Zum Inhalt der Seite

Der Sanftmütigen Erbe

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das hier beschrieben Geschehen ist in den Büchern anders, ich weiß. Aber an dieser Stelle habe ich mir erlaubt, zu Gunsten meiner Geschichte die Handlung etwas anzupassen… Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sehnsucht

Dunkelheit und sanfte Stille, Willkommen-Sein, wie sie es schon lange nicht mehr gefühlt hatte.

Nicht mehr, seit er – welcher er?

Sie wusste es nicht mehr. Immer hatte sie es zu verdrängen versucht und jetzt, wo sie wieder daran zurückdenken wollte, gelang es nicht mehr.

Welcher er?

Wie sehr sehnte sie sich danach es noch einmal zu wissen, noch einmal diese Geborgenheit zu spüren, doch da war nur eine entfernte Ahnung, die sie nicht zu fassen vermochte.
 

Man sagte immer, in diesen Momenten würde das Leben an einem vorbeiziehen. Bei ihr fehlte ein Stück, von dem sie sich sicher war, dass es wichtig war. Aber sie konnte es nicht erkennen.

Man sagte immer, in diesen Minuten würde man von tiefem Frieden, von Taubheit erfasst. Sie fühlte nur Schmerz und den Knall der Explosion, der in ihren Ohren wiederhallte, bis in alle Unendlichkeit...
 

Beinahe hätte sie es überhört. Das leise, kaum hörbare Rufen.

„Tochter… komm‘ zu mir…“

Sie kannte diese tiefe, sonore Stimme voller Wärme, das wusste sie, aber sie konnte ihr keinen Namen, kein Gesicht zuordnen. Mühsam versuchte sie sich zu konzentrieren, aber der Schmerz in ihrem Körper machte es ihr unmöglich. Sie wurde immer schwächer, ihre Gedanken begannen zu erlöschen. Das Sehnen nach Ruhe und einem Ende der Pein wurde immer heftiger, immer quälender.

„Tochter… komm‘ zu mir… komm‘ her…“, erklang es wieder, so leise und weit entfernt, dass sie es kaum verstand. Oder bildete sie sich das nur ein? War es doch ganz nah? Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber dazu war sie bereits zu schwach.

Schmerz durchzuckte sie, als sie zu sprechen versuchte, nachfragen wollte, wer da rief. Dabei wusste sie es, tief im Unterbewusstsein, auch wenn sie es nicht zu erreichen vermochte. Das Atmen wurde schwerer und schwerer.

„Tochter, so höre doch! Komm‘ zu mir her…“ Die Stimme war bittend geworden, so kam es ihr wenigstens vor. Aber sie war noch immer so unendlich weit entfernt...
 

Ihre Gedanken flossen aus ihr hinaus, wie aus einem angeschlagenen Krug und ließen Dunkelheit zurück, Taubheit. Das was sie sich bis eben noch herbei gewünscht hatte – bevor der Ruf erklang. Die letzte Kraft war ihr genommen. Sie konnte nicht mehr nachdenken, wer da rief.

Ihre letzte Wahrnehmung war der Schatten eines riesigen Tieres, der auf sie fiel, und ein warmer Hauch, wie ein Atemzug, der ihr Gesicht streifte, dann war da gar nichts mehr…
 

In der Dunkelheit kaum zu erkennen, senkte das Tier den Kopf.

Es stand direkt neben dem leblosen Körper der noch so jungen Frau, deren Leben soeben von einer der letzten Bomben des Krieges beendet worden war. Und doch war es unendlich weit entfernt.

„Es tut mir Leid… Evastochter… ich konnte dich nicht erreichen…“, hauchte das Tier, seine Schnauze berührte kurz ihre erkaltete, von Metallsplittern zerschnittene Wange, dann zog das Wesen sich zurück. „Ich konnte dich nicht erreichen, denn du hast den Glauben an uns verloren. An mich, an ihn und an die Welt, die auch die deine ist…“ Ein Brummeln war zu hören, das wie ein Seufzen klang.

Die Gestalt des Tieres wurde durchsichtig und begann sich zu verflüchtigen.

Als es verschwand hingen zwei Worte wie ein Nachhall seiner Gedanken in der immerwährenden Dunkelheit: Oh, Susan…

"Jetzt bleibt uns nur noch eins zu tun"

Ein Knallen ertönte, als der Fensterflügel von einer Windböe schwungvoll aufgedrückt wurde und gegen den Rahmen krachte. Das Glas klirrte und sprang in Scherben aus seiner Fassung. Jetzt konnte der eisige Winterwind ungehindert ins Zimmer wehen.

Keine der drei anwesenden Gestalten kümmerte sich so recht darum.

Nur die einzige Frau im Raum zog ihren dunklen Mantel fester um die Schultern, ohne ihren Blick von dem Bild zu nehmen, das auf dem einzelnen Tischchen unter dem Fenster stand. Es zeigte das Gesicht einer noch jungen, dunkelhaarigen Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen.

Keiner der drei sagte etwas.

Die nächste Windböe fuhr heulend ins Zimmer und warf das Bild um, sodass es auf der Glasfläche zu liegen kam. Der am Rahmen befestigte Trauerflor wurde aufgeweht und zuckte wie ein lebendiges Wesen.
 

„Jetzt sind es nur noch wir drei. Und diesmal kann ich nichts daran ändern…“, flüsterte die Jüngste der Anwesenden leise und blickte ein wenig hoch. In ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen und die rot geränderten Lider zeigten, dass es nicht die ersten waren, die sie in den letzten Tagen vergossen hatte.

Die beiden Männer hoben nun auch die Köpfe und kurz trafen sich die Blicke der Geschwister.

„Da hast du leider Recht“, sagte der Jüngere der beiden Männer und der übliche Trotz und Spott in seiner Stimme war beim besten Willen nicht auszumachen. Ebenso wie seine Schwester klang er müde und erschöpft.
 

Der Älteste der kleinen Gruppe, als einziger blondhaarig, sah nachdenklich aus dem kaputten Fenster auf die verschneite Landschaft hinaus. Dann drehte er sich ruckartig um und ging zur Tür.

Nach ein paar Schritten blieb er noch einmal stehen. „Jetzt bleibt uns nur noch eins zu tun. Wir müssen auf ihre Kleinen Acht geben“
 

Augenblicklich bohrten sich die Blicke der anderen beiden in seinen Rücken. „Welche Kleinen?“, wollte seine Schwester schließlich wissen.

Er verspannte die Schultern. „Sie hat es euch also nie gesagt?“, fragte er fast tonlos und drehte den Kopf wieder halb zu ihnen hin. So sah er auch das unwillkürliche Kopfschütteln. Er seufzte tief, ehe er sich wieder gänzlich umwandte. „Ihre Kinder“

Die Augen seines Bruders weiteten sich ungläubig. „Sie hatte Familie?“ Damit hatte er sichtlich nicht gerechnet, dabei sprachen sie hier von ihrer aller Schwester.

Der Ältere schüttelte jetzt langsam den Kopf. „Keine Familie. Nur die Kinder“

„Und… der Vater?“, wagte seine Schwester nach einem Moment der Stille einzuwenden. Hinter ihnen klapperte der Fensterrahmen.

Der Älteste der Anwesenden sah wie durch seine Geschwister hindurch. „Kannst du dir das nicht denken, Lucy?“
 

Ein, zwei Herzschläge lang herrschte Stille, dann schlug die Angesprochene erschrocken eine Hand vor den Mund. „Du meinst doch nicht…“, nuschelte sie, obgleich sie in den Augen ihres ältesten Bruders lesen konnte, dass es genau das war.

Auch der Dritte im Bunde hatte jetzt verstanden und er sprach aus, was die anderen beiden nicht wagten: „Caspian…“

„Wir müssen die beiden […] auf alle Fälle von Narnia fernhalten“

„Können Sie beweisen, dass Sie mit Miss Susan Pevensie verwandt waren?“
 

Wortlos legte der Älteste der drei Personen, die in das Vorzimmer des Waisenhauses gekommen waren, ein Bündel Dokumente auf den Tisch. Die Kinderschwester auf der anderen Seite des windschiefen Tisches, der als Empfangstresen diente, blätterte kurz durch die Papierstücke durch, dann erhob sie sich. „Kommen Sie“, forderte sie ihre Besucher auf.

Weiterhin wortlos folgten die drei, nicht ohne die Dokumente im Vorbeigehen wieder einzustecken.
 

Sie wurden durch einen kleinen Raum in einen großen Saal geführt, vorbei an mehreren Reihen Strohsäcken und notdürftig zusammengezimmerter Gitterbetten. Der letzte große Angriff war erst wenige Wochen her.

Lucy schluckte, als sie sich umsah. All diese Kinder hatten ihre Eltern verloren, viele von ihnen waren selbst verletzt, manche für ihr Leben gezeichnet.

Sie konnte einen höchstens sechsjährigen Jungen erkennen, der an einem der Fenster hockte, ungerührt von dem Lärm im Saal. Er strahlte Einsamkeit aus. Die Kinderschwester schien den Blick der Besucherin bemerkt zu haben, denn sie winkte ab. „Bill ist seit über einem halben Jahr hier. Er war nur wenige Meter entfernt, als eine dieser Bomben hochging. Seit dem hört er nichts mehr“ Lucy schwieg dazu, aber der Junge tat ihr Leid – ebenso wie all die anderen Kinder hier.

Am Liebsten hätte sie alle mitgenommen. Ihnen das gegeben, dass den meisten von ihnen wohl verwehrt sein würde: Ein Zuhause. Aber das war unmöglich. Die einzigen, die sie mitnehmen konnten, waren ihr Neffe und ihre Nichte.

Susans Kinder…

Lucy schüttelte innerlich den Kopf. Bis vor wenigen Tagen hatte sie nicht einmal etwas von der Existenz der beiden gewusst.

Vor allem war sie – wie jeder andere auch – der Meinung gewesen, zwischen ihrer jetzt verstorbenen Schwester und Caspian sei es nie zu mehr gekommen als dem verzweifelten Abschiedskuss am Portal.
 

„Da sind die beiden. Seid behutsam mit ihnen, sie sind noch sehr verstört“, riss die leise Stimme der Kinderschwester sie aus ihren Gedanken und sie folgte mit den Augen der Geste der älteren Frau.

In einem der Gitterbetten saßen zwei kleine Kinder, an die fünf Jahre alt und schauten, kaum dass sie zu bemerken schienen, dass ihnen die Aufmerksamkeit aller galt, furchtsam zu ihnen auf. Beide hatten nicht das glatte Haar ihrer Schwester, sondern das wellige, dichte von Caspian.

Für einen Augenblick war Lucy wie erstarrt.

Dafür trat Peter langsam an das Bett heran und kniete sich daneben, um mit den beiden auf Augenhöhe zu sein. „Ich weiß, ihr habt mich nur einmal gesehen, aber erinnert ihr euch? Ich bin Peter, euer Onkel“, sprach er behutsam auf die Kleinkinder ein.

Der Junge blieb weiterhin zurückhaltend, aber das Mädchen streckte etwas die Hand aus. „Pete?“, fragte sie mit glockenheller Stimme.

Peter nickte leicht und griff behutsam nach den Fingerchen der Kleinen, die sich ihm durch die Gitterstäbe entgegen streckten.

Jetzt näherten sich auch Edmund und Lucy.

Sofort zog das kleine Mädchen ihre Finger zurück. „Wer… du?“, fragte sie. Sie schien zu verschüchtert, um einen vernünftigen Satz über die Lippen zu bringen.

Lucy bemühte sich um ein freundliches Lächeln jenseits des Mitleids, das sie empfand. Die Atmosphäre in diesem Saal erdrückte sie fast. „Ich bin Lucy, deine Tante. Und das ist Edmund. Auch ein Onkel“, erklärte sie leise.

Das Mädchen reagierte nicht ganz so zutraulich wie bei Peter, als zu mindestens sah sie jetzt mehr neugierig aus, als skeptisch.
 

Peter sah zu der Kinderschwester auf. „Wir nehmen sie mit uns. Das sind wir unserer Schwester schuldig“, erklärte er und kam wieder auf die Beine.
 

Zwei Stunden später saß die nunmehr fünfköpfige Gruppe im Zug. Lucy und Edmund auf einer Bank, Peter auf der gegenüberliegenden, die beiden Kleinkinder bei sich. Obgleich sie ihn nur ein einziges Mal gesehen hatten, schienen sie ihm bisher am Meisten zu vertrauen.

Lucy lehnte die Schläfe an das Abteilfenster und sah auf die vorbeisausende Landschaft. Peter vermittelte sowieso schnell Vertrauen, auch Wildfremden – und anscheinend auch kleinen Kindern. Er hatte einen gewissen Stolz und eine Ausstrahlung, die einem Geborgenheit gab. Der Prächtige…, dachte sie stumm. Das war sein Beiname gewesen. In einer anderen Welt, die doch ebenso zu ihnen gehörte, wie die, in der sie sich gerade befanden.

Und doch können wir nie wieder zurück… oh, Aslan… ich vermisse dich so… Wehmütig dachte Lucy an den riesigen Löwen, den eigentlichen Herrscher Narnias. Es war gut drei Monate her, dass auch sie und Edmund sich endgültig von Narnia – und von Aslan – hatten verabschieden müssen, aber noch immer fuhr ihr der Schmerz darüber tief ins Herz. Für Peter war noch längere Zeit vergangen.
 

„Lucy? Lucy, hörst du mir zu?“, holte die Stimme ihres älteren Bruders sie aus ihren Erinnerungen.

Mühsam riss Lucy sich los und richtete den Blick auf den Blondhaarigen. „Entschuldige bitte“, bat sie und war sich dabei im Klaren darüber, dass Peter ganz genau wusste, wo ihre Gedanken gewesen waren, auch wenn er kein Wort darüber verlor.

„Es ist so… unsere Aufgabe ist nicht nur, den beiden ein besseres Leben zu geben, als sie es im Waisenhaus je gehabt hätten. Wir haben noch etwas Wichtigeres zu tun“, sagte Peter ernst und sofort hatte er Lucys volle Aufmerksamkeit. Worauf wollte ihr ältester Bruder hinaus? Seine nächsten Worte überraschten sie noch mehr: „Wir müssen die beiden, wenn sie älter sind, auf alle Fälle von Narnia fernhalten“

Lucy zuckte zusammen und auch Edmund schien nicht ganz zu verstehen. „Aber warum? Die beiden sind direkter mit Narnia verbunden, als wir es jemals waren“

Peter versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass beide Kinder schliefen, ehe er knapp sagte: „Eben“ Doch als er merkte, dass seine jüngeren Geschwister ihn nicht ganz verstanden, fuhr er fort: „Ihr habt erzählt, Caspian habe sich neu verliebt, nicht wahr? Sicher wird er dieses Sternenmädchen geheiratet haben. Sie ist nun Königin von Narnia. – Diese beiden hier sind Caspians Kinder. Und sie sind in jedem Falle älter, als ein Kind von Caspian und seiner Gemahlin je sein könnte. Versteht ihr?“

Lucy schloss kurz die Augen, als sie verstand. Peter hatte Recht. Wenn die beiden jemals nach Narnia gelangen sollten, konnte das einige Schwierigkeiten nach sich ziehen. Ihre Blutsverbindung dorthin würde vielleicht nicht einmal vor der Zeitverschiebung halt machen.

„Dann werden sie auch nie erfahren dürfen, wer ihr Vater ist“, mischte sich Edmund ein.

