu, früher oder wenigstens gleichzeitig mit mir aufzustehen. Nur nach so langen Flügen, wenn er den Jetlag so deutlich spürte, kam er einfach nicht hoch, war den ganzen Tag gerädert. Mir kam das nur gelegen, denn ich hätte nichts dagegen, wenn er einfach hier liegen blieb und schön aussah.

Ganze fünf Tage war er diesmal auf Geschäftsreise gewesen. Unverschämt lang wie ich fand. Auch wenn solche Reisen in dem Jahr, das unsere Beziehung inzwischen andauerte, tatsächlich relativ selten waren, kam es mir jedes Mal wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte noch nie jemanden so sehr vermisst wie meinen wunderschönen Sturkopf. Ich wohnte erst seit einigen Monaten bei ihm, aber seitdem hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, an seiner Seite zu schlafen.

Mir war selber klar, dass ich mich viel zu sehr auf ihn fixierte, aber ich hatte auch noch nie jemanden so wahnsinnig und vor allem bedingungslos geliebt. Er war einzigartig, alles an ihm besonders und wertvoll, wenn auch teilweise etwas abgedreht.

Seto widmete sich regelmäßig seinen Erfindungen. Allerdings hatte er damit diese plötzlichen Visionen doch nicht ganz überwunden wie anfangs erhofft. Seit wir zusammen waren, hatte er zwei gehabt, die nur wenige Tage andauerten und die er dank meiner Erkenntnisse von damals recht unbeschadet durchlief.

Dafür hatte er jetzt manchmal kleine Geistesblitze mitten in der Nacht, die natürlich gleich umgesetzt werden mussten. Ich merkte es meistens nur daran, dass er sich dafür nachts aus dem Zimmer schlich und erst Stunden später wieder ins Bett gekrabbelt kam. Spätestens dann wurde ich jedes Mal wach, denn für die Umsetzung setzte er sich meistens auf den Boden in seinem Arbeitszimmer und wenn er zurück unter die Decke kroch, war seine Haut ganz kalt.

Aber was sollte ich dagegen schon groß machen? Er konnte seine Ideen nun mal nicht einfach aufschreiben, sondern musste sie gleich ausprobieren. Also hatte ich mich damit abgefunden. Wenn er wieder ins Bett kam, zog ich ihn lautlos seufzend an mich und begrub ihn unter meinem Körper, um ihn aufzuwärmen. Am nächsten Morgen konnte er mir dann von seiner Idee erzählen.

Man musste ihm dennoch lassen, dass er wirklich Unglaubliches kreierte. Zu meinem Geburtstag hatte er mir einen Wochenendtrip nach Rom geschenkt. Wirklich ein unglaublich schönes Wochenende. Ich hatte mich allerdings gewundert, wie problemlos und zielsicher Seto uns durch die Stadt leitete, obwohl er normalerweise tatsächlich einen unfassbar schlechten Orientierungssinn hatte. Bis ich herausfand, dass er einfach in seine Sonnenbrille ein Navigationsgerät eingebaut hatte, das er mit seinem Handy einstellen konnte. Mein wunderschönes Genie.

Noch viel cooler fand ich allerdings seine Software, die ihm half, sich für ein Essen zu entscheiden, wenn er nicht wusste, worauf er gerade Lust hatte. Er hatte es sich als App auf sein Tablet installiert. Das Programm zeigte ihm verschiedene Lebensmittel wie Gemüse, Fleisch oder Reis und analysierte anhand von irgendwelchen Algorithmen, die ich nicht verstand, die sich aber wohl aus der Auswertung seines Blicks und seiner Stimme zusammensetzten, welches Gericht seinen Geschmack am ehesten traf. Das Resultat wurde dann direkt an den Küchenchef weitergeleitet. Eigentlich total genial. Allerdings noch mit kleinen Ungenauigkeiten, die Seto mit einem »bei Gelegenheit verbesserungswürdig« bezeichnete.

Auch wenn er ein ruheloser Geist war und ich kein Wort von dem verstand, was er erzählte, wenn er von seinen Visionen berichtete, hätte ich nicht glücklicher sein können. Allein zu sehen, wie er in seiner Genialität immer mehr aufblühte, machte mir das Herz so leicht.

