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Yuki-Otoko

Tödlicher Schneesturm
von

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Eisige Nacht

Gemeinsam saßen sie an dem langen hölzernen Tisch, jeder einen leergegessenen Teller vor sich stehend. Der Raum war zwar klein, bot jedoch genug Platz für alle vierzehn Schüler und ihre beiden Lehrer. Es war gemütlich warm im Wohnzimmer, während sich draußen langsam aber stetig der Schnee anhäufte. Eine gute Sache, wenn man bedachte, dass sie am nächsten Tag ihren Skikurs beginnen wollten. Am liebsten hätten sich jetzt schon einige den Hang hinuntergestürzt, doch aufgrund von Glatteis auf dem Hinweg waren sie zwei Stunden später angekommen als geplant. Bei ihrer Ankunft hatte es schon zu dämmern begonnen und als man die Schüler vor die Wahl stellte, entweder Abendessen oder Skikurs, entschloss man sich einstimmig für die warme Mahlzeit.

„Also dann!“, rief ihr Lehrer laut aus, nachdem er sich von seinem Stuhl erhoben hatte, „Für heute Abend ist ein Spielabend geplant.“ Der Skikurs stöhnte laut auf, einige starrten verdutzt nach vorn. „Ein Spielabend? Wollen Sie uns verarschen?“, beschwerte sich ein Schüler, „Wir sind doch keine Kinder mehr!“

„Ich habe mir gedacht, dass das kommt.“ Herr Suzuki grinste breit und ging langsam auf den Schüler zu, bis er direkt hinter ihm stand und ihm kräftig durch die Haare wuschelte. Damit war ihm nicht nur die Beschwerde vergangen, sondern auch die Frisur. „Glaubt ihr etwa ernsthaft, wir würden Memory und Fang den Hut spielen? Elf der hier anwesenden Personen sind Männer, also wird gepokert und Skat gespielt!“ Man konnte deutlich hören, wie die Erleichterung durch die Reihen ging – nicht nur bei den Jungen. Und so begann die Menge damit, den Tisch abzuräumen und fertig zu machen, während der Lehrer zwei der eher untätigeren Schüler aufsuchte. „Teramichi, Nishikaze! Ihr beiden seid für heute zum Holzsammeln eingetragen. Entspricht zwar nicht mehr dem heutigen Standart, aber hier in den Bergen werden immer noch Traditionen bewahrt. Also los, ab mit euch! Wir wollen heute Abend noch den Kamin anschmeißen!“

Seufzend erhoben sich die Beiden von ihren Stühlen. „Warum wir?“, maulte einer von ihnen, als sie elendig langsam auf die Tür zu schleiften. Widerwillig zogen sie die dicken Jacken über, bevor sie in die klirrende Kälte aufbrachen. Ein sternenklarer Himmel erstreckte sich über ihnen, allein der Mond erhellte den weißen Weg vor ihnen. Trotz des fallenden Schnees war ihnen nicht allzu kalt; jedenfalls nicht kälter, als einem bei zehn Zentimeter hohem Schnee nun mal ist. Umso quälender war die Tatsache, dass es bis zum Wald noch ein gutes Stückchen zu laufen war.

Nebeneinander stapften die beiden besten Freunde durch den Schnee und erreichten nach kürzester Zeit die ersten Bäume. Auf dem Boden lagen bereits einige Hölzer, doch waren diese nicht groß genug, um den Rückwert wert zu sein. Sie gingen ein wenig tiefer in den Wald voller schneebedeckter Tannen, wanderten jedoch immer auf einem unsichtbaren geraden Pfad, sodass sie auf ihrem Rückweg theoretisch nur hätten rückwärts laufen müssen. Theoretisch. In der Praxis sah das Ganze nur leider etwas anders aus.

Nishikaze war auf die grandiose Idee gekommen, den Wald doch etwas zu erkunden, sobald er ein kleines Bächlein entdeckt hatte, dessen Wasser zu im Mondlicht glitzernden Eis erstarrt war. Nur dem Lauf des Baches ein wenig folgen, hatte er gemeint, und anschließend den Weg wieder zurück gehen. Dummerweise glich die Stelle am zugefrorenen Bach, die sie sich gemerkt hatte, dem restlichen Verlauf wie ein Ei dem anderen und der Schnee hatte mittlerweile ihre Spuren in eine gleichmäßige Schneeebene verwandelt, sodass Teramichi nach einer Weile verbittert feststellte, dass sie sich verlaufen haben mussten.

„Ach, wir finden den Weg schon wieder raus!“, versuchte sein Freund ihn zu beruhigen, was jedoch nicht die volle Wirkung erzielte.

„Was, wenn nicht?“

„Auch kein Problem, ich hab doch mein Handy mit.“

In Gedanken schüttelte Teramichi bereits den Kopf, wo doch allgemein bekannt war, dass einem diese kleinen, elektronischen Geräte in den Bergen nicht unbedingt von Nutzen waren. Erstaunlicherweise war es jedoch nicht wie vermutet die Suche nach dem Netz, welches sie vom Telefonieren abhielt. Stattdessen begann das lauthals piepende Symbol des Akkus aufzublinken, das kurz darauf verstummte und so bald auch kein Ton mehr von sich geben würde. „Das soll wohl ein Witz sein“, meinte Nishikaze fassungslos. Er fing an, das Handy auf und ab zu schütteln, als könnte dies noch irgendeine Wirkung erzielen, doch mit der Bewegung verschwand auch der letzte Funke Hoffnung, das Handy wieder in Gang zu setzen.

„Tja, so viel zu übers Handy Hilfe rufen. Und was jetzt?“

„Keine Ahnung.“

„Das hilft uns nicht weiter.“

Hoffnungslos ließ sich Nishikaze auf einen kalten Stein plumpsen, nachdem er die verhältnismäßig dünne Schneeschicht abgewischt hatte. Er hielt den Kopf gesenkt, als Teramichi sich neben ihn setzte.