Peter nickte etwas. „Soweit ich weiß, wollte Susan ihnen erzählen, ihr Vater sei nicht mehr am Leben. So sollten wir es auch halten“
 

„Sag‘ mal, Peter, woher wusstest du eigentlich von den beiden?“, wollte Lucy da wissen. Diese Frage brannte ihr schon seit dem Tag von Susans Beerdigung, als Peter ihnen von den Zwillingen erzählt hatte, unter den Nägeln.

Wie so oft, wenn Peter nachdenklich war, schien er mehr durch sie hindurch zu sehen, als dass er sie ansah. „Zufall, Lucy. Sie hat sich nach unserer Rückkehr ja so von uns entfremdet… ich wäre genauso wenig wie du jemals darauf gekommen, dass es diesen Grund hat. Sie ist nie mit in Amerika gewesen. Das hat sie uns weisgemacht – und unseren Eltern hat sie erzählt, sie würde mich zum Professor begleitet.

Naja, ich habe vor einiger Zeit einen Kameraden im Lazarett besucht – und sie hat dort als Krankenschwester ausgeholfen, um an ein bisschen Geld zu kommen. So bin ich ihr über den Weg gelaufen. Als ihre Schicht zu Ende war, bin ich einfach mit ihr mitgegangen, zu ihrer Unterkunft. Erst wollte sie mich abweisen, aber dann kam ihre Nachbarin ihr schon entgegen – mitsamt den beiden. Da musste sie mir dann die Wahrheit sagen. Aber sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich es für mich behalte – und ich habe zugestimmt, unter der Bedingung, dass sie es wenigstens euch erzählt. Wozu sie dann aber wohl nicht mehr gekommen ist“ Er senkte etwas den Kopf. „Ich bin mir sicher, seit damals hat sie den Namen ‚Caspian‘ nie mehr in den Mund genommen. Sie hat ihn und Narnia nicht vergessen, auch wenn sie es wollte, aber sie hat die Existenz beider verdrängt. Sie glaubte nicht mehr daran. Es war für sie, als hätten die beiden hier niemals einen Vater gehabt“
 

Da begann das Mädchen im Schlaf leise vor sich hinzuweinen.

Kurzerhand sprang Lucy auf, ungeachtet des ruckelnden Zuges, und zog die Kleine an sich, wiegte sie behutsam im Arm. Leise begann sie zu summen, eine Melodie, die keiner ihrer beiden Brüder kennen würde und die sich doch tief in ihrem Herzen verankert hatte. Jenes kleine Lied, das Herr Tumnus damals für sie gespielt hatte, als sie selbst als Achtjährige zum ersten Mal nach Narnia gekommen war.

Langsam beruhigte sich das Mädchen in ihren Armen und schlief schließlich wieder ruhig.

Auch Lucy selbst war eingedöst. Und im Halbschlaf meinte sie eine goldene Silhouette zu sehen, deren dichtmähniger Kopf ihr freundlich zunickte. Aslan… du und Narnia, ihr werdet für mich nie vergessen sein…

"Nathan Cassian Pevensie, gib' mir den Brief!"

„Liebe Base, liebe Vettern,

endlich komme ich dazu, euch unbeobachtet zu schreiben. Ich will euch von jemandem grüßen, den wir alle kennen und dem ich auf gewisse Art und Weise eine ähnliche Lektion zu verdanken habe, wie du, Edmund. Es ist Zeit ins Land gestrichen, seit der Entdeckungsfahrt, so viel Zeit, dass ich den einzigen alten Freund, den ich zu Gesicht bekam, nicht erkannte. Zwei andere wurden mir mit Namen genannt, doch sie habe ich nicht gesehen. Es war wohl weniger ein Zufall, als wieder ein Ruf, der mich dorthin brachte, denn ich – und jemand, der diese Reise zum ersten Mal machte – wurden gebraucht. Ich-“
 

„Tante Lucy, was liest du da?“
 

Die Stimme ihrer Nichte ließ Lucy aufblicken. „Der Brief ist von Onkel Eustachius“, erklärte sie der mittlerweile Zehnjährigen und wollte schon weiterlesen, da griff eine blitzschnelle Hand von hinten nach dem Papier und zog es ihr aus den Fingern. Triumphierend wedelte ihr Neffe mit seiner ‚Beute‘.

Lucy bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. „Gib‘ ihn mir wieder her, Nath“, bat sie und streckte die Hand aus.

Der Zehnjährige, dessen dunkle Haare wild nach allen Seiten abstanden, blitzte sie trotzig an. „Warum?“, wollte er provozierend wissen.

Lucy stemmte nur die Hände in die Hüften. „Nathan Cassian Pevensie. Gib‘ mir den Brief“, sagte sie strenger und der Junge gab nach. Die Lippen zu einem Schmollmund verzogen, der jeden, der ihn nicht genau kannte, auf der Stelle erweicht hätte, reichte er den Brief zurück.

„Danke sehr“, meinte Lucy nur, ganz als ob sie nicht erst hatte drohen müssen. Dass sie ihren Neffen mit seinem kompletten Namen ansprach, kam nämlich nur vor, wenn sie es wirklich ernst meinte. Und in diesem Falle meinte sie es ernst. Auch wenn Eustachius sehr verschlüsselt schrieb, wenn er jenes Thema ansprach, von dem die Kinder besser nichts wissen sollten, so war es gefährlich, den Brief den Kindern zu überlassen.

„Wo ist Edmund eigentlich?“, fragte sie, um abzulenken.

„Onkel Edmund ist beim Nachbarn, die feiern irgendetwas politisches“, erwiderte Nathan. Obwohl er sehr ernst sprach, war ihm anzumerken, wie wenig er damit anfangen konnte.

Lucy aber erinnerte sich jetzt, dass Edmund so etwas heute Morgen bereits erwähnt hatte. Die britische Regierung hatte unterzeichnet, dass sie irgendwo ihre Militärs abziehen würde. Lucy interessierte sich nicht wirklich dafür, aber sie wusste, dass Edmund und einige andere in der Nachbarschaft dieserart Ereignisse gern als persönlichen Triumpf sahen. Das Problem war nur, dass sie so vermutlich gar nicht erst vor dem späten Abend mit Edmunds Rückkehr rechnen musste.

Seufzend legte sie den Brief beiseite und stand auf.

Sie würde wohl später zu Ende lesen müssen.

„Was haltet ihr davon, wenn wir in den Park gehen?“, wollte sie von den beiden Kindern wissen, während sie mit einer beiläufigen Geste ihren Rock glattstrich.

„Nehmen wir den Ball mit?“, wollte Nathan aufgeregt wissen.

„Solange du mich nicht zum Mitspielen zwingst“, erwiderte Lucy nur, blickte dann zu ihrer Nichte. „Einverstanden, Emily?“

Das Mädchen nickte.
 

Kurz darauf hatten sie auf einer Wiese, die am Rande des Parks lag, Rast gemacht.

Nathan hatte nicht lange gebraucht, um ein paar andere Kinder zu finden, die seinen Ball, seinen größten Schatz, ebenso toll fanden, wie er selbst und nun spielten sie lautstark quer über die Wiese.

Nathans Zwillingsschwester Emily dagegen saß nicht weit von Lucy entfernt im Gras und starrte träumend in die Wolken.

Lucy, die am Stamm eines uralten Baumes lehnte und die beiden im Auge behielt, kam nicht umhin, es ihrer Nichte für einen Moment nachzumachen. Und wie immer dauerte es nicht lang, bis sie eine Wolke ausmachte, in deren Form sie einen Löwen zu erkennen glaubte. Rasch senkte sie wieder den Blick. Es war nicht gut, wenn sie in Gedanken war, nachher würde sie sich nur verplappern.

Fast fünf Jahre hatten sie alle es jetzt durchgehalten. Peter, Edmund und sie arbeiteten Hand in Hand, den beiden Kindern ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen, in einer Welt, die sich nach dem Ende des Krieges langsam wieder zu normalisieren begann.

Seit einigen Monaten war jetzt nicht einmal mehr das Fleisch rationalisiert. Peter und Edmund hatten beide Arbeit und wenn das nicht reichte, nähte oder flickte manchmal sie etwas gegen ein wenig Geld, sie kamen zurecht. Edmund hatte sich zwar für kurze Zeit den ‚Mods‘ angeschlossen, das aber nach einer Standpauke seitens Peter schnell wieder sein gelassen. Edmund hatte inzwischen gelernt, dass Peters Ansichten ihn schon manches Mal aus Schwierigkeiten rausgehalten hätten.

Und mindestens Nathan war nichts mehr davon anzumerken, dass beide Kinder nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter traumatisiert gewesen waren. Der Zehnjährige war fröhlich und in der Schulklasse anscheinend auch beliebt.

Emily war verschlossener, träumerischer – und fantasievoller.

Lucy war manchmal der Meinung, ihre Nichte würde viel mehr ihr selbst ähneln, als der stets pragmatischen Susan. Aber vielleicht lag das auch daran, dass sie sich gerade in der ersten Zeit besonders um Emily hatte kümmern müssen. Das Mädchen war oft krank gewesen, immer leicht angreifbar. Die Ärzte sagten, dass das noch mit dem Trauma zusammenhängen könnte. Inzwischen hatte sich das gebessert, aber der stille, manchmal zerstreute, Charakterzug war Emily erhalten geblieben.
 

„Tante Lucy?“, fragte Emily da plötzlich.

Angesprochene stieß sich von dem Baumstamm ab und kam auf ihre Nichte zu, hockte sich neben ihr ins Gras, froh darum, dass es trocken war. So würde der neue Mantel keinen Schaden nehmen. „Was hast du denn?“

„Kannst du auch Bilder da oben sehen?“, fragte die Zehnjährige und zeigte mit dem ausgestreckten Arm in den Himmel.

Lucy zuckte leicht zusammen, besann sich aber wieder. Diese Frage ihrer Nichte war vermutlich absolut harmlos. „Jeder kann das, Emily. Jeder, der ein bisschen Fantasie hat“, erwiderte sie also etwas ausweichend.

„Und Papa? Wenn er von oben runterguckt, kann er dann auch die Bilder sehen?“

Lucy hielt aus mehreren Gründen die Luft an. Nicht nur, dass diese Frage eindeutig zu der Fraktion gehörte, die niemand mit Gewissheit beantworten konnte… es fiel ihr mit jedem Mal schwerer, Emily anzulügen.

Obwohl das Mädchen und ihr Bruder nie etwas anderen zu hören bekommen hatten, als dass ihr Vater bereits vor ihrer Geburt verstorben sei, so schien Emily eine instinktive Bindung zu besitzen, die Lucy fast Sorgen bereitete. Die ständigen Fragen… aber sie wollte ihre Nichte nicht enttäuschen, also antwortete sie: „Sicherlich könnte er das. Aber er hat bestimmt nur Augen für dich und deinen Bruder“

Wenn er überhaupt von euch wüsste. Was Caspian wohl dazu gesagt hätte?

Lucy verdrängte den Gedanken.

Sie würde nie die Gelegenheit bekommen, Caspian zu fragen, insofern war es besser, solchen Überlegungen erst gar keinen Raum in ihrem Denken zu lassen. Erleichtert nahm sie derweil zur Kenntnis, dass die Zehnjährige tatsächlich mit der Antwort zufrieden gestellt schien. Lucy war beruhigt. Sie erhob sich und hielt ihrer Nichte die Hand hin. „Komm‘, wir sollten nach Hause gehen. Ehe Peter kommt, wollen wir doch das Essen fertig haben, oder?“, wollte sie wissen.

Bereitwillig rappelte sich auch das Mädchen auf. „Natürlich, Tante Lucy“

Lucy lächelte nur, ehe sie sich nach ihrem Neffen umsah.

„Nath! Zeit nach Hause zu gehen!“

„Da war eine gaaanz große, goldene Katze in meinem Zimmer“

„Wir sollten über die Weihnachtstage zu ihm fahren. Er kann unsere Hilfe sicherlich gebrauchen, jetzt wo Mrs. Mcready nicht mehr lebt. Der Professor wird auch nicht jünger“

Lucys Vorschlag traf bei ihren Brüdern nicht gerade auf Ablehnung. Das Landhaus des Professors war für sie alle drei Teil einer Erinnerung, die sie nie aufgegeben hatten und auch wenn sie dort wegen Nathan und Emily noch vorsichtiger sein mussten, gerade was die Dachkammern betraf, so genossen sie jeden Aufenthalt dort. Und der Professor wiederrum freute sich über jeden Besuch. Damit war es beschlossene Sache.
 

Anstatt dass sie, wie letzten Jahr noch, von der stets gestreng tuenden, aber eigentlich nur dienstbeflissenen Mrs. Macready am Bahnhof eingesammelt wurden, mussten die drei Geschwister mitsamt Nichte und Neffe diesmal jemanden aus dem Dorf bezahlen, der sie mit dem Pferdeschlitten hoch zum Landhaus des Professors brachte. Es schneite bereits seit Tagen ununterbrochen und dementsprechend unmöglich wäre die Wanderung mit den beiden Kindern gewesen.

Obwohl…, dachte Lucy bei sich, als sie sich daran erinnerte, dass sie mit acht durch einen Wald marschiert war, der seit hundert Jahren verschneit gewesen war.

Erst als Peter sie leicht in die Seite stieß, kam sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Emily hatte sie bereits aufmerksam gemustert. „Alles in Ordnung, Tante Lucy?“

Rasch nickte Lucy und wandte den Blick der verschneiten Landschaft zu. Sie zog ihren Mantel fester um sich und begann unwillkürlich vor sich hin zu summen.

Und wie immer, wenn Lucy Herrn Tumnus‘ Lied interpretierte, war Emily am Ende eingeschlafen.
 

„Willkommen, meine Lieben!“

Als die fünf den Korridor des Landhauses betraten, kam der Professor ihnen bereits entgegen. Er musste sich inzwischen auf einen Stock stützen, schien aber ansonsten kein bisschen von seinem Tatendrang verloren zu haben. Eine Tatsache, die Lucy und ihre Brüder mehr als erleichterte. Sie hatten den alten Mann nicht nur deswegen lieb gewonnen, weil sie ein Geheimnis mit ihm teilten.

„Wir freuen uns, dich so munter zu sehen“, sprach Peter schließlich für alle und erwiderte das Lächeln des Professors.

„Und ich erst, Kinder, und ich erst“, erwiderte der Alte, wobei alle wussten, dass mit der Ansprache ‚Kinder‘ nicht nur die Zwillinge gemeint waren. Gemeinsam machten sie es sich am Kamin gemütlich und gerade Lucy, Peter und Edmund freuten sich auf ein paar ruhige Tage.
 

Am Morgen des ersten Feiertages verspäteten sich Emily und Nathan zum Frühstück.

Lucy, die aus Erfahrung annahm, dass Emily mal wieder kränkelte, hob die Hand, um ihrer Nichte die Stirn zu fühlen, als diese endlich erschien, aber ihre Temperatur war vollkommen normal. Doch als Lucy die Hand sinken ließ, sah sie etwas viel bemerkenswerteres. Um Emilys Hals hing eine Kette, die das Mädchen sorgfältig unter ihre Kleidung gestopft hatte. Aber einige Kettenglieder schauten heraus.

„Was hast du denn da?“, wollte sie mehr neugierig wissen.

