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Crystal Riders II

Reminiscence
von

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Richtungswechsel

Jet – Richtungswechsel
 

Zoku Natsume Yuujinchou OST - Atatakai Yuki Keshiki
 

Crystals Hand lag in meiner und ich drückte sie abwechselnd fester, strich über ihre weiche Haut und war wie so oft eigentümlich berührt von der zerbrechlichen Schmalheit ihrer Finger. Währenddessen beobachtete ich sie, wie sie mit gekräuselten Lippen in ihrem Jogurt herumstocherte. Sie mochte die Stückchen nicht, wenn es sich um Erdbeerjogurt handelte, bei allem anderen war es ihr gleichgültig. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.

„Ruhe auf den billigen Plätzen“, schnappte Moon von der anderen Seite des Tisches aus und half Crystal mit pseudoprofessioneller Miene, die übrigen Erdbeerüberreste herauszupicken. „Und du da, geh von meinem Bein runter!“, wandte sie sich unwirsch an Amber, der halb auf der Tischplatte hing und offenbar eingeschlafen war. Auf Moons Klaps hin, fuhr er schreiend hoch, sah sich gehetzt in alle Himmelsrichtungen um und stöhnte letzten Endes auf.

„Wieso muss es grad erst Frühstückszeit sein? Ich will in mein Bett…“

„Selbst Schuld, du musstest es beim Kirschblütenfest ja auch wieder übertreiben“, meinte Moon kaltschnäuzig und Amber öffnete den Mund zum Protest, allerdings zerflossen die Worte zu einem Gähnen und dann sackte er gespielt wimmernd gegen ihre Schulter.

„Jetzt reiß dich am Riemen!“ Und schon hatte Amber einen breiten Gurt um die Taille, den er sich mechanisch und mit noch geschlossenen Augen so fest zurecht zog, dass ich mich fragte, wie er überhaupt noch Luft bekam. Moon drehte sich halb zu ihm und musterte ihn mit einem Ausdruck ehrlichen Erstaunens.

„Würde sie nicht auch andersrum funktionieren, er hätte ohne Witz die mächtigste Gabe des Internats, oder irre ich mich?“ Crystal ließ ihren Löffel in die Schüssel gleiten, als hätte sie den Kampf mit den Erdbeeren aufgegeben und sah ebenso wie wir alle zu Amber hinüber, dessen Lider sich Millimeter für Millimeter wieder öffneten, begleitet von weiteren Gähnattacken.

„Es ist immer noch eine Illusionsgabe“, warf ich ein und Crystal schaute mich verwundert an.

„Alles, was Amber erzeugt, kann zwar materiell sein, ist aber nie real“, erklärte Moon und kniff ihm versuchsweise in die Wange, damit er seinen Halbschlaf beendete. Er schüttelte sich und nahm allem Anschein nach jegliche Konzentration zusammen, um sich auf das Heben seines Löffels für das Müsli zu fixieren. „Deswegen kann er sich mit seiner eigenen Gabe auch nicht umbringen“, fügte Moon lachend hinzu. Auf einmal entzog Crystal mir ihre Hand und legte sie stattdessen auf die Armlehne des Stuhls. Verwirrt sah ich dabei zu und kam nicht umhin, dass mir etwas an dieser Position bekannt vorkam. Klamm bekannt.

„Oder eben andere“, fuhr Amber da fort, woraufhin ich auf und zu ihm schaute. Er lächelte mich an. Viel zu fröhlich… viel zu wach. Moon tat dasselbe und Crystal neben mir verkrampfte ihre Finger um die Armlehnen.
 

Alice: Madness Returns OST – Hatter
 

„Was ist los?“, hörte ich mich fragen. Ambers Miene wandelte sich so abrupt, dass ich vor Desillusion zurückzuckte, als er sich schließlich nach vorn auf den Tisch beugte, die Ellbogen aufgestützt und sein Lächeln von Sekunde zu Sekunde herablassender wurde.

„Ich bin ja auch keine Killermaschine so wie Jet.“ Der Satz war wie ein Fausthieb. Ich sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er klappernd umfiel. Amber und Moon erhoben sich ebenfalls, nur Crystal blieb, wo sie war, ihre Arme immer noch um die Lehnen geschweißt.

„Er ist auch noch ein Spion, wenn du es genau wissen willst“, flüsterte Moon mit einem hasserfüllten Blick in meine Richtung und ich war nicht imstande, etwas zu erwidern; ich konnte ja nicht einmal richtig atmen.

„Richtig“, erwiderte Amber, dessen Lächeln zu einem grotesken Clownsgrinsen geworden war. Wann hatte er ein Sprichwort gesagt, dass das bewirkt hatte? „Selbst ein Crystal Rider, spielt aber auf Seiten der Regierung. Warum tötest du immer nur Unschuldige?“

„Sei still…“, murmelte ich und schlug mir sofort die Hände auf den Mund, denn ich hatte nicht vorgehabt, das zu sagen. Aber weiße Punkte glommen an den Rändern meines Sichtfeldes auf, das altvertraute Gefühl… Kontrollverlust. Nein!

„Er tanzt an ihren Fäden wie eine brave Marionette und siebt jeden Rider aus, der ihnen nicht gefällt.“ Moons Augen hatten sich verdunkelt, so sehr, dass es nicht mehr das Mondsteinblau war – nein, sie hatte die Schwärze meiner eigenen Iris angenommen wie einen Spiegel.

„Wenn deine Vorgesetzten es dir befehlen, würdest du doch auch uns umlegen, ohne mit der Wimper zu zucken, ist es nicht so?“, fragte Amber wieder und ich stemmte mit aller Macht die Beine in den Boden, presste die Lider so fest aufeinander, dass meine Wimpern splitterten. Die Bruchstücke rieselten über meine Wangen wie heiße Asche.

„So wie all die anderen Rider, die dir nichts getan haben. Sie waren alle noch so jung, oder? Hatten ihr ganzes Leben noch vor sich.“ Ich konnte nicht mehr zwischen Moons und Ambers Stimme unterscheiden, denn wer auch immer jetzt sprach, klang nach keinem von beiden.

„Und du lässt alles stehen und liegen, sobald sie dich von der Leine lassen und reißt jedem die Kehle auf, dem du sie aufreißen sollst.“

„Hör auf.“ Ich wollte es flüstern, schrak jedoch zurück, als ich die Worte schrie.

Und dann ging es ganz schnell.
 

Brand X Music – Extinction
 

Meine Arme schnellten hervor, bekamen den Tisch zu fassen und schleuderten ihn rücksichtlos beiseite, dass die Teller und Tassen darauf auf dem Boden zerschellten. Am Rande nahm ich wahr, wie sich Crystals Jogurt über den Stein ergoss, dann sprang ich nach vorn und packte Amber hart beim Kragen, um ihn rückwärts gegen die Wand zu stoßen.

„Jet, ich bin es!“, rief er und ich sah, dass sein Gesicht wieder normal war. Keine Clownsgrimasse, kein abfälliges Gelächter. Nur vor Angst starre Bernsteinaugen. Ich sah es, all das – aber ich in diesem Zustand verstand ich es nicht.

Erst als Amber vor Qualen aufschrie und das warme Glühen in seiner Iris ausblich, die Lebendigkeit, die sonst in seinen Zügen spielte, restlos verschwand und er unter meinem Griff erschlaffte, erfasste ich, was ich getan hatte. Aber ich ließ den Stoff seiner Jacke nur los, wodurch er leblos zu Boden fiel und wirbelte zu Moon herum.

Hör auf, hör auf, hör auf!!!

Sie machte Anstalten, wegzulaufen und ihre Augen abzuschirmen, aber ich zog sie an den Haaren zurück und warf sie ebenso ungnädig zu Amber auf den Boden, bevor ich in die Knie ging und ihren Kopf zurückriss, um auch sie zu töten. Als ihre Augen ebenso das Licht verloren hatten, sprang ich wie ein Tier zurück auf die Beine und drehte den Kopf langsam über die Schulter herum, erst dann folgte der Körper.

STOPP!!!

Die Schüler waren wie erstarrt und ich spürte, dass ich schmunzelte, bevor ich meine Gabe aufflackern ließ. Ich hatte niemals ihre volle Macht ausgeschöpft, immer nur im Einzelnen getötet, aber ich war zu so viel mehr imstande. Ich war der perfekte Mörder.

Wie vom Blitz getroffen, fielen die Schüler einer nach dem anderen um, ihre kristallisch leuchtenden Augen erblassten und mit ihnen schien auch die Farbe aus der Atmosphäre herauszublättern. Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und spürte die Gefühle nach, die in mir tobten. Es war so einfach, alles auszulöschen. Leben und Tod lagen so dicht beieinander. Was Jahre brauchte, um aufzugehen, zu wachsen und zu alten, konnte innerhalb eines Blinzelns vernichtet werden. Leere, Stille.

„Jet…“ Ruckartig kippte mein Kinn wieder nach vorn und ich erkannte Jade, die inmitten der Leichenberge stand und mich nur fassungslos anstarrte, anstatt etwas zu unternehmen.

„Du hast die Wahl“, hörte ich mich raunen und trat durch die toten Körper auf sie zu. Wenn ich einen von ihnen berührte, zerfiel er zu Staub und infolge einer Kettenreaktion, lief ich kurz darauf durch ein ganzes Meer aus seelenlosem Puder. „Du hast sie schon immer gehabt.“

„Bitte, Jet…“, flüsterte Jade nur und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Ich stand nun direkt vor ihr und griff nach ihrer Hand, in der sie ein Schwert hielt. Langsam führte ich ihren Arm hinauf, bis die Klinge genau an meiner Kehle lag.

„Beschütze deine Schüler…“

„Bitte…“, wiederholte sie nur und die Tränen lösten sich.

„Bring es zu Ende.“

Doch sie tat es nicht. Und darum riss ich nur die Augen auf und beobachtete wie im Zeitraffer, wie die seidige, grüne Jade zu grauem Stein wurde und sie wortlos vor mir zusammenbrach und sich nicht mehr rührte.
 

Brand X Music – Dark Clouds
 

Die Kälte umschloss mich wie eine Folie aus klebrigem Wachs, haftete sich an mir fest und ließ nicht zu, dass ich eine andere Regung für das Geschehene fand als Gleichgültigkeit.

Noch hatte der Blackout mich nicht losgelassen – etwas fehlte, bevor die Mission erfüllt war. Träge drehte ich mich um und fand mich direkt vor ihr wieder.

Sie saß immer noch auf dem Stuhl, die Arme auf den Lehnen, nur dass ich jetzt sehen konnte, wieso sie sich nicht von der Stelle bewegte – sie war gefesselt.

„Töte… sie…“ Obwohl ich es selbst ausgesprochen hatte, kam es mir so vor, als wäre es ein fremder Befehl gewesen. Fadenzug. Auf Knopfdruck töten.

Ich machte einen Schritt nach vorn, sodass ich genau vor ihr stand, erst dann beugte ich mich herunter und stützte die Hände links und rechts von ihrem Kopf am Stuhl ab. Crystal sprach kein Wort, aber ihr ganzes Gesicht bebte und leise Tränen sammelten sich an ihrem Kinn.

NEIN! AUFHÖREN!

Ich lächelte leicht.

„Gute Nacht, kleiner Kristall…“ Augenblicklich kehrte die Anspannung in ihrem Körper zurück, zog ihn gerade gegen die Lehne und zwang die Schreie aus ihrer Kehle hervor. Ich sah geduldig dabei zu, wie ihr Atem flirrte und stotterte, ins Schleudern geriet und sie den Kampf langsam verlor. Als der Schein ihrer Augen ausgraute, traf mich ihr Blick noch einmal und ihre Gabe wirkte wie ein letzter, verzweifelter Hilferuf.

Vor mir tauchte Makos Gesicht auf. Ihre Züge glatt und unversöhnlich. Sie streckte mir die geöffnete Hand hin, darauf lag der Schneeflockenobsidian.

„Du hast ihn im Stich gelassen, Jace… Du hast ihn getötet.“ Ihre Faust schloss sich, es klirrte und als sie die Finger wieder zurückzog, war von dem Edelstein nur noch schwarzer Sand und weiße Schneeflocken übrig.

Schlagartig wurde ich zurück in die Gegenwart gezogen. Crystals Augen vor mir verglommen. Die Trance brach scheppernd entzwei und ich brachte ihren Namen hervor, aber es war zu spät. Sie war kalt wie Eis und aus ihren offenen, toten Augen tropften keine Tränen mehr, sondern Blut. Und als ich der Spur mit dem Blick folgte, konnte ich noch mehr sehen. Ihr Bauch stach vor rotem Leben, es sammelte sich auf dem Boden zu einer Pfütze, hatte ihre Sachen komplett durchweicht und als ich mit den Händen nach ihren Schultern greifen wollte, zerbrach sie wie eine Glasstaue.

„CRYSTAL!!!“

Das Glas wurde zu Kristall, das Blut zu rotem Schnee. Glanz aus einstigem Leben. Das war alles, was mir blieb. Ich war allein in einer Welt aus Staub, Asche, Sand und Schnee.

Am Ende der Zeit.

„Der Tod ist einsam.“

Ich fiel auf die Knie und grub schreiend die Hände in den Splitterhaufen, aber es hatte keinen Zweck mehr. Die Stille war zu laut. Ich sank vornüber und sie wurde noch lauter. Sie sang mit all den Stimmen, die ich gehört hatte, funkelte in all den Lichtern, die hatte erlöschen sehen. Und ich konnte schreien, so viel ich wollte, sie würde niemals verstummen. Sie würde mich verfolgen bis in all Ewigkeit dieses verfluchten Lebens…
 

Soundcritters - Never Found
 

Mein eigener Schrei weckte mich.

Ich fuhr in die Höhe und meine Augen begannen zu tränen, ob der unvermittelten Helligkeit. Die Decke fiel raschelnd herunter und meine Stimme verlor sich in heiseren, schweren Atemzügen.

„Jet…?“, kam es zaghaft von rechts und ich wandte mich irritiert um. Crystal lag neben mir, hatte verschlafen die Lider gehoben und strich sich gerade die wirren Strähnen aus der Stirn, bevor sie sich ebenfalls aufrichtete.

„Crystal!“, rief ich, warf die Decke, die noch zwischen uns lag hastig beiseite und zog sie an mich. Ihre Haut war kühl, aber nicht so kalt und auch nicht aus Kristall.

„Jet, ich… ich krieg keine Luft…“, flüsterte sie, aber ich konnte die Bedeutung ihrer Sätze kaum verstehen. Trotzdem lockerte ich meinen Griff, schob sie ein kleines Stück von mir und tastete nach ihren Handgelenken. Keine roten Striemen, nicht mal Narben. Es war alles unversehrt. Aber es reichte mir noch nicht, um zur Ruhe zu kommen, weshalb ich auch am Stoff ihres Tops zog, um ihren Bauch zu sehen. Auch dort war keine Spur mehr von diesem grauenvollen Tag zu erkennen. Aber es war geschehen, es gab unsichtbare Wunden. Sie waren überall…

Kraftlos ließ ich von ihrem Oberteil ab, mein Kopf sank auf die Brust und das Zittern in meinen Muskeln übertrug sich auf meinen Atem.

„Hast du… schlecht geträumt?“ Ich nickte geistesabwesend.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken…“

„Oh, Jet“, schüttelte sie nur den Kopf und nahm mein Gesicht in die Hände, um mich zu küssen. Als ich es erwiderte, schnappte sie nach Luft – verständlicherweise, denn seit ich sie fast getötet und dabei hatte zusehen müssen, wie sie gefoltert wurden war, war kein Kuss mehr eine Selbstverständlichkeit.

„Sorry“, murmelte ich, als ich ihre Lippen losließ und mich stattdessen zu ihrem Nacken hinunter küsste. „Ich bin zu ungestüm, oder?“

„Nein, nein“, beeilte sie sich zu sagen und vergrub ihre Hände in meinem T-Shirt. „Ich bin nur ziemlich… schnell überwältigt.“ Ihr Lachen schälte mich endgültig aus den Erinnerungen an den Traum. Aber die Bilder lagen mir noch auf der Seele wie spinnwebengraue Tücher. Es war kein unbekanntes Szenario gewesen, ich hatte schon früher oft davon geträumt, dass meine Gabe außer Kontrolle geriet, aber niemals hatte ich die Leute auf dem Internat angegriffen. Und… niemals hatte ich dabei eine derlei abstoßende Ekstase empfunden…

Ich verharrte an Crystals Schulter und legte lediglich meine Hände an ihren Kopf, um sie zu halten, einfach nur zu halten und zu wissen, dass sie da war…
 

Final Fantasy XI RotZ OST - Grav'iton
 

„Heute ist die Abstimmung, oder?“, fragte sie nach einer Weile, ihre Hand Kreise auf meinem Rücken beschreiben lassend.

„Ja“, antwortete ich schlicht mit einem Blick zum Fenster. Die Sonne war noch dabei, aufzugehen, wodurch der Himmel in nebelseichtem Blau schwamm, ohne Wolken, die ihn unterbrachen. Kaum zu fassen, dass seit Crystals Verwandlung zum Rider und ihrem Einzug auf das Internat, nur ein wenig mehr als ein Monat vergangen war. Und schon sollte darüber entschieden werden, ob sie hierbleiben dürfte…

„Wie wird es ablaufen?“, flüsterte sie, drückte ihre Stirn gegen meine Schulter und zog sich auf meinen Schoß. Ich ließ meine Hand von ihrem Kopf abwärts wandern, bis ich ihre Taille umfangen hielt, mit der anderen streichelte ich ihr Haar.

„Es wird eine Auszählung geben. Wer für dein Bleiben ist, meldet sich, das Ganze geschieht dann auch bei mir und die Mehrzahl entscheidet.“ Kurz und bündig. Ich wusste, Crystal hielt es mir zugute, wenn ich nicht versuchte, die Sache irgendwie zu verschönern.

„Und wenn die Entscheidung gegen mich ausfällt?“ Dass ich nichts an den Tatsachen ausschmückte, änderte allerdings nichts an dem Fakt, dass es nicht leicht war, sie ihr mitzuteilen. Ich seufzte.

„Dann passiert dasselbe wie bei mir. Du erhältst ein vom Staat finanziertes Apartment und wirst rund um die Uhr bewacht.“ Sie schluckte und vergrub das Gesicht tiefer in den Stoff meines Oberteils. Ich hatte mich nach all den Jahren daran gewöhnt, dass keine meiner Bewegungen unbeobachtet blieb und zu Beginn war es mir egal gewesen, weil ich damals nur Leere empfunden hatte, aber für Crystal musste es sich verstörend anfühlen. Der Gedanke, permanent einer Zahl von fremden Augen ausgeliefert zu werden, wie ein Tier im Zooladen. Darüber hinaus, würden sie ihre Freiheit noch weiter als meine einschränken; sie würden sie tagtäglich vom Apartment zum Internat und abends auch wieder zurückchauffieren, da die Kontaktlinsen bei ihr keine Wirkung zeigten. Feste Zeitpläne, keine Möglichkeiten für außerhalb des Rahmens liegende Gespräche mit Moon oder Amber. Ihre „freien“ Stunden würden sich nur noch in den immer gleichen Wänden einer sterilisierten Luxussuite abspielen.

„Wenigstens wärst du dann noch da…“, murmelte sie und ich zog ihren Körper noch enger an mich. Wie abgesprochen, klingelte es zum Frühstück und Crystal holte bang Luft. Ich dachte nicht darüber nach, sondern rückte kurzum von ihr ab und legte meine Lippen auf ihre.

Berührungen sagen oftmals mehr als Worte. Daran zeigt sich, dass wir Menschen Wesen der Gefühle sind, tierischer als wir uns eingestehen wollen. Sprache ist streng genommen nur eine Erfindung, etwas, das sich womöglich nicht zwingend hätte entwickeln müssen. Ich war mir dieser Theorie sicher, wenn ich fühlte wie jetzt.

Im Zuge des Kusses, drehte ich sie herum, drückte sie in die Laken, spürte die Formen ihres Körpers unter meinem, nahm wahr, wie sich das Blut darunter bewegte, wie die Luft wanderte, wie alles an ihr seinem von der Natur so raffiniert geschaffenem Rhythmus nachging und sie lebte. Sie lebte… Schlagendes Herz, rauschender Atem. Das Mädchen, das ich küsste, lebte mit aller Kraft. Und war so wertvoll.

Ich wusste nicht, ob sie es bemerkte und wenn doch, ließ sie es nicht erkennen, aber aus meinen Augen stahlen sich zeitgleich zwei Tränen und flossen in unseren Kuss hinein. Ich wischte sie unauffällig fort, als ich mich von ihr löste und zurückbeugte.

„Wir sollten gehen.“ Sie hob wie im Reflex die Hand und legte sie, mit leisem Erstaunen, auf ihre Lippen.

„Ja…“, sagte sie dann nur, straffte sich und stand ebenfalls auf.
 

Final Fantasy XIII OST – The Final Stage
 

Die Abstimmung war nicht von den Schülern einberufen worden und auch nicht von Jade. Sie hatte uns erklärt, dass die Anordnung dazu Teil der Bedingungen für ihren Waffenstillstand gewesen war. Also waren letzten Endes all die Gesichter, die mir jetzt entgegen blickten, als ich gemeinsam mit Crystal und Jade die Bühne betrat, dazu aufgefordert worden, hier und heute ihre Stimme abzugeben. Das war vielleicht ein minimaler Trost an der ganzen Sache…

„Danke, dass ihr alle erschienen seid“, begann Jade mit lauter Stimme, die mehr als weit trug, da in der Aula Grabesstille herrschte, obschon der Saal brechend voll war. Einige Schüler mussten sogar stehen, weil die Ränge nicht ausreichend Platz für alle boten.

Ich erkannte Moon und Amber in der vordersten Reihe, sie wirkten angespannt und hatten Schatten unter den Augen, trotzdem lächelten sie uns Mut machend zu. Crystal griff nach meiner Hand.
 

Audiomachine - Turning Point
 

„Ihr wurdet bereits darüber informiert, dass heute eine Abstimmung um den zukünftigen Verbleib von Crystal auf diesem Internat stattfindet. Des Weiteren gibt es eine zweite Wahl über die Wiederaufnahme von Jetstone. Wir beginnen, wenn keine weiteren Einwände bestehen, direkt mit der Stimmabgabe für Crystal.“ Niemand rührte sich und Jade fuhr mit dezent gepresster Stimme fort. „Gut. Dann bitte ich nun alle die Hand zu heben, die für Crystals fortwährendes Bleiben auf dem Internat sind.“

Ambers und Moons Hände schossen augenblicklich in die Höhe und auch ein paar der Lehrer, sowie Granite schlossen sich an, aber ansonsten zeigte sich in der Menge keine Reaktion. Crystals Hand verkrampfte sich bebend um meine und ich wusste, sie tat, was sie konnte, um gerade stehen zu bleiben und nichts von ihren Gefühlen nach außen zu lassen. Aber ich war machtlos, konnte nur stumm ausharren und den Druck ihrer Hand erwidern.

Jade zögerte, das war offensichtlich, aber als sich nach einigen weiteren Sekunden immer noch nichts tat, nahm sie wieder Haltung an und wollte fortfahren.

Als sich plötzlich mitten aus der Masse eine Hand emporhob.

Moon und Amber stießen im gleichen Atemzug einen verdatterten Laut aus und die Schüler vor ihr drehten sich verwirrt um, wodurch ich sie zwischen den anderen erkennen konnte. Als sie sich kurz darauf von ihrem Stuhl erhob, bestand endgültig kein Zweifel mehr.

Es war Mira.

Ich hörte, wie Crystal der Atem entwich und ihre Finger entspannten sich ein wenig. Aber bevor irgendjemand Worte für diesen Umbruch finden konnte, wuchs eine Welle von weiteren Händen in die Höhe. Es war, als hätte jemand einen Stein angestoßen und damit den Erdrutsch ausgelöst, denn binnen Sekunden hatten sich nahezu alle Schüler im Saal ihren Vorgängern angeschlossen und damit stand die Waage unmissverständlich. Jade räusperte sich und aus dem Augenwinkel konnte ich ihr Lächeln erahnen.

„Dann ist es entschieden. Crystal wird weiterhin ein Teil des Internats sein.“ Die Hände sanken schrittweise wieder herab und Jade holte tief Luft, bevor ihre Augen kurz in meine Richtung huschten. „Nun kommen wir zur zweiten Entscheidung. Ich bitte alle die Hand zu heben, die für die Wiederintegration von Jetstone auf dieses Internat stimmen.“

Diesmal war ich es, der Crystals Hand so fest umklammerte, dass alles Blut herausweichen musste. Ich sah wie schon vorhin Moon und Amber an, deren Arme sich noch während Jades Worten gehoben hatten, erst dann wagte ich einen Blick zu den anderen Schülern.

Und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als ich all den nach oben gestreckten Händen gewahr wurde. Ich hatte es mir nie zugestanden, aber tief im Inneren hatte ich immer von diesem Moment geträumt. Die Bestätigung, ein Teil von ihnen zu sein, dazuzugehören… ein Zuhause zu haben.

„Dann ist auch das entschieden“, hörte ich Jade rufen und ihre nächsten Worte wurden von unvermitteltem Applaus und Jubelrufen geschluckt. „Jetstone wird wieder Teil des Internats!“

Ich war noch wie zu Salz erstarrt, als sich zwei Arme um meinen Hals schlossen und mein Name erklang. Dann kam die Situation endlich wieder bei mir an und ich hob Crystal unüberlegt hoch, wirbelte sie herum, hörte sie lachen und fiel lautstark ein.

Und kaum, dass sie wieder stand und wir uns lösten, wurde ich fast von Amber umgeschmissen, als er mir ebenfalls um den Hals fiel. An Crystals Quietschen erkannte ich, dass Moon sie mit derselben Überschwänglichkeit umarmte.

„Oh mein Gott!“, rief sie schließlich über das Klatschen und Pfeifen der Schüler hinweg, als sie mich ebenfalls drückte, während Amber Crystal in die Arme nahm. „Ich glaub, ich krieg gleich einen Herzinfarkt! Das ist so schön!!!“
 

Most Emotional OSTs Ever Moments of Happiness
 

„Aber wo sollst du jetzt wohnen?“, fragte Amber dann, indem er Crystal einmal herumwirbelte und dann direkt vor mir wieder absetzte. Sie verpasste ihm lachend einen Schlag gegen den Arm. Aber bevor ich die Möglichkeit bekam, sie an mich zu ziehen, schlang Moon mit besitzergreifender Miene beide Arme sie.

„Nix da!“, zischte sie grinsend. „Das ist meine Mitbewohnerin, kapisché?“ Crystal verdrehte die Augen, musste aber erneut losprusten, als Moon ihr durch die Haare wuschelte.

„Bei dir ist doch noch was frei, oder?“, wandte ich mich lächelnd an Amber und er blinzelte erst einige Male, schaute zwischen Moon, Crystal und mir hin und her und zeigte dann fassungslos mit dem Finger auf sich.

„Du willst bei mir wohnen? Ist das dein Ernst?“

„Es sei denn, du willst nicht“, meinte ich, aber da boxte er mir schon enthusiastisch gegen die Schulter und stieß einen kehligen Triumphschrei aus. Oder irgendwas in der Art jedenfalls.

„Alter, machst du Witze?! Klar, kannst du bei mir einziehen!“

„Dann darf ich das in meine Unterlagen übernehmen?“, erklang Jades sanfte Stimme hinter mir. Ich setzte gerade zu einer Erwiderung an, aber kaum hatte ich mich herumgedreht, schloss sie mich schon in ihre Arme.

„Ich habe es dir doch gesagt, Jet“, lächelte sie leise, sodass nur ich es hören konnte. „Das Früher kann uns nicht besiegen. Nichts wird in Stein gemeißelt.“ Ich schnaubte ein Lachen in ihr Haar.

„Danke. Für alles.“ Sie streichelte mir einmal übers Haar und löste sich wieder von mir.

„Ich helfe dir nach dem Mittagessen, deine Sache abzuholen“, sagte sie und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. „Und jetzt ab zum Unterricht, ihr drei. Gefeiert wird erst beim Kirschblütenfest.“ Sie zwinkerte uns noch einmal zu und machte sich dann auf den Weg zur Sporthalle.

„Sie muss verrückt sein“, schnaubte Moon, das Kinn auf Crystals Kopf abstützend. „Wie sollen wir uns dann nach so viel Aufregung auf Matheaufgaben konzentrieren können?“

„Augen zu und durch“, posaunte Amber, erst dann ging ihm auf, was er da gerade gesagt hatte, aber schon schlossen sich meine Augen ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte und meine Beine setzten sich, ebenso wie die der anderen, in Bewegung.

„Amber, du Schwachkopf!“, brüllte Moon, dann jaulte sie auf, weil in ihrer aufgezwungenen Blindheit offenbar irgendwo gegengestoßen war.

„Was kann ich denn dafür?!“, schimpfte er von schräg rechts zurück. „Aua! Okay… äh… Kompanie halt!“ Es zeigte Wirkung, aber wir stießen trotzdem samt und sonders gegeneinander und als sich meine Augen wieder öffnen ließen, konnte ich dabei zusehen, wie wir simultan salutierten. Crystal schaute mit zusammengepressten Lippen über die Schulter zu mir und wir prusteten gleichzeitig los.

„Das ist nicht witzig!“, keifte Moon und sprang Amber auf den Rücken, als sie sich wieder frei bewegen konnte. „Eines Tages wird dieser Idiot uns noch alle umbringen!“

„Moon, geh runter, du bist schwer!“, jammerte Amber, aber die letzte Aussage war nur das Öl im Feuer.

„Ich! Bin! Nicht! Fett! Mistkerl!“

Kichernd umschloss Crystal meinen Arm und ich gab ihr einen Kuss aufs Haar, bevor wir beide Amber und Moon dabei zusahen, wie sie unter wüsten Beleidigungen durch die Gegend torkelten. Als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich drehte den Kopf und erkannte Mrs. Capella. Ihre perlmuttgrauen Augen funkelten scharf unter den abwärts gebogenen Brauen. Das verhieß nichts Gutes.