Das Wetter erschien nicht gerade so, als ob es sich demnächst bessern würde. Im Gegenteil. Der Wind blies mit der Zeit immer stärker und die Schneekristalle, die auf sie hinunter fielen, wuchsen stetig an. Unverkennbar, dass ein Schneesturm im Anmarsch war. Zudem fingen beide langsam an, am ganzen Körper zu zittern, sodass die Vorstellung, sich im Wald verlaufen zu haben und möglicherweise dort die Nacht verbringen zu müssen, noch unerträglicher erschien. Dort hockten sie nun nebeneinander, unschlüssig darüber, was zu tun war. Irgendwann konnte Teramichi die Stille einfach nicht mehr ertragen und sprang mit einem Satz auf. „Rumsitzen bringt auch nichts! Lass uns wenigstens versuchen wieder zurück zu kommen.“

Ohne auf die Antwort seines Kumpans zu warten, zog er ihn an der Hand hoch und bahnte sich seinen Weg durch die Schneeschicht. Eine sinnlose Aktion, wie es schien. Umso überraschter waren die beiden allerdings, als sie inmitten des Sturms eine kleine Hütte entdeckten. Nicht ihre Skihütte, die sie mit dem Kurs zusammen gemietet hatten, sondern eine kleinere, hinter deren Fenster ewige Dunkelheit herrschte. Vorsichtig ging Teramichi weiter darauf zu, als könnte im nächsten Moment ein schreckliches Monster um die Ecke springen und ihn verschlingen. Selbstverständlich geschah nichts dergleichen. Das einzige Geräusch, das sich neben dem Getöse des Windes den Weg durch die vielen Nadeln der Bäume bahnte, war das zaghafte Klopfen und ein leises „Hallo?“ von Teramichi. Nachdem selbst nach dem zweiten Anklopfen keine Antwort kam, drückte er die Türklinke herunter und stellte erstaunt fest, dass nicht einmal abgeschlossen war. Andererseits gar nicht so verwunderlich, denn wer würde schon in ein Haus mitten im Wald einbrechen wollen, zu dem man kaum den Weg fand?

Zusammen mit einer unverständlich gemurmelten Entschuldigung betrat er das Haus, dicht gefolgt von Nishikaze. Drinnen war es so still und dunkel, wie sie es schon erahnt hatten. Man konnte lediglich schemenhafte Umrisse der sich im Raum befindenden Möbel erahnen, doch in dieser Holzhütte nach einem Lichtschalter zu suchen entsprach der Hoffnung, im Gartenspringbrunnen auf Gold zu stoßen. Glücklicherweise hatten sie nicht vor, großartig auf einen freundlichen Gastgeber zu hoffen, sondern setzten sich zusammen auf den harten Boden in der Mitte des Raumes, soweit sie es beurteilen konnten. Von irgendwoher hatte Nishikaze zwei Wolldecken hervorgeholt, in welche sie sich frierend einhüllten.

Die Zeit schritt voran und schließlich vernahm Teramichi einen leisen Schnarcher aus der Richtung seines Freundes. Er selbst hingegen lag wach und starrte Löcher in die Dunkelheit. Sie machte ihm zu schaffen, die Finsternis, sie engte ihn ein und schien ihn beinahe zu erdrücken. Die Tatsache, dass draußen der Schneesturm laut vor sich hinheulte, schien im Gegensatz dazu beinahe nebensächlich. Der Wind peitschte gegen die Tür, übertönte zeitweilig Nishikazes Geräusche, sodass es sich anfühlte, als wäre Teramichi allein in dieser Hütte zu dieser nächtlichen Zeit.

Mit einem Mal fing die Erde unter ihm an zu zittern und mit einem lauten Knall, als würde das ganze Haus in sich zusammenbrechen, schlug die Tür auf und der eisige Wind kroch bis unter Teramichis Decke. Starr vor Schreck beobachtete er, wie eine Gestalt eintrat. Die Tür schloss sich mit einem Ruck, so plötzlich, wie sie aufgegangen war. Im spärlichen Licht, das seinen Weg auf wundersame Art ins Zimmer fand, konnte er gerade eben einen zierlichen Jungen erkennen mit weißen Haaren und ebenso weißem Gewand. Seine Haut war blass, als ob er zu lange im Schnee gelegen und teilweise dessen Farbe angenommen hätte.

Gerade wollte Teramichi sich aufrichten und sich dafür entschuldigen, dass die beiden Freunde einfach in das Haus eingedrungen waren, als er etwas Helles unter dem Ärmel des Unbekannten aufblitzen sah. Glänzendes Metall. Ein Dolch. Er schluckte, als der Fremde einen Schritt in ihre Richtung tat. Noch einen. Noch einen. Erst, als er direkt neben ihnen stand, blieb er stehen, beugte sich zu Nishikaze herunter. Teramichi hatte er den Rücken zugewandt, als er mit geschickten Handbewegungen die Klinge hervorholte.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann war es vorbei. Von Nishikaze war kein Laut mehr zu hören, stattdessen mischte sich eine unheimliche Stille zu dem gleichzeitig tobenden Sturm. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Teramichi neben sich, eine Gänsehaut machte sich auf seinem gesamten Körper breit. Schlagartig war ihm eisig kalt. Er fror, obwohl von der Kälte von draußen kaum etwas zu spüren war. Eine Träne stieg ihm ins Auge, während er zusah, wie sich der Junge langsam zu ihm umdrehte. Mit eiskaltem Blick schaute er auf ihn herab, das Messer immer noch in der Hand halten. Panik machte sich in Teramichi breit, doch er war unfähig sich zu rühren. Er wusste, dass er jetzt sterben müsste. Wie Nishikaze neben ihm, wenn er nicht floh. Aber er konnte nicht. Es war, als würde eine unsichtbare Hand am Boden festhalten.

Der Junge schaute ihn durchdringend an. Plötzlich durchbrach er die Stille. Er sprach mit einer sanften, aber bestimmten Stimme zu Teramichi, die deutlich machte, wer von ihnen der Überlegende war. „Hat euch niemand vor dieser Gegend gewarnt? Ihr beiden seid in mein Gebiet eingedrungen, was mit dem Tod bestraft wird. Normalerweise, so wie ich es bei deinem Freund getan habe.“ Der Fremde beugte sich auf einmal nah zu Teramichi herunter, bis dieser ihm angsterfüllt in die klaren Augen schauen konnte. „Aber du hast etwas an dir, weshalb ich dich nicht töten werde. Nenn es einen Schutzengel, der dir heute besondere Aufmerksamkeit widmet. Doch wehe dir, wenn du jemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von mir erzählst.“ Mit diesen Worten nahm er wieder Abstand, erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und verschwand so schnell durch die Tür wie er erschienen war.

Augenblicklich herrschte Totenstille. Der Schneesturm war vorübergezogen und ein fahler Lichtstrahl erhellte den Raum. Als er zur Seite schaute, fiel Teramichis Blick auf die blutüberströmte Decke seines Freundes. Ein Gefühl der Übelkeit überkam ihn, bevor ihm die Sinne zu schwinden begannen. Das grauenvolle Bild war das letzte, was er an diesem düsteren Morgen noch sah.