Emily schaute ihre Tante verständnislos an. „Was denn, Tante Lucy?“

„Die Kette, Emily. Zeig‘ sie mir doch mal“

Für einen Moment schien es, als wollte Emily sich weigern, aber dann zog sie die Kette aus ihrem Kragen. Das sicher früher einmal silberne Material wirkte angelaufen, die Kette musste schon alt sein. Wo sie die wohl gefunden hat…, überlegte Lucy, als ihr für einen Augenblick der Atem stockte.

Sie hatte den Anhänger gesehen. Ein Löwe, eindeutig.

Ein Blick zur Seite bestätigte Lucy darin, dass auch ihre Brüder es gesehen hatten, denn Edmund hatte im Kauen innegehalten und Peter wirkte nicht minder angespannt.

Er war es auch schließlich, der zuerst reagierte. „Wo hast du die her?“, wollte er ernst wissen.

Emily sah ihren Onkel verwundert an. „Aus meinem Traum!“, erwiderte sie dann im Brustton der Überzeugung, den nur ein Kind aufbringen konnte.

„Und wie war dein Traum?“, fragte Lucy rasch weiter, da sie merkte, dass Peter damit nicht zufrieden war. Und sie auch nicht. Etwas sagte ihr, dass diese Kette kein Zufallsfund war und auf ihre Intuition hatte sie schon immer hören können.
 

Emily schien die Anspannung der Geschwister nicht mitzubekommen. „Da war eine gaaaanz große, goldene Katze in meinem Zimmer. Und sie kam an mein Bett und ich durfte sie streicheln und dann hat sie plötzlich die Kette ganz vorsichtig auf meinen Nachttisch gelegt. Und heute Morgen, als ich wach geworden bin, war die Kette immer noch da!“

„Stimmt. Ich hab‘ das gleiche geträumt. Und meine Flöte war auch noch da!“, mischte sich Nathan ein und streckte etwas Kleines wie einen Pokal triumphierend in die Höhe.

Lucy kniff die Augen zusammen, als sie erkannte, was es war. Eine kleine Flöte, klar, aber die Form… Lucy hätte das Original nicht kennen müssen, um das Horn zu identifizieren, das einst Susan gehört hatte. Das Horn, das in der Lage gewesen war, sie vier, die ‚Könige und Königinnen der alten Zeit‘ zu rufen.

„Was hat das nur zu bedeuten…“, murmelte sie tonlos vor sich hin.
 

„Her damit!“, sagte auf einmal jemand streng. Peter.

Selbst Lucy zuckte unter dem barschen Tonfall ihres Bruders zusammen und Emily schloss die Finger fest um den Kettenanhänger, als könnte sie diesen damit beschützen.

„Gib’ es her, Emily! Und du auch, Nathan!“, wiederholte Peter erbarmungslos.

Emilys Schultern begannen verräterisch zu zucken.

„Niemals! Das ist meins!“, protestierte Nathan gleichzeitig und umklammerte seine kleine Flöte fester.

Peter sprang so ruckartig auf, dass sein Stuhl rückwärts umkippte und polternd auf die Dielen krachte. Alles zuckte zusammen – nur der Professor tat erfolgreich so, als sei nichts geschehen und kaute weiter auf seinem Brot herum.
 

Im nächsten Moment war Peter um den Tisch herumgelaufen und packte nach Nathans Hand. „Lass‘ los“, sagte er gefährlich ruhig.

Nathan, der nicht gewohnt war, so fest angefasst zu werden, sträubte sich und dachte nicht daran, loszulassen. „Nathan! Loslassen!“, wiederholte Peter gestreng und notgedrungen gab Nathan nach, auch wenn er seinen Onkel wütend anfunkelte. „Aber das ist meins!“, muckte er noch einmal auf, wohlwissen, dass das nichts nützen würde.

Peter wandte sich jetzt an seine Nichte. Seine Handgeste war eindeutig. Aber auch Emily war nicht bereit, ihr neues Kleinod so leicht rauszugeben. „Aber die goldene Katze!“, rief sie und fuchtelte mit den Armen, damit Peter ihr die Kette nicht abnehmen konnte.

„Emily Asla Pevensie!“, mahnte er unbeugsam.

Da ließ das Mädchen geschlagen die Arme sinken.

Mit einer knappen Bewegung löste Peter den Haken im Nacken seiner Nichte und nahm auch die Kette an sich. Dann verließ er wortlos den Raum.

Lucy sah ihm betroffen nach.

Alle waren still, das einzige, was zu hören war, war das lauter werdende Schluchzen Emilys.
 

~*~*~*~*~
 

Tja, weeeer kam die beiden da wohl in der Weihnachtsnacht besuchen?

"Und ich vertraue ihm auch jetzt"

„Peter? Ach, ich wusste, dass du hier oben bist“

Leise schloss Lucy die Tür hinter sich, durch die sie eben in die Dachkammer gekommen war.

Ihr Bruder reagierte nicht, stattdessen starrte er weiter durch das Fenster nach draußen.

„Meinst du denn wirklich, das hat eine tiefere Bedeutung?“, fragte sie und kam ans Fensterbrett.

Peter saß mit angezogenen Beinen in der Nische und rührte sich noch immer nicht. „Eine große, goldene Katze, Lucy!“, sagte er bloß.

Mit einer raschen Bewegung hatte sich Lucy zu ihm auf das Fensterbrett geschwungen, was mit den Hosen, wie sie sie seit einiger Zeit häufiger trug, deutlich einfacher war, als mit einem Rock. „Ich weiß ebenso gut wie du, dass die beiden von Aslan reden. Aber wenn er persönlich ihnen die kleinen Schätze vorbeigebracht hat…“, stieß sie hervor, auch wenn ihre Stimme zum Ende hin immer leiser wurde.

Schon lange hatte sie nicht mehr so offen über Aslan geredet, überhaupt seinen Namen ausgesprochen.

„Du kennst ihn am Besten, Lucy…“, gab Peter nur zurück, aber es klang erschöpft.

Außerdem hörte Lucy das leichte Zittern in seiner Stimme.
 

Kurzerhand rutschte sie vom Fensterbrett und ging zu dem Wandschrank hinüber, der für sie alle so eine besondere Bedeutung gehabt hatte, öffnete eine der Türen.

Sie zerrte den erstbesten Mantel vom Bügel und kehrte zurück um ihn Peter um die Schultern zu legen. „Sag‘ mal, wie lange sitzt du hier eigentlich schon?“, fragte sie dabei.

Peter gab erneut keine Antwort.

Lucy seufzte. „Was beschäftigt dich wirklich, hm? Es ist doch nicht nur, dass sie von Narnia träumen, oder? Wir wussten immer, dass sie eine gewisse Verbindung dorthin haben werden. Sie sind Caspians Kinder!“
 

Peter lachte freudlos auf. „Du hast es natürlich geahnt, nicht wahr, Lucy? Du kannst alles vorhersehen, was mit Aslan zu tun hat“

„Das stimmt nicht, Peter, und das weißt du. Ich habe Aslan bloß immer vertraut, deswegen habe ich eine besondere Bindung zu ihm. Und ich vertraue ihm auch jetzt. Er wird seine Gründe gehabt haben, Emily und Nathan diese Kleinigkeiten mitzubringen. Wir sollten die Kette und die Flöte wenigstens aufheben. Vielleicht haben sie eines Tages noch ihren Wert. Und sei es nur als Erinnerungsstück“, wiedersprach Lucy und versuchte, den Blick ihres Bruders zu erhaschen.

Doch der starrte stur weiter aus dem Fenster. Immerhin nickte er jetzt leicht.
 

Einen Moment herrschte Stille, ehe es regelrecht aus Peter herausbrach: „Ich hätte es wissen müssen. Die ganze Zeit hätte ich es wissen müssen. Ein toller Hochkönig von Aslans Gnaden bin ich, wenn ich nicht einmal verstehe, dass er überall die Pfoten mit drin hat“

Lucy legte ihrem Bruder eine Hand auf den Unterarm. In diesem Moment war es, als sei sie die große Schwester und er der kleine Bruder, der getröstet werden musste. „Erklär‘ mir, was du meinst, Peter. Was hättest du wissen müssen?“

„Alles“, brachte Peter bitter hervor, ehe er kraftlos den Kopf in den Nacken legte und den Hinterkopf an der Holzvertäfelung abstützte.

„Die beiden Stücke… sie sind nicht einfach nur Andenken. Sie haben Susan gehört. Caspian gab sie ihr, am Morgen vor dem Abschied, er hatte sie extra anfertigen lassen.

Aber sie wusste, dass sie gehen musste und in ihrer Verzweiflung warf sie Caspian beides vor die Füße, warf ihm vor, dass er sie bestechen wollte, kaufen wollte. Vermutlich wusste sie selbst, dass das Schwachsinn war, aber einmal ausgesprochen war es zu spät“

Peter lachte trocken auf. „Was meinst du wohl, warum Caspian über den Abschiedskuss so überrascht war, wenn die beiden doch längst weiter gegangen waren?“
 

Lucys Augen weiteten sich. Sie hatte selbst nie erlebt, wie sich das anfühlte, was Susan und Caspian miteinander geteilt hatten, aber sie wusste, dass weit mehr dazu gehörte, als ein Kuss.

Dennoch interessierte sie jetzt gerade etwas gänzlich anderes.

So langsam begann sie nämlich zu durchschauen, was es mit Aslans Mitbringseln auf sich hatte: „Ich verstehe… deswegen sieht die Kette auch nicht mehr ganz neu aus. Sie existierte schon damals und wer weiß wie viele Jahre sie in Narnia war“

Peter nickte leicht. „So ergibt alles einen Sinn, nicht wahr? – Aber das ist nicht alles. Ich hätte auch ahnen müssen, wie es um Susan stand. Aslan hatte es angedeutet. Als er damals, auf dem Schlosshof mit uns sprach, uns sagte, dass Susan und ich für immer gehen würden, da ist sie ganz still geworden und schließlich zurückgeblieben.

Aslan hat ihr kurz nachgesehen, ehe er sich mir zuwandte. Dann hat er mir gesagt, dass ihr beide, du und Edmund, noch einmal zurückkehren dürftet, aber ich müsste auf euch alle aufpassen. Und das alle betonte er so, dass ich schon damals stutzig wurde. Aber kapiert habe ich es dennoch nicht. Kapiert habe ich erst viel, viel später. Damals, als ich Nathan und Emily das erste Mal sah. Und da war es bereits zu spät, Susan zu uns zurück zu holen. Sie ist einsam gestorben. In vielerlei Hinsicht“

Lucy schlug die Augen nieder. „Einsam und verbittert, allein mit den Kindern, abgeschottet von ihrer Familie, getrennt von ihrem Liebsten, für immer allein. – Und dennoch tragen ihre Kinder Namen, die sehr viel Bedeutung haben“, murmelte sie vor sich hin.

Peter nickte wieder und endlich, endlich sah er seine Schwester an. In seinen Augen lag etwas, das Lucy erst nach einem Moment als Schuld identifizieren konnte.

Sie kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, denn er fuhr bereits fort: „Emily, die Milde, die Sanfte. Susans Beiname, die Sanftmütige. Asla, setz‘ ein ‚n‘ dran und du verstehst. Nathan, das Geschenk. Und bei Cassian brauchst du bloß das zweite ‚s‘ durch ein ‚p‘ zu ersetzen. – Aber ich habe damals ihre Augen gesehen. Sie hat es verdrängt, sie hat nicht mehr an Narnia geglaubt. Die Tiefe der Namen, ich glaube nicht, dass sie sich die selbst ausgedacht hat. Da hatte jemand anderes die Finger mit im Spiel“

„Oder die Pfoten“, fügte Lucy hinzu, die langsam verstand, worauf ihr Bruder hinaus wollte.

„Aslan hat die beiden immer im Auge behalten. Er konnte nicht zu Susan durchdringen, aber er hat über die Kinder gewacht. Über Caspians Kinder. Über Narnias Kinder. Er will den beiden die Verbindung zu Narnia erhalten, es will nicht, dass sie genauso verloren gehen, wie Susan. Und er hat uns Zeichen geschickt, die wir nicht durchschaut haben. Erst als er sich persönlich zeigte, haben wir verstanden…“

„Vorher wollten wir ja gar nicht verstehen. Wir haben uns so sehr bemüht, nicht an Narnia zu denken, damit wir uns nicht verplappern. Damit die Kinder kein Interesse entwickeln. Damit sie nicht nach Narnia gelangen und dort alles auf den Kopf stellen“, berichtigte Peter mit einem leichten Kopfschütteln.

Lucy lachte leise.

„Da musste er uns jetzt mit dem Kopf voran drauf stoßen – oh, oh. Tolle narnianische Könige und Königinnen sind wir“, fügte sie hinzu und jetzt lachte auch Peter.

Es klang rau und etwas halbherzig, aber er lachte.

Und Lucy war froh darum.

Es passte nicht zu Peter, dem Prächtigen, wenn er niedergeschlagen war.
 

~*~*~*~*~
 

Man kann Aslan jedenfalls nicht vorwerfen, er würde sich nicht bemühen...

Wir haben ihn auch gespürt...

„Warum gibt’s denn noch keinen Tee, Lucy?“

„Weil ich gerade drei Minuten vor dir reingekommen bin, Edmund“ Lucy zwinkerte ihrem Bruder zu und deutete demonstrativ auf den Wasserkessel, der bereits auf dem Herd stand, aber noch keinen Laut von sich gab.

„Brr, es ist verdammt kalt da draußen“, fuhr Edmund nur fort und pfefferte mit einer beiläufigen Bewegung die Briefe, die er von draußen geholt hatte, auf den Küchentisch.

„Und ich dachte schon, du hättest das sinnlose Meckern mit dem Erwachsenwerden verlernt“, mischte sich Peter ein und schlängelte sich an seinem Bruder vorbei in die Küche. Er trug bereits die gute Kleidung, mit der er zur Arbeit gehen würde. Als Rechtsgelehrter war er in der Nachbarschaft geradezu berühmt.

Lucy wusste auch sehr genau, dass das an Peters manchmal eigenwilligen, dafür aber bewundernswert weitblickenden Entscheidungen lag. Aber wer einmal als (Hoch-)König die Verantwortung für das Wohl und Weh eines ganzen Volkes hatte, den schockte kein Gerichtsfall mehr.

Edmund grummelte derweil nur vor sich hin.

Da endlich erklang ein leises, zaghaftes Pfeifen, ehe der Wasserkessel richtig Laut gab.

Rasch zog Lucy ihn von der Hitzequelle herunter und begann den Tee aufzugießen. Den Rest goss sie in eine Schüssel, in der zuvor nur ein paar Kräuter gelegen hatte. Dampf stieg auf und der Geruch vom Thymian verteilte sich in der Küche.

Edmund wusste sich das zu deuten. „Es geht ihr immer noch nicht besser?“

Lucy schüttelte leicht den Kopf. „Und ich fürchte, Nathan hat sich jetzt auch angesteckt. Seit heute Nacht hustet er immer heftiger“, sagte sie ernst.

„Das hört sich nicht gut an. Vielleicht sollten wir einen Arzt holen. Im Radio erzählen sie doch von dieser neuen Grippe, aus Asien die.“

„Jetzt mal‘ mal nicht den Teufel an die Wand, Edmund. So schlimm wird es schon nicht sein“, würgte Peter seinen jüngeren Bruder ab.

Edmund schwieg tatsächlich, aber sein Gesicht sprach Bände.

Die anderen beiden wussten auch, dass der Verdacht, den er da hegte, nicht ganz unsinnig war. Seit Wochen überschlug sich das Radio geradezu, weil sich besagte Grippeerkrankung immer schneller ausbreitete.