„Jetstone und Amber. Ich würde euch beide bitten, kurz mal mitzukommen.“

„Ups“, hauchte Amber, ohne die Lippen zu bewegen und warf mir einen hilfesuchenden Blick zu und da dämmerte mir allmählich, worum es hier ging…

Strafe muss sein

Crystal – Strafe muss sein
 

Chrno Crusade OST Gospel 1 - Charming Azumaria
 

„Und jetzt wären wir auch fertig für heute, wir sehen uns dann nächste Woche wieder“, beendete Mr. Ivory den Unterricht passend zum Klingeln für die Mittagspause. Ich räumte meinen Block in die Tasche, ebenso wie meine Stifte und ging mit den wenigen Schülern aus dem Raum. Bevor ich nach rechts schauen konnte, spürte ich schon, wie sich jemand in meinem Arm einhakte und mein Kopf fuhr herum. Es war Moon und sie sah mich grinsend an.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Mira sich wirklich für euch gemeldet hat, damit hat sie euch hier gehalten“, flüsterte sie erstaunt und mir fiel auf, dass ihre Haare noch etwas nass waren.

„Warst du heute wieder schwimmen?“, fragte ich und überging ihren Kommentar.

„Eigentlich sollte das heute nicht der Fall sein, aber ja. Ich sollte irgendwie schaffen das Wasser so zu kontrollieren, dass es mich nicht berührt, aber ich konnte nicht widerstehen, auch die Lehrerin baden zu lassen“, kicherte sie und wir gingen schließlich die Treppe hinunter zur großen Eingangshalle.

„Du bist doch schuld!“

„Warum denn ich?“

„Hätte sie dich nicht aus Crystals Zimmer kommen sehen, dann wäre sie nicht auf die Idee gekommen, dass Moon bei mir ist“, murmelte Amber und schließlich hörte ich es nur schrubben.

Als Moon und ich am Ende der Treppe waren, sahen wir, wie Jet und Amber auf dem Boden knieten und die Fliesen schrubbten.

„Hat Mrs. Capella das also doch spitz bekommen“, lachte Moon und stellte sich neben Amber, der nur grimmig zu ihr aufschaute. Jet schmiss seinen Handschrubber in den Eimer voll Wasser und Seife und stellte sich schließlich hin. Dann trocknete er seine Hände mit dem Handtuch ab, was ihm über der Schulter hing und drehte sich zu mir. Seufzend lächelte er mir entgegen und gab mir schließlich einen kleinen Kuss.

„Was hat Mrs. Capella denn gesagt?“, fragte ich danach und schaute zuerst direkt in seine Augen und dann auf Amber, der sich ebenfalls aufrichtete und plötzlich eine sehr damenhafte Haltung einnahm.

„'Meine lieben Herren! Wir haben hier gewisse Regeln, was dieses Internat angeht und werden solch ein Verhalten mit Sicherheit nicht dulden!'“, äffte er die Lehrerin nach und verschränkte dann auf seine typische Art die Arme vor der Brust. „So ungefähr hat sie das gesagt.“

Moon fing an zu lachen und ich stimmte daraufhin mit ein, denn irgendwie war es lustig, dass nur die beiden bestraft wurden und nicht auch wir.
 

Brideshead Revisited - Adrian Johnston - Always Summer
 

„Wir wollten etwas essen gehen, ihr müsst doch vom ganzen Putzen richtig ausgehungert sein“, grinste Moon und gemeinsam gingen wir in die Mensa und holten uns unser Mittagessen.

Gerade als wir essen wollten, sprang Moon direkt wieder auf und fiel Mira um den Hals, die gerade zufällig an unserem Tisch vorbeiging.

„Ich wusste, irgendwo in deinem Puppenhirn steckt auch noch was Gutes!“, fiepte Moon und Mira stolperte rückwärts, um nicht mit Moon umzukippen. Erst dann schien sie zu verstehen und ihre Miene wurde neutral und sie schob Moon von sich.

„Puppenhirn? … Na ja, ich finde es wäre einfach nicht richtig gewesen“, meinte Mira und blickte zu mir und dann zu Jet. Ich glaubte für einen kurzen Moment, dass ihre Augen aufflammen würden, doch erkannte ich eine kleine Regung in ihren Mundwinkeln, schlussendlich ging sie. War das etwa ein Lächeln?

„Ich verstehe diese Frau einfach nicht“, meinte Amber und schob sich eine Kartoffel in den Mund.

„Wer versteht sie schon“, stimmte Moon zu und setzte sich wieder neben ihn.

Meine Augen wanderten zu Jet, der Mira kurz hinterherschaute und sich dann kopfschüttelnd an sein Essen machte.

Ich verstand ihre Reaktion selber nicht, doch war ich ihr zu großem Dank verpflichtet. Ein Leben unter Beobachtung hätte ich nicht einen Tag lang ausgehalten und ich war auch so glücklich, dass Jet nun endlich aus dieser ständigen Überwachung raus war, dass er endlich wieder er sein konnte.

„Ich habe vorhin mit Jade geredet und sie hat Informationen über Mako“, meinte Jet nach einer Weile und wir alle blickten gespannt zu ihm auf, doch seine Augen waren nicht mehr so fröhlich.

„Die Polizei geht davon aus, dass sie aus dem Land geflüchtet ist, da sie keine Spur mehr von ihr haben und sie niemand gesehen hat“, erklärte er und ich griff nach seiner Hand.

„Sie ist einfach abgehauen?“, fragte Moon nach und blinzelte verwundert.

„Wer kann es ihr verdenken, die Regierung wollte sie tot sehen, da würde ich auch flüchten“, murmelte Amber und verzog den Mund.

Jet spürte meinen besorgten Blick und schenkte mir ein kleines Lächeln, was mir zeigen sollte, dass es ihm gut ging, doch wusste ich, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Immerhin kannte er Mako schon sehr lange und sie war einfach ein Teil seiner Vergangenheit, deswegen konnte ich verstehen, wenn er traurig war und sich um sie sorgte. Ich tat es selber, obwohl ich sie kaum gekannt hatte.

Nachdem wir aufgegessen hatten, hatten wir noch etwas Zeit bis der nächste Unterricht los begann. Ich hatte Training mit Jade.

Moon und Amber wollten raus an die frische Luft, doch ich musste in mein Zimmer und meine Tasche ablegen, Jet wollte mich begleiten.

Kurz bevor wir an meinem Zimmer ankamen, sah ich Onyx um die Ecke kommen und er hielt auf mich zu.

Sofort streckte Jet seinen Arm vor mich und stellte sich schützend hin. Ich schaute an ihm vorbei und schließlich blieb Onyx stehen. Gleich darauf zeigte mein Körper Reaktion und ich begann, leicht zu zittern.

„Crystal, ich wollte mich bei dir entschuldigen“, fing Onyx an und schien Jets finsteren Blick zu ignorieren. „Auch wenn ich weiß, dass eine Entschuldigung das niemals wieder in Ordnung bringen kann, aber ich hoffe es.“ Er seufzte dann nur und senkte seinen Blick. Jet spannte sich an.

„Was willst du noch?“, fragte er neutral und doch bedrohlich.

„Ich will ihr danken“, antwortete er Jet und ich zog meine Stirn kraus.

„Du willst mir danken?“, fragte ich brüchig und trat einen winzigen Schritt nach vorne. Jet ließ seinen Arm etwas sinken.

„Ja, du hast mir vor Augen geführt, wie falsch es war, was ich getan habe und dass ich nicht das fortführen darf, was mein Vater mir angetan hat“, sagte er geradeheraus und ich blinzelte überrascht.

„Mehr wollte ich nicht“, murmelte Onyx und blickte wieder zu Jet, dann ging er an uns vorbei und war verschwunden.
 

「Angel Beats!」OST - My Most Precious Treasure -Orgel- (Ichiban no Takaramono piano ver.) [HD]
 

„Also … das habe ich irgendwie erwartet und trotzdem war es überraschend“, murmelte Jet und sah in die Richtung, in die er verschwunden war.

„Ich … weiß … ehrlich gesagt nicht, was ich gemacht habe“, murmelte ich und versuchte, mich an die Nacht zu erinnern, in der Onyx mich angefallen hatte. Und sofort verdrängte ich die Erinnerungen, denn es war für mich viel zu schrecklich, was ich gesehen und was ich gefühlt hatte.

„Deine Gabe heilt“, meinte Jet bloß und lächelte mir aufmunternd zu, doch war noch etwas anderes in seinen Augen zu erkennen.

„Jet?“, fragte ich, als sein Blick in die Ferne abrutschte. Er blinzelte nur und schaute wieder zu mir.

„Ich musste nur an meinen Traum denken“, sagte er und ich ging mit ihm in mein Zimmer, dann schloss ich die Tür, schmiss kurzerhand meine Tasche in die Ecke und widmete meine ganze Aufmerksamkeit ihm.

„Willst du mir sagen, was in deinem Traum passiert ist?“, fragte ich und er atmete tief ein, dann setzte er sich auf mein Bett.

„Es ist nicht so wichtig, eigentlich habe ich solche Dinge schon oft geträumt. Ich habe die Kontrolle über meine Gabe verloren“, erklärte er mir und ich setzte mich neben ihn. Er seufzte nur und ließ seinen Kopf leicht hängen.

„Ich habe alle aus dem Internat getötet und ich habe dich gesehen, genauso wie du gefoltert wurdest … und schließlich… habe ich auch dich getötet“, meinte er und seine Stimme wurde zunehmend leiser.

Ich legte meine Hand auf seine, die er auf dem Bein verkrampft hatte und beugte mich zu ihm, damit ich ihm einen Kuss auf die Wange geben konnte.

„Ich bin immer bei dir und ich vertraue dir“, flüsterte ich und erkannte ein kleines Lächeln. Dann legte er beide Hände um meine und küsste meine Finger.

Über unsere ineinander verschränkten Hände hinweg, schaute er mich an und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. Ich blinzelte irritiert und schon drückte er mich zurück auf das Kissen und beugte sich über mich.

„Dieser Traum wird niemals wahr und ich finde, wir sollten aufhören, uns ständig Sorgen zu machen“, meinte er schlicht und legte seine Hand an meine Seite und kitzelte mich. Ich kreischte auf und versuchte, seinen Arm wegzudrücken, doch er war stärker.

„Das … ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, schrie ich und bekam dann endlich seinen Arm zu fassen und er lachte nur. Dann beugte er sich zu mir und wollte mich küssen, doch ich drehte meinen Kopf zur Seite, sodass seine Lippen auf meine Wangen trafen. Verwirrt zog er seinen Kopf zurück.

„Du glaubst doch jetzt nicht im Ernst, dass du einen Kuss bekommst“, murmelte ich und zwinkerte lachend. Gleich darauf setzte Jet seinen Hundeblick auf und ich musste noch mehr lachen.

Auf einmal klingelte es zum Unterricht und setzten uns langsam auf.

„Ich werde dann mal meine Sachen holen gehen“, sagte Jet zu mir und ich sah ihn an.

„Okay, mach das, aber pass auf dich auf“, meinte ich etwas ruhiger und verwirrt schaute er zu mir.

„Nach den letzten Wochen will ich einfach, dass du vorsichtig bist, okay?“, meinte ich bloß und sank in mich zusammen. Jet lächelte wieder und nahm mich in den Arm. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und schloss kurz die Augen, dann kam mir aber wieder der Unterricht in den Sinn.

Sofort stellte ich mich hin und gab Jet einen schnellen Kuss auf den Mund, dann ging ich zur Tür und lächelte ihm entgegen. Überrascht blinzelte er.

„Ich muss jetzt los, bis nachher!“, lachte ich und begab mich dann zur Sporthalle, wo Jade auf mich wartete.

Die Realität sieht anders aus

Amber – Die Realität sieht anders aus
 

Edna bricht aus – Kindheit
 

Wieder kamen mir meine Schulbücher entgegen gefallen, als ich gegen das Regal stieß, um meine ganze Kleidung wegzuräumen.

„Auu“, stöhnte ich und hielt mir meine Hand auf den Hinterkopf, dann senkte ich den Blick auf eines der dicken Bücher und schmatzte.

„Blöde Teile“, grummelte ich und schmiss erst einmal den Wäscheberg auf mein Bett und staute die Bücher dann wieder ins Regal, dieses Mal ordentlicher.

Dann stopfte ich die Wäsche in eine Tüte und deponierte sie im Badezimmer, damit ich sie nachher im Waschkeller waschen konnte.

Schließlich ließ ich den Blick durch mein Zimmer schweifen und war zufrieden. Wenn Jet hier wohnen wollte, dann musste es wenigstens auch einigermaßen ordentlich aussehen, für die erste Zeit.

Dann machte ich mich daran, noch einige Kleinigkeiten wegzuräumen und hielt inne, als ich ein Foto unter meinem Bett fand. Es zeigte Moon und mich als Kinder. Sie lachte fröhlich und hatte ihre Hand um meine Schulter gelegt, ebenso wie ich bei ihr.

Wenn ich an die Vergangenheit dachte, dann war es manches Mal wie ein Albtraum. Auch wenn ich Moon als Freundin gehabt hatte, so war sie meine einzige Freundin gewesen.

Die Kinder hatten mich immer merkwürdig gefunden und hatten nichts mit mir zu tun haben wollen, nur wenn ihnen langweilig geworden war, dann hatten sie angefangen, mich zu ärgern und auszulachen, aufgrund meines Sprachfehlers.

Da ich so gut wie kein Wort über meine Lippen hatte bringen können, hatte auch nicht die Möglichkeit bestanden, mich zu wehren. Aber das hatte Moon getan, sie hatte mich beschützt.
 

„Lasst ihn in Ruhe!“, rief sie und stellte sich vor mich hin.

„Seht mal, da beschützt ihn jetzt auch noch wieder das Mädchen!“, lachte einer der Jungs aus der Gruppe, die sich um mich gestellt hatten und Moon ging auf ihn zu.

„Nur weil er nicht richtig sprechen kann, heißt es noch lange nicht, dass er ein schlechter Mensch ist!“, verteidigte sie mich und ich senkte meine Augen.

„Er ist viel netter als ihr jemals sein könntet!“, schimpfte sie und dann schubste sie der Junge zurück.

„Was willst du jetzt machen?“, fragte er provozierend und ich wusste, was jetzt passieren würde. Moon nahm wieder ihre Haltung ein und sah den Jungen grimmig an.

„Leg dich ja nicht mit mir an“, knurrte sie und sprang ihm plötzlich entgegen, als er nur lachte. Dann schlug sie auf ihn ein und sie rollten über den Rasen.

„V-Violet …!“, rief ich und wollte dazwischen, doch dann kamen die anderen Jungs aus der Gruppe dazu …
 

Ich seufzte und spürte, wie sich ein trauriges Lächeln auf meinem Gesicht breit machte. Dass Moon sich damals wirklich für mich mit Jungs geprügelt hatte, konnte ich bis heute irgendwie nicht begreifen.

Ich stellte mich wieder hin und legte das Foto auf meinen Nachttisch, dann klopfte es an der Tür.

„Ja?“, rief ich und Jet kam mit einer großen Tasche herein. Ich blinzelte, grinste aber gleich darauf wieder.

„Hey, Mitbewohner“, meinte er lächelnd und schloss dann hinter sich die Tür. Erst jetzt begriff ich, dass er wirklich hier bleiben durfte, dass er endlich akzeptiert wurde als das, was er war. Und dass er mein Freund war. So ein Freund, wie ich ihn damals schon hätte gebrauchen können.

„Ach, es ist so schön, nicht mehr allein sein zu müssen!“, rief ich und fiel ihm wieder um den Hals. Jet schwankte rückwärts und lachte nur.

„Was ist hier eigentlich passiert?“, fragte er, als ich ihn wieder losließ und er sich umschaute. „Wurdest du ausgeraubt?“

„Was? Nein! Ich habe aufgeräumt“, entgegnete ich und verzog mürrisch den Mund, doch dann lachte ich wieder.

„Du … hast aufgeräumt?“, fragte er ungläubig und ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Damit du nicht gleich wieder flüchtest“, murmelte ich und schnappte mir seine Tasche, um sie auf sein sorgfältig frisch bezogenes Bett zu legen.

„Dann würde ich sagen, räum' alles ein, Kumpel“, grinste ich und setzte mich wieder auf mein Bett. Jet öffnete seine Tasche und stapelte all seine Kleidung in den Schrank. Hier und da sah ich mal weiße T-Shirts und wunderte mich.

„Du hast weiße Kleidung?“, fragte ich nach, denn ich hatte ihn bisher immer nur in Schwarzer gesehen.

„Ja. Wobei ich mich jetzt frage, wieso“, murmelte er und sah noch mal nach, ob ich überhaupt richtig lag.

„Zieh die irgendwann mal an“, schlug ich vor und er drehte sich mit ausdrucksloser Miene zu mir. „Was denn?“

„Ich trage nicht umsonst immer schwarz“, nuschelte er, als er den Mund verzog, doch lächelte wieder.

„Würde Crystal bestimmt auch gerne mal sehen und du weißt ja … weiß betont den Körper“, neckte ich ihn und selbst, wenn er nur mit dem Rücken zu mir stand, wusste ich, dass er gerade versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.

„Halt die Klappe, Amber“, meinte er nur und räumte weiter alles in den Schrank.

Ich verdrehte die Augen und schließlich fiel mein Blick wieder auf das Foto mit Moon und mir.

Mir fehlten ihre violetten Augen wirklich sehr, auch wenn ich jetzt sagen konnte, dass ihr die neue Augenfarbe wunderbar stand. Dieses mysteriöse Blau stand in so einem schönen Kontrast zu ihren blonden Haaren und ihre schwarzen Strähnen drehten das Ganze noch ein Stück, was sie so anders und einzigartig wirken ließ. Aber einzigartig war sie schon immer gewesen.

„Ist alles okay?“, hörte ich Jet fragen und meine Augen schnellten von dem Foto zu seinem Gesicht.

„Ja“, antwortete ich kurz angebunden.

„Und warum reagierst du erst mein dritten Mal?“, fragte er nach und sein Blick fiel auf das Bild, was ich angestarrt hatte.

„Du hast mich eben … schon angesprochen?“

„Ja, das habe ich. Was ist das für ein Bild?“ Jet kam einen Schritt näher und ich seufzte nur. Ich wusste, ich konnte ihm alles anvertrauen, doch konnte ich es auch damit?

„Darf ich dich vielleicht etwas fragen?“, kam es zaghaft über meine Lippen und meine Augen blieben nur auf den Boden gerichtet. Jet setzte sich mir gegenüber auf sein Bett und sah mich an.

„Natürlich“, entgegnete er nur und wartete geduldig, bis ich die richtigen Worte gefunden hatte.

„Wie hast du … Crystal klargemacht … dass du sie liebst?“ Langsam hob ich meine Augen an und traf auf einen neutralen Blick. Jet schien kurz zu überlegen, dann lächelte er nur an die Erinnerung und schaute zu mir.

„Es war eigentlich recht unvorhergesehen“, erzählte er und verschränkte seine Finger ineinander. „Wieso fragst du?“ Das war eigentlich genau das, was ich nicht sagen wollte, aber ich wusste in diesem Moment, dass ich es Jet anvertrauen konnte. Und auch musste, sonst würde ich Kopfschmerzen bekommen, wenn ich es nicht langsam aussprach.

„Ich würde es auch gerne jemanden klarmachen“, flüsterte ich und wich seinem Blick aus.

„Moon“, warf er ein und ich biss die Zähne zusammen und sah nun direkt in seine Augen. „Hab ich Recht?“ Ich knabberte an meiner Unterlippe und spürte die plötzliche Hitze, die sich auf meine Wangen legte. Dann nickte ich nur und hörte, wie er aufstand und sich schließlich neben mir auf das Bett setzte.

„Ich kann dir da leider keinen Tipp geben, weil ich selbst ganz schlecht in so was bin und weil es bei Crystal und mir wirklich unvorhergesehen kam. Sie wusste es auf einmal, genauso wie ich es wusste und … dann brauchte es nur noch Mut von uns beiden“, erklärte er und stützte sich mit seinen Ellenbogen auf den Knien ab, genau wie ich.

„All das bringt mir nichts, wenn Moon nicht das gleiche fühlt“, flüsterte ich rau und seufzte.

„Da kann ich dir Entwarnung geben“, lachte Jet und ich schaute zu ihm.

„Du meinst …“

„Ich denke schon, dass sie das gleiche fühlt. Anders könnte ich mir das alles nicht erklären“, munterte er mich auf und schon wurde die Hitze in meinem Gesicht unerträglich.

Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, doch wusste ich selber nicht was, also kam kein Ton hervor.
 

Evgeny Emelyanov - Goodnight Luna
 

Auf einmal klopfte es an der Tür und ich zuckte augenblicklich zusammen.

Jet stand auf und öffnete sie, dann kam Moon herein und grinste. Nach der Offenbarung, konnte ich sie mit einem Mal nicht mehr normal ansehen, deswegen senkte ich meinen Blick. Nun klingelte es auch zum Schulschluss, ich hatte die letzte Stunde heute sowieso frei gehabt. Moon drehte sich kurz zu Jet, warf ihre Haare zurück und dann sah sie zu mir.

„Ich habe eine Überraschung!“, lachte sie und kam mir entgegen, nahm meine Hand und zog mich gekonnt hoch, wobei ich dann gegen sie stieß und schnellstmöglich zurückwich.

„Was denn?“, fragte ich äußerst rau und räusperte mich hastig.

„Wenn ich es euch sage, ist es doch keine Überraschung mehr, Idiot“, grummelte sie und tänzelte dann auf ihren nackten Füßen aus dem Zimmer und gab Jet und mir deutlich zu verstehen, dass wir ihr folgen sollten.

Ich steckte meine Hände nur in meine Hosentaschen und zusammen gingen wir die Flure entlang. Moon hatte die ganze Zeit über ein zufriedenes Lächeln im Gesicht, doch als sie um die nächste Ecke bog, hörte ich nur, wie sie mit jemanden heftig zusammen stieß und dann rückwärts auf den Boden fiel.

Ich unterdrückte ein Lachen, doch gingen Jet und ich ebenfalls um die Ecke und als wir sahen, mit wem Moon zusammen gestoßen war, musste ich noch mehr lachen. Es war Crystal. Jet ging zu ihr, während sie immer noch auf dem Boden saß und sich den Kopf rieb und half ihr dann hoch, das gleiche tat ich mit Moon.

„‘tschuldige“, murmelte Moon und lächelte schmerzvoll zu Crystal.

„Schon okay“, grinste diese und strich die Strähnen aus der Stirn.

„Du willst auch immer mit dem Kopf durch die Wand“, meinte Jet und Crystal warf ihm einem finsteren Blick zu.

„Was war jetzt die Überraschung? Wolltest du uns zeigen, wie hart dein Schädel ist?“, fragte ich und Moon knurrte nur, doch dann warfen sie und Crystal sich verschwörerische Blicke zu.

Fragend sah ich zu Jet, doch er hatte scheinbar genauso wenig Ahnung wie ich.

„Da wir ja heute Freitag haben und dann Wochenende, wollten wir einfach mal was unternehmen, auch um etwas zu feiern, dass die beiden hier bleiben dürfen“, erklärte Moon und Crystal nickte, dann gingen die beiden vor zur Eingangshalle und schließlich nach draußen.

Sentimentales Geschwätz

Moon – Sentimentales Geschwätz
 

To the Moon OST - Born a Stranger
 

„Dein Name wird Moonstone sein“, sagte die Asiatin, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte und hielt mir die Hand hin. „Willkommen auf dem Internat!“ Zögerlich streckte ich ebenfalls die Hand aus, schrak jedoch zurück, als sich unsere Finger berührten.

„Violet?“, fragte Leander neben mir. Ein Zittern wallte in meinem Brustkorb auf und durchwanderte eine jede Sehne, bis ich das Gefühl hatte, zu explodieren. Dass ich die Hände in mein Haar krallte, den Kopf auf meinen Knien verbarg und mich so klein machte, wie ich nur konnte, bemerkte ich erst, als mein bester Freund seine warmen Arme um mich legte.

„Dieses… Geräusch…“, brachte ich halb erstickt hervor und presste die Hände auf meine Ohren. „Mach, dass es aufhört! Bitte!“

„Was meinst du?“, fragte Leander verzweifelt. Die Direktorin schien um ihren Schreibtisch herum und an uns vorbeizugehen.

„Kann es sein…?“, hörte ich sie, obwohl ihre Stimme nur ein Murmeln war. Und kurz darauf löste sich das Beben in meinem Inneren und ich gab meine verkrampfte Haltung auf, um gegen Leanders Schulter zu sinken. Er roch noch genauso wie früher. Nach Bienenwachs und Sommerlicht. Es beruhigte mich, dass zumindest das nicht aus der Welt verschwunden war, so wie alles andere.

„Was war es?“, fragte er, seine Stimme so klar und warm. Es vibrierte in seiner Brust, wenn er sprach. Er konnte die Worte ohne Probleme hervorbringen, ich spürte nur ein hauchdünnes Zögern bei jedem neuen Satz – die Sekunde, in der sich sein Körper noch an das Stottern erinnerte. Aber seine Sprachprobleme hatten mich noch nie gestört. Ich hatte ihn auch verstanden, ohne dass er mir die Worte gesagt hatte. Stets.

„Der Wasserhahn“, antwortete die Direktorion – hieß sie Jade? – unbewegt. „Er war nicht ganz zugedreht.“

„Hast du das etwa gehört?“, fiel Leander ein und schob mich sanft ein Stück von sich, damit er mich anschauen konnte. Ich nickte schwach.

„Es hat… wehgetan, das zu hören… Das Wasser hat geschrien…“
 

Final Fantasy XIII OST - A Brief Respite
 

„Darf ich um Eure geschätzte Aufmerksamkeit bitten, Gentlemen?“, flötete ich und drehte mich so, dass die beiden Jungs stehen bleiben mussten, während ich mich wieder bei Crystal einhakte und mich zusammenreißen musste, nicht auch wieder loszulachen, als sie anfing, zu kichern.

„Ist das dein Ernst, Moon?“, schmatzte Amber, verschränkte zweifelnd die Arme vor der Brust und ließ seine Augen argwöhnisch über die Lichtung wandern, zu der wir sie geführt hatten – sie befand sich inmitten des Schulparks, war aber eher spärlich besucht, weil es hier vor hüfthohem Unkraut nur so wimmelte.

„Na, was denn sonst?“, stichelte ich zurück und wollte ihm meine Finger in den Bauch stoßen, aber er wich zurück, die Hände erschrocken erhoben, die Gesichtszüge entgleist. Irritiert ließ ich die Arme sinken, gab aber keinen Kommentar dazu ab, sondern wandte mich mit einem Räuspern wieder an Crystal.

„Während ihr zwei dafür gesorgt habt, dass man in der Eingangshalle jetzt wieder vom Boden essen kann, haben wir beide eine Kleinigkeit vorbereitet…“ Jet und Amber zogen synchron eine Braue hoch und Crystal musste sich japsend an meiner Schulter abstützen, mir ging es nicht anders. Die beiden sahen aus wie zwei verloren gegangene Welpen.

„Aber!“, fuhr ich bedeutungsvoll fort und trat gemeinsam mit Crystal einen Schritt zurück. „Bevor es losgehen kann, müsst ihr noch eine kleine Prüfung bestehen, Jungs.“

„Ich hab es kommen sehen…“, murmelte Jet ausdruckslos und Amber ruckte fragend zu ihm herum, aber da baute sich schon eine haushohe Wasserwand zwischen uns und ihnen auf. Ich hatte mich vorzeitig am Springbrunnen bedient und einen Teil davon in Reichweite festgehalten. Es lief wie am Schnürchen!

„Ihr habt eine Stunde, um uns zu fangen“, schrie ich durch die fließende Blase hindurch, die mich und Crystal umgab. „Wenn ihr es nicht schafft, bleibt nicht mehr viel von der Überraschung für euch übrig! Komm, Crys!“, flüsterte ich ihr dann zu und gab dem Wasser ein Zeichen, noch einige Sekunden anzuhalten, während ich mir ihre Hand schnappte und sie in Richtung des bewaldeten Teils des Parks zog.
 

Tom Day – Crossroads
 

Für einen Februartag war es angenehm mild und das Sonnenlicht ließ die jungen Knospen an den Bäumen schimmern wie winzige Glassplitter an anmutig gebogenen, filigranen Ästen. Fast erschien es mir, Crystal und ich starteten einen Versuch, nach den Sternen zu greifen, als wir uns am Stamm einer uralten Kastanie hinaufzogen, um uns auf einem der breiteren Arme niederzulassen, von wo aus der Teich genau im Blickfeld lag.

„Meinst du wirklich, eine Stunde genügt, damit sie uns finden können?“, fragte Crystal und schwang die Beine auf den Stamm, um ihre Arme auf den Knien abzustützen, nachdem sie sich rücklings an den Stamm gelehnt hatte. Ich lachte kopfschüttelnd auf.

„Ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass Jet längst weiß, wo wir stecken.“ Das überraschte sie. „Komm schon, du kennst diesen Kontrollfreak. Dem würde nicht einmal ein Stecknadelfallen entgehen.“ Jetzt musste sie kichern und ich ließ meine Beine schaukeln, sodass der Wind zwischen meinen Zehen hindurchpfiff. „Die beiden sind nur noch nicht hier, weil er uns den Spaß nicht verderben will.“ Dabei musste ich an etwas denken und zog die Stirn mit einem Blick auf die Wasseroberfläche kraus. „Aber lass Amber das nicht wissen, sonst sagt er nachher noch so was wie ‚du siehst aus wie ein begossener Pudel‘ zu Jet…“

„Also lieber so tun, als wüssten wir nichts“, gluckste Crystal, obschon mir das Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie, wie ich, dennoch gern Zeuge einer solchen Szene geworden wäre – selbst wenn es vermutlich dazu führen würde, dass wir zwei auch im Wasser landeten.

Eine Weile schwiegen wir. Mir fiel auf, dass die Sonne eigentümlich tief stand. Es gab mir die Bestätigung für das, was ich bereits seit Tagen fühlte – es war bald wieder Neumond.

„Ich hab das lang nicht mehr gemacht…“, brach Crystal plötzlich die Stille, die Augen gedankenverloren auf einen Punkt am Horizont gerichtet.