Zeit verrinnt

Es waren nun schon fast sechs Monate seit ihrem Skiausflug vergangen. Teramichi konnte sich zum Leidwesen der Polizei nur noch vage daran erinnern, was in jener Nacht geschah. Lediglich ein paar unbedeutende Einzelheiten hatte er sich merken können – das stellte er fest, als er am darauffolgenden Morgen seinem Tutor von den Geschehnissen hatte berichten sollen. So etwas nannte man wohl schützende Amnesie.

Seufzend setzte er sich auf einen der hinteren Plätze des Klassenzimmers. Er kippelte leicht und lehnte sich, die Arme zunächst streckend, dann hinter dem Kopf verschränkend, zurück. Seit damals hatte sich die ganze Atmosphäre des Seminarfach-Kurses verändert. Sie war beinahe von einem Pol zum anderen umgeschlagen. In den ersten Tagen nach der Rückkehr vom Skiausflug scharrten sich die Leute um ihn – teils aus Neugier, teils aus Mitleid. Beinahe aufdringlich. Aber dieser Zustand der Aufmerksamkeit ließ schon bald nach. Es dauerte nur ein paar Tage und die Traube um ihn herum war ein für alle mal verschwunden. Stattdessen schienen die anderen Teramichi von nun an zu meiden. Sie erwiderten seine Begrüßung beim Betreten des Raumes mit skeptischen Blicken und in den Pausen brachen Gespräche zeitweilig ab, wenn jemand an ihm vorbeilief. Es war nicht gut, aber auch nicht zwingend schlecht. So wurde er wenigstens nicht mit Dingen konfrontiert, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.

Das einzige, das ihn immer wieder von Neuem packte, war die Einsamkeit. Denn dass sein bester Freund längst nicht mehr an seiner Seite weilte, traf ihn jeden Morgen mit einem harten Schlag. Als ob ihm jemand mit geballter Faust eine verpasste. Er wachte morgens schweißgebadet auf, lange Zeit bevor sein Wecker klingelte. Nachdem Träume ihn geplagt hatten, an die er sich im Nachhinein nicht mal annähernd mehr erinnern konnte – nur Verzweiflung und Unverständnis verfolgten ihn bis in die Realität. Er wusste nicht mehr, ob er träumte oder lebte – alles in seinem Alltag kam ihm vor wie ein einziger Albtraum. Infolgedessen kapselte er sich immer mehr von der Gesellschaft ab.

Zwar hatte ihn nicht gerade das beste Schicksal ereilt, jedoch gehörte Teramichi nicht zu der Sorte Mensch, die einfach aufgab. Er würde weiterkämpfen, so wie das letzte halbe Jahr, bist auch er das Leben erhielt, dass er verdiente. Wenn er denn einen bestimmten Weg verdient hatte.

Gerade, als er beschloss, sich dem Kritzeln auf der Rückseite seines Blockes hinzugeben, öffnete sich die Schiebetür und der Lehrer trat mit unerwartet aufrechter Haltung ein – dicht gefolgt von einem Jugendlichen, der trotz seines besonderen Aussehen unauffälliger nicht hätte sein können. Den meisten fiel er anscheinend erst ins Auge, als der Lehrer sich räuspernd hinter das Pult gestellt hatte und die Aufmerksamkeit so nach vorne zog. Seine hellen Augen verbargen sich hinter den weißen Haarsträhnen, die ihm ungleichmäßig ins Gesicht fielen. Man konnte seinen Gesichtsausdruck nicht recht deuten; jedenfalls schien er von der neuen Situation nicht gerade beeindruckt.

„Guten Tag“, begann er, noch bevor der Lehrer das Wort ergreifen konnte, „Mein Name ist Yuuki, geschrieben mit dem Zeichen für Mut. Freut mich euch kennen zu lernen.“ Seine Stimme klang sicher – und kalt. Sein letzter Satz vermittelte nicht das Gefühl, als ob er wirklich willkommen geheißen werden wollte. Vor Teramichi schüttelte sich ein Mitschüler am ganzen Körper, bevor sich sichtbar eine Gänsehaut ausbreitete. Umso schockierter blickte dieser drein, als der Junge in seine Richtung ging. Doch Yuuki ignorierte ihn und platzierte mit einer schwungvollen Bewegung seine Tasche auf dem Tisch in der hinteren Reihe – rechts von Teramichi. Er nahm Platz und tat, als wäre alles wie immer. Die verdutzten Blicke der Schüler richteten sich erst vereinzelt wieder nach vorn, lange nachdem der Lehrer schon mit dem Unterricht begonnen hatte.

Teramichi musterte den Neuen unauffällig von der Seite. Wenn man nach dem Aussehen ginge, mussten sich die Mädchen sich um ihn reißen – nur die Persönlichkeit ließ zu wünschen übrig. Umso geheimnisvoller und interessanter wirkte er auf ihn.

Scheinbar musste er doch länger seinen Nachbarn angestarrt haben als gewollt, denn dieser erwiderte plötzlich seinen Blick. „Und du bist wer?“ Der Klang seiner Stimme und das gelangweilte Kopf-auf-die-Hand-Stützen ließen darauf vermuten, dass er aus reiner Höflichkeit fragte. Was jedoch überhaupt nicht zu seinem Charakter passen wollte, weshalb Teramichi als Grund für seine Nachfrage eher auf pure Neugierde tippte. „Teramichi“, antwortete er darum schnell und wandte sein Gesicht wieder dem Tisch zu. Er starrte angestrengt auf die blitzblanke Oberfläche, als gäbe es nichts anderes als dieses glatte Material mit den vielen Kratzern und Furchen auf der Welt. Yuuki störte sich daran nicht und musterte ihn weiterhin.

„Achso. Freut mich.“ Eigentlich hätte Teramichi gern diese belanglose Unterhaltung aufgegeben, doch aus unerfindlichen Gründen schien sein Gesprächspartner dies nicht zu unterstützen. „Du bist ja nicht besonders beliebt hier im Kurs, oder?“

Überrascht blickte Teramichi hoch. „Woher…?“, begann er, doch auch ohne zu Ende zu sprechen, erhielt er bereits eine Antwort. „Ist ja nicht schwer zu erraten. Als ich rein kam haben alle getuschelt, sich Blicke zugeworfen und mich skeptisch beäugt – nur du saßt still da. Und ausgerechnet der Platz neben dir war auch noch frei.“

Teramichi konnte über diese Kombinationsausgabe nur staunen. Ihm wäre so etwas nicht direkt aufgefallen, wie vermutlich kaum jemandem.