„Wenn es morgen nicht besser wird, dann bestelle ich den Arzt auch hierher. Aber noch will ich abwarten“, stellte Lucy dann klar und machte sich daran, aus einem weichen Handtuch und dem Kräutersud einen heißen Wickel zu erstellen.
 

~*~
 

„Tante Lucy…?“ Emilys Stimme klang schwach und rau vom Husten. Ihr Gesicht war fiebergerötet.

„Ja, mein Mädchen?“ Lucy setzte sich die Bettkante und legte eine Hand an die heiße Wange ihrer Nichte.

„Muss ich wirklich schon wieder ins Krankenhaus? Ich mag‘ da nicht hin“

Lucy lächelte mitleidig. „Wenn der Arzt das sagt, ist es sicher besser. Außerdem wird dir da doch geholfen, das weißt du doch“

„Ich weiß, aber…“

„Shhh… lass‘. Streng‘ dich nicht so an. Es wird alles gut…“

„Tante Lucy…?“, Emily wollte es nicht aufgeben.

Also beugte Lucy sich etwas vor. „Was denn, Emily?“

Das Mädchen schloss die Augen, als würde sie einer angenehmen Erinnerung nachspüren. „Ich habe wieder von der Katze geträumt“, sagte sie dann leise.

„Ich weiß, Mädchen, ich weiß“ Leicht tätschelte Lucy die Wange ihrer Nichte, während sie zu summen begann. Und wie immer tat das Lied seine Pflicht.
 

Nachdenklich ruhte Lucys Blick auf dem Gesicht ihrer schlafenden Nichte. Offenbar hatte Edmund doch Recht behalten. Offenbar war es diesmal keiner von Emilys kleinen Schwächeanfällen, gerade weil auch Nathan erkrankt war, der normalerweise deutlich robuster war, als seine Zwillingsschwester.

Lucy sah aus dem Fenster, sah die Wolken über den ausnahmsweise halbwegs aufgeklarten Winterhimmel jagen. Und in diesem Moment schien eine Wolke innezuhalten, eine Wolke, deren Form Lucy automatisch interpretierte. Wieder einmal ein Löwe. Sie seufzte etwas.

Gut drei Jahre war es jetzt her, dass das Thema Aslan zur Sprache gekommen war, gut drei Jahre, dass aus heiterem Himmel die beiden Kleinode aufgetaucht waren, die laut Peter einst für Susan bestimmt gewesen waren – wenn es nach Caspian gegangen wäre.

Emily und Nathan waren jetzt fast vierzehn.

Lucy und ihre Brüder hatten daran festgehalten, in Gegenwart der beiden nicht über Aslan, Narnia oder alles, was entfernt damit zu tun hatte, zu reden und sie hatten gehofft, dass Aslans Besuch sich für beide in einen unbedeutenden Traum verwandeln würde, den sie bald wieder vergaßen.

Aber gerade Lucy achtete seit damals vermehrt darauf, wo Zeichen oder Hinweise auftauchten. Sie vertraute Aslan, das hatte sie damals schon gesagt, und wenn er die Zwillinge eines Tages in Narnia brauchte, würde sie sicher die letzte sein, die sich dagegen stellte. Aber in letzter Zeit hatte sie mehr und mehr Zeichen ausgemacht. Sie wusste nicht so recht, ob ihr das gefallen sollte. Irgendwie ließ es ein beklemmendes Gefühl zurück.
 

~*~
 

Alles war weiß. Das Zimmer, die Bettwäsche, alles. Und auch Emily wirkte blass. Ebenso wie ihr Bruder.

Lucy, die das Zimmer gerade verließ, weil einer der Ärzte ihr gewunken hatte, sorgte sich mit jedem Tag mehr.

‚Nach zwei bis fünf Tagen ist das Schlimmste überstanden‘, hieß es jetzt euphorisch im Radio, wenn von der Grippeerkrankung die Rede war. Gleichzeitig sprach man von einer Pandemie.

Es war fast zwei Wochen her, dass Emily und zwei Tage später auch Nathan ins Krankenhaus eingeliefert worden waren und seit dem unter Beobachtung standen. Dennoch ging es ihnen schlechter und schlechter.

Lucy trat auf den Arzt zu. „Gibt es etwas Neues?“, wollte sie wissen.

Der blondhaarige Mann wiegte den Kopf hin und her. „Wie man es nimmt. Die Grippe zieht sich zurück, aber bei beiden ist der Herzmuskel angegriffen. Deswegen werden sie immer schwächer. Und egal was wir versuchen, es hilft einfach nichts. – Eure Nichte hat heute Morgen fantasiert, erzählte mir die Krankenschwester. Sie sprach von einer großen, goldenen Katze, die sie besucht hat und ihr gesagt habe, sie sollte keine Angst haben. Nicht, dass ich ihr das glaube, aber solche Geschichten denken sich Patienten oft unterbewusst aus, wenn sie, naja… dem Tode nahe sind“

Der Arzt musste in den vergangenen Tagen, die Lucy fast pausenlos im Krankenhaus verbracht hatte, gemerkt haben, dass diese so leicht nicht zu erschüttern war, sonst wäre er niemals so gnadenlos ehrlich zu ihr.

Lucy schluckte leicht, nahm sich aber zusammen. Sie wusste zwar im Gegensatz zu dem Arzt, dass die ‚goldene Katze‘ erstens ein Löwe war und zweitens nicht halb so unecht, wie der Mediziner glaubte, aber der Rest seiner Worte erschreckte sie doch. Sollten Emily und Nathan wirklich so jung von der Welt verschwinden? Bemüht gefasst nickte sie dem Arzt zu. „Ich danke für die Information. – Ist es möglich, dass ich hier übernachte? Ich möchte bei ihnen sein, wenn…“, sie sprach es nicht aus, aber der Arzt verstand.

Und zu Lucys großer Erleichterung nickte er.

Sie atmete innerlich auf. Sie hätte es nicht ertragen, wenn Emily, sollte sie denn sterben müssen, so einsam sterben müsste, wie ihre Mutter.
 

„Dann werde ich noch kurz nach Hause gehen und meinen Brüdern Bescheid sagen“, sagte sie nur und wandte sich um. Sie spürte einen Kloß im Hals, ihr Brustkorb wurde ihr bei jedem Atemzug eng, wenn sie daran dachte, was vielleicht schon bald geschehen würde, aber es half ja nichts.

Da glaubte sie plötzlich ein tiefes, sonores Schnurren zu vernehmen, beruhigend, besänftigend, tröstend.

„Aslan?“, fragte sie unwillkürlich und verharrte für einen Moment, sah sich um.

„Aslan, bist du hier?“

Natürlich erhielt sie keine Antwort.

War das jetzt ein weiterer Hinweis oder nur Einbildung?, fragte sie sich innerlich, fand aber keine Antwort darauf. Also ließ sie es bleiben und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem sie mit Edmund und Peter wohnte.
 

Als sie die Haustür hinter sich ins Schloss drückte, erwartete sie eine kaum weniger drückende Stimmung, als im Krankenhaus.

Edmund und Peter saßen am Küchentisch und schwiegen vor sich hin; erst als sie den Raum betrat, sahen beide auf. Und in beider Gesicht stand eine Erkenntnis, die Lucy sagte, dass sie die dumpfe Prognose des Arztes gar nicht auszusprechen brauchte. Ihre Brüder wussten bereits Bescheid. Allein, dass beide um diese Tageszeit hier und nicht auf der Arbeit waren, sprach Bände.

„Wir haben ihn auch gespürt“, bemerkte Edmund nur und brachte ein schmales Lächeln zu Stande.

Lucy gelang nicht einmal das, als sie sich zu ihnen setzte. „Ich werde heute im Krankenhaus übernachten“, kündigte sie nur leise an, den Blick auf die Tischplatte gerichtet.

Sie hörte nur, wie einer von beiden, Peter wahrscheinlich, den Raum verließ, nur um Minuten später zurückzukehren und neben ihrem Stuhl stehen zu bleiben. „Komm‘ her, Schwesterlein…“, murmelte er und zog sie mit einem sanften Griff in seine Umarmung.

Haltsuchend schmiegte Lucy sich an ihn und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das bewundernd zu seinem Bruder aufsah, weil der ihr haushoch überlegen war. Zum ersten Mal fühlte sie sich wieder schwach und hilflos. Sie hatten versagt. Sie hatten Caspians, Susans Kindern kein erfülltes Leben ermöglichen können, egal was sie versucht hatten. Und zum ersten Mal seit langem begann Lucy wieder zu weinen, erst schluchzte sie nur, dann presste sie das Gesicht fest gegen Peters starke Schulter und heulte sich richtig aus.

Er hielt einfach nur still und spendete ihr damit eine Ruhe, eine Kraft und eine Akzeptanz, zu der sie allein niemals gefunden hätte.

Als sie sich schließlich beruhigt hatte, schob er sie ein wenig von sich.

„Schaffst du das, oder sollen wir mitkommen?“, wollte Edmund hinter ihr wissen.

Lucy straffte die Schultern. „Nein, schon gut. Ich gehe allein“ Sie lächelte etwas gequält. „Ich bin die Tapfere, schon vergessen? Königin Lucy, die Tapfere

Peter sah sie kurz nachdenklich an, ehe er ihre Hand ergriff und mit der Handfläche nach oben drehte. Mit der anderen Hand legte er etwas hinein und schob ihre Finger zu einer lockeren Faust zusammen. „Nimm‘ das mit. Vielleicht ist das der richtig Moment“, bat er nur.

Lucy brauchte nicht nachzuschauen, um zu wissen, um was es sich handelte. Die kaum fingerlange Flöte und Susans Kette. Lucy nickte etwas. „Ja, vielleicht ist das genau der richtige Moment“

"Ich hole sie zu mir, in mein Land"

Es war still geworden, im Krankenhaus. Bis auf die Nachtschwestern, die alle halbe Stunde mal ins Zimmer sahen, war nichts los.

Lucy hatte sich den Besucherstuhl zwischen die Betten von Emily und Nathan gerückt, die Betten standen so eng zusammen, dass sie mit der einen Hand die Matratze des rechten Bettes berühren konnte und mit der anderen Hand zugleich die des linken Bettes. Durch die Schlitze, zwischen den Vorhängen am Fenster blitzte ein wenig Mondlicht hinein, ließ Emily und ihren Bruder blasser denn je wirken. Beide atmeten nur flach, beide regten sich kaum.
 

Irgendwann musste Lucy eingedämmert sein, denn sie schreckte auf, als etwas Warmes ihren Nacken berührte. Hektisch blickte sie sich um, ehe ihr bewusst wurde, was – oder besser: wer – sich da zu ihr gesellt haben musste.

„Aslan…?“, fragte sie fast tonlos.

Wie zur Antwort schob sich der goldene Löwenschädel neben sie, berührte kurz ihre Schulter. Das majestätische Tier passte gerade so in den winzigen Raum hinein. Seine dichte Mähne streifte ihre Wange und in jedem anderen Moment hätte Lucy jetzt wohl gekichert.

Aber sie wusste in diesem Moment, warum Aslan hier war.

Also atmete sie nur tief durch. „Jetzt ist es also soweit“, murmelte sie bedrückt.

Aslan nickte, langsam und gewichtig. „Ja, Lucy. Ich bin gekommen, die beiden nach Hause zu holen“

So gütig und warm seine Stimme klang, Lucy rann dennoch eine Träne über die Wange. Rasch wischte sie sie mit dem Finger weg.

Die dunklen Augen des Löwen musterten sie dabei. „Ihr habt viel für die beiden geopfert. Ihr habt viel für die beiden getan. So wie ihr zuvor schon so viel für Narnia getan habt. Ich glaube nicht, dass es dich jetzt tröstet, aber eure Mühen werden euch vergolten werden. Vielleicht schon recht bald“, sagte er sanft und mit einem Mal hob er den Kopf und leckte die letzten Reste der Träne von Lucys Wange.

Da konnte sie nicht mehr anders. Sie stand auf und fiel dem großen Löwen um den Hals, schmiegte sich an seinen warmen Leib.

Aslan kommentierte das nur mit einem leisen, dumpfen Schnurren, tief in seiner Brust. „Seit du Narnia das letzte Mal verlassen hast, sind dort fast wieder 400 Jahre vergangen. Aber ich sehe, du bist auch in dieser Welt erwachsen geworden“, brummte er schließlich.

Lucy löste sich gerade so weit von ihm, dass sie beim Sprechen nicht seine Mähnenhaare in den Mund bekam. „Was meinst du?“

Aslan legte den Kopf schief und sah sie einen Moment nur an, ehe er sagte: „Du hast mich erst gar nicht gefragt, ob ich dein Elixier mitgebracht hätte. Du hast gelernt, dass es Situationen gab, es einzusetzen – die hast du erlebt. Bei Edmund, bei Trumpkin, bei Reepicheep. Aber du hast auch gelernt, dass es Situationen gibt, in denen es falsch wäre, jemanden von seiner Reise abzuhalten“

Lucy atmete tief durch. Sie musste zugeben, dass sie an ihr Feuerblumenelixier tatsächlich nicht einmal einen Gedanken verschwendet hatte. „Du… du hast gesagt, du willst sie nach Hause holen. Nach Narnia?“

„Nicht ganz. Ich hole sie zu mir, in mein Land. Sie sind Sohn und Tochter Narnias und sie sind reinen Herzens. Sie haben es verdient, dass ich sie dorthin mitnehme – ebenso wie die sieben Freunde, die Narnias Säulen sind“

„Und… Caspian? Ich meine… werden sie ihren Vater dort kennenlernen?“

Aslans Antwort war ein Nicken, ehe er den Kopf hob und sich mit einem Schritt rückwärts sachte von Lucy löste. „Es wird Zeit“, deutete er nur an.
 

Lucy kämpfte ein erneutes Aufschluchzen nieder, ehe sie sich straffte und an Nathans Bett trat.

Der Junge lag still da, völlig friedlich – aber mit geöffneten Augen. Eine Abgeklärtheit lag darin, die Lucy zugleich erschreckte und berührte. Sie griff in ihre Rocktasche und holte vorsichtig die kleine Flöte in Form von Susans magischem Horn hervor. Behutsam legte sie das Kleinod auf Nathans Brust, auf Höhe seines Herzens, fasste nach seinen Händen und legte sie wie beschützend darüber.

Nathan ließ es geschehen. „Die goldene Katze…“, murmelte er nur fast tonlos vor sich hin.

Lucy lächelte etwas gequält. „Aslan“, berichtigte sie ihren Neffen, „Er heißt Aslan“.

Dann beugte sie sich hinab und gab ihrem Neffen einen leichten Kuss auf die Stirn. Als Lucy wieder aufblickte, hatte Nathan die Augenlider geschlossen und ein leichtes, entspanntes Lächeln lag auf seinen Lippen. Er war bereit für seine letzte Reise.

So trat Lucy hinüber zu Emilys Bett. Ihr Gesicht wirkte eingefallener, ihr Körper schwächer und kränker als der ihren Bruders. Ihre Augen waren und blieben geschlossen, als Lucy ihr behutsam die Haare aus der Stirn strich. Dick, wellig und schwarzbraun, ebenso wie Caspians. Emily hatte ihrem Vater immer unglaublich ähnlich gesehen.

Lucy nahm auch die Hände ihrer Nichte, faltete sie über deren Herzen. Und da sie ihre Nichte nicht wecken wollte, legte sie die Kette sacht über die gefalteten Hände. Ein Mondstrahl brach sich in dem angelaufenen Silber des löwenförmigen Anhängers.