„Was?“

„Rausgehen, sich so was wie das hier ausdenken, Spaß haben…“ Sie seufzte so tief, dass ihre Brust leicht einfiel. „Etwas mit Freunden unternehmen, weißt du?“

„Vermisst du dein altes Leben?“, fragte ich wie aus einem Impuls heraus. Manchmal war mir Crystal immer noch ein Rätsel, auch wenn ich zugeben musste, dass ich sie, in Anbetracht der eigentlich kurzen Zeit, gut einschätzen konnte.

„Nein“, antwortete sie, ohne zu zögern, senkte aber den Blick. „Seit dem Tod meines Vaters, hab ich mich von allen abgekapselt. Das war nicht schwer, ich hatte schon vorher kaum Freunde.“ Langsam hob ich ein Bein über den Ast, damit ich ihr direkt gegenübersitzen konnte. Es war selten, dass sie so viel erzählte und noch seltener, dass es dabei um sie ging, deshalb schöpfte ich Hoffnung, endlich den Augenblick abgepasst zu haben, an dem ich ihr als Zuhörerin dienen konnte. Endlich zu erfahren, dass sie genug Vertrauen in mich hatte. Mich als ihre Freundin wahrnahm.

„Die Jungs auf meiner Schule haben mir eigentlich immer nur Angst gemacht oder waren lächerlich“, fuhr sie mit einem schiefen Lächeln fort und ihr Haar wellte sich geräuschlos in der Brise. „Deswegen hatte ich vor Jet auch noch nie einen Freund.“ Bei den letzten Silben errötete sie und ich musste grinsen. Nicht, weil ich mich über sie lustig machte, sondern weil es mich freute, dass sie selbst dieses Thema mit mir teilen wollte. Außerdem war es süß… trotzdem würde ich Amber bei nächster Gelegenheit bitten, Jet ein bisschen auszuquetschen. Auch wenn ich davon überzeugt war, dass er zu der Sorte Mann gehörte, die mehr Hirn im Kopf als in der Hose hatte. Man wusste nie.

„Und was die Mädchen angeht; da hab ich auch nie wirklich den Anschluss gefunden. Es ging immer nur um Klamotten, Stars oder Sex.“ Wir verdrehten simultan die Augen und mussten dann darüber wieder lachen. „Kurz bevor ich zum Rider wurde, kam ein Mädchen namens Lory auf die Schule – sie war anders, eher wie ich, aber na ja… wir hatten wohl nicht genügend Zeit, richtige Freunde zu werden.“ Das Licht flimmerte unruhig, als der Wind auffrischte und ein paar abgestorbene Blätter vom vergangenen Jahr herüberwehte.

„Ansonsten ist da noch mein Sandkastenfreund Tony. Aber nachdem ich aus dem Koma aufgewacht war, war es schwer, richtig mit ihm umzugehen. Wir kennen uns zwar schon seit dem Kindergarten, aber wir hatten eigentlich nie viel gemeinsam.“ Ich biss mir auf die Lippe und kämmte das Haar zurück, das durch die Böen aufgeworfen worden war. Damit gerieten ein paar der schwarzen Strähnen in mein Blickfeld. Der Anblick ließ mich schaudern.

„Apropos“, setzte Crystal da wieder an und musterte mich neugierig, „du hast mir erzählt, dass du und Amber euch auch schon seit dem Kindergarten kennt.“

Aha, da war er also. Der Moment, in dem sich die Seiten abwechselten und mir der Ball zugespielt wurde. Ich war dran mit der Nähkästchenplauderei.

„Gut gemerkt“, lobte ich schmunzelnd. „Ambers richtiger Name ist Leander – ich denke nicht, dass es ihn stört, wenn du das weißt“, fügte ich entwarnend hinzu, als Crystal das Gesicht verzog und hob eine Hand. Dann konzentrierte ich mich auf das Wasser unter uns, löste einen fußballgroßen Orb heraus und zog ihn zu uns hoch. Mit der anderen Hand führte ich die gläserne, wabernde Flüssigkeit auseinander und formte die Teile zu plastischen Umrissen, wodurch eine Reihe von Rosenköpfen entstand, die ich nacheinander zum Erblühen brachte. Crystal sah fasziniert dabei zu.
 

Most Wonderful Music: Hopeless Fall
 

„Seine Familie zog in unsere Nachbarschaft, als ich vier war und er sieben. Der Grund für den Umzug war, wie ich später erfuhr, dass man ihn auf der alten Schule tagtäglich verprügelt hatte.“

„W-Wieso?“, brachte sie schockiert hervor. Meine Wasserfiguren wurden zu Federn. Ich wusste, dass ich das nur tat, um mich von meinen eigenen Gefühlen, die mich beim Gedanken an die Vergangenheit überkamen, abzulenken.

„Er… hatte einen Sprachfehler“, murmelte ich und plötzlich wurden die Tropfen zu Schaukelpferden und Glücksklee. Solcher, wie wir beide ihn früher oft gesammelt hatten. „Er stotterte oder bekam gar nicht erst einen Ton hervor. Aber weil sein IQ laut den Ärzten für eine normale Schulbildung genügte, bestanden seine Eltern darauf, ihn weiterhin auf eine gewöhnliche Schule zu schicken.“ Ich drehte die Handflächen nach oben, ließ die durchsichtigen Fische über meine Fingerspitzen und runter zu den Armen schwimmen, dann wieder zurück. Mir fiel gar nicht auf, dass ich meinen Fokus auf das Spiel des Wassers gelegt und Crystals Anwesenheit beinahe vollständig ausgeblendet hatte.

„Die anderen Kinder haben ihn die meiste Zeit nur gemieden, aber wenn ihnen danach war, haben sie ihn auch gehänselt. Ich hab immer versucht, ihn davor zu bewahren, aber…“ Unvermittelt glitten die Bläschen auseinander und wurden zu Vögeln, die in den Himmel davonflogen. Ich sah ihnen nach, bis sie in der Ferne zerplatzen und mit leisem Trommeln auf die Erde regneten. „Zwei gegen ein ganzes Rudel von gewalttätigen Riesenbabys? Das hat leider nicht so gut funktioniert.“

Endlich wagte ich es wieder, sie anzusehen. Sie weinte.

„Alles gut, Crys?“, haspelte ich und rutschte eilig vorwärts, um ihre Arme zu berühren.

„Ja“, flüsterte sie und wischte sich die Tränen weg. „Das tut mir nur so Leid…“ Ich lachte leise und gerührt.

„Weißt du“, meinte ich auf einmal und mein Lächeln vertiefte sich. „Amber hat immer zu mir gesagt, dass er damals ohne mich verloren gewesen wäre. Aber in Wahrheit, war er derjenige, der mich gerettet hat. Er war immer für mich da, hat mich von Anfang an so akzeptiert wie ich bin und obwohl er nicht sprechen konnte, war er so voller Leben.“ Erneut rief ich etwas Wasser zu mir und ließ es in der Gestalt von Seifenblasen um uns herumtanzen. „Er hat alles gesehen, jedes Detail. Durch ihn habe ich die Schönheit dieser vorrangig abstoßenden Welt wahrgenommen und all ihre Farben… all seine Farben. Eine Welt, die so hart zu ihm war und die er trotzdem bemalen konnte, allein durch seine Art, sie anzusehen.“ Zaghaft balancierte ich eine der Bläschen über meinem Zeigefinger und beobachtete verträumt, wie sich das vielfarbige Licht in der unruhigen Oberfläche brach.

„Moon… darf ich dich etwas fragen?“

„Klar doch“, summte ich, ohne die Augen vom Wasser zu lösen, das sich mittlerweile zu einem Elefanten verformt hatte.

„Wie lange seid ihr zwei schon Crystal Rider?“ Die Blase veränderte sich noch einmal, diesmal zu einem Zelt, das im unvermittelt aufbrausenden Wind flatterte. Es war dunkler geworden, eine Wolkenfront war vor die Sonne geraten.

„Wir wurden fast zeitgleich infiziert“, murmelte ich schließlich, den Blick eisern auf die Wasserfigur gerichtet. Sie wurde gerade zu einem brennenden Ring. „Ich war neunzehn, er zweiundzwanzig. Und wir sind jetzt seit ungefähr drei Jahren auf dem Internat. Wieso fragst du?“

„Ich dachte nur gerade“, erklärte sie und aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sie meine Spielerei ebenso aufmerksam betrachtete wie ich, „dass du deine Gabe wirklich gut unter Kontrolle hast. Im Gegensatz zu Amber…“ Das schimmernde Nass erschuf ein Trapez und eine dazu passende Akrobatin, die sich gekonnt daran heraufschwang und überschlug und in meinen Ohren hallte es nach… das Echo… eines Leierkastens. Bevor es zu viel werden konnte, ließ ich die Szenerie fallen und die Schwerkraft riss das Wasser hinunter auf meine Beine, es rollte am Stoff meiner Hose ab.

„Kann ich dir etwas anvertrauen, Crys?“

„Ja, selbstverständlich.“ Seufzend drehte ich mich ihr wieder zu und schälte einen Arm aus meiner Uniform, dann wendete ich den Stoff so, dass sie die Stickerei auf der Innenseite sehen konnte.
 

Groove Addicts – To Be Free
 

„D-Du bist…“, stammelte sie mit aufspringenden Brauen. „Du bist entschärft?“ Ich zuckte nur lächelnd die Schultern. „Aber wieso bist du dann noch hier?“

„Weil ich es hier ganz nett finde“, zwitscherte ich, schlüpfte zurück in den Ärmel und lehnte mich zurück, die Hände auf dem Ast abgestützt. „Was soll ich denn da draußen? Außerdem jucken diese Kontaktlinsen tierisch.“ An der Art, wie Crystal mich beobachtete, bemerkte ich, dass sie mich durchschaut hatte. Zwar wusste sie nicht, was an der ganzen Sachen ich ihr verheimlichte, aber sie war darauf gekommen, dass es etwas gab. Nervös leckte ich mir über die Lippen und versuchte, es mit einem neuen Grinsen zu vertuschen.

„Aber warum versteckst du das Symbol?“, stellte sie da die Frage, die ich hatte kommen sehen. Dennoch hätte ich mein Vergangenheits-Ich am liebsten dafür getreten, dass es in seiner Sentimentalität überhaupt erst davon angefangen hatte.

„Ich… hab’s einfach nicht so gern, wenn das jeder sieht. Dann behandeln sie einen gleich so förmlich und starren dir in einer Tour auf die Brust. Und ehrlich gesagt, finde ich das nicht so prickelnd, wenn man mir permanent auf den Vorbau glotzt. Kannst du sicher nachvollziehen.“ Ich setzte ein absichtliches Lachen dahinter und hörte selbst, wie gekünstelt es klang. Crystal griff nach meiner Hand. Und als ich aufsah, rutschte mir das aufgezogene Lachen regelrecht von den Lippen. Ihre Augen schillerten eigenartig und ich musste blinzeln, als sie urplötzlich violett schienen – mein Violett. Was hatte das denn bedeuten?

„Außer Jade und jetzt dir weiß davon niemand“, gab ich mich letztendlich geschlagen und legte das Kinn auf meinem angezogenen Knie ab. „Ich habe sie darum gebeten, es für sich zu behalten, obwohl die Entschärfungsquote mit mir besser ausgefallen wäre. Aber wenn die Regierung davon erfährt, dann schieben sie mir eine Arbeit zu, wofür sich meine Gabe gut eignet und ich… ich kann dann nicht mehr hierher zurück.“ Und jene Arbeit… ich wusste, dass es eigentlich nicht infrage kam, aber die Angst war trotzdem da. Die Angst, dorthin zurückgeschickt zu werden.
 

„Steh wieder auf, du wertloses Zirkusmonster!“
 

Keuchend löste ich mich von meinem Bein, rückte ab und sah mich gehetzt um.

„Alles in Ordnung?“, fragte Crystal vorsichtig und ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mir das Haar aus der Stirn strich und ein Lächeln versuchte. Es gelang besser als gedacht.

„Ja, alles bestens. Ich musste nur an was denken…“ Es wurde schwieriger, die Fassung zu bewahren, so als balancierte ich auf einem Seil, das unübersehbar einige Meter von mir entfernt im Nichts endete. Aber es war unmöglich, anzuhalten. Angespannt warf ich einen Blick herum, bis die matte Oberfläche des Sees vor mir auftauchte.

„Hey, Crys“, wandte ich mich mit möglichst viel Enthusiasmus wieder an sie, „soll ich dir mal was zeigen?“ Sie nickte verwirrt und ich wies sie an, mir zu folgen, bevor ich mich vom Ast gleiten ließ und die Füße auf dem darunter liegenden abstützte, um dann allmählich wieder nach unten zu klettern.

Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, zog ich sie am Arm mit zum See und platzierte sie so, dass sie freie Sicht auf die Wasseroberfläche hatte.

„Was hast du vor?“

„Das wirst du gleich sehen!“, rief ich strahlend. „Entspann dich und genieß die Vorstellung.“
 

Most Emotional OSTs Ever: Nature
 

Sie legte den Kopf schräg, tat aber wie geheißen und wartete, während ich die Uniformjacke abstreifte, ins Gras warf und dann den ersten Schritt setzte. Das Wasser unter mir wurde auf meinen Befehl hin hart, sodass meine Füße nur in einer winzigen Schicht standen, als ich weiterging, bis ich die Mitte des Sees erreicht hatte.

Einige Sekunden verharrte ich noch, fühlte, wie es in der Tiefe unter mir rauschte und sang, wie Leben in die Wogen kam und es anfing, sich aufzubauen.

Und dann ließ ich es los.

Links und rechts von mir rasten die Fontänen empor, einzelne Tropfen splitterten heraus und schossen zurück gen Boden, wobei sich das Licht kraftvoll in ihnen brach. Ein Regen aus Diamantscherben.

Mit geschlossenen Augen hob ich die Arme über den Kopf und ließ mich in eine Drehung fallen. Durch meinen ganzen Körper flutete das Adrenalin, als die Spannung meine Beinmuskulatur anzog, es sich in alle Länge straffte und bis zu meinen Zehenspitzen hinunter fiel, wo sich auch mein Fuß aufrichtete und ich nur noch auf der Spitze stand. Das andere Bein rotierte mich herum und dann flog ich. Wieder und wieder, den richtigen Takt der unsichtbaren Musik abwartend.

Ich nutzte die Bewegung, um mich aus der Pirouette heraus in einen Sprung zu heben und noch während des Flugs, gab ich dem Wasser um mich herum das Zeichen, sich zu verwandeln. Die Strudel wurden zu kunstvollen Wellenmustern, peitschten mit gefährlicher Anmut neben meinem herumwirbelnden Körper auf den Wasserspiegel, aber sie würden mich nicht verletzten. Niemals.

Selbstvergessen beschrieb ich eine Schleife aus schnellen Schrittfolgen über eine Spur aus kräuselnden Wellen, trieb es höher hinauf und ließ es wie ein Feuerwerk zerspringen. Der Niederschlag benetzte meine Wangen, verfing sich in meinem Haar, perlte am Stoff der Uniform ab.

Ich hatte schon so lange nicht mehr getanzt. Und ich wusste auch genau, warum. Die Erinnerungen, die ich damit verband, waren nicht gerade rosig. Aber jetzt, in diesem eigenartig ruhigen und flirrenden Moment, war alles nur ein fließendes Farbenspiel. Aquarell, das sanft ineinander verläuft und selbst dunkle Farben in Glanz hüllt. Verwischt und gedämpft.

„Tanz für mich, Violet…“

Und die Vergangenheit wird zum Film…
 

Ich saß auf dem Trapez und ließ mich rücklings fallen, sodass meine Kniekehlen gegen das Eisen der Schaukel drückten. Kopfüber raste die Manege an mir vorbei, ein verzerrtes Flechtmuster aus Augen und Kleidungsfetzen. Applaus wie das Grollen mehrerer hungriger Löwen. Mein rabenschwarzes Haar flog mir um die Wangen.

Dann ließ ich mich fallen, meine Beine schabten über die spitzen Enden der Metallplatte, im Fall änderte ich die Richtung und drehte mich wie eine Katze, um mich dann pfeillang anzuspannen und mit den Händen zuerst in das Becken zu springen.

Das Wasser fing mich auf, umschloss sanft und mitfühlend meine Glieder, aber mir blieb nicht viel Zeit, hier auszuharren. Ich stieß mich ab und rief die Wellen von beiden Seiten zu mir. Wie ein Delfin sprang ich wieder empor, umgeben von tropfenwerfenden Springfluten, die sich in Spiralen um meinen Körper wanden. Der Applaus schwoll an, ein paar Leute riefen meinen Namen.

Nein, nicht meinen Namen. Sondern den Namen, den sie mir gegeben hatten.

Blue Hour.

Das Wasser trug mich aus dem Becken heraus und zurück in die Mitte der Manege, wo mein Partner auf mich wartete. Während ich auf ihn zuging, führte ich die Nässe aus meiner Kleidung heraus, woraufhin der durchsichtige Seidenstoff meiner Rockschöße wieder um meine Beine spielte. Er versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber ich warf ihm nur das aufgesogene Wasser entgegen und drehte mich kunstvoll ab. Ein Lachen lief durch die Zuschauer. Mein klatschnasser Partner setzte mir sofort nach, bekam meine Taille zu fassen und ich breitete wie einstudiert die Arme aus und hob die Beine in einen Spagat, indes ich eine Fontäne über unsere Köpfe führte, dass es wie ein Regenbogen aussah.

Aber dann geschah es.
 

Luka Megurine – Circus Monster Karaoke
 

Er hatte mich gerade wieder abgesetzt, als mir der kleine Junge in einer der ersten Reihe im Publikum auffiel. Ich wusste sofort, dass er es nicht war, aber die Irritation genügte. Ich verlor das Gleichgewicht, als ich zum nächsten Sprung ansetzen wollte, taumelte und landete schließlich ungelenk auf dem Sandboden. Das Wasser entglitt meiner Kontrolle und krachte über mir zusammen, kurz darauf war ich wieder durchnässt bis auf die Haut. Mein Partner eilte heran, wollte mich auf die Beine ziehen, aber ich wehrte ihn ab.

Was tat ich hier? Das war absurd! Nichts von alledem geschah freiwillig!

Unruhe kam in die Tribünen. Wieder versuchte mein Partner, mich hochzuzerren, aber ich machte mich steif und schwer, bis er mich doch losließ und ich zurück auf den Boden sank, um zu weinen. Ich schluchzte haltlos, konnte es nicht mehr aufhalten. Was passierte hier? Ich hatte Angst. Ich wollte nachhause. Alles drehte sich!

Hört doch endlich auf, mich anzuschreien!

„Steh wieder auf, du wertloses Zirkusmonster!“, riefen sie. Dann kam faules Obst geflogen. Manche Traditionen ändern sich nie, vor allem nicht im Zirkus. Jemand packte mich grob bei den Armen und schleifte mich aus der Manege.

Ich wusste, ich hatte eine Strafe zu erwarten. Das war dumm von mir gewesen. Ich hätte mich zusammenreißen sollen – wäre das wirklich so schwer gewesen? Es gelang mir doch schon so lange…

Im nächsten Moment war ich draußen. Eine feuchte Spur aus verrottetem Tomatenfleisch lief aus meinen Haaren und tropfte an meiner Wange hinab.

Und dann kam der erste Schlag.
 

Als ich wieder auftauchte, wurde alles noch schlimmer. Ich befand mich immer noch auf dem Wasser, aber die Luft hatte sich um einiges abgekühlt und der Himmel hing voll von Wolken. Mein Herz tat weh, als hätte man es in Glut gebadet und was ich auch tat und versuchte, die Erinnerungen ließen sich nicht mehr abschütteln. Und fühlten sich noch tausendmal schrecklicher an als sonst. Irgendwo zwischen all der Angst und den Schmerzen konnte ich Crystal ausmachen, die mich vom Ufer aus immer noch beobachtete. Um ihren Körper herum lag eine Wolke aus rauchblauem Staub – oder war es Nebel? Ich konnte es nicht sagen, denn alles, was mich bei ihrem Anblick überkam, war die nackte Panik. Obwohl ich sehr weit am Rande spürte, dass sie nicht Crystal selbst galt, sondern eben jener Substanz um sie herum.

Im nächsten Augenblick realisierte ich, dass ich schon eine Weile lang schrie, da sich ein Kratzen in meiner Kehle bemerkbar machte. Ich stand auch nicht mehr, sondern kauerte auf der Wasseroberfläche, die Hände ganz tief in den Haaren vergraben, denn mein Kopf wollte zerspringen. Ja, das würde er tun, jede Sekunde war es soweit!

Die Gräser um mich herum und das Wasser wurden papierstumpf, rissen auf und bluteten Hass. So viel Hass auf diese kranke, kalte Welt! Ich hätte sie alle in der Luft zerrissen, wenn ich gekonnt hätte – all diese Maskenclowns im Zirkus!

Und im Anschluss meine Eltern, die mich nach meiner Infizierung, dorthin verkauft hatten…

König der Narren

Jet – König der Narren
 

Final Fantasy XI OST - Batallia Downs
 

„Das können die zwei doch nicht ernst meinen, oder?“, stöhnte Amber neben mir in aller Unbedarftheit und fuhr sich durchs Haar. „Wir wandern hier mindestens schon seit fünf Stunden durch die Wildnis und haben nichts gefunden! Bestimmt haben die längst Kehrt gemacht und freuen sich jetzt ihres Lebens in der Mensa.“

„Eigentlich sind es erst fünfundvierzig Minuten“, meinte ich und hob versöhnlich die Hände, als seine Brauen zuckten, „und zugegebenermaßen war deine Bemerkung, dass der Park wie ein Dschungel wäre, wenig hilfreich, sie nicht aus den Augen zu verlieren.“ Dabei kratze ich mich reflexartig an der Schulter, obwohl der Moskitostich, aufgrund dessen, dass es nur eine Illusion gewesen war, längst nicht mehr juckte. Amber knallte nur geräuschvoll die Zähne aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich unterdrückte ein Lachen. Noch fünf Minuten und ich würde unsere Schritte unauffällig in Richtung See lenken. Crystal und Moon mussten ein ziemlich großes Vertrauen in mich haben, dass sie sich den Park für ihr Versteckspiel ausgesucht hatten. Der Park, den ich die vergangenen Jahre hindurch nahezu jede Nacht in der Streife abgelaufen war und daher ein jedes Geräusch sofort lokalisieren konnte.

„Ach und das mit Mrs. Capellas Strafarbeit ist immer noch deine Schuld“, murmelte er plötzlich.

„Fängst du jetzt schon wieder davon an?“, erwiderte ich stirnrunzelnd.

„Es ärgert mich halt, dass… es jetzt noch schwieriger wird… du weißt schon!“ Er lief rot an, wie frisch getoastet und ich tätschelte ihm grinsend die Schulter.

„Dass es verboten ist, gibt dem ganzen aber auch einen gewissen Reiz, das musst du zugeben.“

„Gibt es nicht irgendein Sprichwort, das Türschlösser verriegelt?“, überlegte er laut, die Augen nachdenklich verdreht.

„Vor verschlossenen Türen stehen?“, bot ich an.

„Da hätte ich Angst, dass das auf mich selbst zurückfällt.“

„Außerdem hielte die Wirkung nicht sonderlich lang an.“

„Oder man müsste sich kurzzeitig unsichtbar machen können! Wie wäre das?“ Da verzog er das Gesicht. „Obwohl… das hab ich mal gemacht, als ich sagte, dass ich mich in Luft auflöse, das war nicht gerade cool…“ Seine Schnute verhärtete sich und ich musste in mich hineinlachen.

„Da war ich sogar dabei“, erinnerte ich ihn. Er schnippte in meine Richtung.

„Richtig! Jetzt weiß ich’s wieder – das war am Tag, als wir uns begegnet sind.“ Sein Lachen hätte Tote aufgeweckt. „Mann, warst du damals vielleicht ein Stinkstiefel. Und jetzt schau dich an!“ Aber bei den letzten Worten schlug er sich die Hände vor den Mund und sah vorsichtig zu mir herüber, in Angst, zu weit gegangen zu sein. Aber ich lächelte ihm nur milde zu.

„Und das dank euch, Amber.“ Erleichtert ließ er Hände und Schultern sinken und trat einen Schritt vor, aber ich hielt ihn auf Armeslänge.

„Keine Umarmungen mehr, bitte“, wies ich gespielt strikt an und Amber fing an, zu winseln wie ein kleiner Hund, den dazu passenden Dackelblick auf dem Gesicht. Ich wollte gerade noch etwas dazusetzen, als ich die Veränderung in der Atmosphäre spürte.
 

E.S Posthumus – Unstoppable
 

„Amber, schnell!“, rief ich noch, dann rannte ich los. Ich hatte diese Art von Störung in der Luft schon einmal wahrgenommen. Etwas war anders als beim letzten Mal, aber ich konnte nicht definieren, was.

Der See war schnell erreicht, da ich uns schon vorher allmählich in seinen Radius geführt hatte. Doch als das Wasser in Sichtweite kam, versagten meine Knie den Dienst. Ich hörte, wie Amber hinter mir ebenfalls zum Stehen kam.

„Moon! Crystal!“, brüllte er fassungslos und wollte auf die beiden zuspringen, aber ich hielt ihn zurück. Was nicht gerade einfach war, da er mehr Kraft hatte, als man ihm auf den ersten Blick zutrauen würde.

„Das hat keinen Sinn“, zischte ich mit einem Nicken auf Crystal, die in bläulichen Nebelschaden stand, welche sich bis zu Moon hin erstreckten und auch sie ummantelten. Während sie wie unter Messerstichen schrie.

„Was passiert da?!“, kreischte Amber verzweifelt und zerrte, sehr wahrscheinlich unbewusst, an meinem Griff.

„Crystal wendet ihre Gabe an“, entgegnete ich möglichst gefasst, um es für Amber nicht noch schlimmer zu machen, als es ohnehin schon war. Ein Teil von mir hatte bereits angefangen, sich zu fragen, wie zum Teufel es dazu gekommen war, aber ich war mir im Klaren darüber, dass ein Eingriff ins Geschehen zwecklos war. Früher oder später würde es von allein zu einem Ende kommen, bis dahin mussten wir das irgendwie ertragen.

„Moon!“, entfuhr es Amber, als sie erneut aufschrie, diesmal schriller und schmerzverzerrter als die vorherigen Male. „Jet, sie stirbt!“ Seine Gegenwehr wurde resoluter, ich hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten. Wenn es so weiterging, musste ich ihn bewusstlos schlagen, zu seiner eigenen Sicherheit.

„Nein, vertrau mir“, stieß ich hervor. „Es wird gleich vorbei sein.“ Aber da erkannte ich über seine Schulter hinweg, wie Moon ihre verkrampfte Sitzhaltung aufgab und sich mit wackligen Knien aufrichtete. Sie hatte immer noch die Augen zugepresst und wimmerte, wenn sie nicht gerade vor Qualen rief, doch etwas anderes hatte sich zu ihrer Angst und dem Schmerz gesellt. Und als ich es erkannte, ließ ich abrupt von Amber ab, welcher durch das plötzlich fehlende Gegengewicht zurückstolperte, und raste auf Crystal zu.

Als ich zwischen sie und Moon, direkt in die blaue Nebelspur hineinschlitterte, starrte ich für den wahnsinnigen Herzschlag der Sekunde in ihre von jenem Hass tiefseeblau verfärbten Augen, dann schossen die Wasserpfeile auf mich nieder.

Ich hob reflexartig die Arme, um mein Gesicht abzuschirmen, konnte aber den Schmerzenslaut nicht zurückhalten, als mir das Wasser zischend die Haut aufriss.

„Moon, hör auf!“, brüllte Amber irgendwo von rechts. Neben den Wunden, die die Fontänen immer noch auf meine Arme schnitten, wurde ich nun auch dem stromstoßhaften Wirken von Crystals Nebel gewahr, der anfing, Erinnerungen in mir wachzurufen, während er hier und da schwarze Flecken bekam. Meine Augenfarbe.

„Moon, bitte!“, flehte Amber weiter, aber sie hörte nicht auf. „Erkennst du uns denn nicht?“

Nein, sie würde uns nicht erkennen, nicht einmal, wenn wir tot umfielen. Denn in diesem Bann sah sie uns nur als die Menschen ihrer Erinnerung. Und anders als Onyx, der panikgleiche Angst vor ihnen gehabt hatte, verspürte sie daneben noch einen tödlichen Zorn, bis hin zu Hass.

Verdammt, wieso hielt es so lange an? Vielleicht kam es mir auch nur so, weil ich bei Onyx lediglich daneben gestanden hatte. Aber je mehr Wasser sie auf mich abfeuerte, desto deutlicher fühlte ich, wie mich die Kraft im Stich ließ und ich dem Boden näherkam. Aber dann würden sie Crystal treffen und das durfte ich nicht zulassen!

„Violet!“, schrie Amber da unvermittelt und ihr Angriff erstarb ohne Vorwarnung. Das plötzliche Fehlen der Attacken brachte mich zum Einknicken. Ein Knie fiel zu Boden, das andere zitterte heftig, war aber noch stark genug, damit ich meine blutenden Arme darauf abstützen konnte.
 

Eternal Sonata OST - Someone Special
 

„Violet, ich bin es…“, setzte Amber wieder an. Schwer hob ich den Kopf und sah, wie er näher an den See herantrat. Crystals Nebel hatte sich aufgelöst und Moon wirkte apathisch. Mit röchelndem Atem und starren Augen blickte sie ihn an.

Crystal hinter mir keuchte, als sie erfasste, was geschehen war. Ich biss die Zähne zusammen, richtete mich auf und zog sie an mich – sie war so geschlagen, dass sie es kaum mitzubekommen schien. Ihr Ohr sank gegen meine Brust, aber ihre Arme blieben unbewegt und ihre Aufmerksamkeit galt, so wie auch meine, Moon und Amber.

„Lea…?“, hauchte Moon und obschon es verwirrt klang, schwang auch etwas anderes darin mit. So als hätte sie ewig nach etwas gesucht und jetzt, wo es tatsächlich da war, konnte sie es nicht ganz glauben. Amber streckte ihr zaghaft die Hand hin.

„Ja…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als das dunkle Blau zusehends aufhellte, bis sie wieder so gleißend und vielschattiert waren wie normalerweise.