Was ihn jedoch noch mehr beschäftigte, war, wie Yuuki diese Feststellung formuliert hatte. Es klang so, als hätte er sich bemüht, nach außen hin gelassen zu wirken, doch als ob er sich innerlich sehr mit dem Verhalten der Mitschüler beschäftigt hatte. Irgendwie ließ ihn das für einen Moment in einem völlig anderen Licht erscheinen. Als wäre er ein ganz normaler Junge, wie jeder andere hier in diesem Raum, und nicht der neue, geheimnisvolle, der nichts über sich preisgab.

„Sieht so aus als hättest du keine Lust mit mir zu reden“, stellte Yuuki trocken fest. Wieder klang er so gelassen, so desinteressiert, doch in den Worten selbst schwang Enttäuschung mit. „Nein, tut mir Leid“, reagierte Teramichi hastig darauf, „Ich hab nur nachgedacht. Sieht so aus, als tätest du das auch viel.“ Dabei musste er leicht grinsen – und Yuuki erwiderte es.

„Stimmt“, gab er zu, „Aber die meisten Leute merken das nicht. Die sehen nur einen gelangweilten Jungen, der sich für nichts interessiert.“ Volltreffer.

„Manchmal ist das nicht schlecht. Sie lassen dich in Ruhe. Du kannst tun und lassen was du willst, immerhin stört das eh niemanden mehr.“ Während er redete, wusste Teramichi nicht recht, wohin er schauen sollte. Tisch? Yuuki? Tafel? Er konnte sich nicht entscheiden und schloss die Augen. Was dazu führte, dass er den Leichnam Nishikazes wieder vor sich sah. Er schreckte auf, blickte mit glasigem Blick geradeaus und versuchte kurzerhand sich die Gegenwart ins Bewusstsein zu rufen. All das dauerte nur einige wenige Sekunden, die ihm selbst jedoch vorkamen wie eine Ewigkeit.

„Ich hab das von deinem Freund schon gehört. Tut mir Leid.“ Überrascht schaute er Yuuki ins Gesicht. Woher wusste er, dass er gerade daran gedacht hatte? „Passt schon. Ist ja schon ein halbes Jahr her“, meinte er, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Es bedrückte ihn noch immer. Natürlich. Das würde es vermutlich auch den Rest seines Lebens tun. Und Yuuki war die erste Person, die das anscheinend realisierte.

„Wenn du jemanden brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.“

„Danke, ich werd’s mir merken.“

Er musste sich wohl eine neue Meinung von Yuuki bilden. Was er zuvor über dessen Charakter gesagt hatte, nahm er hiermit offiziell zurück. Er war ein netter Kerl, auch wenn er das durch sein Verhalten nicht annähernd zeigte. Vielleicht war das auch besser so. Wenn sich andere Menschen von einem fernhielten, konnte ihre Meinung einen nicht runterziehen – und man blieb, wie man war.

Neuer Anfang

Schweißgebadet wachte Teramichi auf. Ein Blick auf seinen Wecker verriet ihm, dass er um etwa halb vier morgens hellwach in seinem Bett saß. Seufzend schob er die Beine unter der Bettdecke hervor, bis seine nackten Füße die kalten Fliesen berührten. Erschöpft zwang er sich zum Stehen, torkelte leicht zu seinem Schreibtischstuhl und zog sich eine Stoffjacke über. Sobald er aus den Albträumen erwachte, fror er, als hätte er die ganze Nacht draußen im Freien verbracht. Mittlerweile war es ihm zur Gewohnheit geworden, so früh aufzustehen, sich warme Sachen überzuziehen und in der Küche einen heißen Tee zu trinken. Einschlafen konnte er danach sowieso nicht mehr.

Er malte mit dem Löffel einen Kreis in die gefüllte Tasse. Noch einen. Noch einen. Dabei starrte er das Getränk an und beobachtete es dabei, wie es Wellen schlug. Etwas besseres, was er tun könnte, fiel ihm nicht ein, ohne dass er seine Eltern geweckt hätte. Also saß er einfach still da – rührend, schweigend, nachdenkend.

Sein Blick fiel zufällig auf die kleine, leuchtende Uhr auf dem Display seines Handys neben ihm, als dieses plötzlich vibrierte und unter der Uhrzeit ein winziger Briefumschlag aufblinkte. Verwirrt darüber, welcher Idiot ihm zu dieser nachtschlafenden Zeit eine Nachricht schickte, schaute er auf den Absender. Unbekannte Nummer. Merkwürdig, zumal ihm eh kaum noch jemand schrieb. Neugierig öffnete er die Mail und las sich den kurzen Text durch.

Hey, wie geht’s? Noch wach?

Kann nicht schlafen…

Yuuki

Kaum hatte Teramichi zu Ende gelesen, warf sich ihm schon eine Frage auf. Woher zum Teufel hatte dieser Kerl seine Adresse?! Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er sich ein halbes Jahr zuvor noch gut mit jedem aus der gesamten Schule verstanden hatte. Für einen Neuankömmling, wem gegenüber anfangs jeder noch sehr großzügig war, wäre es sicherlich kein Problem, irgendeine Person nach seinen Kontaktdaten zu fragen. Nur die wenigsten hätten ihm darüber keine Auskunft geben können.

Einen Moment lang saß er schweigend vor dem leuchtenden Bildschirm, ehe sich der Stand-by-Modus einschaltete und er mit einem Mal wieder in beinahe völligem Dunkeln saß. Lediglich die kleine Salzkristalllampe auf dem Fenstersims, deren einprägsamen Geschmack jedes Kind mindestens einmal probiert hatte, erhellte den Raum in einem einhüllenden, orangen Farbton. Dann aktivierte er sein Handy erneut, tippte hastig seine Antwort, bevor er es sich anders überlegen konnte, und legte es wieder beiseite. Gerade ein Mal hatte er den Löffel wieder im Kreis gedreht, als auch schon die Antwort kam.

Cool, ich hatte nicht wirklich gedacht, dass du wach bist.

Kann ich bei dir vorbeikommen? Mir ist langweilig.

Seufzend legte Teramichi sein Handy auf den Tisch und nahm einen Schluck aus der Tasse. Er stellte sie wieder vor sich auf den Tisch, dann begann er die gleiche Prozedur ein weiteres Mal. Es war einfach zu unwirklich. Wurde er da tatsächlich jetzt gerade, um kurz vor vier Uhr morgens, gefragt, ob er Lust auf ein Treffen hatte? Kopfschüttelnd tippte er die vier Buchstaben seiner knappen Antwort ein, drückte ohne Nachzudenken auf Absenden. Irgendwie musste er über seine eigene Reaktion lachen. Das war auch zu absurd. Vielleicht war es ein Traum?