Auch hier beugte Lucy sich hinab und gab ihrer Nichte einen Kuss auf die Stirn. „Jetzt wirst du deinen Vater endlich kennenlernen“
 

Dann trat sie zurück, an Aslans Seite. Ihre Hand grub sich fest in seine dichte Mähne, als sie das friedliche Bild ein letztes Mal in sich aufnahm.

Aslan ließ ihr die Zeit, aber als sie kurz die Augen schloss, hörte sie, wie er einen Schritt vortrat, erst zu Nathan, dann zu Emily, als wollte er sich noch einmal überzeugen, dass beide bereit waren. Dann erst legte er den Kopf in den Nacken und stieß ein lautloses Brüllen aus, dessen Schall Lucy dennoch zu spüren vermeinte.

‚Mein Atem ist das Leben. Mein Ruf aber geleitet euch in die Ewigkeit.‘

Diesen Satz hatte Aslan irgendwann einmal in einem Traum zu ihr gesagt und unwillkürlich erinnerte sich Lucy jetzt daran. Fast war sie gespannt, was geschehen würde.

Von den Körpern der Kinder ging ein leichtes Schimmern aus, dann lösten sich auf einmal halbdurchsichtige Abbilder von den Leibern, setzten sich auf und glitten aus den Betten, traten an Aslans Seiten. Die Hand von Emilys Abbild berührte Aslans linke Schulter, die Hand von Nathans Abbild seine rechte.

Nur nebenbei nahm Lucy wahr, dass Emilys Abbild die Kette um den Hals trug – und die echte bei Emilys Körper komplett verschwunden war. Nathans Abbild trug die kleine Flöte an einem dünnen Lederriemen um den Hals und Lucy war sich sicher, dass die Miniatur von Susans Horn nicht mehr unter den Händen seines Körpers zu finden war.
 

In diesem Moment begann Aslans Körper sich aufzulösen und mit ihm die Abbilder der Kinder.

Unwillkürlich wollte Lucy die Hand nach ihnen ausstrecken, ob um sie aufzuhalten, oder zu begleiten, wusste sie selbst nicht so recht, aber sie rührte sich nicht. Und dann war sie auf einmal wieder allein in dem winzigen Krankenzimmer, vollkommen allein, denn aus den Körpern ihrer Nichte und ihres Neffen war das Leben gewichen.

Lucy atmete tief durch. „Auf Wiedersehen, Aslan…“, flüsterte sie vor sich hin und wie schon einmal an diesem Tag meinte sie sein Schnurren zu hören.

Und diesmal klang es wie ein Versprechen.

Immergrün

Behutsam legte Lucy einen kleinen Strauß violetter Blüten auf das noch frische Grab und einen ebensolchen auf das daneben.

Immergrün. In der Blumensprache die Blume der Erinnerung.

Dann erhob sie sich.

Die meisten Trauergäste waren längst gegangen, nur Edmund, Peter und Professor Kirke standen noch ein paar Meter weit entfernt und warteten auf sie. Eustachius war erst gar nicht gekommen, was Lucy erst geärgert hatte, sie jetzt aber hinnahm. Irgendwoher hatte sie das Gefühl, dass er gute Gründe hatte, nicht hier zu sein.

Mit einem letzten Blick auf das Grab der beiden Kinder drehte sie sich um und ging zu ihren Brüdern. Das schwarze Trauerkleid bauschte sich ein wenig im Wind.

„Professor? Wirst du uns noch zurück nach London begleiten?“, wollte sie von dem alten Mann wissen.

Digory Kirke nickte etwas. Das war ganz offensichtlich sein Plan gewesen.

Also hakte Lucy sich bei Peter unter und gemeinsam verließen die vier in langsamem Tempo den Friedhof.
 

Vom Himmel begannen die ersten Flöckchen zu segeln, es begann mal wieder zu schneien. Der Winter wollte und wollte kein Ende nehmen. Doch Lucy wusste, dass er irgendwann weichen müsste. Hier in der realen Welt ebenso wie er es in Narnia hatte tun müssen. Damals, vor scheinbar so unendlich langer Zeit.
 

Als sie am Bahnhof ankamen, war nicht viel los. Der Bahnsteig war wie leergefegt. Ohne ein Wort zu wechseln, warteten die vier darauf, dass der Zug kommen würde.

Und als das lange, schwere Gefährt mit schrillem Quietschen und einer Menge Lärm vor ihnen hielt, spürte Lucy völlig unpassenderweise auf einmal eine solche Befreiung, als habe es die Beklemmungen und die Todesfälle der letzten zehn Jahre nicht gegeben.

Edmund schien es ähnlich zu gehen, denn seine angespannten Gesichtszüge lockerten sich und er machte eine genervte Handbewegung. „Das diese Züge aber auch immer so laut sein müssen! Können die nicht mal leisere Gefährte erfinden?“, maulte er.

Lucy sah ihn erst verwundert, dann voller Freude an. Ihr Bruder hatte sein Lästermaul wiedergefunden. „Du benimmst dich wie früher!“, rief sie über den Lärm hinweg und auf ihrem Gesicht breitete sich erst zaghaft, dann deutlicher, ein erlöstes Lächeln aus.

„Nun kommt schon, ihr Trödelzwerge!“, hörten sie da Peter rufen, der gerade dem Professor in den Zug half.

„Wir kommen schon!“, gaben Lucy und Edmund zurück, wie in Kinderzeiten.

Den Mund des Professors umspielte ein wissendes Lächeln.

Dieser Moment hatte etwas an sich, das ihnen allen vorkam, wie ein letzter Atemzug vor dem Ertrinken.

Damit folgten die drei übriggebliebenen Pevensie-Geschwister Professor Kirke in den Zug.
 

Sie sahen nicht, dass der einzige Fahrgast, außer ihnen, ein gebeugtes, altes Weiblein war, deren schlohweiße Haare in früheren Zeiten einmal blond gewesen sein mussten, und die Digory Kirke im Alter sicher in Nichts nachstand...

Begegnungen I

Familie ist...

... sich jeden Tag überraschen lassen.

    ... sich gegenseitig den Rücken stärken.

         ... über Grenzen gehen.

              ... Zusammenhalt, Liebe und Vertrauen.
 

„Willkommen zuhause, Kinder“
 

Etwas verwirrt blinzelten die beiden Angesprochenen, als die tiefe, sonore Stimme sie ansprach.

Sie erinnerten sich an das, was vor kurzem geschah, nur schemenhaft und beinahe wären sie vor dem Wesen, zu dem die Stimme zu gehören schien, zurückgeschreckt. Doch etwas tief in ihnen vertraute diesem Wesen und langsam, ganz langsam kehrten die Erinnerungen zurück.

Das Mädchen legte eine Hand auf ihre Brust. „Ich… ich kann wieder frei atmen…“, brachte sie hervor.
 

Der Löwe wandte ihr etwas den Blick zu. „Ja, das kannst du. Ihr wart sehr krank, weißt du?“
 

Etwas zögernd nickte das Mädchen. „Ja, ich erinnere mich. Aber… wo sind wir hier? Und warum… warum nennst du dies hier unser zuhause? Wir stehen mitten im Wald“
 

Der Löwe lachte leise. „Das sehe ich, Mädchen. Und doch ist dies hier in gewisser Weise euer Zuhause. Das wo wir uns hier befinden, nennt sich mein Reich. Und es gehört zu einer Welt, zu der ihr eine sehr starke Verbindung habt, ohne dass ihr es je wissen konntet. In dieses, in mein Reich, konntet ihr aber nur einen Fuß setzen, weil ihr eure Welt für immer verlassen habt“
 

Die Hände der Kinder, die noch immer auf dem Rücken des großen Tieres ruhten, verkrampften sich, doch keiner von beiden sagte etwas.
 

Also sprach der Löwe weiter. „Ihr kennt mich schon eine ganze Weile, nicht wahr? Schon vor Jahren habe ich euch im Traum besucht“

Er wartete das Nicken der Kinder nicht ab, sondern fuhr fort: „Doch ich kenne euch schon sehr viel länger. Genau genommen habe ich über euch gewacht, seit ihr auf der Welt wart“
 

Das Mädchen sah ihn nur mit großen Augen an, doch der Junge zog plötzlich seine Hand von Aslans Rücken. „Wenn du doch über uns gewacht hast, warum hast du dann zugelassen, dass Mutter uns genommen wird?“, fauchte er.
 

Aslan senkte augenblicklich den Kopf. „Wachen heißt nicht etwas beeinflussen zu können, Nathan. Aber du hast Recht, an eurer Mutter habe ich wohl meinen größten Fehler begangen. Sie war meine Schutzbefohlene ebenso wie ihr und doch habe ich viel zu spät bemerkt, dass sie begann, sich von mir abzuwenden, bis ich nicht mehr an sie heran kam. Aus diesem Grund war es mir auch unmöglich, sie nach ihrem Tod hierher zu holen. Es tut mir Leid, Kinder, soviel kann ich von ganzem Herzen sagen“

Aslan blickte erst Emily, dann Nathan mit der ihm eigenen Aufrichtigkeit und Wärme an und schließlich entspannte der Junge sich wieder etwas.

Er schien Aslan Glauben zu schenken und der war nur zu froh darum. „Euch aber habe ich holen können, wie ihr seht. Und ich möchte euch auch bald den Grund verraten, warum diese Möglichkeit bestand. Doch jetzt kommt, Kinder, wir sollten dorthin gehen, wo es gemütlicher ist“

Damit setzte der große Löwe sich mit sachten Schritten in Bewegung. Hier in seinem Reich war es niemals kalt, auch jetzt, mitten in der Nacht herrschte eine angenehme Temperatur, aber die Kinder waren barfuß und trugen nur die dünnen Flatterhemden aus dem Krankenhaus. Außerdem hatte er viel zu erzählen. Sehr viel.
 

Als sie Kinder sich ihm anschlossen, spürte er, wie die Geschwister sich über seinen Rücken hinweg, an den Händen fassten und er lächelte stumm vor sich hin.

Nie seid ihr hier gewesen, nie habt ihr Narnia wirklich gekannt. Doch der Geist von Narnia ruht tief in euren Herzen.

Erstens, vertraut in jene, die ihr kennt und liebt. Wenn die Welt ins Wanken gerät, sind sie euer Halt.

Zweitens, öffnet eure Herzen für jene, die euer Vertrauen gewinnen wollen. So lauft ihr zwar Gefahr, enttäuscht zu werden, aber nur so habt ihr auch die Möglichkeit, neue Bande zu knüpfen…

In der dichten Mähne fast unsichtbar, drehten sich seine Ohren nach hinten, um dem leisen Gespräch der Kinder zu lauschen.
 

„Er sagt, wir haben unsere Welt für immer verlassen. Heißt das, wir sind…“, Emily erstickte fast an ihren eigenen Worten.
 

„…tot, ja“, erwiderte Nathan fast tonlos und auch ihm schien dieses Wort nur schwer über die Lippen zu kommen.
 

Von Emily war ein lautes Schluchzen zu vernehmen, Aslan roch die Tränen, die haltlos über die Wangen des Mädchens rannen. „Tante Lucy, Onkel Edmund und Onkel Peter werden uns schrecklich vermissen…“
 

An dieser Stelle hielt Aslan es für besser, sich wieder einzuschalten. „Wisst ihr, Kinder, sie werden euch sicherlich vermissen. Aber alle drei wissen sie, dass ihr in meiner Obhut seid und das wird ihnen die Trauer erleichtern. Und sie wissen, dass sie euch eines Tages wiedersehen werden“

Nun, zumindest Lucy wird es wissen, tief in ihrem Herzen, fügte er gedanklich hinzu.
 

Emilys Tränen versiegten jetzt. „Wirklich?“, schniefte sie.
 

Aslan nickte leicht. „Wirklich, Mädchen. Vertrau‘ mir“

Weiter sagte er nichts, aber er spürte, dass die verschränkten Hände der Kinder sich auf seinen Rücken senkten und in seine Mähne gegraben wurden, als suchten die beiden Halt bei ihm.

Aslans Gedanken kehrten dorthin zurück, wo sie vor wenigen Minuten noch gewesen waren:

Und drittens, glaubt daran, dass es auf jede Frage, die ihr euch stellt, irgendwann einmal die richtige Antwort geben wird… eure Tante, eure Onkel, ja auch eure Mutter haben das erst lernen müssen. Aber ihr wisst es von selbst, nicht wahr? Und das schweißt euch in diesen Minuten, in denen ihr einander einzig Halt gebt, mehr aneinander, als all die Jahre eures kurzen Lebens…
 

~*~
 

Am Tag darauf konnte man an einem Ort nicht weit entfernt, eine gänzlich andere Gruppe beobachten.

War ein Löwe, der mit Menschenkindern sprach, schon seltsam genug, so war dieser Mensch – scheinbar ein Mann in den besten Jahren – von einem aufrecht gehenden Dachs, einer kniehohen Maus und einem rothaarigen Zwerg umgeben und unterhielt sich auch noch angeregt mit ihnen.
 

Eben pflichtete die Maus dem Dachs bei, worauf der eine ungeduldige Handbewegung machte. „Natürlich habe ich Recht! Es ist die Aufgabe von uns Dachsen, sich zu erinnern!“

Die Maus beantwortete das nur mit einem kleinen Diener, sichtlich nicht gewillt, einen Streit einzugehen.
 

Der Mann schmunzelte. „Gib‘ es auf, Riepichiep, du kriegst ihn nicht klein“
 

Entrüstet sah die Maus ihn von unten her an, plötzlich einen kleinen Degen in der Hand. „Ein Ritter von Narnia gibt niemals auf, wenn er etwas auf seine Ehre hält! – Und eine Maus auch nicht!“
 

„Das hier ist aber kein Kampf, der mit scharfen Waffen gefochten werden sollte!“, mischte der Zwerg sich mit etwas mürrischem Ton ein.
 

„Ach nein? Welcher ehrenvolle Kampf ist es denn nicht wert, auf die Waffen zurückzugreifen, die wir besitzen?“
 

„Du solltest dir mal bewusst werden, dass deine Zunge ebenso gefährlich sein kann, wie dein Schwert“, erwiderte der Zwerg ungerührt von Riepichieps halb ernstgemeinen Schimpftiraden.

Sie alle kannten sich nun schon so lange, waren so enge Freunde, dass solcherart kleine Diskussionen an ihnen abperlten.
 

„Trumpkin hat recht, Riepichiep“, mischte sich auf einmal eine weitere Stimme in das Gespräch ein und alle vier schauten zur Seite, wo jemand zwischen den Bäumen aufgetaucht war.

Sofort verneigte Riepichiep sich, die anderen folgten seinem Beispiel.
 

Aslan sah ihnen nur lächelnd dabei zu.

„Erhebt euch wieder, Freunde. – Ich bin gekommen um mit dir zu sprechen, Caspian. Hättet ihr anderen die Güte, uns allein zu lassen?“
 

Abgesehen davon, dass Riepichiep sich erneut verneigte, waren die drei in Sekundenbruchteilen verschwunden.
 

Aslan sah ihnen lächelnd nach, ehe er den kleinen Hang hinab kam, bis er neben Caspian auf dem weichen Waldboden stand. „Ich habe euer Gespräch mit angehört. Und ich hoffe, du weißt, dass ich nie das Vertrauen, dass in mich gesteckt wurde, enttäuschen wollte“
 

„Trumpkin reitet doch nur immer darauf herum, dass du dich meistens erst zeigst, wenn gar nichts mehr hilft“, erwiderte Caspian bloß und setzte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm, als auch Aslan sich niederließ.
 