„Endlich…“, murmelte sie. Ein flüchtiges Lächeln brachte ihre Mundwinkel zum Zucken, dann schlossen sich ihre Augen und sie fiel. Schlagartig riss ihre Kontrolle über das Wasser ab und anstatt auf der Seeoberfläche zu landen, brach sie hindurch und versank. Amber zögerte nicht, war mit einem Satz am Ufer und sprang ihr mit dem Kopf voran hinterher.

„Was… hab ich nur getan…?“, hörte ich Crystal flüstern, ihre Worte brüchig vor Tränen. Kurz darauf tauchte Amber wieder auf und zog die bewusstlose Moon mit an Land. Ich legte Crystal den Arm um und führte sie vorsichtig voran.

„Sie scheint im Reflex den Atem angehalten zu haben“, sagte ich ruhig und war damit im Augenblick allein; Ambers Hände zitterten und Crystal machte den Eindruck, gleich ebenfalls das Bewusstsein zu verlieren. „Sie hat kein Wasser in die Lunge bekommen, es geht ihr soweit gut.“ Dass meine Worte zumindest angekommen waren, sah ich daran, dass Amber die Augen schloss, tief durchatmete und dann die Arme unter Moons Körper schob, um sie über seine Schulter zu legen.

„Zum Krankenflügel“, bejahte ich, als er mich ansah, ohne die Frage aussprechen zu können und nickte dankbar. Dann lief er voraus.

„Ich hab das nicht gewollt…“, wimmerte Crystal, den Blick glasig und tränenstarr geradeaus gerichtet. „Sie hat getanzt und auf einmal kamen mir diese Bilder in den Kopf… und dann… dann…“

„Schon okay“, murmelte ich, zog sie an die Brust und strich über ihre Haare. „Du kennst Moon. Sie wird dir nicht böse sein.“

„Das ist es nicht, Jet“, schluchzte sie. Ihre Hände waren unruhig, immer wieder krallte sie die Finger in den Stoff meiner Jacke, nur um wieder loszulassen und das Ganze an anderer Stelle zu wiederholen.

„Was dann?“

„Das, was ich gesehen habe…“, kam es mit einiger Verzögerung. „Was sie durchmachen musste… Das hätte ich niemals gedacht.“ Sie vergrub das Gesicht tiefer in meine Brust, als ein Zittern durch ihren ganzen Körper lief und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Oder tun. Nichts schien jetzt richtig. Aber auch nichts falsch.

Nach einigen weiteren Sekunden nahm Crystal mir die Entscheidung ab.

„Ich muss zu ihr“, hauchte sie und hob den Kopf, um mich anzusehen. „Ich muss mich bei ihr entschuldigen.“

„In Ordnung“, antwortete ich schlicht. Wir lösten uns voneinander und setzten uns wortlos in Bewegung, wenn wir auch aus einem unbestimmten Grund sehr langsam gingen.

Der Picknickkorb und die Decken, die sie und Moon für ihre Überraschung so sorgfältig vorbereitetet hatten, blieben einsam im Schatten des Baumes zurück.
 

Melancholy Sad Piano Music - Violin Song
 

Als wir den Krankenflügel betraten, war Amber nicht mehr dort, was uns vor den Kopf stieß, aber keiner von uns sagte etwas dazu. Dafür war Jade anwesend. Und Moon wieder wach. Sie lächelte schwach, als Crystal auf sie zustürzte.

„Es tut mir so leid!“, platzte sie umgehend hervor. „Ich wollte das nicht!“

„Das weiß ich doch“, erwiderte Moon, tätschelte ihr den Arm und breitete einladend die Arme aus. Crystal fiel ihr prompt um den Hals. Ich sah fragend zu Jade hinüber, die daraufhin um das Bett herumtrat und mir eine Hand auf die Schulter legte, bevor sie mich ein Stück mit sich wegdrehte, damit Moon und Crystal uns nicht hörten. Obwohl die beiden uns allem Anschein nach sowieso komplett ausgestrichen hatten.

„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte sie verhalten, ich nickte, ohne zu zögern. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter. „Moons Zustand ist stabil. Ihre Psyche ist noch ein wenig angegriffen, darum wird sie über Nacht hierbleiben, aber ansonsten geht es ihr gut. Um wen ich mir mehr Sorgen mache, ist Amber.“

„Ich gehe zu ihm“, antwortete ich auf ihre noch unausgesprochene Frage. „Hast du ein Auge auf Crystal?“ Sie lächelte leicht.

„Selbstverständlich.“

Ich sah noch einmal hinüber zu Moon. Obgleich sie Crystal anstrahlte und so fröhlich wie immer wirkte, war seit dem Vorfall etwas an ihr verändert. Es fiel nicht gleich auf. Es war eher wie ein Graustich auf einer weißen Feder, den man erst sah, wenn das Licht anders stand. Ich hatte mir nie viele Gedanken über dieses Mädchen gemacht. Sie war zu aufgeweckt, zu mitreißend und optimistisch – und machte es ihrer Umgebung damit viel zu leicht, sich nicht um sie zu sorgen. Und genau aus dieser Motivation heraus, tat sie es.

Man hätte glauben können, dass es bei Amber genauso war, aber das stimmte nur zum Teil. Bei ihm hatte ich schon damals, am Tag unserer Begegnung, verstanden, dass er nicht seiner Umgebung etwas vorspielte, sondern sich selbst. Er lachte seine Schmerzen beiseite. Während Moon sich ihrer gänzlich bewusst war und alle anderen mit ihrem Lächeln gezielt an der Nase herumführte.

Ich begegnete ihrem Blick über Crystals Schulter hinweg. Nur zwei Sekunden lang, sah sie mich ganz genau an und begriff, dass ich sie durchschaut hatte. Und ihre Augen verfinsterten sich in einer eigentümlichen Ruhe, dann war der Moment vorbei, bevor Crystal es bemerken konnte.

Narrenkönigin, dachte ich, wandte ich mich ab und verließ das Zimmer.
 

Poets of the Fall – King of Fools
 

Der Geruch stach mir sofort in die Nase, als ich die Tür öffnete und noch währenddessen konnte ich ihn auch benennen. Allerdings hatte ich keinen blassen Schimmer, wie Amber in so kurzer Zeit daran gekommen war. Es sei denn, er hatte irgendwo ein Geheimversteck angelegt.

„Du hast es sicher nur gut gemeint“, raunte er von seinem Platz auf dem Bett aus. Die halbleere Gin-Flasche stand auf dem Nachttisch. „Und wahrscheinlich auch nicht gelogen, sondern es wirklich geglaubt, aber die Realität sieht anders aus. Moon empfindet nicht das gleiche, das hat sie auch nie. Für sie bin und werde ich immer nur ein Freund bleiben.“

„Amber…“ Allmählich ging mir auf, wieso er nicht mit Moon im Krankenzimmer gewesen war, als wir dazu gestoßen waren. Ich konnte ihm nicht verübeln, dass er es ihr gestanden hatte – ich hatte es bei Crystal auch in einem Moment unermesslicher Erleichterung nach einem der Todesangst getan.

„W-Was soll ich denn jetzt tun, Jet?!“, platzte es auf einmal aus ihm hervor. Er griff sich in die Haare, presste die Lider aufeinander und dann perlte ein freudloses Lachen über seine Lippen. „I-I-Ich kann nicht mehr… i-i-ich k-k-kann sie nicht mehr so a-a-ansehen wie v-v-vorher…“ Mitten im Satz hielt er inne, riss die Augen wieder auf und fasste sich an die Lippen. Und im nächsten Moment wurde seine ganze Brust von Schluchzern durchgerüttelt. „E-Es pa-pa-passiert wieder…! I-I… k-kann…“

„Amber, hör zu“, ging ich dazwischen und trat an ihn heran. Er hatte das Gesicht unterdessen in die Hände gelegt und wiegte sich leicht vor und zurück. Ich ließ mich neben ihm nieder. Das genügte schon, mehr würde er augenblicklich auch nicht bewältigen können. Bei zu viel Trost wird die Wirklichkeit wieder zu grell. „Es waren keine leeren Worte, ich habe das ernst gemeint. Ich glaube nicht, dass Moon dasselbe für dich empfindet, ich weiß es.“

„W-W-Woher…?“, brachte er, von seinen Händen gedämpft, hervor. Ich seufzte und dachte wieder an Moons Gesichtsausdruck zurück.

Manchmal verstand man einfache Gesten wie diese erst nach einer Weile. Hatte ich vorhin noch den Befehl, zurückzuweichen darin erkannt, wurde mir nun bewusst, dass es ein Hilfeschrei gewesen war. Und sie hatte ihn an mich gerichtet, weil sie gewusst hatte, nur ich würde ihn erfassen können. Aber das war nie und nimmer bewusst geschehen – das war die große Komplikation der ganzen Sache.

„Wenn wir lieben“, begann ich zu erklären, „tun wir ziemlich bescheuerte Dinge. Und wenn du jemanden wirklich gern hast, dann ist dir seine Sicherheit wichtiger als alles andere. Du willst, dass diese Person das beste Leben führt, das möglich ist und manchmal denkst du, dass dich das selbst ausschließt.“ Während ich sprach, stand ich wieder auf und ließ unauffällig die Flasche vom Tisch verschwinden. „Als ich erkannt habe, was ich für Crystal fühle, habe ich sie von mir weggestoßen und so getan, als könnte ich sie nicht leiden… Mir wurde erst später klar, wie dumm das war. Aber die Angst war stärker. Die Angst, ihr wehzutun und nicht gut genug für sie zu sein.“ Ruckartig schoss Ambers Kopf aus seinen Händen empor.

„Moon denkt, dass sie nicht gut genug für mich wäre?“ Ich ging hinüber zum Bad und schüttete den Alkohol in den Abfluss, die leere Flasche stellte ich vorerst daneben.

„Ich glaube, dass sie das nicht bewusst denkt“, erläuterte ich meine Gedanken von vorhin, so wie ich aus dem Bad wieder ins Zimmer kam, „aber ja.“

Seine wie flüssiges Bienenwachs glimmenden Augen wanderten von mir hinüber zum Fenster und dann auf seine offen im Schoß liegenden Hände. Ich sah die Frage schon herannahen.

„Und was soll ich jetzt tun?“ Ich ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten.

„Gib ihr etwas Zeit…“

Wieder lachte er. Es war trostlos, aber er gab sich alle Mühe.

„Davon hab ich wenigstens mehr als genug.“

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, schritt aber wieder auf ihn zu und legte meine Hand auf seine Schulter. Inzwischen war er soweit, das ertragen zu können.

Amber und Moon… Beide lächelnd und – wenngleich in unterschiedlicher Absicht – aus demselben Grund. Eigentlich waren sie genauso wie Crystal und ich. So ähnlich, dass sie so weit auseinanderliefen, dass sie sich wiedertrafen.

Nebeneinander, auf zwei gegeneinander verlaufenden Fahrbahnen.

Deine Veränderung, mein Urteil

Mira – Deine Veränderung, mein Urteil
 

Thousand Foot Krutch – Be Somebody
 

Ich trommelte mit meinen Fingern auf der Tischplatte umher und stütze mit der anderen Hand meinen Kopf.

„Worüber denkst du so scharf nach?“, fragte Askella mich und ich ließ meine Augen zu ihr wandern. Sie saß mir gegenüber im leeren Klassenzimmer. Mrs. Capella hatte für heute den Unterricht beendet und uns dazu verdonnert, aufzuräumen, was mir gar nicht passte.

„Ich denke über nichts nach, ich bin nur genervt“, grummelte ich und erhob mich seufzend.

„Dann lass uns aufräumen, desto schneller kommen wir hier weg“, meinte sie und erhob sich ebenfalls. Ich sah mich um und erkannte nur Stifte, Pinsel und Papier, das überall verstreut lag und verdrehte die Augen. Dann nahm ich mit einem Schwung alle Stifte von unserem Tisch in die Hand und pfefferte sie in die entsprechende Kiste, das gleiche tat ich mit den Pinseln, während Askella alles an Papier ordentlich in die Schubladen sortierte. Nicht mal zehn Minuten und wir waren fertig.

Langsam machten wir uns auf den Weg zur Mensa, denn mein Magen hatte schon während des Unterrichts geknurrt.

„Sag mal, weißt du, was in letzter Zeit mit Onyx ist?“, fragte Askella nach einer Weile und meine Schritte verlangsamten sich.

„Diese Crystal ist dafür verantwortlich, egal was sie gemacht hat… es hat… ihn völlig verändert“, meinte ich und warf meine Haare über die Schulter.

„Ach, die Kleine. Sie ist doch nicht ehrlich eine Bedrohung für dich, sie ist…“

„Sie ist was?“, unterbrach ich sie und sah sie böse an. Askella schreckte bei meinem Blick etwas zurück. „Ich habe damit nicht gemeint, dass es schlecht wäre, wie Onyx jetzt ist, sie hat ihm damit geholfen.“

„J-Ja, das stimmt“, murmelte sie und wir gingen die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Die große Flügeltür wurde gewaltsam aufgestoßen, als wir unten angekommen waren und ich erkannte, wie Amber reingestürmt kam. Auf seinem Rücken lag Moon, sie war scheinbar bewusstlos und beide waren klatschnass. Er schlug die Richtung zum Krankenflügel ein und dann waren sie auch schon wieder verschwunden.
 

Marina and the Diamonds – Valley of the Dolls
 

„Also mit denen hat man auch immer nur Probleme“, murmelte ich und ging mit Askella zur Mensa.

Drei aus unserer Klasse saßen am üblichen Tisch und unterhielten sich. Ich holte mir schnell ein kleines Sandwich mit Käse und Askella nur eine Schale mit Jogurt, dann setzten wir uns dazu.

„Was wirst du zum Kirschblütenfest anziehen, Mira?“, fragte mich Nashira und wickelte eine Strähne ihrer lilafarbenen Haare um den Zeigefinger. Ich verzog den Mund und überlegte.

„Wenn es nicht zu kalt ist, dann wird es definitiv eine Hot Pants sein, aber was für ein Oberteil weiß ich noch nicht“, grinste ich und biss ein Stück von meinem Sandwich ab.

„Ich würde dir dein grünes Oberteil empfehlen, mit den Spagettiträgern“, meinte Sheliak und lehnte sich zu mir. Ich nickte nur, aber antwortete nicht. Manchmal kannten diese Mädchen nichts anderes außer Klamotten. Ich kümmerte mich zwar auch gerne darum, aber das war nicht das Einzige. Jeder von ihnen überspielte die wahren Gefühle und so langsam nervte es mich, denn… ich hatte gesehen, wie es anders laufen konnte.

Jet war das beste Beispiel. Vor Crystal… war er wie ein Rätsel, nein… wie eine Ansammlung von Rätseln, hatte man das eine geknackt, waren da noch tausend andere und nie hatte er auch nur gelächelt. Und jetzt? Mit einem Mal sah ich ihn nur noch lächeln und ich wünschte mir, dass ich das bei ihm hervorgerufen hätte.

„Ich werde mein Sommerkleid anziehen, das mit den lila Pünktchen“, lächelte Nashira zuckersüß und strich sich durch ihre Haare.

„Harmoniert mit deinen Haaren super, fand ich letztes Jahr schon sehr schön“, meinte Lesath und ich atmete tief ein, dann nahm ich noch einen Bissen und wickelte kurzerhand das Sandwich wieder in die Folie ein.

„Ich muss noch mal weg“, sagte ich und erhob mich.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Askella und sah zu mir hoch, wie die anderen auch.

„Ich wollte mich noch mit Onyx treffen.“

„Ach so, viel Spaß!“, grinste Sheliak und ich erwiderte es so gut ich konnte, dann drehte ich mich um und ging aus der Mensa. Mir war plötzlich der Appetit vergangen und ich warf das halb gegessene Sandwich in den Mülleimer im Flur.

Ich wollte mich zwar heute noch mit Onyx treffen, aber mein Weg führte mich jetzt erst einmal zum Krankenflügel.
 

Seal of the Wind: The Three Trails – FFX-2 Piano Collections
 

Gerade kam jemand aus dem Zimmer und schloss zaghaft hinter sich die Tür. Es war Crystal.

Dieses Mädchen wirkte so klein und zerbrechlich, kein Wunder, dass sie in allen diesen Beschützerinstinkt weckte, selbst ich verspürte ihn allmählich. Als sie sich in meine Richtung drehte und mich sah, weiteten sich ihre Augen und sie blieb unschlüssig stehen. Ich zog eine Augenbraue hoch und ging einige Schritte auf sie zu, was sie zu verwirren schien.

„Hey, Crystal“, grüßte ich sie und lächelte etwas, damit sie nicht noch mehr verunsichert wurde, aber dann erinnerte ich mich daran, wie sie mich verunsichert hatte. Wie sie mich gepackt und angeschrien hatte, zu Recht. Eigentlich müsste ich eher Angst vor ihr haben. Dennoch blickte ich ihr direkt in die Augen, sie hielt dem Blick stand.

„Hi“, erwiderte sie und atmete zitternd aus. Hatte sie geweint? Was war eigentlich passiert?

„Ich habe vorhin gesehen, wie Amber mit Moon hierher gerannt ist“, meinte ich beiläufig.

„Du willst nach Moon sehen?“, fragte Crystal und die Ungläubigkeit war ihr direkt ins Gesicht geschrieben.

„Was ist denn passiert?“, überging ich ihre Bemerkung und sie senkte sofort die Augen.

„Frag sie bitte selber, okay?“, meinte Crystal und ging an mir vorbei. Ich zog die Brauen zusammen und sah ihr kurz hinterher, bis sie hinter einer Ecke verschwand.

Langsam drehte ich mich wieder zur Tür und klopfte zweimal.

„Ja?“, hörte ich jemanden rufen und öffnete die Tür.

Ich trat ein und schloss sie augenblicklich wieder, dann sah ich Moon auf dem Krankenbett liegen und ging auf sie zu. Sichtlich verwirrt richtete sie sich auf und musterte mich nur.

„Was ist dieses Mal passiert?“, fragte ich und setzte mich auf den Stuhl neben ihrem Bett, als wäre es selbstverständlich, dass ich hier war.

Erst blinzelte sie nur, doch dann wanderte ihr Blick kurz zum Fenster und sie seufzte.

„Ich bin ausgetickt“, erklärte sie und ihre Augen trafen auf meine. Nun fiel mir auf, wie sehr sich ihre Iris in ein tiefdunkles Blau verfärbt hatte.

„Und warum?“

„Crystals Gabe hat mich getroffen, aber nicht absichtlich“, beteuerte sie und ich nickte nur. Dieses Mädchen musste dringend ihre Gabe unter Kontrolle bringen, sonst kam noch gewaltig jemand zu Schaden.

„Und was hat dich dazu gebracht, auszuticken?“, fragte ich und schlug das eine Bein über das andere.

„Warum willst du das wissen?“

„Es interessiert mich einfach“, antwortete ich sofort und spürte, wie sich meine Mundwinkel etwas nach oben verzogen. Moon schluckte, holte aber Luft, um mir zu antworten.

„Du weißt ja schon, dass ich im Zirkus war und… sie mich gezwungen haben, fröhlich zu sein und Kunststücke vorzuführen“, fing sie an und ich nickte. Moon war als Zirkusmonster und als Attraktion dort festgehalten worden.

„Meine Eltern hatten mich nach der Infizierung an den Zirkus verkauft“, kam es plötzlich aus ihr und ich dachte nicht, dass sie mir jetzt so viel davon erzählen würde.

„Wie bist du da wieder rausgekommen?“, fragte ich ruhig. Ich hatte dieses Mädchen wirklich gehasst. Das übertrieben breite Grinsen, die laute Art, die Unverfrorenheit. Doch nun verstand ich sie irgendwie. Sie war mir nicht unähnlich.
 

To The Moon OST – Everything's Alright (Music Box)
 

„Amber hat mich da wieder rausgeholt“, murmelte sie und als sie seinen Namen aussprach, erkannte ich etwas in ihren Augen. Dass der Typ auf sie stand, das hatte mittlerweile jeder bemerkt, aber nun wohl auch endlich sie.

„Kann es sein, dass du ihn sehr magst?“, fragte ich und mein kleines Lächeln wurde größer. Sie zuckte zusammen und drehte ihren Kopf sofort in meine Richtung.

„Wir sind nur Freunde, mehr nicht… auch wenn er es scheinbar… nicht so sieht“, seufzte sie und ich zog die Stirn kraus.

„Er hat dich gerettet und trotzdem willst du den Kerl nicht? Du bist noch dümmer, als ich dachte“, schnaubte ich und lachte in mich hinein.

„Ich sehe in ihm eben nur einen Freund, einen sehr guten Freund. Ich mag ihn sehr, aber mehr ist da nicht“, versuchte sie mir zu erklären und ich verdrehte die Augen.

„Dass er was Besseres verdient hat, brauchst du wirklich nicht zu glauben. Es gibt niemanden, der besser zu ihm passen würde, als du“, grinste ich und stand auf.
 

30 Seconds to Mars – A Beautiful Lie
 

„Hey“, kam es von Moon als ich mich umdrehen wollte, „jetzt bist du mir ein Stück aus deiner Vergangenheit schuldig.“ Leicht lachend, leicht schnaubend schloss ich die Augen und drehte mich langsam wieder zurück, während nur das Klacken meiner Absätze zu hören war.

Moons Blick war ernst und doch umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich wurde infiziert und meine Eltern haben mich abgeschoben, mehr war es nicht“, meinte ich nur und ihre Augen formten sich zu Schlitzen.

„Ey, ich hab dir schon mit Mühe was von meiner Vergangenheit erzählt, jetzt hab wenigstens die Eier in der Hose, mir auch einen Teil zu sagen“, zischte sie grinsend und ich lachte leise. Da hatte sie Recht, doch es gab wirklich nicht viel zu erzählen.

„Ich hatte ein perfektes kleines Leben, meine Eltern waren reich und ich war ihre Prinzessin… nach außen hin. Die Wahrheit sieht so aus, dass ich nur als Mittel zum Zweck gedient habe: 'Oh, seht! Die Connors haben eine so süße Tochter'. Aber wenn die ganzen Menschen weg waren und ich mit meinen Eltern zu Hause war, dann haben sie sich nicht um mich gekümmert, dafür haben sie ein Kindermädchen eingestellt, das nicht einmal unsere Sprache gesprochen hat. Na ja, aber jetzt bin ich da ja raus und sie haben mich nicht mehr an der Backe“, erzählte ich so beiläufig, wie ich konnte und spürte ein seltsam vertrautes Ziehen in der Brust, was mich schaudern ließ. Lange hatte ich es verdrängt und ich wünschte, jetzt könnte ich es auch.

Moon nickte nur und ich war ihr dankbar, dass sie mir jetzt kein Mitleid entgegenwarf, denn das konnte ich gar nicht gebrauchen. Ich lächelte.

„Ich bin mehr als froh, dass ich da weg bin“, lachte ich und Moon zog eine Augenbraue hoch. Sie hatte mich durchschaut, das war mir klar, doch ich ließ mir nichts anmerken.

„Dann will ich dich auch nicht weiter stören. Ich muss sowieso noch was erledigen“, meinte ich schließlich und ging zur Tür.

„Crystal kann dir helfen“, waren ihre letzten Worte und ich blieb stehen. Dann drehte ich mich zu ihr und mein Lächeln verschwand.

„Bald ist wieder Neumond und ich nehme an …?“, fing ich an, doch ließ den Satz in der Luft hängen, Moon nickte nur. Dann kam kein Ton mehr, aber meine Augen blieben an ihr hängen.

„Von mir erfährt niemand etwas“, meinte ich dann schlicht und Moons Augen wurden etwas größer und ihre Iris heller. Ich drehte mich nur um, riss die Tür auf und schloss sie augenblicklich wieder. Sofort lehnte ich mich an die Wand.

Crystal… warum sollte sie mir helfen können? Ich hatte bis jetzt nur von Leuten gehört, die dann ausgeflippt waren. Wieso sollte ich mich foltern lassen? Ich kam doch so jetzt auch super mit allem zurecht.
 

Sad Romance (Violin Version)
 

Ich stieß mich leicht von der Wand ab und ging die unendlich langen Flure entlang, bis ich in der Eingangshalle war.

Es war Wochenende, also musste ich mir für heute keine Gedanken mehr um irgendwas machen.

Meine Füße führten mich hinaus und ich stellte fest, dass die Sonne bereits fast ganz unter gegangen war.

„Mira“, sagte jemand und ich sah mich um. Onyx kam vom Springbrunnen auf mich zu und lächelte. Wir wollten uns hier treffen, das hatte ich ganz vergessen.

„Tut mir leid, ich war noch eben im Krankenflügel“, erklärte ich und erwiderte sein Lächeln. Es war schon merkwürdig, wie sehr er sich verändert hatte und doch konnte ich nicht sagen, dass es mir nicht gefallen würde.

„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt und legte beide Hände an meine Schultern und ich lachte kurz auf.

„Ja, mir schon, ich habe nur nach jemandem gesehen“, sagte ich und dachte an das, was Moon gesagt hatte. Crystal könne mir helfen.

„Darf ich dich etwas fragen, Onyx?“

„Alles, was du willst“, meinte er und wir gingen zu einer Bank unter den Kirschbäumen.

„Was hat Crystal getan, dass es dir jetzt so viel besser geht?“, fragte ich und merkte plötzlich, wie unsensibel das klang, doch zurücknehmen konnte ich das jetzt nicht mehr.

„Sie… hat mir meine Vergangenheit gezeigt, was ich falsch gemacht habe und doch nicht daran Schuld wäre, dass mein Leben so verlaufen ist“, erzählte er und ich sah zu ihm auf. Er sah noch genauso aus wie früher, als ich ihn hier auf dem Internat kennen gelernt hatte. Ich hatte gewusst, welchen Ruf er hatte und doch hatte es mich nicht gestört, denn bei mir war er nicht so. Es hatte sich nicht mal viel verändert, nachdem er auf Crystal getroffen war.

„Ist mit dir wirklich alles in Ordnung? Du bist so blass“, bemerkte er und ich stand sofort auf.

„Mit mir ist nichts“, zischte ich erneut und ballte meinte Hände so fest ich konnte zu Fäusten. Warum wollte immer jemand wissen, ob mit mir etwas war? Warum interessierten sie sich plötzlich so für mich? Das hatte noch nie jemand getan!

„Mira, Vorsicht“, murmelte Onyx und als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich, dass meine Hände in Flammen standen, doch tat es mir nicht weh, es kribbelte nur.

Ich starrte darauf und versuchte, es zu löschen, aber es gelang mir nicht. Mrs. Capella hatte mir immer gesagt, dass meine Gabe mit Gefühlen gesteuert wurde. Ich musste mich zuerst beruhigen, damit das Feuer verschwand, also atmete ich tief ein und schloss wieder meine Augen.
 

„Verschwinde! Du störst gerade nur!“, ruft sie und dreht mir den Rücken zu.

„Ich… brauche nur Hilfe bei -“

„Du sollst verschwinden!“ Sie holt aus und schlägt mich.
 

„Nein!“, schrie ich und fiel auf die Knie, die Flammen loderten noch mehr auf und Onyx wollte auf mich zugehen, doch ich kippte zur Seite, damit ich ihn nicht verletzte.

„Was ist denn los? Bitte beruhige dich!“, drängte Onyx und kam trotz der Flammen zu mir.

Auf einmal wurde mir warm und ich spürte, wie sich mein Herzschlag verlangsamte. Die Flammen erloschen und meine Augen wanderten ungewollt zu Onyx. Mir war klar, dass er seine Gabe gerade anwandte, aber nur um mir zu helfen.

Meine Lippen bebten und ich wusste, ich stand kurz davor, loszuheulen.

Ich erkannte plötzlich so vieles an ihm, Sachen, die vertraut waren und doch so neu schienen. Einzelne Strähnen von seinen braunen Haaren fielen in die Stirn. Seine dunklen Augen waren besorgt auf meine gerichtet und seine Lippen ganz leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen, doch kam da kein Ton raus.

„I-Ich… kann nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung!“, weinte ich und fiel ihm um den Hals. Dabei riss ich uns beide auf den Boden und versteckte mein Gesicht an seinem Hals.

„Das musstest du doch nie“, murmelte er beruhigend und legte vorsichtig beide Arme um meinen Körper, um mich zu halten. Er sollte mich halten, einfach… nur schützen.

„Warum versuchst du immer, stark zu sein?“, fragte er und strich über meinen Rücken. Ich atmete zitternd ein und drückte mich wieder hoch, um ihn ansehen zu können. Dabei flossen langsam Tränen an meinem Gesicht entlang und ich schüttelte kaum merklich den Kopf, um ihm zu zeigen, dass ich es selbst nicht wusste.
 

River Flows in You – Martin Ermen
 

Er ließ seine Fingerspitzen auf meine Wange gleiten und strich mir meine Haare hinters Ohr. Ein schwaches Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit und ich strich ebenfalls durch seine Haare.

Dann legte er beide Hände an mein Gesicht und zog mich sanft zu sich hinunter, um mich zu küssen.

Sanft und vorsichtig legte er seine Lippen auf meine und es wirkte so, als meinte er es ernst. Dieses Gefühl, was er in mir weckte, ließ mich hochschrecken und ich brachte es nicht über mich, ihm wieder in die Augen zu sehen. Er hatte mich schon so oft geküsst, doch dieses Mal war es… ganz anders.

„Was ist los?“, flüsterte er und legte seine Hand unter mein Kinn, er wollte, dass ich ihn ansah, doch ich drehte mich weg und stand schnell auf.

Die Sonne war bereits nicht mehr zu sehen und einzelne Sterne machten sich auf dem Himmel breit. Nichts war zu hören, außer das Rascheln der Blätter und das Plätschern des Wassers.

„Mira?“ Meine Augen wanderten langsam zu Onyx, er hatte sich ebenfalls wieder aufgerichtet und wollte auf mich zukommen, doch ich wich zurück.

„Tut mir leid“, murmelte ich, drehte mich um und lief davon.

„Mira!“, rief er mir hinterher, doch ich lief einfach weiter Richtung Haupthaus und erreichte schließlich die Eingangshalle.

Nur meine eigenen Schritte waren zu hören und ab zu spürte ich, wie sich eine weitere Träne aus meinem Augenwinkel stahl.

Kurz hinter der nächsten Ecke blieb ich abrupt stehen, denn jemand stand mir direkt im Weg. Sofort wischte ich mir meine Tränen beiseite, damit er sie nicht sah, doch schon spürte ich, wie er mich besorgt anschaute.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Jet, doch regte er sich auch nicht.