Klar.

Das Handy gab ein drittes Lebenszeichen an diesem Tag von sich, als die vorerst letzte Nachricht in Teramichis Posteingang eintraf.

Ich bin gleich bei dir.
 

Die leere Tasse aus Porzellan, deren Oberfläche mit feinen, dunklen Blumenranken und atemberaubenden, weißen und hellblauen Blüten besät war, stand immer noch vor Teramichi auf der Tischfläche, als es an der Tür klopfte. Dieser stand sofort auf, ließ die Tasse unbeachtet an derselben Stelle zurück und öffnete die Tür einen Spalt weit. Als er dahinter wie erwartet Yuuki erblickte, zog er sie weiter auf, bis das Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne einen rechteckigen Fleck durch die nun weit geöffnete Tür warf.

„Hallo“, begrüßte Yuuki sein Gegenüber fröhlich. Seine weiß-graue Jacke hatte er dicht um seinen Körper geschlungen. Sie hatte kurvenartige Linien aufgedruckt, bestehend aus vielen einzelnen Punkten, und entsprach vollkommen der Ungewöhnlichkeit Yuukis. Dies störte ihn aber nicht im Geringsten. Er trug, was er wollte – seine einzigen Kriterien beim Kauf waren gemütlich, im Sommer kühl und im Winter warm. Folglich basierte die Auswahl mehr auf dem Zufallsprinzip als alles andere.

Mittlerweile wurde es wieder kälter, der Sommer mit seiner Hitze war vorüber. Trotzdem bestand Yuuki auch nach etwas länger andauernder Diskussion darauf, nach draußen zu gehen. Er wolle nicht mehr Leute um sich herum haben als nötig, womit er offenbar auf Teramichis schlafende Eltern anspielte. Teramichi war es nur recht, denn er befürchtete, seine Mutter aus ihrem leichten Schlaf zu wecken, falls sie sich unterhielten.

„Und was ist mit deinen Eltern? Willst du die auch nicht um dich herum haben? Ich meine, die sind doch auch immer da. Oder nicht?“, merkte Teramichi an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Familie umzog und die Eltern das Kind möglichst schnell dem eigenen Schicksal überlassen wollten. Später schon, aber gleich zu Anfang in einer fremden Stadt?

„Na ja, nicht wirklich“, gab Yuuki zurück, „ich bin allein hierher gezogen. Mein Onkel kommt vielleicht irgendwann nach, aber das ist noch nicht sicher. Zurzeit wohnen er und seine Frau in Übersee. Mal schauen, was die Zukunft so für mich bereithält.“

Während er redete, klang Yuuki total gelassen und ruhig, als ob es ihm rein gar nichts ausmachte, allein zu leben. Beinahe schien es sogar, als lächelte er. „Macht dir das nichts aus?“, hakte Teramichi nach. Doch bekam er zunächst keine Antwort.

Unvermittelt blieb Yuuki stehen. Vor ihnen lag ein kleiner Spielplatz, an dem sich um diese Uhrzeit keine Menschenseele aufhielt. Lediglich eine getigerte Katze hatte sich auf das untere Ende der Rutsche verirrt. Sie maunzte, als sie die beiden Jungen erblickte und verschwand schleunigst im Gebüsch. Bald verstummte das leise Rascheln der Blätter und es herrschte Totenstille um sie herum. Die dämmrige Beleuchtung der Straßenlampe erreichte den hinteren Teil des Spielplatzes nicht, sodass die Schaukeln fast komplett im Dunkeln lagen.

Der weißhaarige Junge ließ sich von der düsteren Atmosphäre nicht beirren und betrat knirschend den Sandweg. Er ließ sich auf die rechte Schaukel fallen und bedeutete Teramichi mit einer geschmeidigen Handbewegung, sich auf die andere zu setzen. Dieser kam der Aufforderung nach und lauschte der Stille, die sich nun mit dem Quietschen der Metallketten mischte. Das Bild, das sich ihm bot, hatte eine merkwürdige Einzigartigkeit. Der verlassene Spielplatz, die langen Schatten der Spielgeräte, die kalte Luft um ihn herum. Die einzige Bewegung kam von den unzähligen kleinen Mücken auf der anderen Straßenseite, welche um das Licht der Laterne tanzten wie Schneeflocken in einer eisigen Brise.

„Weißt du“, unterbrach Teramichi nach langer Überlegung die Stille, „du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du willst. Ich meine, wenn man ganz alleine lebt… Fühlt man sich doch einsam, oder?“ Er wusste nicht, wieso er das in diesem Moment sagte. Er sagte es einfach, es fühlte sich irgendwie richtig an. Eine Antwort erwartete er gar nicht, und doch bekam er eine, wenn auch eine völlig zusammenhangslose.

„Was denkst du über mich?“ Teramichi war verwirrt über die Frage, lachte lautlos darüber und sah Yuuki sprachlos an. Er konnte nicht sagen, sie wären die besten Freunde. In der kurzen Zeit, die sie sich kannten, war das schier undenkbar. Er konnte auch nicht genau sagen, ob sie überhaupt Freunde waren, denn die einzigen Worte, die sie je gewechselt hatten, waren diejenigen zwischen den Unterrichtsstunden. Knapp, unbedeutend, höflich. Was erwartete Yuuki von ihm?

Plötzlich stand Yuuki auf und blickte starr geradeaus, die Hände in den Hosentaschen seiner blassen Jeans. Er blickte zum Nachthimmel empor, der durch die vielen Wolken zum größten Teil verdeckt war, und drehte sich dann langsam zu Teramichi um. Schweigend stellte er sich vor diesen und blickte aus den Augenwinkeln auf ihn herab. „Ich weiß das von dir und Nishikaze.“

Teramichi lächelte unsicher, vielleicht auch ein klein wenig gequält. „Du meinst, dass wir zusammen waren, als er gestor-“

„Nein. Du weißt, wovon ich rede“, unterbrach Yuuki ihn ungerührt.

Sein Gegenüber fühlte sich in die Ecke getrieben. Redete Yuuki tatsächlich darüber…? Unschlüssig versuchte Teramichi seinem Blick auszuweichen, doch es gelang ihm nicht. Die eisblauen Augen zogen ihn geradezu in seinen Bann.