Bis er aufwachte, würde es noch ein Weilchen dauern. Da konnte ich die Zeit auch nutzen und ihm ein vernünftiges Frühstück machen. Das hatte er sich verdient. Um genau zu sein verdiente in meinen Augen alles Glück der Welt und noch so viel mehr. Also bereitete ich Rührei und Lachsbrötchen zu und kochte frischen Kaffee. Das ganze beförderte ich mit einem Tablett nach oben.

Seto schlummerte immer noch selig vor sich hin. Inzwischen lag er auf dem Bauch und quer im Bett, nahm es fast ganz für sich ein. Typisch. Aber ich wusste mir schon zu helfen. Entschlossen stellte ich das Tablett auf den Nachttisch, ehe ich zu ihm krabbelte und mich einfach auf ihn legte. Noch wachte er allerdings nicht auf. Er hatte so einen beneidenswert tiefen Schlaf. Erst als ich vorsichtig in seinen Nacken biss, regte er sich unter mir. Er murrte unwillig, wollte aber einfach nicht die Augen öffnen.

„Ich hab uns Frühstück gemacht.“, schnurrte ich in sein Ohr, knabberte sogleich zärtlich an seinem Ohrläppchen. Er seufzte wohlig, dachte aber trotzdem nicht daran, endlich mal aufzustehen.

„Wenn du nicht die Augen öffnest, kriegst du davon aber nichts ab.“ Ich richtete mich auf, setzte mich auf seine Beine, ehe ich ihm langsam die Decke wegzog. Angetan betrachtete ich die freigelegte Haut, die so makellos seine Muskeln umspannte und so weich aussah. Ich streichelte sie gern, genoss, wie seidig sie sich unter meinen Fingern anfühlte.

„Lohnt es sich denn, die Augen zu öffnen?“, fragte er müde.

„Allein um mich zu sehen, sollte es sich für dich eigentlich immer lohnen.“

„Gutes Argument.“, murmelte er. Etwas schwerfällig rollte er sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Große blaue Augen, die gerade sehr weich und einladend wirkten. So ein schöner Mann. Ich musste ihn einfach küssen.

„Und? Hat es sich gelohnt?“, fragte ich schmunzelnd an seinen Lippen.

„Hm, ist ein guter Start.“ Träge glitten seine Arme um meine Taille, drückten mich näher an ihn. Mir war klar, dass er mich nur ruhigstellen wollte, um seine morgendliche Ruhe genießen zu können. Aber egal, dicht an ihn geschmiegt ließ es sich gut aushalten. Er war warm und roch so wunderbar vertraut. Nachdem ich fünf Tage auf ihn hatte verzichten müssen, genoss diese Momente noch viel stärker. Ich schmiegte mich an seine Brust und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge.

„Wie war deine Reise?“, fragte ich leise, während ich zärtlich seine Bauchmuskeln kraulte. Er genoss Streicheleinheiten wirklich sehr. Kam mir nur gelegen, denn er bot einen so schönen Körper, von dem ich kaum die Finger lassen konnte.

„Lang, anstrengend und so viel Geschwafel.“, murmelte er.

Ja, Verhandlungen mit diesem einen amerikanischen Konzern fand er jedes Mal nervig, denn der Firmenboss war ein selbsternannter Cowboy, der sich selbst gern reden hörte.

„Dafür hast du jetzt ein paar Tage frei und kannst dich ganz entspannen.“

Er nickte träge, reckte sich ein wenig meiner Hand auf seinem Bauch entgegen. Hm, wenn er ein paar Tage weg war, genoss er solche Streicheleinheiten ganz besonders.

Freie Tage nach der Reise waren ein Privileg, das ich ihm hart erkämpft hatte. Wenn es nach ihm ginge, würde Seto auch mit Jetlag in die Firma fahren, um gleich auszuloten, welche Möglichkeiten ihm der neue Vertrag einbrachte. Allerdings unterschätzte er jedes Mal, wie müde er wirklich war und schlief irgendwann über seiner Arbeit ein.

Es hatte einige äußerst hitzige Diskussionen und viel Überzeugungsarbeit meinerseits gekostet, bis er endlich einsah, dass ihm seine Arbeit nicht davonlief und er sich auch ruhig erst mal von der Reise erholen konnte. Außerdem fand ich, uns stand dann ja wohl auch ein bisschen Zeit zu zweit zu, um unsere Beziehung zu pflegen. Anfangs hatte Seto die ihm auferlegte Pause nur zähneknirschend akzeptiert, aber inzwischen räumte er sogar freiwillig mal ein paar Tage mehr dafür ein.