„Jetzt frag bloß nicht, ob alles in Ordnung ist! Du hast dich doch sowieso nie für mich interessiert, also fang jetzt nicht damit an! Werd‘ glücklich mit allem, was du hast, aber lass mich in Ruhe! Nur zur Information: Es ist nicht alles in Ordnung. Ist das Antwort genug?!“, schrie ich und spürte erneut die Tränen an meinen Wangen entlanglaufen. Er sah mich einfach nur an und ich konnte seinem Blick nicht standhalten, deswegen senkte ich meinen Kopf und versuchte mit aller Macht, mein immer wiederkehrendes Wimmern zu unterdrücken, doch schaffte ich es nicht.

„Hat dir irgendjemand etwas getan?“, fragte er beherrscht und langsam ließ ich meine Augen zu den Stickereien auf seiner Uniform gleiten. Er war entschärft, ein Aushilfslehrer und die Nachtwache, es war seine verdammte Aufgabe, das zu fragen, wenn ihm jemand begegnete, der in so einer Verfassung war wie ich. Aber ich wollte, dass er es selbst war, dass er aus eigenem Interesse fragte und nicht, weil er es musste!

„Nein“, zischte ich und wollte an ihm vorbeigehen, doch er ließ mich nicht.

„Ist dir etwas zugestoßen?“

„… Täglich… immer wieder aufs Neue…“, murmelte ich nur und hob meine Hand, um ihn am Arm zur Seite zu schieben, damit ich vorbeikonnte. Langsam drängte ich mich an ihm vorbei und endlich ließ er mich gehen.

Kirschblütenfest

Crystal – Kirschblütenfest
 

.hack//SIGN OST 1 - Fake Wings
 

Eine Unendlichkeit schien es her zu sein, dass ich meine Mutter gesehen hatte und doch kam es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Immer wieder und mit der Kraft einer Abrissbirne traf mich die Erkenntnis, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen durfte, genauso wie meinen Vater.

Unbewusst strich ich wieder mit dem Zeigefinger über den Kopf meiner verkohlten Eule und lächelte schließlich.

Dennoch konnte ich mich nicht beschweren. Mir ging es gut, ich hatte endlich Freunde gefunden, die mich genauso annahmen, wie ich war. Ich hatte jemanden, der mich liebte und mir immer zur Seite stand, egal wann. Selbst, wenn ich es niemals zulassen wollte, würde er sogar sein Leben für mich aufs Spiel setzten. Das wusste ich.

Ich hob meinen Kopf und blickte durchs Zimmer. Moon war die Nacht über auf der Krankenstation geblieben und Jet schlief bei Amber, also war ich alleine.

Plötzlich klopfte jemand heftig an die Tür und ich stellte meine Eule auf den Tisch und stand auf.

Als ich die Tür öffnete, stand Amber vor mir. Er sah aufgeregt aus und blickte sich kurz nach allen Seiten um, dann schob er mich zurück ins Zimmer und schloss hinter uns die Tür. Bevor ich regieren konnte, legte er seine Hände an meine Schultern und sah mich eindringlich an.

„Crystal, du musst mir helfen“, drängte er und ich runzelte verwundert die Stirn.

„Wobei denn?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Ich will, dass du in meine Erinnerungen siehst. Irgendwas findest, was ich vielleicht selber noch nicht weiß“, bettelte er und ich drückte seine Hände von mir.

„Nein, das werde ich nicht machen, hast du schon vergessen, was ich Onyx und Moon angetan habe?“ Ich schüttelte schnell den Kopf, damit er auch sah, dass ich das nicht tun konnte.

„Crystal, ich bitte dich! Ich weiß nicht, was ich machen soll. Moon will mich wahrscheinlich nicht mehr sehen und-“

„Warum will sie dich nicht mehr sehen?“, fragte ich etwas ruhiger.

„Weil… ich ihr gestern Abend gestanden habe… dass ich sie liebe“, murmelte er und drehte seinen Kopf zur Seite. Es war irgendwas nicht richtig an diesem Bild. Kein Lächeln, keine großen neugierigen Augen. Amber war sonst nie so traurig, aber trotzdem konnte er doch nicht wirklich von mir verlangen, ihm so etwas anzutun. Das ging einfach nicht.

„Ich kann es trotzdem nicht machen. Ich kann nicht und ich will nicht“, betonte ich und seine traurigen Bernsteinaugen trafen auf meine.

Wieder klopfte es an der Tür und Amber zuckte zusammen. Ich ging an ihm vorbei und öffnete sie.

„Guten Morgen“, sagte Jet und lächelte. Er wirkte ziemlich blass und sah müde aus.

„Morgen. Geht es dir gut?“, fragte ich und schaute besorgt in seine Augen.

„Ja, schon, ich habe nur nicht so gut geschlafen“, meinte er und sah dann zu Amber. „Ich dachte, du wolltest nach Moon sehen.“

Vorsichtig schaute Amber zu Jet und wusste scheinbar nicht, was er sagen sollte.

„Er wollte wissen, ob Moon schon hier ist“, sagte ich für ihn, denn ich wusste, Jet würde es nicht sonderlich begeistern, wenn er wüsste, um was Amber mich gebeten hatte.

Langsam drängte er sich an Jet und mir vorbei.

„Ich werde in der Mensa auf euch warten“, sagte er und lächelte auch, wenn es offensichtlich war, dass es nur gespielt war.
 

Fairy Tail OST – Mirajane's Theme
 

„Komm rein“, sagte ich und zog Jet ins Zimmer, dann schloss ich die Tür wieder.

„Du weißt, dass heute das Kirschblütenfest ist?“, fragte er, legte seine Hände an meine Hüften und zog mich näher an sich heran.

„Ja, natürlich weiß ich das. Amber hat doch oft genug darüber geredet“, lächelte ich und legte meine Hände sanft auf seine Brust. Dann stellte ich mich auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.

„Ich weiß aber nicht, was ich anziehen soll“, murmelte ich und sah hilfesuchend in seine Augen.

„Heute ist es schon wieder sehr warm“, meinte er und zog mich mit zu meinem Kleiderschrank. Ich verzog nur den Mund und öffnete die Schranktüren.

Ich machte mich an den Stapel von Hosen und suchte eine hellblaue Hot Pants raus, dann ging ich zu den Oberteilen über und zog ein dunkelviolettfarbenes schlichtes Top hinaus. Ich zeigte es Jet.

„Das ist doch perfekt“, lächelte er und ich nickte zustimmend.

„Dann mache ich mich eben fertig und wir können los“, meinte ich, schloss die Schranktüren wieder und ging mit der Kleidung ins Badezimmer.

Zuerst wusch ich mein Gesicht, putzte mir schnell die Zähne und kämmte anschließend meine Haare. Danach zog ich mich um und band mein Haar zu einem hohen Zopf, dabei ließ ich den Pony raushängen.

Kurz blieb ich wie eingefroren stehen, als ich meine Augen sah, doch hatte ich mich mittlerweile daran gewöhnt und langsam gefiel es mir merkwürdigerweise sogar.

Ich ging wieder in mein Zimmer und Jet hatte sich ans Fenster gestellt, aber als er mich hörte, drehte er sich um und ich breitete leicht die Arme aus.

„Kann ich so gehen?“, fragte ich zaghaft und er lachte kurz, was mich irritierte.

„Du siehst wunderschön aus“, sagte er und kam auf mich zu, nur um mich dann schnell in seine Arme zu ziehen und zu küssen. Ich legte meine Hände an sein Gesicht und zog ihn noch dichter an mich.

Jets Berührungen waren sanft und seine Hände fuhren leicht unter mein Oberteil. Ich ließ meine Hand zu seinen Haaren gleiten und krallte mich etwas dort fest.

Er passte so auf, dass er nicht zu weit ging, das spürte ich und ich war ihm dankbar, dass er nichts überstürzen wollte, dass er mich nicht drängen wollte. Er war… perfekt.

Langsam lösten wir uns wieder voneinander und sahen uns in die Augen.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich und spürte, wie es am ganzen Körper anfing zu kribbeln.

„Und ich liebe dich“, entgegnete er und gab mir dann noch einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze.

„Wir müssen langsam los“, sagte ich und trat an die Tür. Jet folgte mir und zusammen gingen wir dann zur Mensa.
 

Pandora Hearts OST – Gravel
 

Als wir den Saal betraten, sahen wir Moon und Amber am üblichen Tisch, doch dieses Mal saßen sie nicht nebeneinander und sie sprachen auch kein Wort. Beide aßen stur ihr Frühstück und sahen sich nicht mal an.

Ich blickte zu Jet und er schüttelte nur den Kopf. Dann gingen wir zu ihnen und sofort hellten sich beide Mienen auf.

„Seid ihr auch endlich mal da“, grinste Moon und tat so, als wäre nichts.

„Ich musste mich eben nur fertig machen“, meinte ich und lächelte. Ihr ging es also wieder besser, das beruhigte mich.

„Dann lasst uns losgehen“, sagte Amber und stand auf. Er nahm seine leere Schüssel, beugte sich etwas über den Tisch, um auch Moons Schüssel mitzunehmen und brachte sie zur Geschirrablage.

Ohne, dass jemand nochmal etwas sagte, gingen wir zum Park und viele Schüler waren schon hier und hatten sich an die aufgestellten Tische gesetzt. Laternen hingen an den Ästen der blühenden Kirschbäume und kleine dezente Girlanden waren aufgehängt.

Weiter hinten, an dem größten Baum, war eine Theke und Jade stand in ihrem Sommerkimono dahinter und schenkte Getränke aus.

Zusammen gingen wir zu ihr und sie grüßte uns mit einem wunderschönen Lächeln. Hinter ihr tanzten Kirschblüten im Wind.

„Hat das Fest schon ohne uns angefangen?“, fragte Amber und lachte nur.

„Nein, aber ich wollte jetzt gerade die Musik anschalten und meinen Sake ausschenken“, lächelte Jade und rührte kurz in dem großen Topf auf dem Tisch, in dem sie den Alkohol erwärmte und deckte ihn wieder mit dem Deckel ab.

„Na, dann kann es ja losgehen!“, meinte Moon fröhlich und es war ziemlich merkwürdig, wenn sie nicht so mit Amber herumalberte wie sonst. Aber vielleicht würde die Feier sie wieder auflockern.

Jade nahm eine kleine Fernbedienung vom Tisch und drückte auf einen Knopf.

Auf einmal kam von jeder Seite Musik und sie klang fröhlich und schwungvoll, sodass ich mich sofort wohler fühlte.

„Bitteschön, meine Lieben“, lächelte Jade freundlich und füllte jede Schale, die auf dem Tisch stand mit ihrem Sake, dann reichte sie jedem von uns eine und wir setzten und an einen der Tische. Die anderen Schüler hatten sich mittlerweile auch schon angestellt und überall hörte man Gespräche. Einige Gruppen hatten sich in den Schatten der Bäume gesetzt und andere lagen auf dem Rasen, direkt in der Sonne.
 

Fairy Tail OST – Lucy's Theme extended
 

„Dann auf ein schönes Kirschblütenfest“, meinte Amber und stieß mich uns an. Bei Moon war es etwas zögerlich, doch lächelten sie sich an.

Ich trank einen Schluck und kniff dabei die Augen zu. Es brannte im Hals wie typischer Alkohol und mir wurde schlagartig noch wärmer. Was auch daran lag, dass das Getränk schön aufgewärmt war, sodass es kaum biss beim Trinken.

„Ach du …“, zischte Amber und er hatte seinen schon mit einem Schluck ausgetrunken. Kurz darauf kam Jade mit einem großen Tablett und stellte auf jeden Tisch einen großen Krug voll Sake.

Kampai“, zwinkerte sie nur noch und schlenderte zum nächsten Tisch.

Jet hatte seinen auch schon ausgetrunken und ich tastete mich ebenfalls an den letzten Schluck. Moon schenkte jedem von uns wieder etwas ein und lächelte mir zu.

„Dieses Jahr hat sich Jade selbst übertroffen, finde ich“, sagte sie und schaute sich um.

„Da hast du Recht. Es ist echt schön“, antwortete Amber und beide lachten kurz, doch waren sie sofort wieder still.

„So was Schönes habe ich noch nie sehen dürfen“, flüsterte ich und trank die nächste Schale leer. Jet sagte gar nichts, also lehnte ich mich zu ihm und legte meinen Kopf auf seine Schulter.

„Ist alles okay?“, fragte ich und er sah mich neutral an.

„Heute Abend ist wieder alles vorbei“, murmelte er und wirkte dabei so düster, dennoch nahm er seine wieder aufgefüllte Schale und exte sie.

Ich spürte eine leichte Veränderung, denn mein Kopf fühlte sich so leicht an und die rosa Blüten verschwammen ganz leicht.

Langsam kräuselte ich mit meinen Fingern durch Jets Haare und fragte mich mal wieder, warum er rote Spitzen hatte.

„Warum hast du dir eigentlich rote Spitzen machen lassen?“, fragte ich und merkte, wie mir meine Zunge etwas entwich. Noch nie hatte ich richtig Alkohol getrunken und das machte sich jetzt mehr als bemerkbar.

„Das… weiß ich selbst nicht mehr so genau“, murmelte er und zupfte kurz daran herum, dann sah er zu mir und ich wusste, dass er mir nicht die Wahrheit sagte. Niemals würde er es einfach aus modischen Gründen gemacht haben, Jet hatte für alles eine größere Bedeutung.

„Hier, Crystal!“, lachte Amber und schob mir meine erneut gefüllte Schale hin. Bei Jet tat er das gleiche.

Moon stand kurz auf und ging zu Jade hinüber, sie unterhielten sich etwas, doch ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren. Meine Augen wanderten zu Jet, der an seinem Sake nippte und ihn schließlich auch wieder komplett leertrank. Ich tat das gleiche und stellte die Schale auf den Tisch ab. Schlagartig wurde mir noch duseliger.

Ich schmiegte mich eng an ihn und umklammerte seinen Arm. Ich wollte ihn nie wieder gehen lassen.

„Lach doch mal!“, rief Amber, knallte seine Schale auf den Tisch und beugte sich zu Jet.

„Heute Abend ist es sowieso wieder vorbei“, murmelte er.

„Aber man kann doch trotzdem Spaß haben“, grinste Amber wieder und fegte mit einem Schwung die Schale zu Boden. „Ups.“

„Alles geht zu Bruch“, schnaubte Jet und sah der Schale hinterher, als wäre das ein kleines süßes Tier gewesen.

Ich drückte mich etwas hoch und drehte seinen Kopf so zu mir, dass ich ihn küssen konnte. Er erwiderte es sofort und umklammerte meinen Nacken mit seiner Hand. Er schmeckte nach Sake und seiner typischen schneelufthaften Note, was in Kombination ausreichte, um mir auch die letzten Sinne zu rauben. Ich krallte meine Hände in sein Oberteil und zog ihn somit weiter zu mir, dann küsste ich mich von seinen Lippen zu seiner Wange und schließlich zu seinem Hals.

„Crystal, du hast definitiv schon zu viel getrunken“, hörte ich auf einmal Moon sagen und blickte zu ihr.

„Und du auch, Jet“, mahnte sie, doch musste sie lächeln.

„Ich glaube… nur drei“, murmelte ich raus und stand auf. Ein plötzlicher Schwindel überkam mich und ich fiel Moon entgegen.

„Ich hab dich lieb“, schnurrte ich und legte meinen Kopf auf ihre Schulter.

„Ich dich doch auch“, lachte sie und drehte sich plötzlich mit mir zur Seite. „Amber! Lass den Baum in Ruhe!“, rief sie, ließ mich los und ging zu Amber, der gerade einen Baum umarmte.

„Er ist so flauschig~“, trällerte er und drückte seine Wange dagegen.

„Der arme Baum“, flüsterte Jet hinter mir und ich drehte mich sofort zu ihm. Er saß immer noch auf der Bank und in seinen Haaren hatten sich Kirschblüten verfangen. Es sah aus wie gemalt. Ich setzte mich neben ihn, dann fuhr ich mit meinen Fingerspitzen immer wieder über seine Brust, über seinen Hals und schließlich unter sein T-Shirt.

„Ich liebe dich so sehr“, raunte ich nahe an seinem Ohr und packte ihn am Kragen, nur um mich dann hochzuziehen und im Reitersitz auf seinen Schoß zu schwingen.

Sofort legte er besitzergreifend seine Hände an meine Hüften und zog mich noch näher an sich. Mein Becken drückte gegen seines und ein Schauer durchfuhr mich. Durch den Alkohol wurde es nur noch verstärkt. Warum musste Jet auch so gut riechen?

„Amber!“, schrie Moon nur noch, doch das war mir egal.

Jet legte seine Hand wieder in meinen Nacken und küsste sich verlangend von meinem Hals, runter zu meinem Schlüsselbein und dabei fuhr seine andere Hand weit unter mein Top. Er fuhr über meinen Rücken, über meine Schulterblätter und langsam erreichte seine Hand meinen Bauch und strich über meine Rippen. Ich zitterte erregt und krallte mich im Reflex so in seine Haare, dass er dann mit seinen Lippen zu meinem Mund wanderte und ich ihn heftig küsste. Dann knabberte ich an seiner Unterlippe und schob langsam sein T-Shirt hoch. Meine Finger fuhren über seine Bauchmuskeln und ich kam nicht drum herum, zu denken, wie wunderschön er einfach war, wie unwiderstehlich.

„Jetzt ist aber genug!“, rief Moon und packte Jet und mich an der Schulter, um uns auseinanderzuziehen.

„Wieso denn?“, schmollte ich und legte protestierend meine Arme um Jets Hals. Sofort zog Moon mich von ihm runter und schob mich etwas weg, dann zog sie Jet hoch, packte seinen Kragen und sah ihn finster an.

„Pass auf, was du machst“, knurrte sie und Jet nickte traurig.

„Jeeeeet!“, rief Amber und kam auf ihn zu. Moon ging etwas zur Seite und ich stütze mich bei ihr ab.

„Du bist ein sooo toller Freund! Ich könnte dich knutschen!“, rief er und kaum, dass er das ausgesprochen hatte, packte er Jets Gesicht und verpasste ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Jet riss die Augen überrascht auf und stieß Amber von sich.

„Alter!“, schimpfte er und wischte mit seinem Arm angewidert über den Mund.

„Hast du noch nicht genug?“, fragte Moon spitz, als Amber wieder einen Sake trinken wollte. Er reagierte nicht und darum steuerte sie das Getränk mit ihrer Gabe zurück in den Krug.

„Manno…“, schmollte er und plötzlich umarmte mich jemand von hinten und ich wusste gleich, dass es Jet war. Er hatte seine Arme um meinen Körper gelegt und küsste vorsichtig meinen Hals. Mit einem Schwung drehte ich mich um und fiel ihm um den Hals, dabei verlor er das Gleichgewicht und wir landeten auf dem Boden. Bevor wir uns aber wieder küssen konnten, verkrampfte ich und stand ungewollt wieder auf.

„Was zum…?“, kam es von mir und sobald ich wieder die Kontrolle über meinen Körper hatte, drehte ich mich zu Moon. Ihre Augen leuchteten und ich wusste, sie hatte gerade mich kontrolliert.

„Wenn ich dich nicht so von Dummheiten abhalten kann, dann eben mit meiner Gabe“, grummelte sie und packte Amber an seinem Ohr, ohne ihn anzusehen, denn er wollte sich wieder Sake einschenken.

„Auaaa“, zischte er und beugte sich Moon entgegen. Dann ließ sie ihn wieder los und er sah zu mir.

„Crystal… du bist eine so viel nettere Freundin, ich könnte dich auch knutschen!“, rief er und kam auf mich zu, ich konnte gar nicht reagieren, weil ich so betrunken war. Doch bevor Amber mir zu nahe kommen konnte, hatte sich Jet schon vor mich gestellt und bekam den zweiten Kuss ab.

„Duuu…!“, knurrte Jet und Amber schreckte zurück.

„Jetzt ist aber genug!“, rief Moon und schubste beide in die entgegengesetzte Richtung.

„Ihr geht jetzt alle ins Bett, für den Vormittag bekommt ihr sowieso nichts mehr zustande“, zischte sie und beförderte uns alle mit ihrer Gabe ins Haupthaus, dann die Flure entlang, bis wir schließlich beim Zimmer der Jungs angekommen waren.

Ich klammerte mich sofort an Jet, als ich wieder konnte und drückte meinen Kopf an seine Brust.

„Ich will nicht, dass du gehst“, meinte ich traurig und blickte zu ihm auf. Er beugte sich nur wieder zu mir und küsste mich, was ich gerne zuließ, denn er sollte nicht aufhören. Erst recht nicht damit, seine Hände über meinen Körper gleiten zu lassen.

„Schluss jetzt!“, meckerte Moon und zog uns wieder auseinander.

„Na gut“, meinte Jet nur und umarmte mich noch einmal.
 

To The Moon OST - Take Me Anywhere
 

Als ich mich wieder umdrehte, sah ich jedoch etwas, was mich kurz wieder vollkommen nüchtern werden ließ. Amber packte Moon fest bei den Schultern und drückte sie gegen die Wand neben der Tür. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da küsste er sie plötzlich. Und ich konnte genau sehen, wie sie zögerte, sich nicht wehrte und anfing, den Kuss zu erwidern. Doch dann bemerkte sie erst, was los war und stieß ihn grob von sich.

„Was soll das? Du bist betrunken, geh schlafen“, meinte sie und atmete einmal tief ein. Amber nickte nur, sagte nichts mehr und verschwand im Zimmer, genauso wie Jet.

Dann hakte Moon sich bei mir ein und zog mich praktisch zu unserem Zimmer.

Sie schleppte mich ins Badezimmer und ich spülte kurz meinen Mund mit Wasser aus.

„Du gehst jetzt auch schlafen“, meinte sie und ich legte mich auf mein Bett. Ich war plötzlich so müde.

„Hast du… gerade gezögert?“, fragte ich sie und versuchte, sie durch meine müden Augen anzuschauen.

„Wo habe ich gezögert?“, fragte sie nach.

„Als Amber dich geküsst hat“, antwortete ich und blinzelte.

„Das hast du dir nur eingebildet, die bist schließlich ziemlich voll, Crystal“, sagte sie und lachte, doch ich wusste genau was ich gesehen hatte, egal wie voll ich war.

Mit einem Mal konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten und schlief direkt ein.

Ins Licht

Jet – Ins Licht
 

Silent Hill 2 - Music Soundtrack – Heartbeat
 

„Was tust du da?“, fragt sie mit belegter Stimme, ohne Vorwurf, ohne Urteil oder Anschuldigung. So hat noch nie jemand mit mir gesprochen.

Ich antworte ihr nicht, starre nur weiterhin geradeaus. In ein samtig schimmerndes, schwarzes Augenpaar – Pupille und Iris scheinen eins geworden zu sein. Das Bild ist falsch. Ich habe keine schwarzen Augen, ich hatte es nie. Dieser Junge vor mir muss jemand anderes sein.

„Jetstone…“, versucht sie es erneut, aber ich unterbreche sie, als ich die Faust vorwärts schnellen lasse. Ich spüre nicht, wie meine Haut aufspringt, noch, wie das Blut aus den Schnitten heraussickert – alles, was ich aufnehme, ist das laute Scheppern des Spiegels und wie surreal sich das Licht in den herunterfliegenden Scherben bricht.

Stimmt es? Bin ich jetzt unsterblich? Unschlüssig hebe ich die geballte Hand und betrachte die rot stechende Wunde. Ich kann sehen, wie sie sich schließt. Der Gerinnungsprozess muss enorm an Geschwindigkeit zugelegt haben oder was geschieht da gerade? Ein fingernagelgroßer Glassplitter hat sich in der Mulde zwischen Zeige- und Mittelfinger verfangen. Im nächsten Moment zerfällt er zu Staub und ich fange an, zu verstehen. Darum sind selbst Pistolenkugeln nicht tödlich. Der Virus löscht alles, was dem Wirt schadet, restlos aus.

„Tut mir leid“, höre ich mich murmeln und lasse die Hand wieder sinken, ohne sie anzusehen. „Das war Euer Spiegel.“

„Ich hatte schon schlimmere Verluste“, erwidert sie mit dem Ansatz eines Lächelns. Sie ist so sanft. Kaum zu glauben, in Anbetracht dessen, wie sie vorhin noch mit den Männern umgesprungen ist, die mich hierher gebracht haben.

„Möchtest du dich ausruhen?“, fragt sie schließlich, aber ich schüttele nur den Kopf. „Was möchtest du dann?“ Wenn ich das wüsste. Ich fühle mich fehl am Platz, auch wenn ich weiß, dass es nicht an diesem Gebäude liegt oder ihrer Gegenwart. Ich käme mir überall wie ein Fremdkörper vor. Unwillkürlich lasse ich die Hand, die vorhin den Spiegel zertrümmerte, in die Jackentasche gleiten und ziehe den kleinen Stein hervor, nach dem ich, dieser Jade zufolge, kurz nach meinem Erwachen gerufen habe.

„Könnt Ihr mir sagen, was das für ein Stein ist?“

„Ein Schneeflockenobsidian“, entgegnet sie sofort, ohne einen genaueren Blick darauf werfen zu müssen. „Das ist ein Vulkanglas. Die weißen Muster kommen von Mineralen, die während des Schmelzungsprozesses gewachsen sind und in ihm eingeschlossen wurden, als er auskühlte. Er soll angeblich gegen Angst helfen.“ Ich wage es, langsam zu ihr aufzusehen, achte jedoch darauf, nicht ihre Augen zu streifen.

„Ich denke, darum nennen sie ihn Schneeflockenobsidian – er fängt den Frost auf.“

„Gibt es auf dem Internat einen Schüler, der ihn repräsentiert?“, höre ich mich fragen, ohne es entschieden zu haben. Es war reiner Impulszwang.

„Nein.“ Merkwürdigerweise falle ich dabei ein wenig in mich zusammen. Schon komisch, was ein einzelnes Wort für eine Wirkungskraft besitzen kann.

„Ich frage mich“, murmele ich da und wieder geschieht es ohne das Einverständnis meines Verstandes, „was so jemand für eine Gabe hätte…“ Und Jade erwidert nichts darauf. Sie geht nur auf mich zu und legt in warmer, beruhigender Geste ihre Hand auf meine Schulter.

Das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich nicht unsterblich bin. Sondern ein lebender Toter. Ich bin gestorben. Es wurde ein Schlussstrich gezogen. Hier stehe ich und atme.

Aber habe alles verloren.
 

Spirited Away - Dragon Boy Music Box
 

Die Erinnerung an den vergangenen Abend kam fast augenblicklich zurück, als ich die Augen aufschlug und mich ächzend auf die andere Seite rollte. Hatte ich mich allen Ernsten zum Trinken überreden lassen? Laut den aufkeimenden Rückblenden in meinem Kopf, offenbar schon. Seufzend warf ich die Decke fort und versuchte, aufzustehen. Was sich als weit schwieriger erwies, als angenommen.

Das war dieses abstruse Verhältnis von Virus und Alkohol. Eigentlich ging ersterer gegen jegliche Art von Giftstoff im Blut sofort an, aber bei Alkohol machte er da eine Ausnahme, die Jade sich damit erklärte, dass die Organe sowieso nicht angegriffen werden konnten und er Glückshormone freisetzte, die der Virus nie ablehnte. Es führte dazu, dass Crystal Rider deutlich schneller in den Rausch abrutschten, dafür aber auch zeitiger wieder ausgenüchtert waren. Ich gab der ganzen Quälerei höchstens noch zwei Stunden – zum Glück.

Ich blinzelte ins Tageslicht, das die tief hängende Sonne durch die Scheiben warf, zählte bis drei und versuchte dann erneut, mich hochzudrücken, aber wieder scheiterte ich. Als mir auffiel, dass meine Hände ungewöhnlich stark zitterten. Verwundert ließ ich sie in meinen Schoß fallen und erst da realisierte ich auch, dass ich schweißgebadet aufgewacht war, mein Atem heiser und fiebrig ging und meine Haut kribbelte.

Das konnte nicht am Kater liegen, nie und nimmer. Ich starrte hinüber auf mein zerwühltes Bett – die Kopfkissen hatte ich runtergeworfen, die Decke teilweise aufgerissen. Ich musste wieder geträumt haben. Auf einmal war ich dem Alkohol dankbar, meine Erinnerung daran ausgelöscht zu haben.

Mit einem Blick hinüber, vergewisserte ich mich, dass Amber noch schlief – auch, wenn ich keinen Schimmer hatte, wie er in so einer verdrehten Position schlafen konnte – dann rappelte ich mich mit zusammengebissenen Zähnen auf, zog rasch alle Bezüge ab und warf sie hastig in die unterste Schublade meines Kleiderschranks. Einen Augenblick verharrte ich mit den Händen auf dem geschlossenen Kasten und sammelte Konzentration.

Diese Träume… Ich hatte mich in den vergangenen Jahren so gut daran gewöhnt, aber an diesen war etwas anders. Ich konnte nicht sagen, was, von den unterschiedlichen Szenarien einmal abgesehen. Sie machten die Differenz nämlich nicht aus.

Vielleicht bildete ich es mir aber auch nur ein, weil ich mich erst damit vertraut machen musste, nicht mehr in einer überwachten Wohnung zu schlafen und es waren erst zwei Tage vergangen. Es würde sich sicherlich bessern.

Mit einem tiefen Atemzug kam ich wieder auf die Beine und taumelte hinüber ins Bad. Ich stellte den Regler auf die niedrigste Stufe, sodass es sich anfühlte, als würde flüssiges Eis über meine Haut fließen, aber es reichte trotzdem nicht, um mich vollständig aus der Ermattung zu reißen. Gewohnheitsmäßig wollte ich nach der Uniform greifen, als ich aus der Dusche trat, bis mir auffiel, dass Wochenende war. Ich musste die Abzeichen erst heute Nacht zur Wache wieder vorzeigen. Ich schlüpfte also nur in die Uniformhose und trocknete meine Haare grob mit einem Handtuch ab, während ich das Bad verließ, um zurück an den Schrank zu treten.

Bei der Aktion von vorhin, war eine der Flügeltüren aufgeschwungen, ein T-Shirt hatte sich vom Stapel gelöst und kam mir entgegengefallen, als ich die Tür ganz aufzog. Stirnrunzelnd hob ich es auf. Es war eins der wenigen Weißen.
 