„Ich bin nicht dumm“, erzählte Yuuki weiter, „du schaust mich nicht aus den Augen eines Klassenkameraden an. Du weißt es. Oder willst du es dir selbst nicht eingestehen? Vor allem, weil dein Liebhaber ja tot ist.“

„Sei leise! Was weißt du schon…“ Teramichi kniff die Augen zusammen, seine Finger bebten. Krampfhaft hielt er sich an der Eisenkette der Schaukel fest, sein Blick richtete sich augenblicklich gen Boden. Wie sollte er Yuuki denn jetzt noch begegnen? Wo er doch über sein Verhältnis zu Nishikaze Bescheid wusste.

Yuuki machte einen Schritt auf ihn zu. Dann ging er in die Hocke und schaute ihm von unten in die Augen. Aufrichtigkeit spiegelte sich in den blassen Augen wider, wie sie auch in seinen danach folgenden Worten mitschwang. „Mir macht das nichts aus, Masao.“

Es war das erste Mal, dass Teramichi von ihm beim Vornamen genannt wurde. Er wusste nicht, wie er dieses Verhalten deuten sollte – und trotzdem machte es ihn seltsamerweise etwas glücklich. Er hatte seinen Vornamen schon so lange nicht mehr von jemandem anders als seinen Eltern gehört. Doch warum? Warum jetzt? Warum so plötzlich?

„Im Gegenteil“, fügte Yuuki nach einiger Zeit leise hinzu. Er streckte sich etwas nach oben und legte seine Lippen auf die des Schwarzhaarigen. Obwohl all das an Teramichi vorbeilief wie in Zeitlupe, war er zu überrumpelt, um zu reagieren. Vielleicht wollte er das auch gar nicht. Langsam ließ er die Zeit an sich vorbeifließen. Langsam wie süßer Honig.

Nachdem Yuuki sich wieder von ihm gelöst hatte, verweilte er einen Moment vor seinem Gesicht. Besser als je zuvor konnte Teramichi in die atemberaubenden Augen sehen – den dunklen Ring um die Pupille, das fast schon Weiße drum herum und die vielen Lichtreflexe, die trotz der Dunkelheit darauf lagen. Keine Kälte spiegelte sich wie sonst darin wider, sondern nur dieselbe Ehrlichkeit wie zuvor und unendlich tiefe Wärme.

„Ich möchte mit dir zusammen sein.“

Erinnerungen verblassen

„Passt gut auf dich auf, mein Junge!“, erklärte Teramichis Mutter ihm unter Tränen. Sie umklammerte ihn, wankte in der Umarmung hin und her und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Als sie ihm wieder Luft zum Atmen ließ, legte sie ihre Hände auf seine Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. „Und macht euch eine schöne Zeit, ja?“ Während sie das sagte, warf sie Yuuki einen kurzen Blick zu und zwinkerte ihm bedeutungsvoll zu.

Im Gegensatz zu ihrem Mann wusste sie von der Beziehung zwischen ihrem Sohn und seinem weißhaarigen Freund. Als Teramichi es ihr nervös gestand, hatte sie es zu seiner Überraschung erstaunlich gelassen aufgenommen. Sie lächelte ihn verständnisvoll an und erklärte ihm, dass sie vollkommen hinter den beiden stand und immer für sie da war, falls es Schwierigkeiten gab. Allerdings riet sie ihm auch, die Sache seinem Vater gegenüber vorerst zu verschweigen. Denn zu Teramichis Bestürzen war er in dieser Hinsicht nicht sonderlich gut zu sprechen.

Winkend standen die beiden Jungs nebeneinander, als Teramichis Mutter ihren Koffer auf das Band legte. Sie mussten hinter der Absperrung bleiben – und das taten sie auch, bis der Kopf der liebevollen Frau verschwunden war. Teramichi konnte in der Ferne noch ein kurzes Winken über die Menschenmenge hinweg sehen, dann war seine Mutter endgültig verschwunden. Für das gesamte nächste Jahr. Bis zu den Sommerferien.

Es war keine einfache Entscheidung für die Familie gewesen. Überhaupt war es ihnen in der letzten Zeit nicht leicht gefallen. Teramichis Vater hatte vor längerer Zeit seinen Arbeitsplatz verloren und das Einkommen der drei wurde gleich null. Nach langer Suche war es dem Familienoberhaupt dann doch noch gelungen, eine neue Stelle zu finden – allerdings auf der anderen Seite der Erdkugel. In Deutschland. Weit entfernt. Teramichis Vater war nun schon seit einem Monat dort, hatte das neue Haus eingerichtet und direkt angefangen zu arbeiten. Jetzt kam seine Ehefrau nach; gespannt auf das neue Land und die Erfahrungen, die sie in Übersee machen würde. Der einzige Sohn hatte sich hingegen dazu entschlossen, in Japan zu bleiben. Er wollte dort seinen Abschluss machen und, was für ihn persönlich das Wichtigste war, mit Yuuki zusammenziehen. Dessen ganzen Sachen waren bereits im Haus der zum überwiegenden Teil ausgewanderten Familie verstaut, auch ein Zimmer war ihm zugewiesen worden. Obwohl weder Teramichis Mutter noch das Paar daran glaubten, dass er sich sonderlich oft darin aufhalten würde.

Schweigend machten sie sich auf den Weg vom Flughafen nach Hause. Da keiner von ihnen einen Führerschein besaß, nahmen sie sich ein Taxi mit der Aufschrift „Schnell unterwegs und überall hin“ und machten es sich auf der Rückbank bequem. Erschöpft ließ Teramichi seinen Kopf auf die Schulter seines Freundes sinken. Seufzend schloss er die Augen. Erst in den Sommerferien nächstes Jahr würde er seine Eltern besuchen können. Mit einem Mal auf eigenen Beinen zu stehen fiel ihm alles andere als leicht. Darum war er froh, dass er Yuuki an seiner Seite hatte – obwohl er ja in erster Linie der Grund war, weshalb er überhaupt in seinem Heimatland blieb.

Eigentlich döste er die ganze Fahrt über nur vor sich hin. Doch als er die Augen öffnete, als das Taxi hielt, grinste Yuuki ihn von der Seite an. „Na, endlich wach?“ Stumm nickte er. Er wollte ihm nicht gestehen, dass er nie geschlafen und Yuukis Irrtum praktisch ausgenutzt hatte. Denn während er still auf seiner Schulter lag, spürte er, wie Yuukis Hand sich auf seine legte. Es war ihm zu peinlich zuzugeben, dass er das mitbekommen hatte.