Auch wenn ich wirklich gern mit ihm kuschelte, kam ich nicht umhin, zu bemerken, dass seine Atmung schon wieder ruhiger und tiefer wurde. Anscheinend konnte er sich wirklich kaum wachhalten.

„Bist du noch so müde, Süßer?“

Er brummte nur leise. Morgens war er sowieso nie sonderlich gesprächig. Vielleicht war er einfach noch zu gerädert, um sich von Essen locken zu lassen, obwohl er nach der anstrengenden Reise ganz bestimmt hungrig war. Bei Flügen aß er nämlich nie etwas. Aber vielleicht bekam ich ihn anders wach.

Ich kraulte zärtlich seine Bauchmuskeln, während meine Lippen von seinem Hals zu seinem Schlüsselbein wanderten und daran knabberten. Leise und wohlig seufzte er auf, genoss es, dass ich mich langsam weiter über seine Brustmuskulatur küsste und etwas nachdrücklicher über seinen Bauch kratzte. Ja, inzwischen kannte ich seinen Körper fast schon besser als meinen eigenen. Ich wusste, wo er empfindlich war, was ihm besonders gefiel und ich genoss es, dass er so deutlich reagierte.

Meine Hände glitten unentwegt weiter über diese warme, weiche Haut, ertasteten und verwöhnten die schön ausgeprägte Muskulatur, während meine Lippen langsam über seine Champagnerrinne tiefer wanderten. Wie sehr ich es liebte, seinen Körper auf diese Weise zu erkunden.

„Was hast du vor?“, fragte er leise.

„Dich wachmachen, Süßer.“ Langsam und sinnlich küsste ich mich weiter bis zu seinem Bauchnabel, ließ neckend meine Zunge hineingleiten. Als Reaktion darauf drückte er keuchend den Rücken durch, streckte sich mir entgegen. Er war an dieser Stelle so wunderbar empfindlich.

„Interessante Methode.“, hauchte er. Seine Stimme war schon ein bisschen dunkler geworden. Das wurde sie immer, wenn er erregt war.

„Scheint doch zu funktionieren.“ Er erschauerte wohlig, als mein warmer Atem über seinen Bauch streifte. Darüber konnte ich nur lächeln. Er war ja so empfindlich.

Meine Hände strichen von seinen Seiten weiter zu diesem prachtvollen Hinterteil, krallten sich in die festen Rundungen, um ihn zu fixieren, während ich weiter seinen Bauchnabel verwöhnte.

Dass er meine Berührungen inzwischen so bedenkenlos genießen konnte und ich überhaupt den Mut hatte, ihm auf so intime Weise nah zu sein, war für uns beide harte Arbeit gewesen.

Wir hatten uns nur langsam, Schritt für Schritt einander angenähert. Auch wenn ich seine Berührungen von Anfang an angenehm fand, dauerte es fast drei Monate, bis wir dazu übergingen, uns wirklich gegenseitig in sexueller Hinsicht zu erkunden, herauszufinden, was dem anderen gefiel. Es war abenteuerlich und das erste gemeinsame Mal für uns beide unglaublich aufregend.

Ich erinnerte mich immer noch daran, wie nervös wir waren. Wir hatten uns zuvor genau besprochen, wie weit wir bereit wären zu gehen, wie wir vorgehen und wo wir die Grenze ziehen wollten. Aber dieses ganze Theoretisieren im Vorfeld hatte uns nichts von der Nervosität genommen, als es schließlich so weit war.

Lange Zeit hatten wir nebeneinander gelegen, uns geküsst und gestreichelt, waren nur langsam weitergegangen, damit sich keiner von uns unwohl fühlte. Im Nachhinein hatten wir uns dabei wahrscheinlich wirklich umständlich und ungeschickt angestellt, aber immerhin war es ein Erfolg.

Danach war es so, als hätten wir ein riesiges Hindernis eingerissen. Endlich stand nichts mehr zwischen uns. Und noch besser: überraschenderweise stellte sich heraus, dass wir in sexueller Hinsicht wirklich wahnsinnig gut harmonierten. Sogar so gut, dass wir es die ersten Wochen danach kaum noch schafften, das Bett zu verlassen.

Natürlich war es mit einem Mann ganz anders als mit einer Frau. Mit Seto empfand ich es auch als wesentlich aufregender und erfüllender. Er war wirklich ein bisschen dominant und fordernd, aber er liebte wahnsinnig intensiv und einnehmend. Das hatte schon einen gewissen Suchtfaktor. Noch besser, er hatte Feuer im Blut.