Final Fantasy XIII - Can't Catch a Break
 

„…Baumi…?“, hörte ich es da auf einmal schlaftrunken hinter mir murmeln. Ich drehte mich halb um, streifte das Shirt über und beobachtete, wie Amber aus seinem Deckenhaufen auftauchte, schmatzte und sich die Augen rieb. Auf seinen Lippen hing der Hauch eines Lächelns fest und als er begriff, dass die vage Silhouette vor ihm ich war, reifte es aus.

„Jet…“, grummelte er und rieb sich den Mund. „Du solltest dich mal wieder rasieren.“ Kaum war es ausgesprochen, hielt er inne. Das Lächeln rutschte ihm abrupt aus dem Gesicht und seine Augen weiteten sich. „Bitte, sag mir, dass ich das nur geträumt habe.“

„Zu meinem größten Bedauern: nein“, erwiderte ich trocken, war allerdings insgeheim erleichtert; wenn Amber anfing, solche Witze zu reißen, dann hieß das zumindest, dass es ihm wieder besser ging. Und ich bildete mir auch ein, zu wissen, woran das lag.

„Hoppla“, lachte er verschämt und fuhr sich durchs Haar, das schon vorher in alle nur erdenklichen Himmelsrichtungen abgestanden hatte. „Na ja, sieh es als Revanche für den verschmähten Kuss unterm Mistelzweig.“

„Manchmal hasse ich dich…“ Er grinste nur und streckte sich ausgiebig, dass die Knochen knackten.

„Du küsst aber schon ganz schön mädchenhaft, kann das sein?“ Langsam aber sicher überreizte er meine Beherrschung.

„Ich glaube, da verwechselst du mich“, meinte ich bloß, drehte ab und zog frische Bettwäsche aus dem anderen Schubkasten, um das Bett neu zu beziehen.

„Verwechseln?“, raunte Amber verwirrt, muschelte sich wieder in die Decken ein und schloss die Augen ein weiteres Mal. Jemand hätte eine Uhr neben ihm platzieren können, denn innerhalb von exakt fünf Sekunden, senkten sich seine Schultern ab, die Mundwinkel zuckten und seine Lider fuhren ahnungsvoll wieder nach oben. Ich hielt mir vorsorglich die Ohren zu.

„Jet!“, brüllte er, sprang auf, stieß sich den Kopf an der Decke, fluchte, strauchelte und stolperte irgendwie im Laufe dieses Chaostanzes auf mich zu. Ich wich automatisch zurück. „Jet! Moon, sie…! Sie hat…!“

„Ich weiß“, versetzte ich knapp und trat zur Seite, um nicht schon wieder in seiner Umarmung zu landen. „Komm runter, sonst steckst du noch das Zimmer in Brand…“

„Aber sie hat…!“, beteuerte er aufgeregt, bekam meine Schultern zu fassen und schüttelte mich. „Sie hat meinen Kuss erwidert… es war nur ganz kurz, aber… Oder rede ich mir das nur ein?“ Sein Griff lockerte sich und er senkte den Blick.

„Tust du nicht.“

„Wie kannst du dir da sicher sein?“, fragte er mit schräg gelegtem Kopf und lächelte schwach. „Du warst mindestens genauso beschwipst wie ich.“

„Vielleicht betrunken“, antwortete ich kategorisch, „aber nicht blind.“ Und das war mein Ernst, denn ich hatte direkt daneben gestanden, als Amber sie geküsst hatte. Seine Augen leuchteten auf, es war fast gleißend und erinnerte mehr denn je an Bernstein.

„Ich kann’s nicht fassen… Du hattest tatsächlich Recht!“ Jetzt war sein Lachen rauer und er schüttelte den Kopf hin und her, als teste er, ob es sich nicht doch nur um einen Traum handelte. Ich warf das Laken auf und breitete es über dem Bett aus.

„Aber bedräng‘ sie lieber nicht. Ich glaube immer noch, dass sie mehr Zeit benötigt…“

„Ja, ja, na klar“, sagte er sofort, als hätte ich ihm einen Befehl erteilt. Schnaubend zog ich mir die Decke heran, um den Bezug überzustreifen und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Amber anfing, im Raum herumzulaufen und dabei unentwegt vor sich hinzumurmeln.

Ein paar Federn lösten sich aus den Ritzen, als ich die Kissen aufplusterte, in ihre Bezüge steckte und auf das fertige Bett schmiss. Es war alles weiß. Auch in meinem Apartment hatte ich immer nur weiße Bettwäsche gehabt – und die Wohnung war generell hell gehalten gewesen.

Zu jedem Licht ein Schatten?
 

Eureka Seven OST – Okamochi & Jersey
 

„Ou, dieser Kater macht einen ja fertig…“, stöhnte Amber unvermittelt und ich kam nur noch so weit, den Mund zu öffnen, bevor es sich maunzend hinter mir beschwerte. „Das fühlt sich nicht nach einem Kater an, sondern nach einem ganzen Dutzend… Aua…“

„Amb…“, setzte ich scharf an, aber da hatte der Katzenauflauf mich schon umringt und erstickte ein jedes neue Wort in einem kollektiven Schnurrbass.

„Ich bin unter der Dusche, falls du mich suchst…“, grummelte er nur noch, dann fiel die Badezimmertür ins Schloss. Einer der Kater sprang mir gekonnt auf die Schulter und ich seufzte lediglich. Diese Gabe… sie war wirklich so was wie das Unikat unter den Unikaten. Sorgte oft für Lacher oder war – wie in diesem Fall – schlicht und ergreifend nervenraubend. Aber im Kern lag eine sonderbare Botschaft verborgen. Gaben entstanden aus Schwächen. Und Amber musste sich aufgrund seiner, fast verzweifelt gewünscht haben, er könne allein mit Worten Dinge verändern – bis dahin, sie wahrzumachen. Selbst wenn es nur flüchtige Illusionen waren. Wahrscheinlich war er sich dessen bewusst, obwohl er es unter Garantie nicht zugegeben hätte.

Es miaute lautstark und der kleine Fellball auf meiner Schulter schmiegte sich zufrieden gegen meinen Nacken. Jade hatte mir leider auch nicht erklären können, wieso manche von Ambers Sprichwörtern so lange anhielten, während andere extrem zeitnah wieder verschwanden. Die Kater gehörten jedenfalls zu ersterer Kategorie.

Leise lächelnd, nahm ich die Katze von meinem Rücken und setzte sie zurück zu den Übrigen auf den Boden, bevor ich mich auf den Weg zu Crystals Zimmer machte.
 

Final Fantasy VIII OST - Breezy ~ Balamb Town Theme
 

Als beim dritten Klopfen immer noch niemand reagierte, drückte ich die Tür vorsichtig auf und lugte ins Zimmer. Moon war nicht da – vermutlich war sie dabei, uns einen Platz unter den Kirschbäumen zu reservieren, da in knapp vier Stunden das Feuerwerk begann. Jahrelange Nachtwache hatte dafür gesorgt, dass mein Zeitgefühl selbst unter Einfluss von Alkohol nicht aus dem Takt schlug.

„Jet…?“, kam es, von der Decke gedämpft, hervor.

„Kann ich reinkommen?“ Ich wusste nicht, wieso ich das fragte. Es erschien mir schlichtweg angebracht, nachdem, was ich vor wenigen Stunden noch mit ihr angestellt hatte. Moon hatte schon Recht, auch wenn sie zugeben musste, dass Crystal es mir nicht gerade leicht gemacht hatte, mich zu zügeln… Bei dem Gedanken kroch eine plötzliche Hitze in mir hoch. Bewegung kam in den Daunenberg, unter dem sie sich begraben hatte. Ein paar Kissen purzelten zu Boden, dann brach ihr noch feuchtes Haar an die Oberfläche. Sie trug nur einen Bademantel, der ihr über die rechte Schulter rutschte und das gesamte Schlüsselbein freilegte.

Was nicht gerade förderlich dafür war, meinen Puls runterzuschrauben oder das viele Blut in den Wangen loszuwerden.

„Ich hab ein paar Gäste mitgebracht“, lenkte ich mich eilig ab und öffnete die Tür so weit, dass die Katzen hineinrauschen konnten. „Wenn auch unfreiwillig.“

„Katzen…?“, hauchte sie verwundert, ihre Stimme so rau wie Stein. Es hatte etwas irritierend Sinnliches. Und das war leider ebenso wenig hilfreich. Ich räusperte mich unauffällig.

„Lass mich raten“, grinste sie und musste gähnen, bevor sie sich die sperrigen Haare aus der Stirn fischte und alles samt und sonders nach hinten strich. Ich setzte mich zu ihr und schob diskret ihren Ärmel wieder über die Schulter.

„Du liegst mit zu neunundneunzig prozentiger Wahrscheinlichkeit richtig“, antwortete ich lachend, als mir eine der Katzen auf den Schoß sprang.

„Die scheinen dich zu mögen“, bemerkte Crystal, sich streckend und lehnte sich dann gegen meine Seite.

„Das liegt an meinen Bewegungen“, erklärte ich leise. Auf einmal hatte ich wieder Jades Gesicht vor Augen, als sie mich zum ersten Mal trainiert hatte. Zwei Minuten hatte es gedauert, dann hatte ich sie darum gebeten, mir die Augen zu verbinden. „Sie haben Ähnlichkeit mit denen von Katzen. Was Balance und Körperspannung angeht.“

„Soll das heißen, sie halten dich für einen Artgenossen?“

„Scheinbar.“ Ich sah sie schief lächelnd an, worunter sie ebenfalls kichern musste. Da spürte ich, wie das Gewicht auf meinem Schoß nachließ, keinen Augenblick später waren die Katzen allesamt verschwunden. Ich starrte auf den leeren Punkt, wo sie gewesen waren. Das Licht in unseren Rücken flimmerte leicht, als Wind auffrischte.

„Jet… darf ich dich etwas fragen?“ Sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Crystal. Sie hatte sich meine Hand geschnappt und zupfte gedankenverloren an den einzelnen Fingergliedern herum oder zeichnete die Lebenslinien nach, als gäbe es etwas darin zu lesen.

„Hast du schon immer schwarze Augen gehabt?“

Es hieß stets, dass nur Banalitäten Züge entgleisen lassen konnten – einfache Gesten, simple Fragen, schlichte Worte und nüchterne Gedanken. Denn echte Größe war ein Produkt des Prozesses. Ich denke, es lag daran, weil wir, anders als bei sorgfältig ausgewählten Taten, nicht darüber nachdachten.

„Nein“, flüsterte ich kurz angebunden. Sie spürte meinen Widerwillen – aufkommende Unnahbarkeit. Ich hatte nicht vor, mich zu verschließen, konnte den plötzlichen Druck jedoch ebenso wenig ignorieren. Hätte ich vor einigen Stunden keinen Alkohol intus gehabt, hätte ich auf ihre Frage nach den Haarspitzen vermutlich ähnlich reagiert.

„Welche Farbe hattest du als Mensch?“ Ich schluckte und richtete meinen Fokus auf einen Punkt in der Ferne. Mit jeder neuen Sekunde, die aufging und verlosch, wurden die Erinnerungen klarer, gröber und erhielten Struktur. Wie als würde man schrittweise eine Bühnenkulisse aufbauen – und man wusste genau, wenn die Szenerie fertig war, kam der Moment, sich selbst hineinzustellen und damit zu identifizieren.

„Blau“, brachte ich, nach einer gefühlten Unendlichkeit des Schweigens, hervor und traute mich, Crystal wieder anzusehen. Ihr Blick war offen, fast selbstvergessen und in ihren Mundwinkeln spielte etwas… war das Verzückung? Schließlich senkten sich ihre Wimpern wieder und ihr Kopf stieß sanft gegen meinen Arm.

„Meine richtige Augenfarbe kennst du, nicht?“

„Ja.“ Ich mochte sie nur fluchtartig zwischen Leben und Tod gesehen haben, aber ich entsann mich eines jeden Details, das ich damals an ihr aufgefangen hatte.

„Meine Mitschüler haben immer gesagt, graue Augen würden Seelenlosigkeit bedeuten.“

„Dann waren sie zugegebenermaßen ziemlich dumm und selbstbezogen“, sagte ich und tat es in keiner Weise aus dem Affekt heraus oder um Crystal aufzuheitern, auch wenn ich es in jedem anderen Fall genauso getan hätte – aber auf meine Weise. „Grau ist der Mittelpunkt zweier Kontraste – ihr Zwielicht. Weder gut, noch böse und doch beides. Nichts könnte aufrichtiger sein.“
 

Tsubasa Reservoir Chronicle Soundtrack - Guess how much I love you
 

„So ähnlich hat mein Vater das auch immer gesagt“, murmelte sie und presste sich enger an mich. Ich drehte mich so, dass ich sie in die Arme ziehen konnte. „Von ihm hatte ich die Farbe auch.“ Ich schwieg, weil ich fühlte, dass alle Worte zu diesem Thema ausgesprochen worden waren. Bei ihr schien es genauso zu sein, denn die Stille um uns herum hörte sich wolkenlos und frei an. Irgendwann lösten wir uns synchron wieder voneinander.

„Hast du Hunger?“, fragte ich und rückte noch einmal ihren Bademantel zurecht, der schon wieder runtergerutscht war.

„Höllischen“, wisperte sie und lachte überschwänglich auf, als wie zur Unterstreichung ihr Magen knurrte.

„Dann zieh dich um“, meinte ich grinsend, verwuschelte ihr Haar und wollte aufstehen. „Ich warte in der Mensa auf dich.“

„Jet, warte“, warf sie ein und kämpfte sich aus den Decken frei, um ebenfalls aufzustehen. „Ich will nur, dass du… bitte mach dir keine Vorwürfe wegen heute Morgen.“ Ich blinzelte und das Lächeln fiel mir von den Lippen, was Crystal jedoch so zum Lachen brachte, dass es kurz darauf wieder zurückkehrte. „Der Alkohol hat mir zwar die Hemmung genommen, aber… er hat nicht meinen Körper gelenkt.“ Ich musste den Blick senken, als mich die Wärme durchflutete und ein nach außen hin kleines und innerlich so übergroßes Lächeln auf meine Lippen malte und mich alles Schlechte vergessen ließ. Das war es also. So fühlte sich Glück an…

„Du bist einfach unbegreiflich süß, weißt du das?“, schnaubte ich unwillkürlich und spürte sogar einen Druck hinter den Augen – und das war dann wohl der Augenblick, in dem es einen überwältigte.

Nur Millisekunden später, war ich an sie herangetreten, hatte ihr Gesicht in die Hände genommen und meine Lippen auf ihre gepresst. Sie seufzte wohlig und schloss die Arme um meinen Körper, wobei ihr der Bademantel wieder von der Schulter fiel. Und als wir uns wieder trennten, zupfte ich ihn auch diesmal zurück.

„Wieso trägst du eigentlich weiß?“, keuchte sie mit ihrer Stirn gegen meine gepresst. „Das… macht mich ehrlich gesagt ganz unruhig.“

„Sagt die mit diesem widerspenstigen Bademantel und den schönsten Schlüsselbeinen der Welt“, konterte ich rau und küsste sie noch einmal, begieriger diesmal. Aber als wieder ihr Magen knurrte, mussten wir darüber so lachen, dass wir doch auseinandergingen.

„Siehst du, deine Nahrungsaufnahme leidet tatsächlich unter mir.“ Widerwillig gab ich ihre Taille frei und trat hinüber zur Tür.

„Hör mal, ich bin groß genug, um auf mich selbst aufzupassen“, schnappte sie und als ich gespielt die Brauen zusammenzog und meine Körpergröße mit ihrer verglich, boxte sie mir empört in die Seite und schob mich damit zum Ausgang.

„Du siehst auch nicht gerade wie das blühende Leben aus“, tadelte sie und drückte mich noch weiter. „Sorg dafür, dass Amber was vom Nudelauflauf übrig lässt.“

„Wird erledigt“, raunte ich, als ich ihre Arme, die mich immer noch vorwärtsschubsten, packte und so festhielt, dass sie sie nicht mehr bewegen konnte. Sie setzte dieses Gesicht auf, das einem förmlich entgegenschrie: „Du spielst nicht fair.“ Ich grinste nur und beugte mich noch ein letztes Mal herunter, um sie zu küssen.

„Jet“, hauchte sie und hielt meinen Kragen so fest, dass unsere Lippen nur weniger Millimeter auseinandergingen. „Danke, dass du mein Leben gerettet hast.“

„Danke, dass du meins wieder lebenswert gemacht hast“, küsste ich ihr die Worte sozusagen auf Lippen und Stirn, strich noch einmal über ihre Wange und lächelte sanft.

Und ich wusste, hätte ich das Zimmer dann nicht verlassen, hätte ich es für den Rest des Tages nicht mehr verlassen.

Herz aus Gold

Jet – Herz aus Gold
 

Two Steps from Hell – Color the Sky
 

Der Geruch des Reisweins hatte sich wie ein schweres, vollgesogenes Tuch über die Atmosphäre gelegt und die Gesichter der Schüler, die an den Tischen ringsum saßen, sprachen Bände. Prozentual gesehen, waren vielleicht gerade mal zwei bis drei der Anwesenden stocknüchtern geblieben und davon war einer – aus Sicherheitsgründen – schon mal Granite. Und wer nicht noch immer dabei war, den Suff auszuschlafen, hatte sich für Nahrungszufuhr entschieden.

Als ich den Saal durchschritt, kam wieder eine ungeahnte Flut von Leben in die Massen, beziehungsweise in den Teil, der nicht mit halb geschlossenen Augen auf der Tischplatte hing und das rief mir wieder ins Gedächtnis, dass ich noch immer ein weißes T-Shirt trug. Kein Wunder, dass ich mich immer mit schwarz begnügt hatte – damit fiel man nämlich weit weniger auf.

Ich erspähte Moon, die mit angezogenen Knien auf zwei zusammengerückten Stühlen saß und Mandarinen schälte. Vor ihr hatte sich schon ein kleines Gebirge aus oranger Schale gebildet, trotzdem machte sie hartnäckig weiter und investierte scheinbar all ihre Konzentration dafür. Der Grund war ebenso offensichtlich – Amber saß ihr gegenüber und warf immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Aber eine Unterhaltung war nicht im Gange.

Ich lenkte meine Schritte gerade in ihre Richtung, als mir jemand von rechts vor die Füße stolperte, erschrocken aufschrie und einen Satz zurückmachte.

„Entschuldigung!“, haspelte das Mädchen und dann gleißte ein polarblaues Augenpaar mit jenem unverkennbaren Perlmuttschimmer vor mir auf. Allerdings kam mir ihr Gesicht nicht ansatzweise bekannt vor – und was das anging, hatte ich ein mehr als zuverlässiges Gedächtnis.

„Bist du neu?“, fragte ich, während sie sich hektisch umsah, als hielte sie nach etwas Ausschau.

„Öhm, ja“, erwiderte sie mit einem zerstreuten Lächeln. „Ich bin… äh… Maia! Das war’s, genau. Maia ‚Pearl‘. Und du?“

„Jetstone. Aber nenn mich ruhig Jet… kann ich dir vielleicht helfen?“, fügte ich hinzu, als sie sich erneut um die eigene Achse drehte und dabei nervös auf der Unterlippe herumkaute. Sie wirbelte herum und strahlte auf einmal übers ganze Gesicht, als hätte ich ihr eine Offenbarung verkündet.

„Halt mal, du bist Jetstone?“, fuhr sie eindringlich fort und ich nickte etwas irritiert. „Die Direktorin hat zu uns gesagt, dass wir uns an dich wenden sollen, wenn es Probleme gibt und ehrlich gesagt… gibt es gerade ein ziemlich großes.“

„Das da wäre?“ Sie warf sich das lange rote Haar über die Schultern und atmete tief durch, bevor sie anfing.

„Ich und meine Freundin Na… äh, ich meine, Opal, wurden erst kürzlich zu Crystal Ridern und darum ist es noch schwer für uns, unsere Gaben zu kontrollieren. Und jetzt hab ich sie aus den Augen verloren!“ Damit raufte sie sich die Haare, vollführte eine weitere Drehung, um den Saal abzusuchen und schniefte leicht. „Und dabei hab ich ihr gesagt, sie soll aufpassen!“

„Was für eine Gabe hat sie denn?“, hakte ich, die Stirn krausend, nach, denn es machte den Eindruck, dass das die Wurzel allen Übels darstellte.

„Sie kann sich unsichtbar machen“, seufzte Maia. „Und hat sich derzeitig wahrscheinlich verlaufen. Wer soll sich in so einem Monstrum von Gebäude auch zurechtfinden?!“

„Beruhige dich“, meinte ich sanft. „Ich werde nach ihr suchen und sie hierher zurückbringen.“

„Das würdest du tun?“, fragte sie hoffnungsvoll, doch ihre Brauen verzogen sich skeptisch. „Aber wie willst du jemanden finden, der gar nicht sichtbar ist?“

„Überlass das nur mir.“ Was blinde Orientierung anging, stand mir hier eigentlich niemand nach. Sie schien nicht ganz überzeugt, nickte aber und ich beugte mich ein wenig zu ihr, dann wies ich auf den Tisch, wo Moon und Amber noch immer in trautem Schweigen saßen.
 

Eureka seven OST 1 // Forbidden Fruit
 

„Siehst du das Mädchen mit den blonden Haaren und den Jungen ihr gegenüber?“

„Der, der so bedeppert dreinschaut?“, hakte sie nach und ich musste grinsen.

„Ganz genau der. Geh bitte zu ihnen und setz sie ins Bild, weil sie eigentlich auf mich warten. Ich komme dann zusammen mit deiner Freundin dorthin.“

„Wer sind die beiden? Nur dass ich nicht aus Versehen was Falsches sage.“ Ich schürzte die Lippen und bedachte sie mit einem ernsten Blick, damit sie das Folgende auch wirklich verstand.

„Mit dem Mädchen, Moon, wirst du gut auskommen, aber bei Amber solltest du darauf achten, keine Sprichwörter in den Mund zu nehmen.“

„Wieso das denn?“

„Seine Gabe setzt sie in die Tat um.“

„Oh.“

„Ich werde nicht lange brauchen, das verspreche ich dir.“

„Danke, Jet!“ Damit wollte sie sich abwenden und auf Moon und Amber zulaufen, aber ich hielt sie noch einmal am Arm zurück, weil mir eben etwas an ihr aufgefallen war.

„Würdest du mir noch eine Sache verraten, bevor ich gehe?“

„Aber natürlich doch!“, lächelte sie und schon war ich mir sicher, richtig gesehen zu haben.

„Was hast du für eine Gabe?“
 

Baten Kaitos OST – Bellflower
 

Als ich nacheinander die Korridore ablief und dabei hin und wieder stockbesoffenen Schülern ausweichen musste, hüllte mich ein eigenartig vertrautes Gefühl ein. Es war diese Art von Déjà-vu, von der man genau wusste, dass sie tatsächlich stattgefunden hatte, aber die Erinnerungen waren so tief ins Vergessen gefallen, dass sie auch etwas Neues, Ungekanntes hatte.

Diese Situation hatte ich im entferntesten Sinne ähnlich schon einmal erlebt. Es mochte jetzt knapp drei Jahre her sein, damals trug ich noch kein Entschärfungssymbol und hatte gerade erst angefangen, als Nachtwächter tätig zu sein. Und wenige Monate später, mit dem Entschärfungssymbol, dann auch als Aushilfslehrer. Die Schüler hatten zu Beginn dagegen protestiert, sich von mir unterrichten zu lassen – verständlicherweise – aber Jade hatte hartnäckig darauf gepocht und ihnen sogar mehrere Vorträge gehalten. Alledem zum Trotz, war ich stets mit einer Augenbinde zu den Kursen erschienen, wenn ich nicht gerade nur daneben gestanden und den Schülern ihre Anweisungen gegeben hatte. Es kam bis heute nur selten vor, dass ich mich persönlich auf einen Direktkampf einließ und wenn doch, dann eben nur mit verbundenen Augen.

Jener Tag, der mir jetzt durch den Kopf ging, war im Sommer gewesen. Es war ebenfalls ein Feiertag gewesen, die Flure voll von herumalbernen Schülern und der Geruch von Alkohol in der Luft – die 4095. Sonnenwende. Und an diesem Tag, war ich einer bestimmten Person zum ersten Mal begegnet…
 

„Heute ist ein Feiertag, Jet“, sagt Jade kopfschüttelnd und lächelt, „anders als in den Ferien findet heute wirklich überhaupt kein Unterricht statt. Wann geht dir das endlich in den Kopf?“

„Gibt es keine Aufgabe, die ich erledigen kann?“, halte ich stur dagegen und verlagere das Gewicht. Es ist brütend heiß und ich fühle mich in den legeren Klamotten unwohl, die Uniform wäre mir lieber. „Irgendwas…“

„Nun…“ Sie zieht nachdenklich die Stirn in Falten, während ihre Augen den Raum absuchen, als läge die Antwort irgendwo herum. Es ist mir selbst unangenehm, ihr so oft auf der Tasche zu liegen und darauf zu bestehen, dauerhaft beschäftigt gehalten zu werden. Schließlich seufzt sie. „Möchtest du dich nicht einfach mal einen Tag lang erholen und Spaß haben? Es würde dir guttun.“ Ich senke den Blick, lege eine Hand in den Nacken und fühle, wie die roten Spitzen über meine Haut kitzeln.

„Es tut mir leid“, fällt Jade sofort ein. Sie geht um den Tisch herum und drückt meine Schulter. „Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich gesprochen habe.“

„Schon okay“, erwidere ich kurz angebunden. Sie streichelt tröstend über meinen Rücken, als ihr plötzlich ein Gedanke zu kommen scheint.

„Es gibt vielleicht doch etwas, das du für mich tun könntest.“ Langsam schaue ich wieder zu ihr auf. „Fayalite hat mir zwar versichert, dass sie zurechtkommen, aber wenn es ums Essen geht, kann eigentlich jede Hand gebraucht werden – dort wirst du bestimmt aushelfen können.“ Sie lächelt mir ermunternd zu und ich nicke, versuche ebenfalls ein Lächeln, doch es missglückt reichlich. Ich wünschte, es wäre anders, wünschte, ich könnte es Jade und allgemein jedem leichter machen, mit mir umzugehen. Aber ich weiß nicht, wie.

„In Ordnung.“
 

Linkin Park – Lost in the Echo
 

Auf dem Weg zur Mensa, kommen mir nur wenige Schüler entgegen. Die meisten sind noch draußen im Park und feiern die Sonnenwende, die zweimal im Jahr stattfindet. Diese Feiertage sind vor einigen Jahren sozusagen wieder „in Mode gekommen“ – ebenso wie die altertümliche Ansprache, mit der ich aufgewachsen bin. Wenn es nach der Gesellschaft ginge, wäre die Tagundnachtgleiche sicherlich auch schon zum Feiertag erklärt worden, aber bislang ist es bei den Sonnenwenden geblieben.

Mir ist das gleich. Ich war noch nie ein Fan von Festen. Meinetwegen hätte das ganze Jahr über niemals Anlass zum Feiern bestehen müssen.

Während mir das durch den Kopf geht, erreiche ich die Tür zur Mensa, aus der Stimmgewirr, Geschirrklappern und Gelächter dringt. Es dauert noch gut eine halbe Stunde bis zum Mittagessen, aber die ersten scheinen schon zu lauern.

„Kannst du nicht aufpassen?!“, höre ich jemanden unvermittelt brüllen und schiebe mich durch die halb offen stehende Tür in den Saal. Verwirrt lasse ich den Blick umherwandern, bis ich eine Gruppe von Schülern entdecke, die sich um einen blonden Jungen geschart hat.

Das an sich mag kein ungewöhnliches Bild sein – was auffällig ist, sind die vielen Hühner, die aufgeregt um die Traube herumspringen und Körner aufpicken.

„Das war nicht meine Schuld“, verteidigt sich der Junge mit erhobenen Händen und weicht einen Schritt zurück. „Also komm runter.“ Kaum hat er das gesagt, fällt der Rider vor ihm auf die Knie und blickt irritiert drein. „Huch! Ähm, das war keine Absicht, ehrlich…“ Aber ein anderer aus der Gruppe hat ihn bereits am Kragen gepackt und schubst ihn grob gegen einen der Tische.

„Wie kann man seine Gabe nur so schlecht unter Kontrolle haben?“, herrscht der, der eben zu Boden ging, ihn an und erhebt sich stockend, als klebe er noch halb fest.

„Kommt schon, das war ein Unfall“, versucht der Junge zu widersprechen, reibt sich die schmerzende Seite, die gegen die Tischkante geknallt ist und reckt das Kinn. Er hat Angst. Panische Angst. Als ich das erkenne, setze ich mich ohne Umschweife in Bewegung. „Ich versuche wirklich alles, um still zu sein, aber wenn ihr etwas sagt, das die Gabe aktiviert, dann kann ich nichts dafür…“

„Von wegen“, schnaubt ein anderer und verpasst dem Jungen noch einen Stoß, der ihn zu Boden wirft. „Wenn du dich besser zusammenreißen könntest, dann würden diese ganzen Sachen gar nicht erst passieren!“

„Bitte, es tut mir Leid…“, setzt er an und schützt sein Gesicht, denn der Kerl holt zum Tritt aus. Bevor er ihn jedoch treffen kann, greife ich nach seinem Arm und ziehe ihn ihm unsanft auf den Rücken. Er schreit auf und winselt, aber bevor ich ihn wieder loslasse, verpasse ich ihm einen leichten Stoß in die Kniekehlen, wodurch er das Gleichgewicht verliert.

„Wer zum Teufel…!“, fängt er an, aber als er sich auf dem Boden herumgekämpft hat und mich sieht, verstummt es. Seine Augen werden rund und glasig, dann kommt er ungelenk auf die Beine und weicht zurück.

„Weg hier!“, zischt einer der anderen. Sie nicken hastig und räumen wie eine Herde von Fluchttieren das Feld. Wie so oft. Niemand würde lange fackeln, wenn er dem Tod gegenübersteht.