Yuuki übernahm die teuren Fahrtkosten und hielt Teramichi wie ein Gentleman die Autotür auf. Gleichzeitig machte er mit der anderen Hand eine Geste, als ob er anbot, dass Teramichi sich bei ihm einhakte. „Idiot!“, raunte dieser ihm zu und ein leichter Hieb mit dem Ellbogen bewirkte, dass er sich mit der Hand die Seite rieb. Er murmelte ein gespieltes „Aua“ und grinste zufrieden vor sich hin.

Kaum hatte Teramichi die Haustür hinter sich geschlossen, wurde er von hinten umarmt. Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken, als er einen Kuss in seinem Nacken spürte. „Lass das, wir sind gerade erst nach Hause gekommen. Willst du dir nicht lieber dein Zimmer angucken?“

Yuuki ließ ihn widerwillig los. Er folgte ihm die Treppe rauf ins Obergeschoss, wo alle Schlafzimmer lagen. Es war mehr ein großer Raum, dessen Besonderheit, die jeder, der sie das erste Mal sah, auf Anhieb bestaunte, das Geländer aus Glas auf der gesamten linken Seite darstellte. Schaute man hinunter, erstreckten sich der Großteil des Wohnzimmers sowie die offene Küche vor dem Betrachter. Das Esszimmer, ebenfalls Teil des großen Wohnbereichs im Erdgeschoss, lag weiter unter der Galerie, sodass man den Esstisch nicht sehen konnte, egal wie weit man sich über das Geländer beugte.

Teramichi steuerte auf die rechte Tür zu, hinter der sich das neue Zimmer Yuukis befand. Darin stand lediglich ein nicht schmales, aber auch nicht breites Bett, ein Kleiderschrank aus schwerem Eichenholz, ein großer Schreibtisch mit Tischlampe und Schubladen, außerdem ein großer, schwarzer Chefsessel vor diesem. Neben dem einzigen Fenster war eine hohe Glastür eingebaut, die zu einem gemütlichen Balkon führte.

Freudig seufzend schmiss sich Yuuki auf sein neues Bett und klopfte neben sich auf die Matratze. Während er quer auf dem Bett liegend die Arme hinter seinem Kopf verschränkte und die Beine baumeln ließ, setzte sich Teramichi neben ihn. „Ein schönes Zimmer…“, murmelte er, um die Lautlosigkeit zu unterbrechen. Weil Yuuki nichts darauf erwiderte, wandte er seinen Blick dem Fenster zu, hinter dessen Gläsern sich ein frostiger Sturm aufbaute. Es dauerte nicht lang, da wirbelten die ersten Schneeflocken dieses Jahres vor dem Fenster herum.

Unfreiwillig musste Teramichi wieder an die Nacht denken, in der Nishikaze starb. Dabei fiel ihm auf, dass die Häufigkeit der Alb- und Tagträume an damals abgenommen hatte, seit er mit Yuuki zusammen war. Außerdem musste er feststellen, dass er sogar eine lange Zeit gar nicht mehr daran gedacht hatte. Dafür wünschte er sich nun umso mehr, sich an alle Geschehnisse erinnern zu können.

Er wusste noch, dass ein Schneesturm aufkam, nachdem sie sich im Wald verlaufen hatten. Sie fanden eine Hütte, legten sich darin schlafen. Dann kam plötzlich eine Gestalt durch die Tür und… Teramichi lag auf einem Bett, seine Eltern, der Lehrer und ein Polizist neben ihm. Was war bloß geschehen?

„Alles in Ordnung? Du machst so ein angestrengtes Gesicht.“ Yuuki setzte sich besorgt auf, beugte sich nach vorne und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Ein paar Sekunden später erwiderte Teramichi den Blick – und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen vor die Augen.

Wie sie da lagen. Nishikaze schon schlafend, als die Tür aufging und ein weißhaariger Junge in ebenso weißem Gewand eintrat. Er brachte Nishikaze um. Und ließ Teramichi am Leben. Dieser Junge…

Teramichi ließ die Nacht wie einen Film an seinem inneren Auge vorbeilaufen, ehe er geschockt Yuukis Blick erwiderte. Erst, als dieser beruhigend seine Hand auf seine Schulter legte, entspannte er sich etwas. Er sah seinen Freund an, schaute auf die weißen Haare, die ihn in Strähnen ins Gesicht fiel; seine klaren Augen, die ihn anblickten; die helle Haut, deren leichte Bräune nach der Sommersaison fast komplett verblasst war. Während er sich bei seinem Anblick entkrampfte, fiel ihm eine starke Ähnlichkeit zwischen Yuuki und dem Mörder Nishikazes auf.

„Nein, so ein Quatsch…“ Wortlos schüttelte er den Kopf. Sein Mund war zu einem fassungslosen Lachen geformt. Worüber dachte er da überhaupt nach? „Was ist los?“, fragte Yuuki noch besorgter als zuvor. In diesem Moment vergaß Teramichi die Warnung des Mörders, niemanden etwas zu erzählen. Wie sollte dieser je davon erfahren?

„Damals…“ Er machte eine kurze Pause, um sich einen Anfang zurechtzulegen. „Derjenige, der Nishikaze umgebracht hat… Er sieht dir ähnlich, weißt du? Weiße Haare, blaue Augen, blasse Haut. Für einen Augenblick dachte ich, du wärst dieser Typ von damals. Aber seine Augen waren im Gegensatz zu deinen kalt und er hat ohne zu zögern einen Menschen getötet.“

Augenblicklich erstarrte Yuuki. Fassungslos starrte er vor sich hin, als wäre die Zeit stehengeblieben. Er saß einfach nur da; rührte sich nicht. Es vergingen viele Sekunden, ehe er seine Beherrschung wiedererlangte. Es war, als ob er sich eine ausdruckslose Maske aufsetzte. Ohne dass er jegliche Emotionen zeigte, stand er auf und sah auf Teramichi herab. „Ich dachte, du hättest begriffen, dass du nichts davon erzählen darfst.“

Langsam ratterte es in seinem Kopf – und er verstand. „Du… bist es doch“, brachte Teramichi atemlos hervor. „Du hast Nishikaze umgebracht?“

„Weißt du, als ich dich da liegen sah, fühlte ich mich sofort zu dir hingezogen. Ich konnte dich nicht töten, obwohl du in mein Territorium eingedrungen warst. Diese Gegend im Gebirge ist weit dafür bekannt, dass dort Anarchie herrscht. Wer auch immer das Gebiet eines anderen betritt, wird dafür mit dem Tod bestraft. Wir sind Killer. Ausnahmslos. Es war zwar nur Pech, dass ihr das nicht wusstet und zufällig meine Hütte gefunden habt – trotzdem durfte es nicht ungestraft bleiben. Es tut mir Leid. Aber jetzt kann ich nicht länger hier bleiben. Du hast dich an die Nacht erinnert und nicht gezögert, es weiterzuerzählen.“ Plötzlich legte er die Maske der Ausdruckslosigkeit ab und blickte Teramichi traurig an. „Ich werde zurückkehren. Es tut mir Leid.“

„Dann nimm mich mit dir!“, rief Teramichi verzweifelt.