Schon bei unseren Streitereien hatte er ja oft genug gezeigt, wie hitzig und temperamentvoll er werden konnte. Obwohl ich mir auch heute noch regelmäßig die Zähne an seiner elenden Sturheit ausbiss, bewunderte ich dieses Feuer, mit dem er dabei seine Meinung verfocht, selbst wenn er völlig falsch lag.

Wir beide konnten viel Energie auf sinnlose Streitereien verschwenden, aber im Bett schaffte er es, alle Empfindungen, alle Kraft in pure Leidenschaft umzuwandeln und mich einfach mitzureißen.

Zielsicher suchten sich meine Finger einen Weg unter seine Shorts, zogen leicht daran, während meine Lippen weiter über seinen Bauch bis zum Bund glitten. Er streckte sich mir erwartungsfreudig entgegen. Doch gerade, als ich den Stoff nach unten ziehen wollte, knurrte mich sein Magen so laut an, dass ich zurückschreckte.

„Zumindest dein Hunger scheint geweckt zu sein.“, meinte ich lachend, als er mich ein wenig verlegen ansah.

„Das könnte man doppeldeutig auslegen.“, murmelte er.

Ich sah ihm sehr deutlich an, was er meinte. Trotzdem ließ ich erst mal von seinem Po ab und beugte mich stattdessen vor, um ihn auf die Lippen zu küssen. „Vielleicht sollten wir uns erst mal um den einen Hunger kümmern, bevor wir den anderen stillen.“, wisperte ich verführerisch.

Schnaufend setzte er sich auf. „Zumindest bin ich jetzt wach.“

„Ziel erreicht würde ich sagen.“ Ich grinste frech, als er mich schief ansah.

Ehe ich überhaupt wusste, wie mir geschah, packte er mich an der Hüfte und zog mich besitzergreifend auf seinen Schoß. Nicht nur, dass ich ihn jetzt erregend nah spürte, sein sinnlicher Blick brannte mir auch noch das Gehirn weg. Seine blauen Augen konnten wirklich unglaublich intensiv leuchten. Gegen diesen wunderschönen Glanz kam einfach nichts an.

Sein Arm hielt meine Taille umfasst, während seine Hand wohltuend über mein Schlüsselbein und meine Brust strich. Selbst solch leichte Berührungen fühlten sich bei ihm schon wahnsinnig gut an. „Ich denke, ich ziehe dich erst mal dem Rührei vor.“, schnurrte er in diesem betörend sonoren Bass, der mir jedes Mal die Knie weich werden ließ und ein Prickeln durch meine Lenden jagte.

„Welch Ehre für mich.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als er mir für die kleine Neckerei flüchtig in die Unterlippe bis, ehe er mich ganz weich und gleichzeitig so fordernd küsste.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, im nächsten Kapitel kommt die erste Erfindung ins Spiel. Seid gespannt ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, im nächsten Kapi erfahrt ihr, warum Seto Joey denn überhaupt duldet ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hat er Joey durchschaut, hat er nicht? Na mal schauen ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh, zwischen den beiden ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, keine Sorge ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, und was es mit Lauren auf sich hat, erfahrt ihr im nächsten Kappi ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein sehr ereignisreiches Kapitel. Finden Joey und Seto jetzt endlich zueinander oder haben Siri und Lauren da doch noch ein Wörtchen mitzureden? Wer weiß? ^^

Auch wenns jetzt in die heiße Phase geht, muss ich euch leider auf die Folter spannen. Die nächsten drei Wochen bin ich im Urlaub und solange wird nichts Neues folgen. Aber danach lade ich so schnell wie möglich das nächste Kapitel hoch. Versprochen ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, die Entscheidung rückt näher. Im nächsten Kappi bahnt sich endlich der große Höhepunkt an. Seid gespannt. ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, endlich haben die beiden zueinander gefunden. Ob die Beziehung eine Chance hat oder nicht erfahrt ihr im Epilog.