„Alter“, kommt es erstaunt von hinten, aber ich drehe mich nicht um. „Denen hast du aber gezeigt, wo der Hammer hängt.“ Da die Gruppe noch in Sichtweite ist, kann ich beobachten, wie sie noch einmal kurz stehen bleiben und einen Punkt an der Wand anstarren. Und obwohl ich mir sicher bin, dass das vorher noch nicht der Fall war, hängt dort ein Hammer. Ich runzele die Stirn, aber die Jungs wirbeln nur noch einmal kurz herum, um den Blonden hinter mir mit bösen Blicken zu strafen, dann nehmen sie die Beine in die Hand und verschwinden durch eine der Türen.

Der Junge lacht und ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu, wobei ich ganz kurz seine Augen streife. Sie sind auffällig farbintensiv. Ein rötliches Braun mit einem durchsichtigen Schimmer so wie bei Jade. Was für ein Edelstein könnte das sein?

„Danke vielmals“, meint er, kommt auf die Beine und reicht mir die Hand. „Ich bin Le… äh, Amber, mein ich. Und du?“ Amber… der Bernstein. Etwas in mir zuckt auf. Richtig, Jade hat mir mal erzählt, dass Gagat früher irrtümlich als schwarzer Bernstein bezeichnet wurde, weil davon ausgegangen worden war, dass er auf eine ähnliche Weise entsteht.
 

Final Fantasy XIII OST – Sazh’s Theme
 

„Jetstone“, murmele ich, wende mich ab und will davongehen, aber Amber kommt um mich herumgelaufen und hält mich auf.

„Hey, warte mal… Jet…stone… kann ich auch einfach nur Jet sagen?“ Ich verziehe nur leicht die Brauen und das bringt ihn merkwürdigerweise zum Lachen. „Ich meine, das hat doch schon was Skurriles, jemanden pausenlos mit ‚Stein‘ anzusprechen, oder?“

„Ähm…“, mache ich nur, ohne es gewollt zu haben. Amber versucht, meinen Blick aufzufangen, so energisch, dass ich mich zur Seite drehen muss.

„Du musst ganz schön was auf dem Kasten haben, wenn die so vor dir buckeln, oder?“ Irritiert zucke ich zurück, als in meiner Hand wie aus dem Nichts ein Holzkästchen erscheint, in das eine Liste eingeritzt ist – ich erkenne Wörter wie „schwarzer Gürtel“ oder „Fortgeschrittener Stabkämpfer“. Aber es vergeht kaum ein Herzschlag, da löst es sich schon wieder auf.

„Oh, sorry“, kichert Amber, kratzt sich verlegen am Kopf und deutet auf seine Brust. „Das ist gar nicht so einfach. Einem fällt erst auf, wie viele Sprichwörter man so nebenbei benutzt, wenn sie urplötzlich alle Realität werden.“

„Sprichwörter…?“, wiederhole ich argwöhnisch und schließe langsam die Finger der Hand, in der eben noch das Kästchen lag.

„Das ist meine Gabe.“ Er schiebt die Unterlippe vor und schaut sich um. „Wenn ich etwas sage… das ein Bild hervorruft – ich glaube, so hat die Direktorin mir das erklärt – dann wird das auf kurz oder lang Wirklichkeit.“ Da scheint ihm etwas einzufallen und er kommt noch einen Schritt auf mich zu; ich gehe in Wechselwirkung einen zurück.

„Hey, ob du mir vielleicht bei etwas helfen könntest, Jet?“ Ich muss mich ungewollt räuspern.

„Hör zu, du solltest dich wirklich nicht mit mir abgeben“, sage ich leise und mache auf dem Absatz Kehrt, aber ohne die Rechnung mit Ambers Hartnäckigkeit gemacht zu haben.

„Keine Bewegung!“, ruft er und imitiert dabei so gut er kann die befehlshaberische Stimme eines Polizisten aus irgendeinem Agentenfilm. Und dann spüre ich, wie mein ganzer Körper steif wird, kein Muskel gehorcht mehr und ich unterdrücke mit größter Mühe ein Stöhnen.

„Wuah! Es hat funktioniert“, jubelt Amber und kommt um mich herumgesprungen. Ich atme tief durch und lege so viel Eindringlichkeit, wie ich aufbringen kann in meinen Ton.

„Ich meine es ernst. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann halt dich von mir fern.“ Die Wirkung seines Sprichwortes lässt nach, aber ich mache denselben Fehler nicht nochmal, sondern bleibe vorerst stehen. Amber stemmt grinsend die Hände in die Hüften.

„Ach, komm, so bedrohlich siehst du nun auch wieder nicht aus. Aber jetzt mal Spaß beiseite…“ Er hält inne, als etwas, das entfernt an einen Fußball erinnert, zwischen uns hindurchrollt und wir synchron dabei zusehen, wie es in der Ferne verschwindet. Wenn mich nicht alles täuscht, stand „Spaß“ darauf geschrieben. Ich hebe impulsiv eine Braue und Amber zuckt kurzum die Schultern. „Jedenfalls… ich bin heute erst hier angekommen und hab was erfahren. Ich muss wirklich, wirklich ganz dringend das Internat verlassen – aber sie lassen mich nicht!“
 

John Dreamer – True Strength
 

„Da kann ich nichts machen“, entgegne ich knapp. Allmählich wird mir das hier zu bunt. Noch nie hat sich jemand so furchtlos und entspannt mit mir unterhalten, Jade einmal außer Acht gelassen. Entweder fehlen diesem Amber ein paar wichtige Gehirnwindungen oder er ist noch nicht mit den übrigen Schülern ins Gespräch gekommen. Die Neulinge vor mir zu warnen ist nämlich offen gestanden eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

„Bitte, kannst du nicht versuchen, mich irgendwie rauszuschleusen? Es geht hier um… eine mir sehr wichtige Person…“ Bei den letzten Worten wird sein Tonfall unerwartet verletzlich und ich muss schlucken, denn da ist etwas an ihm, das ich von mir selbst kenne. Auch wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts davon wusste.

„Es tut mir leid, aber ich kann dir wirklich nicht helfen.“ Ich bin seit kurzem Nachtwache, wenn das rauskäme, bin ich das Abzeichen schneller wieder los, als es gekommen ist.

„Aber“, fährt er dennoch fort, „ich glaube, sie ist in Gefahr. Ich muss etwas unternehmen, verstehst du das nicht?“ Seine Iris lodert auf. „Hast du nicht auch jemanden, den du um alles in Welt beschützen willst?!“

Es fühlt sich an, als würde ich das Gleichgewicht verlieren, obwohl meine Beine nicht einknicken und der Boden sich nicht bewegt. Es ist innerlich – ich breche im Innern in mich zusammen wie ein Kartenhaus. Und weiß daher selbst nicht, wie es mir gelingt, ihm zu antworten.

„…nein. So jemanden habe ich nicht.“ Das scheint ihn zu verdutzen, aber anstatt eine Mitleidsmiene aufzusetzen und mich von hier auf jetzt wie Porzellan zu behandeln, so wie alle, die etwas mehr über mich wissen, es tun, schlägt er mir beschwingt auf die Schulter.

„Das sollten wir aber ändern, Kleiner.“

„Ich bin größer als du“, versetze ich auf dem Fuß und sein Grinsen weitet sich wieder aus. Allmählich fange ich an zu glauben, er wäre schon damit geboren worden.

„So leise wie du gehst, ist das aber schwer zu glauben. Man könnte dich mit einem Schatten verwechseln!“ Ich schiebe eine Braue hoch.

„…danke?“

„Also, hilfst du mir jetzt oder nicht?“, kommt er aufs eigentliche Gesprächsthema zurück und verschränkt auf eine recht eigenwillige Art die Arme vor der Brust. Ich hole Luft und will ihn gerade erneut abwimmeln, als mir auffällt, dass seine Knie zittern. Er kämpft es gut zurück, sodass es jemandem mit weniger aufmerksamen Augen womöglich nicht aufgefallen wäre, aber mich kann er nicht täuschen.

„Ich muss den Verstand verloren haben…“, nuschele ich unter zusammengepressten Zähnen hervor. „Also gut, ich tu, was ich kann“, wende ich mich laut wieder an Amber. Sein ganzes Gesicht scheint aufzublühen, die Augen glänzen grell über und dann breitet er überschwänglich die Arme aus.

„Oh mein Gott, danke! Danke, Jet! Ich könnte dich knutschen!“ Ich reagiere verzögert, weil sich das Wirken seiner Gabe noch nicht zu hundert Prozent in meinem Gedächtnis festgesetzt hat, aber als er meinen persönlichen Schutzring durchbricht, schlage ich reflexartig zu.
 

Smash Mouth - All Star
 

„Autsch!“, grummelt Amber und reibt sich die gerötete Wange. „Heiliger Strohsack, du machst wohl keine halbe Sachen, was?“

Erschrocken fahre ich zusammen, als neben mir wie aus dem Nichts ein Sack erscheint, aus dem einzelne Strohhalme hervorragen. Darüber hinaus leuchtet er und ich bilde mir sogar ein, in der Ferne Sakralgesänge zu vernehmen. Aber im nächsten Atemzug ist er schon wieder verschwunden.

„Ich werde mich dafür jetzt nicht entschuldigen“, meine ich knapp. Amber kichert nur, verzieht aber erneut das Gesicht, als die Bewegung sich bemerkbar macht.

Wie auf die Sekunde genau, ertönt die Glocke, die das Mittagessen ankündigt und die ersten Schüler erscheinen an den Türen und strömen in die Mensa.

„Jetzt ist deine Gelegenheit“, erkläre ich, während ich voraus zu einem der Hintereingänge gehe. „Wenn alle in der Mensa sind, hast du gute Chancen, ungesehen rauszukommen. Hier lang.“ Ich führe ihn durch eine Zahl von Korridoren, bis ich bei jener Abzweigung angelange, die mir derzeitig am passabelsten als Fluchtweg erscheint.

„Wo sind wir hier?“, murmelt Amber hinter mir und stößt sich prompt den Kopf an einer der filigran verzierten Laternen, die in gleichmäßigen Abständen von den Wänden baumeln.

„Ästhetik“, nicke ich auf das Schild, das auf der Tür in einigen Metern Entfernung prangt. „Sowie das Hauptklassenzimmer der Perlen.“

„Perlen?“, fragt Amber nervös nach, schüttelt sich und verzieht den Mund. „Eine von denen hat mir ihren Kaffee ins Gesicht geschüttet, weil meine Gabe sie in einen Hasen verwandelt hat. Warum musste sie auch sagen: ‚Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts‘?“ Ich werfe ihm einen zweifelhaften Schulterblick zu. „Was denn?“

„Auf jeden Fall“, räume ich schleunigst ein und weise mit dem Finger auf eine Tür neben dem Ästhetik-Raum, „dort befindet sich ein kleiner Lagerraum für die Bastelsachen. Wenn du das Regel mit den Pinseln erreicht hast, verschiebe das links daneben liegende ein Stück – dahinter findest du eine Tür, die dich in einen Geheimgang schickt, der früher oder später in die Kanalisation mündet. Geh immer weiter, du wirst irgendwann in einem Waldstück herauskommen, das unweit der Flatbush Avenue liegt. Von dort aus müsstest du dich orientieren können. Oh und…“ Ich greife in die Tasche und hole eins der flachen Päckchen heraus, Amber nimmt es ratlos entgegen.

„Setz sie ein“, ordne ich leise an. Er schaut mit großen Augen von den Kontaktlinsen zu mir und wieder zurück. „Jetzt.“ Da gehorcht er und seine Augen werden infolge des Schilds leicht gräulich. Die Linsen drängen den Kristallglanz so stark zurück, dass sie manchmal gerade durch die enorme Abblendung unnatürlich wirken. Dennoch ist es deutlich unauffälliger als das Leuchten.

„Und lass dich bloß nicht erwischen, verstanden?“

„Aye, Sir!“, lacht er und salutiert sogar, doch dann bröckelt ihm das Lächeln unvermittelt von den Lippen. „Sekunde… Du willst, dass ich mich DA vorbeischleiche?! Das kann nicht dein Ernst sein! Dafür müsste ich mich in Luft auflösen!“

Und schon ist Amber restlos verschwunden.

„Wah! Jet, Hilfe, wo bin ich?! Ich kann mich nicht sehen – jetzt tu doch was! Aua!“ Es scheppert und ich verziehe unwillkürlich das Gesicht, denn es klingt schmervoll. Eine der Laternen löst sich und will auf dem Boden zerspringen, aber ich kann sie in letzter Sekunde auffangen. „Oh nein, das darf doch nicht…! Ich glaub, ich spür meine Beine nicht mehr! Jet, ich spür meine verfluchten Beine nicht!!!“

„Beruhige dich.“ Kopfschüttelnd hänge ich die Laterne an ihren angestammten Platz zurück, als Amber wieder sichtbar wird und so durchdringend aufatmet, dass sein Brustkorb den Eindruck erweckt, gleich zu platzen.

„Alter, das Sprichwort werde ich aber so was von von meiner Liste streichen!“

„Bist du dann soweit?“

„Ich war niemals bereiter!“, zischt er kämpferisch.

„Gut, ich kann dir zehn Minuten lang den Rücken freihalten – kriegst du das hin?“

„Darauf kannst du Gif…“ Glücklicherweise sind meine Reflexe schnell genug, sodass ich ihm den Mund zuhalten kann, bevor er es ausspricht. „Ups, he, he…“ Auf einmal habe ich ein ganz mieses Gefühl bei der Sache – denn mit so einer Gabe wird es schwer werden, sich unbemerkt durch die Stadt zu schleichen.

Ja. Ich muss komplett verrückt geworden sein…

„Kann’s losgehen?“, grinst er. Ich seufze so tief, dass es als eigenständiges Wort durchgehen könnte, nicke aber trotzdem und gehe langsam voraus zum Ästhetik-Raum.
 

Aquaria OST - The Light
 

Die Erinnerungen hatten mich so gefangen genommen, dass ich einen Moment brauchte, um zu realisieren, wohin meine Schritte mich getragen hatten. Ich war wie üblich meinen Instinkten gefolgt und wurde ein weiteres Mal darin bestätigt, dass sie nicht fehlschlugen, denn die Laterne, die auf dem Boden stand, sprach eine deutliche Sprache. Das Teelicht in ihr war entzündend und wellte sich spielerisch im leichten Wind.

„Opal…?“, sagte ich in die Stille und trat vorsichtigen Schrittes auf die Laterne zu. Es raschelte und ich spürte, wie ein Blick auf mich fiel, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte.

„Wer ist da?“, erklang eine zaghafte Stimme, dann musste sie aufgestanden sein, denn leise Absätze klirrten auf dem Marmor.

„Ich heiße Jetstone. Deine Freundin Maia hat mich gebeten, nach dir zu suchen.“ Es kam keine Antwort und ich runzelte die Stirn. „Geht es dir nicht gut?“

„Ich… kann es nicht mehr abstellen“, flüsterte sie. Das Klappern ihrer Absätze kam zögerlich näher. „Ich kann nicht wieder sichtbar werden…“ Ganz kurz sah ich ihre Iris aufflackern, als die Wirkung der Gabe einen Millimeter von ihr abblätterte. Das Blau war irisierend und paillettenhaft, fast wie ein winziges Mosaik.

„Wieso habe ich ausgerechnet so eine Gabe bekommen? Ich hab das Gefühl, nicht ich lenke sie, sondern sie lenkt mich!“

„Da hast du den Kern getroffen“, fiel ich ein und lehnte mich halb gegen die Wand, damit sie sich nicht gestellt vorkam. „Der Kristallvirus konfrontiert uns mit unseren Schwächen – und zeigt uns, dass sie das eigentlich nicht sind.“

„Das ergibt keinen Sinn“, murmelte sie und ich konnte mir ihren Gesichtsausdruck bildlich vorstellen, obwohl ich noch nicht mal wusste, wie ihr Gesicht eigentlich aussah. Ich stieß ein schnaubendes Lachen aus.

„Das dachte ich auch lange Zeit, jeder tat es. Aber die Sache ist so; wahre Kraft liegt im Verborgenen. Die Stärke, der du dir nicht bewusst bist. Der Virus macht uns unsterblich, friert uns in der Zeit ein und schafft damit die Umstände, die es braucht, um bei Entfesselung am Leben zu bleiben.“ Plötzlich hatte ich Crystals Gesicht vor Augen, ihre so echten Tränen und die vielen verschiedenen Gefühle in ihrem Blick. Heulsuse hatte sie sich genannt, schwach und überempfindlich – so lange hatte man ihr eingeredet, dass es etwas Schlechtes war, bis sie es selbst geglaubt hatte. Dabei war das nicht mehr und nicht weniger als eine wundersame Fähigkeit. Das gleiche war es auch bei Amber gewesen. Bei jedem auf diesem Internat. Nur… bei mir…

„Wenn du das so sagst, klingt es so logisch“, holte mich Opals Stimme wieder aus den Gedanken. „Aber was für eine Schwäche war es bei mir, dass ich mich damit jetzt unsichtbar machen kann?“

„Hast du dir schon mal gewünscht, dich einfach in Luft auflösen zu können?“, fragte ich ruhig und musste sie nicht sehen, um ihre Reaktion zu spüren.

„Okay, ja“, erwiderte sie und lachte ein wenig.
 

Pride & Prejudice - The secret life of daydreams
 

Auf einmal schien die Atmosphäre zu flimmern wie bei einer Fata-Morgana. Es kam von dem Punkt, wo ich Opal erahnte. Und binnen Sekunden bauten sich dort Farben auf, bis sie wieder vollständig sichtbar war. Das lange Haar floss ihr offen über die schmalen Schultern und ihre Augen hatten eine derartige Leuchtkraft, dass sie an Nordlichter denken ließen. In gewisser Hinsicht erinnerte sie mich an Crystal.

„Es hat funktioniert!“, lachte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse, als wollte sie sichergehen, dass auch wirklich alles wieder zu sehen war. Dann fiel ihr Blick wieder auf mich. „Danke, Jetstone.“

„Keine Ursache.“ Ich stieß mich von der Wand ab und wies Richtung Korridor. „Die anderen warten sicher schon.“ Sie nickte und ging kurz in die Hocke, um das Teelicht auszupusten.

„Hast du das entzündet?“, stutzte ich und konnte mir nicht erklären, warum es mir auffiel. Es hätte ja sein können, dass Opal ein Feuerzeug dabei hatte – aber wieder mal waren meine Sinne aufmerksamer gewesen.

„Nein, das hat ein Mädchen gemacht, das kurz vor mir hier war.“ Sie drehte sich halb in Richtung Ästhetik-Raum. „Sie war aus der Perlenklasse, glaub ich, irgendwas mit Mi…“

„Mira?“ Opal nickte noch einmal.

„Ich glaube, Maias Gabe hat sie etwas vor den Kopf gestoßen und dann saß sie hier eine Weile, aber ich hab mich nicht getraut, sie anzusprechen…“ Ich musste wieder an die Nacht vor dem Kirschblütenfest zurückdenken, als Mira mir auf dem Flur begegnet war. Ich hatte erst vorgehabt, Jade davon zu erzählen, aber etwas in ihren Worten, ihrem Tonfall, hatte es mich doch verwerfen lassen.

Ich stieß die Luft aus und wandte mich langsam zum Korridor, Opal folgte mir.
 

Pandora Hearts OST 4 – Garden
 

„Warte mal kurz, Jet“, sagte Opal und hielt mich am Arm fest. Wir standen am Eingang der Mensa, die mittlerweile wieder belebter geworden war und hatten freie Sicht auf den Tisch, an dem Crystal, Moon, Amber und Maia saßen, aber sie würden uns in dem Gedränge nicht so schnell ausfindig machen können. Davon abgesehen, dass sie sowieso in ihrer eigenen Welt festzuhängen schienen.

„Maias Gabe hat was mit Gefühlen zu tun, richtig?“, mutmaßte ich grinsend, als ich sah, wie Moon Amber ihren Ellbogen in die Rippen rammte und er sie daraufhin anfing zu kitzeln, genauso wie früher. Opals Lächeln war Antwort genug.

„Sie ist so was wie ein weiblicher Amor, hat Ain gesagt.“ Mein Blick schweifte weiter zu Crystal, die lachend auf der Tischplatte hing, während Maia ebenfalls losprustete, als Reaktion auf etwas, das Moon Amber zugeschrien haben musste.

„Was hattest du vor?“, wandte ich mich wieder an Opal und sie schmunzelte vielsagend.

„Wirst du gleich sehen.“ Sie machte einen Schritt vorwärts und ich blinzelte zwangsläufig, als ihr Körper verschwamm und sich dann ganz auflöste. Ich begriff ihr Vorhaben und schob mich direkt seitlich in die Massen, um langsam ebenfalls auf den Tisch zuzukommen, ohne dass sie mich sahen.

Crystal hatte sich gerade wieder aufgerichtet und Amber Moon losgelassen, da materialisierte sie sich wieder genau neben Maia und brüllte ihr sozusagen mitten ins Ohr: „Überraschung!“ Die Angesprochene kreischte auf, verkantete sich mit den Füßen am Tischbein und purzelte rücklings vom Stuhl, was dazu führte, dass Opal sich vor Lachen auf dem Tisch abstützen musste.

„Alter!“, schnaubte Maia, als sie sich wieder auf ihren Platz gehievt hatte, eine Hand aufs Herz gepresst und verpasste ihrer Freundin einen raschen Seitenhieb in die Rippen. „Hab ich nicht gesagt, dass sie ‘nen Vollknall hat?“, meinte sie dann in die Runde, aber es konnte ihr kaum einer zuhören, in Anbetracht der Szene eben. Opal schwang sich nur grinsend auf den Tisch und ich löste mich aus dem Schülerstrom, um ebenfalls dazuzustoßen.
 

The Last Story Music – Seiren’s Theme
 

„Ach, dem da wird sie nicht das Wasser reichen können“, ließ Moon mit einem Fingerzeig auf Amber neben sich verlauten. Und derweil ich an den Tisch herantrat, starrte Opal mit großen Augen auf ihren Arm, der sich gerade selbstständig machte und nach der Wasserkaraffe griff. Sie versuchte, sie zu Amber hinüberzuheben, scheiterte aber und klatschte ihm den Inhalt kurzentschlossen ins Gesicht.

„Okay, ich nehm‘ alles zurück!“, japste Moon auf. „Sie kann es doch, wenn auch auf ihre Weise! Ich mag die Frau!“ Opal errötete sichtlich, sah aber gleichzeitig erschrocken zu Amber hinüber, der triefnass auf seinem Stuhl saß und schmatzte.

„Moon…?“, säuselte er unvermittelt und sie wich kichernd vor ihm zurück. „Wärst du so freundlich?“

„Als ob!“, höhnte sie und machte eine Handbewegung, auf die hin das Wasser aus Ambers Kleidung gesogen wurde. Nur dass sie es ihm gleich darauf nochmal ins Gesicht pfefferte, gerade als er schon hoffnungsvoll aufsah.

Ich ließ mich unbemerkt auf den freien Platz hinter Crystal sinken. Sie fuhr zusammen, drehte sich herum und als sie mich sah, wurde ihr Lächeln noch breiter. Unwillkürlich beugte ich mich vor, um sie zu küssen. Wie schön sie war… Das war sie immer, aber jetzt fiel es mir irgendwie besonders auf. Lag das womöglich an…?

„Ach, danke schön, Jet!“, rief Maia wie aufs Stichwort. „Du hast nicht zu viel versprochen.“ Auch Opal lächelte mir noch einmal dankend zu.

„Jederzeit.“

„Moon, ich finde, du solltest das Handtuch werfen“, kam es da wieder von Amber. „Am besten in meine Richtung.“ Im Nu hatte Moon ein illusionistisches Handtuch in den Händen, pappte es Amber jedoch eher unsanft ins Gesicht, anstatt es zu werfen.

„Würde mich nicht wundern, wenn ich mittlerweile eine minimale Resistenz gegen deine Gabe entwickelt hab“, feixte sie, während Amber sich den nassen Lappen vom Gesicht zog und anfing, sich abzutupfen. Crystal hatte sich unterdessen auf meinen Schoß gesetzt, damit Opal Platz hatte. Eine Hand hatte ich auf ihrem Bein abgelegt, mit der anderen hielt ich ihre Taille. Ich wusste nicht, ob Maia ihre Gabe extra ankurbelte oder ob es einfach nur ich war, aber es wurde zunehmend schwerer, sie auch nur eine Sekunde lang nicht zu küssen. Und wenn ich sah, wie sie auf meine Lippen schaute, schien es ihr ähnlich zu gehen.

Love is in the air…“, fing Opal da auf einmal an, zu singen und Moon fiel enthusiastisch ein, dann auch noch Maia. Anscheinend hatten sich da drei gefunden. Amber hingegen betrachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Skepsis und ernsthafter Verstörtheit.

„Es wundert mich nicht“, sagte er dann jedoch und ließ die Augen in meine Richtung gleiten. „Ich mein, schaut euch das an – nach so langer Zeit, hab ich den Idioten endlich dazu bekommen, was anderes als schwarz zu tragen.“ Moon verrenkte neugierig den Hals.

„Huch, du hast Recht! Mensch, damit siehst du so pseudounschuldig aus…“

„War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“, fragte ich lachend, aber Moon zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen: „Such’s dir aus“.

„Ach, komm!“, hielt Amber stur dagegen und wedelte mit dem immer noch existenten Handtuch in der Luft herum. „Sieh ihn dir an – da geht einem doch der BH auf!“

Was dann geschah, würde keiner von uns je wieder vergessen. In der gesamten Mensa breitete sich zeitgleich ein kollektives Geräusch aus – der verdatterte Ausruf eines Mädchens, dem gerade wie von Zauberhand der BH aufgesprungen war.

Moon schielte langsam an sich herab, als hätte sie es nicht ganz begriffen, dann sah sie zu Opal und Maia hinüber, die hastig die Arme verschränkten und rutschte im nächsten Moment vor Lachen am Tisch abwärts und auf den Boden.

„Ähm…“, stammelte Amber nur. Seine Wangen waren feuerrot und wurden noch knalliger, als die anfängliche Irritation nachließ und die ersten „Amber!“s durch den Saal geflogen kamen, woraufhin er sich den Kragen über den Mund zog und in sich zusammensank, als wollte er sich verstecken.

Und natürlich konnte ich es auch nicht verhindern, wieder zu Crystal zu schauen, allerdings… nicht in ihr Gesicht.

„Jet, du Schwerenöter!“, juchzte Moon, kaum, dass sie sich mit einem Arm auf die Tischplatte gezogen hatte und über den Rand lugen konnte. Peinlich berührt drehte ich den Kopf zur Seite und räusperte mich. Crystal wickelte sich hastig in ihre offen stehende Jacke, schnaubte mir jedoch noch ein Lachen zu und stupste einen Kuss auf meine Schläfe.

„Okay, ich glaub eh, es wird Zeit für einen Kleiderwechsel“, schloss Moon, sich wieder auf ihren Stuhl fallen lassend. „Das Feuerwerk beginnt bald. Unsere Plätze hab ich auch sicher, also… wollen wir?“ Widerwillig sprang Crystal von meinem Schoß, beugte sich aber noch einmal herunter, nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich so ungeahnt intensiv, dass ich kurzzeitig jegliches Gefühl für die Realität verlor. Das hatte außer ihr noch nie jemand geschafft.

„Das ist doch garantiert auf deinem Mist gewachsen“, vernahm ich Opals Stimme hinter mir, wie ein entferntes Echo. Ebenso Maias darauffolgendes Kichern.

„Ist nur der Dank für seine Hilfe.“

„Jetzt aber ab dafür!“, erklang erneut Moons Stimme und Crystal zog sich zögerlich zurück und schmunzelte an meinen Lippen, als ich halbherzig versuchte, sie festzuhalten. „Die Frühlingsrollen bleiben nicht ewig warm, ihr zwei Knutschkugeln.“
 

Noir OST – Snow
 

Ich starre auf die Uhr und frage mich lediglich, wie lange es wohl noch dauert, bis ich das Abzeichen auf meiner Brust wieder abtreten darf.

Trotz des Sommerabends ist es mittlerweile ziemlich dunkel und Amber ist noch nicht zurückgekehrt. Bei meinem Glück läuft er gerade irgendwo am Ende der Welt im Kreis. Denn wenn sie ihn schon geschnappt hätten, wäre er schon hier. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wieso ich mich dazu entschieden habe, ihm zu helfen. Entgegen all meiner Prinzipien und Dogmen.

„Hattest du die etwa früher?“, murmele ich mir selbst zu und drücke den Mund ratlos gegen das angezogene Knie. Das andere Bein lasse ich über das Rund des Pavillons baumeln. An die Vergangenheit zu denken, ist, wie so oft, nur eine Qual und daher ist es womöglich gar nicht mal schlecht, dass ich mich nur an so wenig erinnere. Im Gegensatz zu Amber oder den anderen bleibt mir damit wahrscheinlich einiges erspart.

Seufzend lege ich die Stirn in Falten. Dieser Junge… er wurde erst heute früh aufs Internat gebracht, ist kaum einen vollständigen Tag verwandelt und hat trotzdem ein Dauergrinsen auf dem Gesicht. Das ist alles andere als der Normalfall.

Aber insgeheim ahne ich, wieso er sich so unbesorgt gibt. Jeder entwickelt seine eigenen Strategien, um zu vergessen…

Plötzlich höre das Herannahen von Schritten am Eingangstor und schwinge mich umgehend vom Steinrand. Aber als ich den Parkplatz erreiche, mache ich wie unter Zwang Halt und beobachte nur aus der Ferne, wie Jade aus ihrer Wohnung kommt. Sie steuert geradewegs auf Amber zu, der ein bisschen erschöpft aussieht, aber ansonsten unverändert. Keine Schusswunden, keine zerrissene Kleidung oder anderweitige Merkmale für einen Zusammenstoß. Aus irgendeinem diffusen Grund heraus erleichtert mich das.

Da fällt mein Blick auf das Mädchen, das er an der Hand hinter sich herzieht. Sie wiederum ist ausgemergelt, trägt nur ein fransiges Top und eine dreckstarre, kurze Hose. Das lückenlos schwarze Haar ist zerzaust, die Wangen eingefallen, der Blick, selbst mit dem Kristallschimmer darin, leer und von erschreckend großer Angst entstellt. Was auch immer ihr widerfahren ist, Amber hatte voll und ganz Recht damit, so schnell wie möglich nach ihr zu suchen.