„Nein, ich kann nicht.“

„Wenn du es nicht kannst, tu mir wenigstens einen letzten Gefallen.“ Schweigend stand Teramichi auf und zog einen länglichen Gegenstand aus seiner Hose. „Seit damals trage ich es immer bei mir.“ Eine Träne lief ihm über die Wange, als er Yuuki mit offener Hand das Messer hinhielt. Verdutzt nahm dieser es an, starrte jedoch nur darauf, wie er es in der Hand hielt. „Masao, ich kann dich nicht-“

Sein Herz setzte für einen Moment aus. Zum letzten Mal wurde er von Teramichi umarmt. Zitternd hielt Yuuki ihn fest. Ein letztes Mal. Dann löste sich Teramichi langsam von ihm und stolperte nach hinten. Hätte Yuuki ihn nicht gehalten, wäre er zu Boden gestürzt. In seiner Brust prangte das Messer, das Yuuki gerade noch in der Hand gehalten hatte. „Warum hast du das getan?“, flüsterte Yuuki aufgebracht. Verzweifelt versuchte er die Blutung zu stoppen, aber die rote Flüssigkeit strömte unaufhaltsam weiter aus der offenen Wunde.

„Besser so als ohne dich.“ Teramichi zwang sich zu einem Lächeln. Langsam wurde ihm schwindelig, die Welt drehte sich um ihn herum. Vor sich sah er Yuuki, wie er sich immer weiter verdunkelte. Irgendwann konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten und kippte nach vorne in die Arme seines Freundes. Er roch das angenehme Parfüm und schloss die Augen. Die sanfte Umarmung ließ ihn die Schmerzen vergessen, während er dahinschwand wie in einen ewigen Schlaf.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So~ Das war also das erste Kapitel dieser Geschichte :3
Ich hab mir viel Mühe beim Schreiben gegeben (und mir seeehr viel Zeit gelassen xD), also hoffe ich ihr hattet auch Spaß beim Lesen, dass es das wert war ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wieder mal... sehr viel Zeit gelassen >__>
Bald muss ich die Geschichte schon beendet haben, damit die Teilnahme am Wettbewerb gültig ist o.o Ich werde mich bemühen! Ich glaube fest daran, dass ich das schaffe ^^
Wie immer hoffe ich, dass das Kapitel, mein Schreibstil, die Geschichte und möglichst alles euch gefallen hat. Und wenn ihr darauf jetzt mit einem "Ja!" antwortet, würde ich mich besonders freuen, wenn wir uns beim nächsten Kapitel wiedersehen ^__^ Bis dann! x3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nächstes Kapitel! ^^
Ich muss mich ja beeilen, denn bald endet der Wettbewerb ein für alle mal ;) Allerdings... fahr ich morgen Abend schon in den Urlaub und da werde ich kein Internet haben, um das letzte Kapitel hochzuladen o.o
Aber wir nähern uns ja schon dem Ende.. Ein Kapitel noch, dann haben wir es hinter uns! O__O
Also.. Wir sehen uns beim nächsten Mal, freut euch aufs Finale ^__~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es ist geschafft.... T___T
Ich musste mich ja ziemlich beeilen mit diesem Kapitel, weil ich bald schon wegfahre und erst wiederkomme, wenn der Wettbewerb beendet ist o.o Trotzdem denke ich, es ist mir relativ gut gelungen x3
Hoffentlich gefällt es euch auch so gut wie mir. Traurig zwar, aber schön... nicht wahr? ^^
Und... Mit diesem Kapitel ist die Geschichte abgeschlossen! Behaltet sie in eurer Erinnerung und denkt vielleicht mal daran zurück ;)
Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder...? Ich würde mich freuen :)
Liebe Grüße Riyuri Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Tanuma
2015-01-10T23:48:46+00:00 11.01.2015 00:48
Hallo Riyuri,
Vielen Dank für deine Teilnahme an meinem Schreibwettbewerb – hier mein Feedback :)
Ich hab schon öfter mal von dem Märchen „Yuki-onna“ gehört, aber mich noch nie wirklich damit beschäftigt. Umso interessanter war er also, deine Art von Geschichte zu lesen. War am Anfang richtig geschockt, als das mit Nishikaze passiert ist... und mir tat Teramichi die ganze Zeit über so schrecklich leid :( Ich hab geahnt, dass es böse enden wird, aber trotzdem hat es mich echt glücklich gemacht, als Yuuki und Teramichi dann zusammen gekommen sind. Dann dieses bittersüße Ende T_T Omg, ich weiß gar nicht was ich schreiben soll! Bin wirklich sehr begeistert von deinem schönen Schreibstil und deiner emotionalen Einsendung. Hat mich wie gewollt sehr berührt! <3 Herzlichen Glückwunsch zu deinem Preis :)

MfG
Tanuma
Antwort von:  Riyuri
11.01.2015 22:03
Hallihallo,

Zuerst noch einmal danke für den Preis ^^ Es freut mich, dass ich es unter die Top 5 geschafft hab und das auch noch von so vielen Teilnehmern! Da kann ich mich doch glücklich schätzen :)
Yuki-Onna ist (warum auch immer) eines meiner Lieblingsmärchen. Dabei ist es so traurig! Ich hoffe, ich konnte die Stimmung gut einfangen.
Während des Schreibens wurde ich auch immer trauriger, vor allem dann am Ende.. Ich wusste ja schon, was am Ende des Kapitels passieren würde (;__;) Ein Happy End hätte ich persönlich auch toll gefunden, aber ich wollte mich möglichst nah am Original halten.
So, abschließend noch danke für die tolle Review :3 Es hat mich gefreut, dass du so einen tollen Wettbewerb eröffnet hast. Ich sollte mir mal all die anderen Beiträge durchlesen, dann hab ich wieder Lesestoff ^^ Es würde mich freuen, wieder was von dir zu hören - ob in Form von Wettbewerben oder sonstiger Art :D

Liebe Grüße
Riyuri


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