Ich bin am Überlegen, eine Fortsetzung der Geschichte zu schreiben. Schreibt, was ihr davon haltet und ob Interesse besteht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Endlich fertig^^
Zum Ende gab es doch mal einen kurzen Einblick, wie Seto die Beziehung sieht.
Ich habe mich absichtlich nur auf das Verhältnis der beiden zueinander beschränkt. Wie öffentlichkeits- und alltagstauglich die Beziehung ist, könnte man immer noch in einer Fortsetzung erläutern. Ich denke, nach dem vielen Zuspruch werde ich eine schreiben. Seid gespannt. ;)

Vielen Dank an alle, die sich für die Geschichte begeistern konnten und guten Rutsch ins neue Jahr^^ Komplett anzeigen

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Von:  kurai_hana
2019-02-02T20:25:44+00:00 02.02.2019 21:25
Ich weiß gar nicht recht was ich schreiben soll, aber ich muss einfach nen kommi da lassen!!!

Zunächst einmal möchte ich die meine bewunderung und respekt aussprechen. So eine schöne story habe ich lange nicht lesen dürfen. ^_^

Wo fange ich bloß an? Ich werf dir meine gedanken mal völlig unsortiert an den kopf, aber das ist einfach nur ein großes Kompliment, da mich deine Geschichte so beschäftigt!!! ;)

Also zunächst finde ich die Entwicklung von joey wirklich schön, ich weiß nicht, ob es beabsichtigt war oder vielleicht einige zeit vergangen ist als du die story geschrieben hast, aber ich finde es sehr bezeichnend, dass man seine Entwicklung auch in seiner Gedankenwelt sieht, vor allem durch deinen schreibstil, die gedanken werden reifer und wachsen mit ihm. Man konnte seine Entwicklung durch die Ich-Perspektive eh gut mit er- und durchleben!!! Was hab ich mit ihm gelitten, war aufgeregt und nervös! Manchmal war es schon fast fremd schämen als ich befüchtet habe, dass er so und so in einer Situation reagieren wird und du hast mich so herrlich überrascht! Ich fand es sehr angenehm, dass er micht nur als dummes blondchen auftreten durfte, sondern eine tolle ind liebenswerte Persönlichkeit bekam! Aber kleiner fun-fact am rande, als seto sein äußeres kritisiert hat, haben mich die dreckigen Fingernägel nicht losgelassen XDDDD immer wieder in der weiteren story musste ich an sie denken und war echt erleichtert als er sich endlich um sein äußeres gekümmert hat XP

Ich fand Joey auch unglaublich mutig sich seto immer so entgegen zu stellen und immer wieder zu ihm zu gehen, obwohl er gar nicht wusste, ob er überhaupt erwünscht ist! Ich hätte wahrscheinlich nicht so ein Durchhaltevermögen, aber zu joey passt es einfach! So ist unser kleiner Wirbelwind! Und so lieben wir ihn <3

Ich finde, dass du beide charakter gut getroffen hast und es sich tatsächlich so zwischen den beiden entwickelt könnte. Für mich war es realistisch und es hat die gefühle um so intensiver gemacht!

Auch seto fand ich sehr gut umgesetzt, seine verschiedenen Eigenschaften waren wirklich interessant und ich fand es sehr schön im epilog einen einblick in seine gefühlswelt zu bekommen, obwohl ich schon fast damit gerechnet hab ;)
Ich fand es auch echt süß, dass er alles was joey gesagt oder gemacht hat analysiert hat XP

Das einzige was für mich nicht ganz gepasst hat, ist das seto im vorletzten kapi schon fast zu weich wurde, natürlich ist schön, dass er seine verletzliche seite joey zeigen konnte, aber er ist für mich trotz allem der dominatere typ von beiden und deswegen war es für mich schon fast zu weich, aber in der situation war es trotzdem angebracht, da er bei dem thema die größten Unsicherheiten hat!

Du hast wirklich spannende Charaktere gezeichnet und mich völlig in ihre welt gezogen!!!
Also chapeau! ;)

Wie du hoffentlich merkst, bin ich total in deine story verliebt *_*
Ich konnte meine gedanken zwar bei weitem nicht alle zu Papier bringen, aber ich hoffe, ich konnte dir meine gefühle übermitteln!!!