Der große Löwe schüttelte etwas seine Mähne. „Ich weiß. Aber das hat seine Gründe. Jeder, dem ein Leben geschenkt wurde, Menschen und andere Wesen, sie alle machen Fehler und sie alle müssen daraus lernen. Vor allem aber müssen sie lernen, selbst zurecht zu kommen. Ich bin ein Wächter, kein Befehlshaber. Ihr seid eigenständige Seelen und nicht etwa meine Schachfiguren“
 

Caspian nickte leicht und blickte zu den Baumkronen hinauf. „Das ist auch der Grund, warum du den Königinnen und Königen der alten Zeit irgendwann verwehrt hast, zurückzukehren, nicht wahr?“
 

Aslan nickte auf diese Frage hin leicht. „Sie alle hatten gelernt, was sie zu lernen hatten, was ich, was Narnia ihnen beibringen konnte.

Peter hatte gelernt, was es bedeutet, Verantwortung zu haben, Entscheidungen zu treffen, aber seinem Umfeld auch Freiheit zu lassen.

Susan…“, er zögerte kurz.

Als Caspian zwar die Augen schloss, ihn aber nicht unterbrach, sprach er weiter: „Susan hatte gelernt, sich zu behaupten, zu vertrauen und an ihren Entscheidungen festzuhalten. Wenn auch manchmal zu sehr.

Edmund hatte gelernt, dass es schön ist, sich auf jemanden verlassen zu können und dass man die Folgen seiner Entscheidungen tragen muss. Aber er hatte auch gelernt, dass Fehler einen erstarken lassen.

Und Lucy hatte gelernt, dass sie sich selbst vertrauen kann, selbst dann wenn andere es nicht tun, und dass sie genau so bleiben soll, wie sie ist“
 

„Und… ich? Was habe ich gelernt?“, wollte Caspian dann wissen.
 

Aslan schnurrte etwas. „Du hast gelernt, den Mut aufzubringen, ein neues Leben zu beginnen, Vergangenes hinter dir zu lassen und dich zu öffnen für das, was kommen mag. Und das hat dich zu einem König gemacht, wie ihn sich die Narnianer nur wünschen konnten“, erwiderte er, hatte aber durchaus auch die unausgesprochene Frage nicht überhört: „Caspian, du bist in Narnia geboren. Durch deine Adern fließt narnianisches Blut. Die Könige und Königinnen der alten Zeit, sie… sie kamen aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, in der die Zeit nicht nur sehr viel langsamer vergeht, sondern in der sie ebenso lernen mussten, zurechtzukommen. Sie haben Narnia geliebt, sie waren hier willkommen, aber es war nicht ihre Heimat. Und genau das mussten sie verstehen.

Außerdem weiß ich im Nachhinein, dass ich sie dort, in ihrer Welt, gebraucht habe. Ohne sie, hätte sich ein Fehler, den ich machte, noch sehr viel schwerer ausgewirkt“
 

Jetzt sah Caspian ihn deutlich fragend an und Aslan unterdrückte das unwillkürliche, erneute Schnurren.

Da hatte Caspians Frage ihm ja richtig in die Karten gespielt.

„Caspian, weißt du, was mit jenen geschieht, die Narnias Blut in sich tragen, aber nicht in Narnia geboren sind?“
 

Etwas zögernd schüttelte der dunkelhaarige Mann den Kopf.
 

„Siehst du“ Damit erhob Aslan sich und wandte sich etwas ab.

„Komm‘ am Morgen nach Cair Paravel. Dort wird sich einiges klären“

Damit verschwand der große Löwe im Wald, als sei er nie dagewesen.
 

Caspian sah ihm noch einen Moment nach. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wovon Aslan sprach, aber er wusste auch, dass die einzige Möglichkeit, dies herauszufinden, darin bestand, Aslans Aufforderung zu folgen.

Begegnungen II

Begegnungen, die die Seele berühren,

hinterlassen Spuren, die nie ganz verwehen.
 

Cair Paravel erstrahlte in der Morgensonne, wie frisch erbaut.
 

Unwillkürlich blieb Caspian, als er sich näherte, am Fuße der Freitreppe stehen.

Er war nicht oft hier, war dieser Ort doch mit schmerzhaften Gedanken verbunden.
 

Die Version von Cair Paravel, die im Narnia der Lebenden gestanden hatte, war nach seiner Thronbesteigung wieder aufgebaut worden. Aber man hatte es der Anlage angesehen, dass sie einmal zerstört gewesen war.
 

Hier aber, in Aslans Reich, wo Cair Paravel wie neu erschien, wurde Caspian immer wieder darauf gestoßen, dass dies die Umgebung gewesen war, in der Susan regiert hatte.

Damals, lange, lange vor seiner Zeit, als sie mehr als ein Jahrzehnt in Narnia gelebt hatte.
 

Und später, bei ihrer Rückkehr; mit ihm? Ihnen war keine Zeit geblieben.

Und dieses Wissen quälte ihn noch immer.

Doch Aslan hatte ihn hierher gebeten und dieser Bitte würde er Folge leisten, auch wenn er nicht wusste, was der große Löwe damit bezweckte.

Während er durch die hellen Gänge schritt, bemühte er sich, nicht zu sehr auf die Gemälde zu achten, die die Wände zierten und, ebenso wie die Höhlenwände in Aslans Haug, Szenen aus der Zeit der Könige und Königinnen der alten Zeit zeigten.
 

Dann aber horchte er überrascht auf.

Aus Richtung des Thronsaales waren Stimmen zu vernehmen, Kinderstimmen.

Da das große Portal offen stand, verharrte Caspian dort und beobachtete die Szene, die sich ihm bot.
 

Aslan stand seitlich der Thronsessel und um ihn herum wuselten zwei Kinder, Jugendliche eher, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt.

Das Mädchen trug ein einfaches, weißes Kleid, das etwas oberhalb der Taille mit einem breiten, mitternachtsblauen Stoffband geschnürt worden war. Hellblaue und silberne Ornamente, sowie die edle Silberbrosche, die den hellen Umhang hielt, wiesen trotz der Schlichtheit darauf hin, dass es sich um ein Adelsgewand handelte. Ein weißes Stoffband hielt die Haare aus dem Gesicht.

Der Junge trug eine blasse, violette Tunika, dazu sandfarbene Hosen, auch hier waren das einzig Edle die violetten Stickereien und der ebenfalls violett schimmernde Mantel, der von einer mattsilbernen Brosche gehalten wurde.

Caspian runzelte leicht die Stirn.

Er hatte diese Kinder nie gesehen oder konnte sie auch nur zuordnen.

Dennoch waren sie mit Sicherheit nicht ohne Grund hier.

Erst in diesem Moment erkannte Caspian, dass Aslan seine Anwesenheit bemerkt hatte und ihn anscheinend schon eine geraume Zeit musterte.
 

Jetzt kam der große Löwe lautlos zu ihm und blieb neben ihm stehen.

„Schön, dass du gekommen bist“
 

„Du hast mich gerufen, Aslan“, gab Caspian nur zurück, ohne den Blick von den Kindern zu nehmen.

Etwas an den beiden kam ihm bekannt vor. Schmerzlich bekannt sogar.
 

Aslan schien sein Ansinnen gespürt zu haben, denn er folgte Caspians Blick, ehe er ruhig sagte: „Darf ich vorstellen, Caspian, dies sind die Geschwister Emily Asla und Nathan Cassian. – Susans Kinder“
 

Caspian erstarrte. „Susans Kinder?“, echote er, noch ehe ihm die Namen der beiden – vor allem der des Jungen – richtig ins Bewusstsein drangen.

Dann jedoch glaubte er, ihm würde das Blut in den Adern gefrieren. „Sag‘ mir, dass das nicht wahr ist, Aslan…“, flüsterte er kaum hörbar.
 

Aslan sah ihn von unten her vielsagend an, ehe er die Kinder ansprach und Caspian so mit seinem Schock allein ließ.

„Kinder, schaut mal her. Ich möchte euch jemanden vorstellen. – Dies ist König Caspian X. von Narnia“
 

Augenblicklich hielten die beiden Kinder in ihrem… was auch immer sie gespielt hatten, inne und blickten erst zu Aslan, dann mit ungläubig geweiteten Augen auf den Mann an dessen Seite.
 

„Ein echter König?“, fragte das Mädchen erstaunt und in ihren Augen blitzten Neugier und Erwartung.
 

Aslan schmunzelt. „Ja, Emily, ein echter König. – Und euer Vater“
 

Während Caspian zusammenzuckte, weil er seine unwillkürliche Ahnung bestätigt sah, wechselten die Kinder einen Blick miteinander, ehe sie gleichzeitig vorstürmten und Caspian beinahe umrannten.

Gerade noch konnte er sich fangen, ging auf ein Knie nieder und schloß die Kinder in die Arme. Sofort drängten beide sich noch fester an ihn, Emily begann zu schluchzen.
 

Einen Moment verharrten die drei so, ehe Caspian etwas den Kopf hob, Aslans Blick suchte. „Ich… habe nicht das Geringste geahnt…“, hauchte er und die Erschütterung war ihm noch immer anzumerken.
 

Aslan blickte ihn verständnisvoll an. „Ich weiß, Caspian. Nicht einmal Susans Geschwister haben es gewusst – bis Susan starb. Da waren die beiden hier schon fünf Jahre alt“
 

Caspian schluckte, fuhr mit einer Hand leicht durch Emilys Haar, das seinem so ähnlich war. „Du meine Güte… aber wie…“, die Stimme versagte ihm und doch zeigte Aslans nachdenklicher Blick, dass er die Frage verstanden hatte.

„Du weißt selbst, wie Susan reagierte, als sie erfuhr, dass sie für immer gehen würde. Schlussendlich… sie fühlte sich allein gelassen. Von mir, von ihren Geschwistern, die nichts ahnten, und vielleicht auch von dir. Sie zog sich von allen zurück, selbst von ihren Eltern und schließlich auch von ihren Erinnerungen. Schon als die beiden hier geboren wurden, kam ich in ihrer Welt nicht mehr an Susan heran. Sie hat vergessen wollen und sie hat vergessen. Als sie starb, lag es nicht einmal in meiner Macht, sie hierher zu geleiten“
 

Caspian schob die Kinder leicht von sich und sah sie an. „Wie ist es euch ergangen?“
 

Zum ersten Mal war es Nathan, der antwortete: „Auf einmal war Mama weg. Die Nachbarin, die auf uns aufpasste, hatte nicht genug zu essen für uns. Also brachte sie uns in ein Waisenhaus. Ein paar Wochen später waren plötzlich Onkel Peter, Onkel Edmund und Tante Lucy da“
 

„Und dann haben die drei euch aufgenommen?“, Caspian spürte pure Dankbarkeit, als er das sagte.
 

Emily nickte. „Sie haben für uns gesorgt. Bis…“
 

„Ich verstehe schon, Mädchen. – Sie sind in ihrer Welt gestorben, nicht wahr?“, wendete Caspian sich wieder an Aslan.
 

Der große Löwe nickte. „Das sind sie. Aber ich konnte sie holen. Und jetzt sind sie hier. Peter, Edmund und selbst Lucy haben bis zum Sterbetag der beiden nie viel von Narnia erzählt. Selbst meinen Namen hat Lucy erst verraten, als Nathan bereits im Sterben lag. Zuvor war ich nur die ‚große goldene Katze‘, die die beiden manchmal im Traum besuchte. Und die ihnen ein kleines Geschenk gemacht hat, vor ein paar Jahren“
 

Es schien, als fielen Caspian erst jetzt die Kette um Emilys Hals, die Flöte bei Nathan auf, denn er atmete scharf ein.

„Meine Abschiedsgeschenke für Susan…“, murmelt er vor sich hin, sichtlich im Versuch Zeit zu gewinnen, sich ein wenig zu fangen. Er schien mit allem gerechnet zu haben, nur nicht mit dieser Neuigkeit.

Caspian schloss jetzt die Augen. „Ich weiß nicht, wie ich meine Dankbarkeit in Worte fassen soll. Ich habe Hochkönig Peter und erst recht König Edmund und Königin Lucy kennen gelernt und ihnen hier in Narnia viel zu verdanken gehabt. Aber jetzt habe ich einen Grund, ihnen noch um ein Vielfaches mehr zu danken“
 

Ehe Aslan antworten konnte, mischte sich Nathan ein, dem an Caspians Worten etwas Entscheidendes aufgefallen war: „König?“

„Königin?“, hakte Emily gleich danach ein.
 

Caspian musste ein wenig lächeln.

„Ja, meine Lieben, Hochkönig Peter, der Prächtige.

König Edmund, der Gerechte.

Und Königin Lucy, die Tapfere.

Drei der vier Könige und Königinnen der alten Zeit. So kannte man eure Onkel und eure Tante hier in Narnia“
 

„Und der vierte König?“, wollte Nathan wissen.
 

Jetzt wurde Caspians Lächeln traurig. „Der vierte König war auch eine Königin. Königin Susan, die Sanftmütige. – Eure Mutter“
 

„Mama war auch eine Königin?“, fragte Emily entgeistert nach.
 

„Ja, Kinder. Hier in Narnia war sie das“, antwortete Aslan an Caspians Stelle, denn der Dunkelhaarige wäre in diesem Moment nicht dazu fähig gewesen.

Er hatte nicht geweint, als er von Susan Abschied hatte nehmen müssen. Er hatte nicht geweint, als er erfahren hatte, dass sie für immer und ewig gehen würde.

Aber jetzt rannen ihm Tränen über die Wangen und machten ihm das Sprechen beinahe unmöglich.
 

Emily hatte es bemerkt und sofort hob sie die Hand, um die Tränen wegzustreichen. „Dad?“, probierte sie etwas zögerlich die für sie vollkommen neue Anrede aus, ehe sie besorgt nachfragte: „Bist du wegen uns traurig?“
 

Caspian schluckte und zog die beiden Kinder wieder enger an sich. „Nein, ihr beiden…“, brachte er erstickt hervor, „Nicht wegen euch. Eher… wegen eurer Mutter. – Wisst ihr, es ist lange her, aber damals… damals habe ich sie geliebt“
 

~*~
 

Eine Weile später – Aslan hatte die drei irgendwann alleine gelassen – hatte Caspian die beiden Kinder mit hinaus auf den Balkon genommen, über dessen Brüstung hinweg man den Strand und die weite, narnianische See erkennen konnte.

Auch wenn er wusste, dass das Meer hier nicht so weitläufig war, wie es im Narnia der Lebenden war und dass es auch kein Pendant zu den einsamen Inseln gab, so war es doch ein berührender Anblick, den sachten, sonnenglitzernden Wellen zuzusehen, die sich bis zum Horizont erstreckten.
 

Emily war staunend an die Balustrade getreten, lehnte mit überkreuzten Armen darauf und konnte den Blick offenbar nicht von der Küste nehmen.
 

Nathan stand neben ihr, aber sein Blick hatte sich auf Caspian geheftet, als schien er zu überlegen, wo er anfangen sollte.
 

Caspian konnte nicht anders, als ein wenig wehmütig zu lächeln.

So sehr, wie er – jetzt wo er es wusste – sich selbst in Emilys Aussehen wiederfand, so sehr erinnerte Nathans Verhalten an Susan.

Er schien nach Erklärungen zu suchen, Fragen zu haben, von denen er überlegte, ob es richtig wäre, sie zu stellen.
 

Doch schließlich riss Nathan sich zusammen. „Va-ter?“ Er tat sich noch etwas schwer mit der Bezeichnung. „Mama hat nie von Narnia oder von dir erzählt. Sie hat immer nur gesagt, du wärst schon vor unserer Geburt gestorben“

Einmal ausgesprochen, schien auch Emilys Interesse geweckt, denn sie wirbelte herum und setzte hinzu: „Warum hat sie das getan, Dad?“
 

Caspian atmete tief durch und sah wieder zum Meer, in die Unendlichkeit. „So genau kann ich euch das auch nicht verraten. Aber… ich fürchte, ihr wurde damals, als wir uns trennen mussten, das Herz gebrochen. – Wenn ihr wollt, erzähle ich euch, wie die Susan war, die ich kannte“
 

„Au ja!“ Emily war Feuer und Flamme.
 

Caspian trat neben sie und setzte sich seitlich auf die Balustrade, seinen Augen war anzusehen, dass er in seinen Erinnerungen weit, weit zurückreiste.
 

„Als Susan und ich uns das erste Mal trafen, war sie nicht zum ersten Mal hier.

Für sie war gerade ein Jahr vergangen, seit ihrem ersten Besuch in Narnia, seit sie und ihre Geschwister die weiße Hexe Jadis und damit den ewigen Winter besiegt und den Thron Narnias bestiegen hatten. Sie regierten jahrelang, ehe sie durch einen Zufall zurück in ihre Welt fanden. Dort war anscheinend kein Deut Zeit vergangen.
 

Nun kam sie also wieder, in ein Narnia, in dem fast 1300 Jahre vergangen waren und die ‚Königinnen und Könige der alten Zeit‘ nurmehr eine Legende waren.
 

Fast 300 Jahre zuvor hatte das Volk, aus dem ich stammte, Narnia erobert, die Narnianer, unterjocht, den Palast, in dem wir uns gerade befinden, zerstört. Durch eine Intrige musste ich fliehen, denn mein Onkel wollte seinen Sohn auf dem Thron sehen.

Mein Hauslehrer gab mir etwas mit, das damals in den tiefsten Sagen und Märchen geschlummert hatte.

Ein Horn, das Susan gehört hatte – das Vorbild für deine Flöte, Nathan.

Als ich durch meine Verfolger in Gefahr geriet, blies ich hinein – und rief sie damit. Susan, Peter, Edmund und Lucy. Sie kamen mitten hinein in den Krieg, der auszubrechen drohte. Narnianer gegen Telmarer“
 

„Krieg ist etwas Dummes“, unterbrach Nathan ihn und Caspian schmunzelte unwillkürlich.

„Dieser Satz hätte von deinem Onkel Edmund stammen können. Aber du hast natürlich Recht. Krieg ist etwas sehr Dummes. Dennoch war es jetzt nicht mehr abzuwenden. Ich schlug mich auf die Seite der Narnianer, schwor ihnen, ihnen ihr Land zurück zu geben, zumal ich der rechtmäßige Thronerbe war.

Dann kamen Susan und die anderen und auf einmal hatte ich Unterstützung.

Doch es gab auch einige Streits. Unter anderem um die Rolle, die Aslan in diesem Krieg spielen würde, denn er war seit so langer Zeit verschwunden, dass mancher schon glaubte, er existiere nicht mehr. Lucy war natürlich die Einzige, die ihm vertraute und nachdem wir in einer ersten Schlacht herbe Verluste erlitten hatten, erklärten wir uns bereit, sie gehen zu lassen, damit sie Aslan suchen konnte.

Susan ging mit ihr, ganz die große Schwester, diejenige, die Lucy schützen wollte, vor allem aber auch, die Lucy im Auge behalten wollte.

Da wir wussten, dass meine Landsleute bereits in der Nähe waren, dass nicht klar war, ob die beiden ohne Kampf, ob sie überhaupt durchkommen würden, gab ich irgendwann meiner Sorge nach und folgte ihnen. Ich kam gerade rechtzeitig, um Susans Leben zu retten, denn sie hatte Lucy vorgeschickt und sich allein den Angreifern entgegen gestellt. Ihre Waffe war der Bogen, nicht unbedingt zum Nahkampf geeignet.

Was war ich froh, als wir davonkamen und zurückkehren konnten, während an unserem Rückzugsort bereits die Schlacht tobte.

Das heißt, nicht die Schlacht, sondern ein Duell zwischen eurem Onkel Peter und meinem Onkel Miraz. Wir hatten unnötige Opfer vermeiden wollen.

Peter gewann auch, aber eine Intrige seitens der Männer meines Onkels eröffnete dennoch die Schlacht.

Wir waren viel zu wenige, wurden zurückgedrängt, mussten um unser Leben fürchten.

Susan leitete die Bogenschützen an, denn neben einem Zwerg namens Trumpkin war sie die beste Bogenschützin, die wir hatten und im Kampf konnte sie stahlhart sein. Kaum etwas vermochte sie aus der Ruhe zu bringen.

Im letzten Moment kehrte Lucy zurück, mit Aslan an ihrer Seite und mit ihnen die Unterstützung, die wir dringend brauchten. So konnten wir die Telmarer zurückschlagen und besiegen.
 

Es war ein einziger Freudentaumel unter den Narnianern, es gab Paraden und Feste. Unter anderem wurde ich zum König gekrönt.

In dieser Zeit haben eure Mutter und ich ausgelebt, was wir füreinander empfanden. Doch das Glück währte nur wenige Wochen.

Susan und ihre Geschwister gehörten nicht hierher, sie mussten zurück in ihre Welt. Ich habe das hingenommen, habe die Kette und die Flöte anfertigen lassen, habe mir keine großartigen Sorgen gemacht.

Gedanken an den Abschied schmerzten, aber ich wusste ja nicht, dass er für immer sein würde.

Das erfuhr ich erst, als Susan und die anderen schon fast durch das Portal hindurch waren. Eure Mutter konnte sehr ernst und neutral tun, egal wie es in ihr aussah. Sie wollte immer das Bild der kontrollierten Erwachsenen abgeben, dabei war sie damals nur wenige Jahre älter als ihr jetzt.

Sie gab mir einen letzten Kuss, den einzigen, der öffentlich bekannt wurde, dann ging sie, verschwand für immer aus meinem Leben.

Dass ihr beide in ihr heranwuchst, habe ich nie geahnt. – Sie muss schon bald danach aufgehört haben, an Narnia zu glauben. Sie hat mich wohl vermisst, aber bald darauf dann vergessen.

Deswegen hat sie euch vermutlich auch erzählt, ich sei tot, denn für sie war ich gestorben“
 

„Und du hast sie auch vermisst?“, wollte Emily wissen, als Caspian endete.

Sie hatte teilweise ernst, teilweise mit leuchtenden Augen zugehört. Anscheinend hatte Caspians Erzählung ihr Seiten an ihrer Mutter enthüllt, von denen sie nie etwas gewusst hatte. Kein Wunder auch, wenn Susan Narnia verleugnet hatte.
 

Caspian legte jetzt einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens.

„Natürlich, Emily. Ich habe sie schrecklich vermisst. Aber ich habe mein Schicksal irgendwann akzeptiert, vor allem als ich eure Tante Lucy, euren Onkel Edmund nach ein paar Jahren noch einmal wieder sah, und sie mir sagten, dass selbst sie keinen Kontakt mehr zu Susan hatten. Da habe ich es aufgegeben. Ich habe mich stattdessen darauf konzentriert, ein guter König für Narnia zu sein und einige Rätsel zu lösen, die die Vergangenheit uns beschert hatte. Auf dieser Reise haben eure Tante, euer Onkel und auch euer Großcousin Eustachius mich begleitet. Und auf dieser Reise habe ich jemanden kennen gelernt“
 

„Und wer war das?“, diesmal fragte Nathan.
 

Caspian wandte ihm den Blick zu, ehe er antwortete: „Ihr Name war – und ist – Lilliandil. Sie wurde meine Gemahlin und mit ihr bekam ich den Sohn, der nach mir Narnias Thron innehatte. Rilian“
 

„Unser Halbbruder“, sagt Nathan vollkommen nüchtern.
 

Ein Verhalten wie Susan… ja keine Verwunderung zeigen, ja nicht zeigen, was man denkt…, schoss es Caspian durch den Kopf, doch Emilys skeptische Stimme holte ihn zurück ins Hier und Jetzt: „Und diese Lilliandil hast du auch geliebt?“

Es war offensichtlich, dass sie ergründen wollte, wer ihm denn nun wichtiger war, Susan oder Lilliandil.

Diese Entscheidung hätte Caspian aber nicht treffen mögen.

Also antwortete er wahrheitsgemäß: „Ja, ich habe Lilliandil geliebt und ich tue es noch heute. Aber keine Sorge, Emily, ich habe eure Mutter nie vergessen“
 

„Das wäre auch nicht rechtens gewesen, mein Lieber“ Unbemerkt hatten sich Gestalten genähert, von denen zwei auf zwei Beinen gingen, die dritte auf vieren.

Aslan hielt sich allerdings zurück. Anscheinend hatte er nur den Boten gespielt.
 

Die Sprecherin war eine zarte Frau mit hellem Haar, deren Gewand reinweiß leuchtete. Neben ihr stand ein Mann, der Caspian unverkennbar ähnlich sah. Die tiefblauen Augen hatte er allerdings von seiner Mutter. Keines der Kinder brauchte fragen, wen sie da vor sich hatten. Sie wussten es instinktiv.
 

Es war schließlich Rilian, der das entstandene Schweigen brach, indem er sich trocken an seinen Vater wandte: „Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal Geschwister bekomme“
 

Caspian schmunzelte, sichtlich froh, dass seine Familie die Neuigkeit so gelassen aufnahm – auch wenn er zu Recht annahm, Aslan habe ihnen bereits einiges erzählt.

So antwortete er nur: „Wie solltest du auch, Rilian. Heute Morgen wusste ich selbst noch nicht, dass es die beiden gibt“
 

„Wenn es anders gewesen wäre, wäre ich dir auch sehr böse gewesen“, mischte sich Lilliandil halbernst ein, kam an seine Seite, ehe sie zum Strand hinab schaute. „Ich glaube, es ist Zeit, für einen Familienspaziergang. Ich würde euch beide nämlich gerne näher kennenlernen. Was meint ihr, Emily, Nathan?“
 

Die Kinder waren sichtlich begeistert von der unkomplizierten, neuen Bekanntschaft und Caspian, der ganz genau wusste, dass seine Gemahlin durchaus ebenso rätselhaft und erhaben sein konnte, lächelte nur stumm in sich hinein.

Als Emily und Nathan bereits voran stürmten, bot er Lilliandil den Arm und sie folgten etwas langsamer.
 

~*~
 

„Und... Caspian?“, rief Aslan ihn noch einmal zurück.
 

Caspian drehte sich um.
 

Der Löwe war am oberen Ende der Freitreppe von Cair Paravel stehen geblieben und sein Fell leuchtete golden in der Sonne. „Mach‘ dir keine Vorwürfe, wegen Susan. Es war ihre eigene Entscheidung“
 

Caspian schloss kurz die Augen, ehe er nickte. „Ich weiß, Aslan. – Ich danke dir, dass du über Emily und Nathan gewacht hast und mir ermöglicht hast, sie kennenzulernen. Und sei es auch erst nach so langer Zeit“
 

Aslan schnurrte tief in der Brust. „Danke nicht mir, Caspian, denn das hast du nicht mir zu verdanken. Danke Hochkönig Peter, König Edmund und vor allem Königin Lucy“
 

„Aber wie…“

Caspian konnte nicht aussprechen, denn Aslan unterbrach ihn sachte. „Du wirst die Gelegenheit bekommen. – Bis bald, König Caspian, Königin Lilliandil, König Rilian“ Aslan neigte kurz den Kopf und ehe noch jemand etwas sagen konnte, war der große Löwe wieder im Inneren von Cair Paravel verschwunden.
 

Einen Moment schaute Caspian ihm stumm nach, dann erinnerte ein sanfter Händedruck seitens Lilliandil ihn an seine Umgebung. „Nun komm, mein Lieber. Oder willst du die beiden allein ins Meer jagen?“, scherzte sie.
 

Caspian drehte sich ein Stück und legte eine Hand an ihre Wange. „Keine Sorge, Lilliandil. Ich bin sicher, Lucy hat sie auf alles vorbereitet, was ihnen hier wiederfahren könnte. Also werden sie auch schwimmen können“, gab er zurück.

Es freute ihn, dass Lilliandil die beiden bereits als zugehörig anzusehen schien. Das war fast mehr, als wozu er nach der plötzlichen Konfrontation schon fähig war.
 

Lilliandil schien seine Stimmung zu erahnen, denn sie streckte sich etwas und küsste ihn leicht. „Sie sind deine Kinder, Caspian. – Außerdem sehen sie nach allem aus, nur nicht danach, dass sie ein gutes Stück älter sind, als unser Sohn“, fügte sie dann verschmitzt hinzu.

Sie sah zur Küste hinab und lachte leise auf und Caspian stimmte ein.

Für einen Augenblick sah Rilian seine Eltern etwas verwirrt an, dann folgte er deren Blick und konnte nicht anders, als es ihnen nachzutun.
 

Emily und Nathan standen mitten in der Brandung, ihre Kleidung bereits halb durchnässt und schienen auf dem besten Weg zu einer Wasserschlacht.
 

„Ich glaube, sie können ganz froh sein, dass sie nicht als Adelskinder aufgewachsen sind, oder?“, wollte Lilliandil leise wissen.
 

„Oh, ich glaube das liegt eher an Edmunds und Lucys Erziehung. Auf ihre Weise waren die beide ungebändigt – und man sieht, was daraus wird“, erwiderte Caspian nur, ehe er sich in Bewegung setzte.

Noch bestand Hoffnung, dass aus der Planschparty ein normaler Spaziergang werden konnte. Sehr groß schätzte Caspian diese Hoffnung allerdings nicht ein.
 

~*~
 

Aus einiger Entfernung hatte Aslan noch beobachtet, was sich bei der neu zusammengebastelten Familie tat und er lächelt jetzt höchstzufrieden, ehe er sich an den Zentaur neben sich wandte.

„Ihr Zentauren hattet Recht. Ich habe wohl genug getan, damit man sagen kann, ich hätte sie nicht im Stich gelassen. Vielleicht habe ich wieder gutgemacht, dass ich Königin Susans Unglück zuließ…“
 

Der Zentaur, ein kräftiges Wesen mit dunklem Teint, wie die Meisten seiner Art mit braunem Fell ausgestattet, erwiderte darauf nichts, aber er folgte Aslan, als dieser sich umwandte und im Wald verschwand.

Das mag‘ sein, großer Aslan. Aber die Sterne zeigen dennoch nichts Gutes. Am Himmel jagt der Löwe den Löwen. Die Zeit von Caspians Dynastie, die Zeit der Könige von Narnia neigt sich ihrem Ende…
 

Aslan gab nicht zu erkennen, dass er die Gedanken des Zentaurs sehr gut kannte und dass er eben jenes Ende ebenso nahen fühlte.

Ich weiß, Talsturm. Und deswegen ist es allerhöchste Zeit, unsere sieben wahren Freunde zu uns zu holen.