Bis hoffentlich bald mal wieder :-*
Von:  Monkey-Li
2015-10-30T21:28:39+00:00 30.10.2015 22:28
Juhu, ich hätte nicht gedacht das mich eine deutsche FF so begeistern könnte. Ich hatte vorher eine kürzere Story von dir gelesen und befunden das man sich jetzt an die längeren wagen kann. Ich kann nur sagen es hat sich gelohnt. Ich liebe deine Story. Und das wo ich es gar nicht mag wenn die beiden schon mit wem anders zusammen waren und die Personen auch noch eingebracht wurden. Sehr überzeugend, realistisch und ein wunderschönes Happy end, ich bin glücklich ^^
Von:  yokiko86
2015-03-04T18:23:58+00:00 04.03.2015 19:23
Hallo,
Ich habe die FF sobald ich sie angefangen hatte sofort verschlungen.
Sie hat mir sehr gefallen, man konnte sich gut in die Protagonisten hineinversetzen.
Ich wollte dir nur kurz ein Feedbeck hinterlassen.

Liebe Grüße yokiko
Von:  giraffe_of_evil
2015-03-01T15:50:45+00:00 01.03.2015 16:50
Das ist doch wirklich richtig erfrischend zu lesen! Man kann wirklich kaum aufhören^^ Die beiden sind wirklich unglaublich knuffig! Sehr sehr schöne FF!

LG
Von:  losichou93
2015-01-03T14:50:30+00:00 03.01.2015 15:50
Wow die beiden sind echt super süß zusammen. Ich liebe dieses happy end^^
Du hast so einen tollen schreibstil und die Geschichte ist bon vorn bis hinten traumhaft schön. Ich hab von Anfang an mit joey gefiebert. Zum Glück ist das alles so toll für beide ausgegangen.
jetzt hab ich nur ein bisschen Angst dass eine Fortsetzung das wieder kaputt macht. Aber du machst das sicher super. Hoffentlich kann ich bald was Neues von dir lesen. Bin jetzt schon ein riesen fan
Von:  Onlyknow3
2014-12-30T17:17:32+00:00 30.12.2014 18:17
Das ist wiklich super wie Seto sich in dem Jahr mit Joey entwickelt hat, vom Eremiten zum Kuschelmonster das ist einfach Krass. Gefällt mir aber sehr gut das er es aus seiner Sicht auch zu gibt wie wohl er sich mit Joey fühlt, wie sehr er ihn doch vermisst wenn er mal eine Woche weg ist. Doch das beste ist noch immer das er sich von Joey motiviert fühlt nach allem was hinter ihm liegt, auch wie Lauren und Mokuba auf seine Visionen reagiert haben. Mach weiter so, freue mich auch auf die Fortsetzung. Wünsche dir einen guten Rutsch ins neue Jahr.

LG
Onlyknow3
Von:  Roxi_13
2014-12-30T11:37:01+00:00 30.12.2014 12:37
Oh ich würde mich so darüber freuen wenn es eine Fortsetzung geben würde
Das Kapitel an sich fand ich Klasse
Vor allem das man auch mal setos Sicht erfährt fand ich Klasse

Mach weiter so

LG
Roxi_13
Von:  JK_Kaiba
2014-12-30T09:41:15+00:00 30.12.2014 10:41
Wirklich ein super schöner Epilog.
Fand es auch toll das du den Anfang aus Setos Sicht geschrieben hast, weil die kommt ja oft zu kurz bzw. man kriegt nur selten Einsicht in seine Gedanken.
Super schönes Ende. Man merkt richtig wie die beiden zusammen harmonisieren und wie glücklich sie miteinander sind.

Einfach perfektes Ende für eine super tolle FF.

Und ich freue mich schon riesig falls du eine Fortsetzung schreibst oder generell noch mehr FFs zu den beiden, weil wie gesagt ich liebe deinen Schreibstil einfach.

Wünsch dir einen guten Rutsch ins neue Jahr.

LG
Von:  Lunata79
2014-12-30T08:21:47+00:00 30.12.2014 09:21
Hach. *schmacht*
Ein wirklich schönes Ende. Auch der erste Teil, der aus Setos Sichtweise beschrieben ist, finde ich eine tolle Idee. Ist mal eine angenehme Abwechslung. Auch wenn ich erst später begriffen habe, dass es Seto´s Sichtweise ist. *verlegen grins*
Bin dann mal gespannt auf die Fortsetzung.

Lg
Lunata79
Von:  Kemet
2014-12-30T01:46:23+00:00 30.12.2014 02:46
Sehr, sehr schönes Ende. Man kann aus jedem Wort den puren Fluff heraus lesen. Gleichzeitig aber erscheint es mir in dem Moment fast zu perfekt. Wo ist der Haken?
Deine Zusammenfassung ist gelungen und ich freue mich auf die Fortsetzung. :)

Guten Rutsch!

LG


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