"Der Tod ist nicht gleichzusetzen, mit dem Ende"

„Willkommen zu Hause, Evastochter Lucy“
 

Behutsam blinzelte sie gegen das helle Licht an. Wer hatte da gesprochen?
 

„Willkommen, Lucy“, wiederholte die Stimme und diesmal war Lucy wach genug, sie zu erkennen. „Aslan!“, rief sie aus und setzte sich auf, öffnete die Augen nun vollends. Der große Löwe stand direkt vor ihr, inmitten einer blühenden Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte. Von irgendwoher hörte sie das Plätschern eines Baches, Vogelgezwitscher lag in der Luft.
 

Und sie hörte ein Rascheln.

Im nächsten Augenblick stand da eine vielleicht kniehohe Maus mit einem Schwertgehänge um die Hüfte und einer roten Feder hinter dem Ohr.

„Reepicheep! Du bist auch hier?“, rief sie aus und umarmte den Mäuserich. Als sie ihn wieder freigab, verbeugte er sich galant vor ihr. „Aber natürlich, Eure Hoheit. Stets zu Diensten, früher und heute, Reepicheep und seine tapferen Mäuse!“

Lucy konnte nicht anders, als zu schmunzeln.

Als sie die Hände sinken ließ, spürte sie feinen Stoff und blickte an sich herunter. Sie trug nicht mehr das grobe, schwarze Trauerkleid, sondern ein Ebenbild jenes feinen, eisfarbenen Gewandes, das ihr einst als Königin Lucy, der Tapferen gehört hatte, das sie zu ihrer Krönung getragen hatte. Am Hals fühlte sie den leichten Druck der Spange, die den zugehörigen rot-goldenen Umhang hielt.
 

Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, was geschehen war.
 

Sie erinnerte sich nur noch an einen heftigen Ruck, ohrenbetäubenden Lärm und dass sie erst nach vorn, gegen Peter, und dann nach hinten, mit dem Nacken an die Kante der hölzernen Sitzbank geschleudert worden war.

Dann war da nichts mehr gewesen.

Und als sie wieder erwachte, war sie hier gewesen.

„Ich…“, setzte sie an, fand aber keine Worte, um auszudrücken, was ihr gerade durch den Kopf ging.

Aslan aber schien sie dennoch zu verstehen. „Der Tod ist nicht gleichzusetzen mit dem Ende. Genau genommen beginnt deine Geschichte erst hier. Von jetzt an, Evastochter Lucy, Königin von Narnia, von jetzt an hast du die Ewigkeit vor dir!“
 

Für einen Augenblick starrte Lucy den großen Löwen an, dann blickte sie sich um. „Das hier ist also dein Reich, ja, Aslan?“
 

„Dies hier ist das echte Narnia, Lucy. Das Narnia, was du bisher erlebt hast, war ein Schattenbild des hiesigen. Das hier ist deine Heimat – euer aller Heimat“ Aslan nickte ihr zu, dann sah er neben sie und erst jetzt erkannte Lucy dort Edmund und Peter, beide ebenfalls in blau-silbernen oder petrolfarbend-goldenen Gewändern, die denen glichen, in denen sie seinerzeit den Thron Narnias bestiegen hatten, – und zwei auf den ersten Blick fremde Menschen.

Den einen davon erkannte sie auf den zweiten Blick als eine weit jüngere Ausgabe des Professors, nun ebenfalls in narnianischer Tracht. Aber die blonde Frau neben ihm, blieb ihr fremd.
 

Doch als sie Aslans auffordernden Blick sah, beeilte sie sich, sich aufzurappeln, strich das Kleid glatt und verschob ihre Überlegungen auf später.
 

Aslan sah noch einmal in die Runde.

„Nun, Königin Lucy, König Edmund, Hochkönig Peter…“, bei jedem Namen, den er aussprach, neigte der majestätische Löwe dankend und respektsbekundend den Kopf, „… Digory Kirke, Polly Plummer, Eustachius Knilch, Jill Pole – und natürlich du, König Tirian, letzter König Narnias. Kommt nur mit. Ihr werdet schon erwartet“

Damit drehte er sich elegant auf der Stelle und schritt voran, über die Wiese, auf eine Hügelkuppe hinauf.
 

Lucy, die Eustachius und Jill erst jetzt entdeckte, weil beide bisher, gemeinsam mit einem blonden Mann, der ebenfalls Adelsgewänder Narnias trug – anscheinend dieser Tirian – hinter ihr gewesen waren, trat an Aslans Seite und die anderen taten es ihr gleich. Beinahe wäre ihnen allen vor Staunen der Mund offen stehen geblieben.

Unter ihnen erstreckte sich tatsächlich beinahe das Narnia, das sie kannten. Aber es war um ein Vielfaches lebendiger, bunter, perfekter.
 

Aslan legte den Kopf in den Nacken und sein Brüllen schallte weit über die Landschaft.

Schon waren die ersten Wesen im Tal aufmerksam geworden und näherten sich, hier und da entdeckte Lucy bekannte Gesichter.

Und dann kam ihnen eine kleine Gruppe entgegen, deren Anblick Lucy endgültig befreite.

Voran, entschlossen und ein wenig verwegen wie immer, Caspian X., ein herzliches Lächeln im Gesicht, bei ihm eine Frau mit hellen, silberweißen Haaren, gekleidet in ein ebenso einfaches wie strahlendes, weißes Gewand. Lucy braucht einen Moment, um die Sternentochter wiederzuerkennen, in die Caspian sich damals verliebt hatte. Er hatte sie also tatsächlich mit sich genommen. Neben den beiden stand ein dunkelhaariger Mann, in dem Lucy fast automatisch den Sohn der beiden erkannte.

Und wiederrum daneben standen zwei Gestalten, bei denen sie weder raten, noch auf ihre Assoziation vertrauen musste, obgleich auch sie nun Adelsgewänder Narnias trugen: Emily und Nathan.
 

Beide winkten jetzt und Lucy erwiderte die Geste. Zu ihrer Überraschung und leichter Belustigung, hoben nun auch Caspian und, seinem Vorbild folgend, die anderen beiden je eine Hand und winkten ihr zu.

Zum ersten Mal seit Jahren lachte Lucy befreit auf. Umsomehr, als sie merkte, dass nun auch alle, die um sie herum standen, die Hand zum Winken gehoben hatten und mehr und mehr Narnianer, die ihnen entgegenkamen, es nachmachten, vermutlich ohne so genau zu wissen, was diese Geste zu bedeuten hatte.
 

Edmund war der Erste, der schließlich loslief, zu auf eines der Pferde, die sich näherten. Es war Philipp, sein treuer Gefährte.

Als hätte das den Ausschlag gegeben, mischten sich nun alle unter die Narnianer, hier und da erklangen Jubelrufe, wenn besondere Freunde aufeinander trafen.
 

Schließlich blieb nur Lucy an Aslans Seite zurück.

Der Löwe sah sie von der Seite an. „Willst du dich ihnen nicht anschließen?“, wollte er ruhig wissen.
 

Lucy legte ihm eine Hand auf den Rücken, spürte die Wärme, die von seinem seidigen Fell ausging. „Du hast doch selbst gesagt, jetzt habe ich eine Ewigkeit Zeit…“, lächelte sie.
 

Aslan schnurrte amüsiert. „Ich bezweifle allerdings, dass andere Leute eine Ewigkeit auf ein Wiedersehen mit dir warten wollen“, gab er zurück und stupste Lucy mit der Schnauze leicht in die Seite, sodass sie den Blick weiter nach links lenkte.

Dort stand, am Fuße des Hügels eine Gestalt, einen roten Schal um die Schultern geschlungen und offenbar schon eine Weile bemüht, auf sich aufmerksam zu machen.
 

Lucy hielt die Luft an. „Das ändert natürlich alles“, sagte sie dann verschmitzt, ehe sie Aslan losließ und aus dem Stand losrannte, die Arme ausgebreitet, um dem auf sie Wartenden um den Hals zu fallen. „Herr Tumnus!“
 

Mit einem warmen Blick sah Aslan ihr hinterher.
 

Die sieben Säulen Narnias, die sieben wahren Freunde Narnias.

Eure letzte Aufgabe habe nicht ich euch aufgegeben, sondern Susan. Aber ich habe mein Bestes getan, euch zu unterstützen und ihr habt wie immer euer Bestes getan, um Narnia zu unterstützen.

Ich danke euch, Peter, Edmund, Eustachius, Jill, Digory, Polly – und Lucy…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soweit zum Auftakt. Was sagt ihr dazu? Ahnt ihr, was kommen wird? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, überrascht? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Auch eine Art von Patchworkfamilie... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bisher sieht's ja aus, als hätten sie das Beste draus gemacht^^
Fällt eigentlich jemandem was an Nathans Namen auf?

Kleine Historie nebenbei:
Das was Edmund da mit den Nachbarn feiert, ist tatsächlich geschehen: Am 19.10.1954 stimmte die britische Regierung zu, ihr Militär vom Suez-Kanal abzuziehen.
Im Juli desselben Jahren wurde tatsächlich die Rationierung von Fleisch aufgehoben.
Und auch die angesprochene 'Mod'-Bewegung gab es. Das waren vorzugsweise junge Männer aus der Mittelschicht, die etwas radikal für mehr Mitbestimmung eingetreten sind und dabei den Dandy-Stil aus dem 18. und 19.Jahrhundert wieder ausgruben.

Narnia Historie: Der Brief oben spielt natürlich auf "Der silberne Sessel" an... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tjaa... dieses Kapitel ist wieder düsterer, als die vorher, hm?

Die Grippe-Pandemie, die hier angesprochen wurde, hat es '59 übrigens wirklich gegeben, bekannt unter dem Namen "Asien-Grippe" hat sie aber vergleichsweise wenig Todesopfer gefordert, anders als ähnliche Pandemien in diesen Zeiten. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, wer ist das bloß...

Heute wars nur kurz, das Kapitel, aber dafür habe ich eine Frage an euch:
Ursprünglich war an dieser Stelle nur noch der Epilog geplant.
Allerdings hat sich noch etwas ergeben und daher überlasse ich es euch:

Entweder 1) erst der Epilog und dann noch zwei kleine Kapitel, die sich um Caspian und die Kinder drehen, als einzelner Two-Shot.
Oder 2) erst die beiden Caspian-Kapitel und den Epilog angehängt, alles in diesem Tread.

Ich würde mich freuen, wenn ihr mir eure Meinung dazu, in einen Kommi schreibt! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... und was Aslan mit seinen letzten Worten meint, erfahrt ihr im nächsten und letzten Kapitel dieser Geschichte. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit geht dieses kleine Geschichte zu Ende.
Ich hoffe, ihr hattet ebenso viel Freude beim Lesen, wie ich beim Schreiben, und ich danke euch für alle Kommentare die eingetrudelt sind.
LG Mimiteh Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (8)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ookami-no-Tenshi
2017-08-18T22:09:37+00:00 19.08.2017 00:09
Ich weiß, es ist reichlich spät, aber ich bin gerade am Lesen mehrerer Narnia-FFs und das hier war einfach nur megagenial! Es hat mich so gepackt, dass ich die ganze Story in einem Tag durchgelesen habe.
Respekt vor deiner FF!

Lg. Ookami-chan
Von:  franzi_hope
2014-10-19T20:32:00+00:00 19.10.2014 22:32
Hey :-)
Das 11. Kapitel war wirklich toll nur irgendwie konnte ich nicht kommentieren. Ich bin gespannt wie und wann es weiter gehen wird! *-*
Dein Schreibstil ist wirklich toll und auch wie du Caspians Gefühle dargestellt hast, als er Emily und Nathan trifft war wirklich super.
LG Franzi :-)
Antwort von:  Mimiteh
20.10.2014 19:42
Schön, dass es wieder gefallen hat. Das nächste Kapitel ist dann er endgültige Epilog.
Von:  franzi_hope
2014-09-14T12:02:24+00:00 14.09.2014 14:02
Ich war schon so lange gespannt darauf wie es weiter geht und hab mich voll gefreut als ich gesehen habe es gibt ein Neues Kapitel. :)
Deine Schreibweise gefällt mir sehr gut vorallem weil man sich dann alles so bildlich vorstellen kann..auch die Wortwahl für Aslan finde ich sehr gut getroffen. :)
Ich bin gespannt wie es weiter geht und freue mich auf das nächste Kapitel!! :)
LG Franzi.
Antwort von:  Mimiteh
15.09.2014 12:18
Schön, dass ich die Spannung so aufrecht erhalten konnte, obwohl der Leser ja mehr weiß, als Caspian^^
Und ja, Aslans salbungsvolle Wortwahl zu erfinden, hat auch echt Spaß gemacht.
Ich denke, bis nächste Woche müsste ich das nächste Kapitel fertig haben...
Von:  franzi_hope
2014-08-23T02:51:02+00:00 23.08.2014 04:51
Hallo und einen schon Guten Morgen :)
Am Ende des Ganzen hatte ich Tränen in den Augen. Allgemein weil diese " Narnia - Faszination " etwas ganz wundervolles ist und weil deine Ideen ziemlich gut sind!
Allgemein wie du schreibst und dich ausdrückst, wirklich bemerkenswert und einfach nur toll. Respekt :)

Mich persönlich würde es sehr freuen wenn du weiter schreibst und die zweite Variante der Fortsetzung wählst :)
Also erst die zwei Kapitel mit Caspian.

Ich freue mich auf eine weitere spannende Fortsetzung von dir. :)

liebe Grüße :)
Antwort von:  Mimiteh
23.08.2014 17:51
Vielen, vielen Dank für Kommentar und Lob!
Ich werde mich bemühen, dass auch der Rest so gut wird.
Wenn bis Mitte der Woche niemand anderer Meinung ist, gibt es also erst die beiden Kapitel mit Caspian.
LG
Mimiteh
Von: abgemeldet
2014-08-02T11:50:12+00:00 02.08.2014 13:50
Hey^^

Wieder einmal ein super Kapi^^Ich weiß nicht wieso, aber ich musste beim Lesen irgendwie heulen.... *noch immer heulend durch einen Haufen Taschentücher hindurch wusel* Schreib bitte schnell weiter>.<

Byebye
Bloodnight^^
Antwort von:  Mimiteh
03.08.2014 16:32
Ich habe es tatsächlich geschafft, einen Leser zu Tränen zu rühren? oO whow^^
Nächstes Kapitel kommt bald, versprochen!
Von: abgemeldet
2014-05-13T15:32:27+00:00 13.05.2014 17:32
Wieder einmal ein super Kapi^^ Ich finde, du kannst sehr gut die Gefühle der Personen beschreiben, sodas man sie mit denen aus der Orginal Story noch gut identifizieren kann. aber das Aslan so etwas tun würde, hätte ich echt nicht gedacht... Bin gespannt wie es weiter geht...
LG Bloodnight
Antwort von:  Mimiteh
13.05.2014 18:42
Was würde Aslan nicht tun?
Antwort von: abgemeldet
13.05.2014 20:48
Sry, vergiss es, ich hab was gerade falsch verstanden^^
Von: abgemeldet
2014-05-07T17:23:53+00:00 07.05.2014 19:23
Die Idee ist gut und auch ansonsten gefällt mir die Story^^ Freue mich schon auf eine Fortsetzung^^
Antwort von:  Mimiteh
07.05.2014 22:37
Hey, danke für die Rückmeldung!
Mal sehen, wenn ich Zeit finde, zu formatieren, gibts das nächste Kapitel vielleicht schon diese Woche...


Zurück