Sie wimmert leise und klammert sich an ihm fest, während er mit Jade redet und schließlich von ihr zurück ins Büro geführt wird. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts und lehne mich gegen die massive Säule an der Ecke. Mir geht einiges im Kopf herum, aber nichts davon ist klar genug, um es zu greifen und auszudiskutieren. Was daran liegen kann, dass ich solchen Gefühlen zum ersten Mal ausgesetzt bin. Oder? Ich kann es nicht sagen.

Nach einer Weile greife ich in die Hosentasche und ziehe den Edelstein hervor, den ich seit meiner Ankunft hier niemals aus der Hand gegeben habe. Selbst, wenn man mir alles wegnimmt, diesen Stein nicht.

„Hast du einen Ratschlag?“, flüstere ich ihm zu. Das unruhige Flimmern der Windlichter tanzt in seiner Oberfläche. „Also nicht.“ Behutsam löse ich mich wieder von der Säule, um meine Patrouille fortzusetzen. Immerhin lassen die Entwicklungen bisher glauben, dass ich das Abzeichen doch noch ein bissen behalten darf.
 

Newton Faulkner – First Time
 

Die Uhr über dem Haupteingang zeigt Viertel vor zwölf, heute scheint die Zeit überhaupt nicht zu vergehen. Anderseits bin ich dankbar für jede Sekunde, die noch verbleibt, bis der schwarze Wagen in die Internatseinfahrt einbiegt, um mich zurück in mein Apartment zu bringen. Die Entschärfungsprüfung steht bald an und wenn es mir gelingt, sie zu absolvieren, dann kann ich endlich selbst entschieden, wann ich komme und wann ich gehe. Es sollte mich freuen – und auf eine leise Art tut es das auch – aber das Einzige, was mich beim Gedanken daran erfüllt, ist die Frage: Und dann?

Wohin führt ein Leben, das nicht endet? Was wird der Staat von mir verlangen, danach zu tun? Auch das ist eine Form von Zukunftsangst, auch wenn ich mich jedem möglichen Urteil gegenüber gleichgültig fühle.

Ich lasse die Augen zufallen, da erklingt gut hundert Meter von mir entfernt ein dumpfes Schnauben. Dann bricht ein Ast und jemand kreischt verschreckt auf. Ist das etwa…?

„Hey, hier hast du dich also versteckt!“, ächzt Amber. Seine Augen brodeln förmlich – würden sie noch einen Hauch heller leuchten, könnte man sie kurzerhand mit zwei Glühwürmchen verwechseln. „Jade hat gemeint, dass ich dich irgendwo hier draußen finde.“ Er atmet tief durch und lässt sich kraftlos auf eine der Bänke im Inneren des Pavillons fallen.

„Wie geht es dem Mädchen?“, flüstere ich, dem Gebot, Abstand zu wahren, zum Trotz.

„Den Umständen entsprechend“, meint er mit einem aufgezehrten Lachen. „Sie ist auch ein Crystal Rider geworden. Du kannst sie Moonstone nennen, wenn du sie demnächst kennen lernst.“ Ich nicke nur und das sieht er in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht mal. Es brennt mir auf der Seele, ihm die eine Frage zu stellen, aber gleichzeitig ist es auch die letzte, die ich von ihm beantwortet haben will. Wieso eigentlich? Das ist absurd.

„Oh, bevor ich es vergesse!“, sagt er auf einmal, springt auf und zieht ein kleines Packet aus seiner Jackentasche, was er mir hinhält. Ohne es entgegenzunehmen, lasse ich eine Hand in die Jackentasche gleiten.

„Was ist das?“

„Wonach sieht es denn aus, du Blitzmerker?“ Er stockt, erstarrt und ich mache einen abrupten Satz nach rechts, als neben meinem Fuß wie aus heiterem Himmel ein Blitz einschlägt. „Verdammt, tut mir leid!“

„Schon okay…“, murmele ich gedehnt, mit einem langen Blick auf das verbrannte Gras auf der Stelle, auf der ich eben noch stand.

„Bevor noch was passiert, nimm es endlich.“ Diesmal zögert er nicht, auf mich zuzugehen und mir das Päckchen gegen die Brust zu drücken, bis ich es festhalte. „In dem Sinne: Alles Gute zum Geburtstag, Kumpel.“ Nahezu benommen blicke ich von dem bunten Geschenkpapier auf zu Ambers breitem Grinsen und wieder zurück.

„Woher weißt du…?“

„Jade hat es mir erzählt“, verrät er zwinkernd. „Sie meinte auch, dass du nicht gerade der Typ fürs Feiern bist und Kuchen nicht ausstehen kannst, aber… ich dachte, das da könnte dir vielleicht gefallen. Na los, mach es auf!“

Zögerlich komme ich seiner Aufforderung nach. Das Päckchen wiegt fast nichts und als die vielen Lagen Papier abgestreift sind, wird mir auch bewusst, wieso. Unter der Verpackung ist nicht mehr und nicht weniger als ein sandsteinfarbener Glückskeks.
 

Wanderers Lullaby (Original Song) by Adriana Figueroa
 

Mit einem neuen Blick gibt er mir zu verstehen, dass ich auch ihn öffnen soll. Knisternd bricht der Teig auseinander und ein dünner Zettel segelt auf meine Handfläche. Aber er ist etwas größer als die Gewöhnlichen und die Zeilen auf seiner Oberfläche sind handgeschrieben.

Ich hab leider nur eine einzige Sache, die ich dir schenken kann. Darum hoffe ich, dass sie dir Freude genug ist. Meine Freundschaft.

Langsam hebe ich die Augen wieder in seine Höhe. Sein Lächeln wird noch strahlender und dann hält er mir die Hand hin.

„Was sagst du? Freunde?“ Es ist, als würde jemand einen Faden kappen. Einen einzigen, der jedoch dafür gesorgt hat, dass alle anderen straff bleiben. Jetzt ist er kaputt, das Konstrukt bricht nicht zusammen, aber es hat seine Stabilität verloren.

„Du weißt nicht, was du da sagst…“, erwidere ich so rau, dass sich meine Stimme wie ein altes Radio anhört. Mit einem raschen Räuspern will ich mich umdrehen und verschwinden, aber Amber ist mir längst einen Schritt voraus.

„Wegen deiner Gabe, nicht wahr?“ Meine Zähne schlagen aufeinander, um das Zittern in den Mundwinkeln abzuwürgen. Jetzt weiß er also auch davon. Komischerweise ertappe ich mich dabei, wie ich den Gedanken daran, was er jetzt wohl von mir denkt, zurückdränge. „Ich pfeif‘ drauf, was die über dich sagen.“ Im Nu pfeift Amber wirklich, was mich unerwartet zum Schmunzeln bringt, aber das kann er nicht sehen, da ich ihm immer noch den Rücken zugedreht habe. „Du bist ein guter Kerl, um das zu sehen, braucht man doch nun wirklich keinen sechsten Sinn oder so was.“ Mit einem Kopfschütteln wende ich mich ihm erneut zu.

„Du bist dumm“, stoße ich hervor, klinge aber nur halb so ernsthaft, wie geplant, „und lebensmüde.“ Er hebt bloß die Schultern und hält mir ein weiteres Mal seine Hand hin.

„Damit kann ich leben, Jet. Freunde?“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, ist alles, was ich zur Antwort gebe. Anstatt ihm die Hand zu schütteln, lasse ich das zerfetzte Geschenkpapier hineinfallen. „Und… na ja… danke…“ Ich nicke auf den Glückskeks und Amber lacht schelmisch auf.

„Keine Ursache“, knurrt er und es ist mehr als offensichtlich, dass er damit versucht, mich zu imitieren. Mein abgeklärter Blick darauf bringt ihn wieder zum Lachen. „Wir sehen uns dann morgen zum Mittagessen, nicht? Wehe, du kommst nicht! Ich muss dir unbedingt Vi… äh, Moon vorstellen.“

„Meinetwegen“, erwidere ich nüchtern, obschon mich die Vorstellung davon, zusammen mit ihnen Mittag zu essen, auf eine ungekannte und sogar fast verstörende Art glücklich stimmt. Dass mich jemand freiwillig um sich haben will, das… bin ich nicht gewohnt.

„Dann eine gute Nacht!“, schließt Amber zufrieden und spaziert pfeifend zurück Richtung Hauptgebäude. Ich bleibe noch einen Moment stehen und drehe gedankenverloren den Zettel zwischen den Fingern.

Warum hat er es mir in einem Glückskeks überreicht, anstatt es auszusprechen? Da erinnere ich mich an das, was Jade mir einmal über die Tradition der Glückskekse in ihrem Heimatland Japan erzählt hat. Sie enthalten von Zeit zu Zeit Sinnsprüche, aber im ursprünglichen Zweck sollten sie eine Zukunftsdeutung geben. Dinge, die noch geschehen werden…

Freunde?

Auf einmal fühle ich mich so unendlich müde und abgekämpft, dass ich rückwärts gegen die niedrige Mauer des Pavillons stolpere und mich darauf fallen lasse.

Erst wenn dich jemand zur Ruhe anhält, wird dir auffallen, wie lange du schon läufst.

„Dieser Kerl hat sie nicht alle…“ Achtsam hebe ich die Hand, auf der die zwei Kekshälften liegen und schiebe mir eine davon in den Mund. Und während sich das süße Aroma des Gebäcks auf meiner Zunge ausbreitet, schlägt die Turmuhr zur zwölften Stunde und läutet damit einen neuen Tag ein. Eine neue Jahreshälfte. Von jetzt an werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger.

Es hat mich immer etwas angegriffen, dieser Gedanke, dass mein Geburtstag auf die Sommersonnenwende gefallen ist. Das Licht zieht sich langsam zurück, die Dunkelheit kehrt wieder. Aber heute, in dieser warmen Nacht, mit einer Zukunftsvorhersage und einer Süßigkeit in der Hand, kommt es mir zum ersten Mal so vor, als würde sich die Sonne tatsächlich wenden. Als würde etwas Neues beginnen, mit jeder Stunde etwas deutlicher werden.

„Freunde?“, flüstere ich in das Grillenzirpen um mich herum hinein. „Gerne, Amber…“

Vor verschlossenen Türen

Jade – Vor verschlossenen Türen
 

Jonathan Fleming-Bock - Forgotten Strength
 

Alle Kerzen im Raum waren entzündet und spendeten sanftes, unstetes Licht, in welchem ich mich daran machte, den Schreibtisch abzuräumen und mich endlich um alles zu kümmern, was liegen geblieben war. Und das war leider nicht zu wenig.

Nichtdestotrotz war es einfacher und erträglicher, als sich den Dingen draußen anzunehmen. Wir feierten das Hanami schon seit der Gründung dieses Internats, aber ich hatte mir nach all den Jahren noch immer kein dickeres Fell zulegen können und hielt es daher nur wenige Stunden unter den Kirschbäumen aus, bevor die Nostalgie mich überwältigte.

Die fröhlichen Gesichter, das Lachen und Begeisterung meiner Schüler machten es mir leichter, aber die Erinnerungen verdrängen, konnten auch sie nicht. Nicht einmal Jets Lächeln, auf das ich so viele Stunden hoffnungsvoll gewartet hatte. Letzten Endes sind wir doch alle einsame Krieger, die ihre Schatten im Alleingang bekämpfen müssen.

Ich schob ein paar lose Strähnen hinter die Ohren zurück und zerknüllte Ablehnungsschreiben und ausgelaufene Dokumente, die dann in den Papierkorb flogen. Doch unter all der Ablage, rutschte mir unversehens eine Akte entgegen. Verwundert schlug ich sie auf, denn für gewöhnlich ging ich mit den persönlichen Daten meiner Schüler äußerst sorgsam um und ließ sie nicht mir nichts dir nichts auf dem Schreibtisch liegen.

Der Name Mako Crowe trat mir vor Augen und ich erinnerte mich, wieso ich die Akte nicht weggeräumt hatte – die Polizei hatte erst kürzlich eine Kopie davon angefordert. Wie so oft gingen diese Affen davon aus, dass ich ihnen etwas verschwieg und bestanden daher konsequent darauf, meine Unterlagen einzusehen, obwohl sie mit denen der Regierung eins zu eins übereinstimmten. Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl sinken und überflog ihren Lebenslauf.

Sie war zugegebenermaßen nie das brave Mädchen von nebenan gewesen, aber ihre wirklich kriminellen Kunstgriffe hatten erst begonnen, als sie Jets Bande beigetreten war. Sie hatte mir nichts vormachen können – dass ihre Infizierung weitaus länger in der Zeit zurücklag, war mir schon klar geworden, als ich sie gebeten hatte, mir ihre Gabe zu demonstrieren. Aber sie hatte mich angehalten, darüber weiterhin zu lügen und ich war einverstanden gewesen. Das wäre ich bei jedem Schüler gewesen.

Allerdings war es nicht diese Vertuschung und auch nicht die bunte Palette an Straftaten gewesen, die mich davon überzeugt hatten, dass es ihre Akte in sich hatte. Denn ich hatte ausreichend Lebensläufe mit ganz ähnlichen und härteren Stichpunkten gelesen. Nein, was mich in Sprachlosigkeit versetzt hatte, war lediglich ihr Name gewesen.

Lieutenant Morven Crowe. Der Mann, der schon seit Jahren mit jedem nur erdenklichen Mittel versuchte, dem Internat das Leben schwer zu machen. Ich hatte ihn nie als eine ernsthafte Bedrohung gesehen, denn dafür riss er viel zu sehr den Mund auf. Hunde die bellen, beißen nicht. Solche, die schweigen, schon. Yuri war das beste Beispiel. Wieder seufzte ich.

Es kam nur sehr selten vor, dass erwachsene Menschen zu Crystal Ridern wurden. Ich erklärte mir das damit, dass ihr Geist bereits abgeklärter war, mehr verarbeitet und reflektiert hatte und daher weniger Angriffsfläche für den Virus bot. Aber Makos Mutter hatte zu jenen Ausnahmefällen gehört. Nur dass ich von dieser Frau niemals erfahren hatte, da sie sich noch am Tag ihrer Verwandlung das Leben genommen hatte. Crowe hatte innerhalb von vierundzwanzig Stunden seine gesamte Familie verloren, denn noch am selben Abend war auch seine Tochter von Zuhause weggelaufen. Mit nicht einmal sechszehn Jahren.

Langsam klappte ich die Akte wieder zu, erhob mich und stellte sie zurück an ihren alphabetisch angestammten Platz. Mako war nicht mehr hier, aber sie würde ein Teil des Internats bleiben und wenn sie eines Tages wiederkommen sollte, dann wäre sie hier auch weiterhin willkommen. Egal, was die Abteilung oder ihr ach so stolzer Vertreter dazu sagen würden.

Ich klaubte die übrig gebliebenen Papiere zusammen und heftete sie ordentlich ab. Darunter waren die Termine für die diesjährigen Entschärfungsprüfungen und eine kleine Liste von Namen. Nicht viele. Sogar noch weniger als letztes Jahr. Aber ich konnte es meinen Schülern auch nicht nachsehen, dass sich nur eine so kleine Anzahl für die Prüfung angemeldet hatte. Die Bedingungen waren drastisch verschärft worden, allmählich fing ich sogar an, mich zu fragen, ob Jet ihnen standgehalten hätte – und er war bisher immer noch der beste Absolvent, den es je gegeben hatte. Bei dem Gedanken an ihn, griff ich unwillkürlich in meine Jackentasche, holte den Schlüsselbund heraus und schloss eine meiner Schubladen auf. Eine Box kam zum Vorschein. Sie war bis zum Rand voll mit Edelsteinen – für jeden meiner Schüler und die Lehrer hatte ich einen gesammelt. Es mochte Aberglaube genannt werden, aber es beruhigte mich trotzdem. Denn es hieß, der Stein würde seinen Repräsentanten beschützen.

Ich ließ meine Hand zwischen die glatten Körper gleiten, sodass sie klackernd gegeneinanderstießen und fand nach kurzem Suchen das leichte Gewicht dessen, den ich gesucht hatte. Einen Augenblick lang betrachtete ich ihn im schummrigen Licht, aber dann platzierte ich ihn auf der nun leeren Tischplatte und wühlte noch einmal in der Kiste, bis sich zum Gagat noch ein Mondstein, ein Bernstein und eine roséfarbene Perle gesellt hatten.

Mein Gesicht sank in die Handflächen, während ich sie nachdenklich betrachtete.
 

Yuki Kajiura – Ensei
 

Ein jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen. Aber nicht jeder fing damit an, weder vor anderen, noch vor sich selbst. Sie schrieben die Geschichte immer weiter, ohne sich mit dem, was bereits geschehen war, noch einmal zu befassen.

Crystal Rider hingegen wurden dazu gezwungen. Von einem Parasit, der plötzlich in ihnen erwacht war. All das, was die Allgemeinheit unterdrückte und versuchte, zu vergessen, war, wovon der Virus lebte. Die so genannten Schwächen. Die Makel. Das Wunschdenken.

Der Virus nutzte sie und machte eine Stärke daraus, eine, die mächtig genug war, um sich nicht mehr davon besiegen zu lassen – während sie es doch tat. Hier begann die große Abstraktion des Ganzen und der Grund, weshalb ich im Rahmen der damaligen Forschung infiziert worden war. Meine Augen schlossen sich wie von selbst.

Um den optimalen Weg zur Kontrolle über die Gabe zu finden, war es notwendig, sich mit ihrer Ursache zu beschäftigen. Und darum war ich die Akten meiner Schüler permanent sorgfältig durchgegangen und dabei in so viele verschiedene Geschichten eingetaucht. Hatte so viele verschieden „Schwächen“ gesehen.

Amber beispielsweise, der nie richtig hatte artikulieren können, hatte darunter so viele Worte und Bilder in sich eingeschlossen, dass er im Zuge seiner Infizierung und Verwandlung und Zeugen nach, sogar einige Tage zuvor, bereits Sprichwörter wahr hatte werden lassen. Seine Eltern jedoch hatten zu jenem raren Einzelfall gehört und ihren Sohn eigenhändig zum Internat gefahren. Abgeschoben hatten sie ihn dennoch.

Moon war Zeit ihres Lebens in Psychotherapie gewesen, aufgrund ihrer, den Ärzten zufolge, krankhaften Verbundenheit zu Wasser, die darin gemündet hatte, sich wie unter Zwang immer wieder die Hände zu waschen, zu duschen oder sogar stundenlang in der kalten Badewanne oder in Seen auszuharren.

Crystal, mit ihren vielen unterdrückten Gefühlen, für die man sie so oft als schwach und überempfindlich bezeichnet hatte, die aber stets nur durch die Schwingungen anderer entstanden waren – sie hatte die Leiden und die Freuden all ihrer Mitmenschen aufgefangen, wahrgenommen und war nicht wie andere in der Lage gewesen, einfach die kalte Schulter zu zeigen.

Mira war auch ein interessanter Fall, ich hatte lange und oft mit Mrs. Capella darüber gesprochen, denn sie tanzte mit der Feueraffinität aus der Reihe, da die anderen Perlen Gaben in Richtung schöner Künste besaßen oder Gefühle beeinflussten.

Und dann war da noch Jet. Er war schon immer neugierig gewesen, hatte mich über alles, was die Crystal Rider betraf, ausgequetscht, weil er nicht dazu in der Lage gewesen war, das Wissen im Unterricht aufzunehmen. Und ich hatte gewusst, dass er, sobald er mehr über die Entstehung der Gabe eines Riders erfuhr, mit jener Frage herausrücken würde.

„Was war meine Schwäche, dass ich aufgrund dieser jetzt töten kann?“

Ich hatte mich gewunden, aber letztendlich war ich ihm meine Thesen dazu schuldig gewesen, auch wenn es mich einiges gekostet hatte, ihm davon zu erzählen. Eine Gabe, die auf Augenaufschlag töten kann, muss rein theoretisch aus einem Zusammenspiel von unvorstellbar großer Angst und Hass auf alles und jeden in dieser Welt entstanden sein. Wenn es stimmte, war Jet sozusagen so was wie das Gegenteil von Crystal.

Stück für Stück öffnete ich die Augen wieder und ließ sie auf die Kerzen gleiten, die in den letzten Monaten so oft entzündet worden waren, dass ich die heruntergebrannten mehrfach hatte austauschen müssen. Eine von ihnen war schwarz. Sie flimmerte am unruhigsten, obgleich sie nicht einmal auf dem Fensterbrett stand. Von ihr aus schwang mein Blick zurück auf den Gagat vor mir.

Und die Erinnerungen breiteten Federn werfend ihre Flügel aus…
 

Valentin Wiest - Nobody knows
 

Es geschieht mitten in der Nacht.

Das Telefonklingeln ist ein harscher, überschneller Pfeil, der meinen Schädel durchbohrt und ich fahre aus den Decken hoch, als reiße mich jemand hinauf, taste blind nach dem Handy und erkenne nur ein „Nummer unterdrückt“, bevor ich abnehme.

„Mrs. Chan“, erklingt es am anderen Ende der Leitung, ehe ich auch nur Luft holen kann. „In zehn Minuten im Institut. Ein neuer Rider.“ Und schon hat er aufgelegt. Stirnrunzelnd nehme ich das Handy vom Ohr und schlage die Decke zurück, um aufzustehen.

Was hat das zu bedeuten? Seit wann erfahre ich von einem neuen Infizierungsfall über die Abteilung? Normalerweise halten die sich da fein raus.

Ich lasse es fürs Erste dabei bewenden, binde meine Haare schnell zu einem Dutt zusammen und tausche den Schlafkimono gegen die Außendienstuniform. Sie ist legerer geschneidert, sodass sie auch als ein schlichter Hosenanzug durchgehen könnte und hat ihre Stickereien auf der Innenseite. Keine Minute später sitze ich im Wagen und fahre durch die leergefegten Straßen, in den Lichtkegeln von Laternen, bis der düstere Schatten des Instituts mich verschluckt. Dieses abstoßend modernisierte Gebäude – eine Symbiose aus Glas und Chrom und Macht.

Ich steige gerade aus dem Wagen, da kommt mir schon einer der Angestellten mit einem Regenschirm entgegen, dabei nieselt es nur. Es alarmiert mich, denn wenn sie mich derart zuvorkommend behandeln, läuft irgendwas nicht mit rechten Dingen.

„Bitte hier entlang“, lässt der Mann verlauten und führt mich hinüber zum Haupteingang. Mir wird mulmig zumute – zum einen ist es alles andere als gewöhnlich, dass ich wegen eines neuen Riders ins Institut beordert werde und zum anderen wäre ich in diesem Fall davon ausgegangen, dass sie ihn mir zum Internat bringen, anstatt mich antanzen zu lassen.

Aber mit meinen Fragen muss ich noch warten, denn der Mann neben mir ist in ihrer Schachfamilie nur ein Bauer und wird mir keine Antworten geben können.

Wir durchqueren die spärlich und kalt beleuchtete und gespenstig stille Eingangshalle, betreten den Aufzug und lassen in der dritten Etage einige Korridore hinter uns, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Schließlich bleibt mein Begleiter vor einer Tür mit dem Nummernschild 365 stehen und klopft diskret an. Im Inneren höre ich leise Stimmen und das kaum vernehmbare Lärmen einer Neonlampe.

Auf das Klopfen hin, öffnet sich die Tür ruckartig. Ein Mann in einem weißen Laborkittel erscheint, einer wie ich sie früher auch getragen habe. Der Anblick bringt mich zum Schlucken.

„Ah, Mrs. Chan“, begrüßt er mich gesetzt und steckt den Kugelschreiber, mit dem er eben noch etwas auf den Unterlagen auf seinem Klemmbrett notierte, in seine Brusttasche. „Wir haben Euch schon erwartet. Kommt doch rein.“

Das ist das Zeichen für den Anzugträger, sich wieder aus dem Staub zu machen. In diesen vier Wänden wandert man stets von Hand zu Hand. Ich schaue ihm kurz hinterher, dann tue ich wie geheißen und betrete das geruchlose Zimmer.

Ich kann die Veränderung der Atmosphäre fast sofort fühlen. Der Virus hat einen absonderlichen Singsang, nicht hörbar, nur fühlbar, aber nicht zu verkennen. Und hier klingt er tiefschwarz…

„Was…?“, stoße ich atemlos hervor, als der Mann mir nicht mehr die Sicht versperrt und mache ein paar schnelle Schritte in den Raum hinein.

„Vorsicht, Liz“, flüstert auf einmal eine mir außerordentlich vertraute Stimme. Ich habe ihn nicht sofort erkannt, weil die Aura des Crystal Riders wie Nebel wirkt. Dunkler, schneedurchwirkter Nebel.

„Yuri…“, sage ich knapp zur Begrüßung, als seine blauen Augen auf meine treffen. Aber im Augenblick kann ich mich nicht über seine Anwesenheit aufregen, noch nehme ich sie tatsächlich für voll, denn auf einer Liege auf der linken Seite des Zimmers befindet sich eine zusammengekauerte Gestalt, die meine ganze Anteilnahme in Beschlag nimmt.

„Geh nicht zu nahe ran“, warnt mich Yuri und tritt leicht vor mich, damit ich nicht auf den Jungen zuhalten kann. „Und schau ihm nicht in die Augen.“

„Was ist hier überhaupt los?“, zische ich und setze ein paar Schritte zurück, um ihm nicht mehr so nahe zu sein. „Was ist mit dem Jungen geschehen?“ Während ich rede, schweift mein Blick wieder zu ihm. Er liegt auf der Seite und hat die Knie eng angezogen, seine Hände ruhen verkrampft auf der Brust, die Finger im Stoff seines Leinenhemdes verkrallt. Er atmet so schwer, dass es wie heulender Wind klingt.

„Er wurde infiziert“, antwortet Yuri sachlich, aber auch mit einer Spur von Arroganz. „Das dürfte für jemanden wie dich doch wohl offensichtlich sein.“

Ich ignoriere seinen kleinen Affront, stattdessen betrachte ich den Jungen noch einmal. Sein schwarzes Haar ist wirr und ich erkenne rote Spitzen in Nähe seines Nackens. Es wirkt rebellisch – ich bin mir beinahe sicher, dass er von der Straße kommt. Dabei macht er keinen gefährlichen Eindruck, vor allem nicht in diesem Zustand. Er wirkt eher… zerbrechlich.
 

Silent Snow by Fred Bouchal
 

„Sein Name ist Jason Snow, zweiundzwanzig“, fährt Yuri fort, da ich nichts von mir gebe. „Er hatte einen schwarz bezahlten Job am Hafen und war Teil einer Bande von Jugendlichen.“

„Und wieso ist er hier?“, schneide ich ihm das Wort ab, denn diese Informationen sind augenblicklich nicht von Wichtigkeit, wie mir mit jedem weiteren Blick auf den Jungen klar wird. Seine Verwandlung erscheint mir falsch. Die Transformation des Körpers durch den Virus ist schmerzhaft, das ist wahr, aber er erweckt den Eindruck, als würde sie ihn langsam aber sicher töten.

„Reiner Zufall“, erklärt Yuri ungerührt. „Es gab eine Explosion am Hafen, bei der viele Arbeiter ums Leben gekommen sind. Du hast sicher in den Zeitungen davon gelesen.“ Ich nicke ungeduldig und warte auf mehr. „Während des Unglücks oder unmittelbar davor, muss der Virus auf ihn übergesprungen sein. Er sorgte dafür, dass sein Körper nicht im Feuer verbrannte, dennoch benötigte es seine Zeit, bis die Wunden sich schlossen. Und da es noch innerhalb der Verwandlung geschah, hatte der Virus ferner Probleme, die Haut zu regenerieren. Wir dachten erst, er würde es nicht überleben, aber eben gerade hat sich herausgestellt, dass er außer Gefahr ist.“ Er beschreibt einen leichten Bogen um mich herum und bleibt in gut einem Meter Entfernung neben mir stehen. „Allerdings hat der Schock eine leichte Amnesie verursacht. Und dann ist da noch…“

Urplötzlich fahren Jasons Lider in die Höhe und entblößen ein so schwarzes Paar Augen, dass die Pupille darin unsichtbar wird. Sie glühen auf, schimmern wie glatt geschliffene Kohle oder der Glanz auf einer Rabenfeder. Für Momentbruchteile sind sie nur starr geradeaus gerichtet, doch dann schießen sie aufwärts in meine Richtung.

„Liz!“, ruft Yuri und genau in dieser einen Sekunde, die noch gefehlt hat, bevor mich Jasons Augen berührt hätten, werden sie von seiner Schulter verdeckt. Er greift mich bei den Armen und dreht mich zur Seite. Ich schüttele seine Hände eilig ab.

„Was ist los?“, fahre ich ihn unwirsch an und sein Kiefer wird zu Stein.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du ihm nicht die Augen sehen sollst“, entgegnet er nicht minder ungehalten. „Seine Gabe wird als ‚Soforttod‘ definiert.“

„Soforttod?“, echoe ich rau und schiele an Yuri vorbei. Jasons Augen sind wieder geschlossen, beziehungsweise fest zugepresst, denn der Schmerz scheint wieder stärker zu werden. Seine Hände vergraben sich tiefer in den Stoff seines Oberteils und er stöhnt leise.

„Ein Blick und du bist tot“, spricht Yuri das aus, was ich schon vermutet habe. Es ist verrückt. So viele Gaben habe ich schon gesehen, so viele ungewöhnliche Fähigkeiten, aber niemals war eine dabei, die den Tod im Namen trägt. Und das obwohl es an sich keine zu widersinnige Vorstellung ist.

„Und aus welchem Grund habt ihr mich hierher bestellt, anstatt ihn zum Internat zu bringen?“, stelle ich die Frage, die mich nach allem immer noch am meisten wurmt. Vielleicht weil ich bereits ahne, dass der Grund für das ganze Theater kein sicheres Terrain sein wird. Eher Glatteis.

„Die Sache ist folgendermaßen“, beginnt Yuri mit einem so autoritären Unterton, das in mir das kindische Bedürfnis aufsteigt, mir die Ohren zuzuhalten. „Jasons Gabe ist außergewöhnlich. Es wird nicht möglich sein, ihn auf dem Internat zu unterrichten – worin auch? Er könnte seine Mitschüler samt und sonders töten, ohne es gewollt zu haben. Du müsstest ja ausreichend im Bilde darüber sein, wie unkontrollierbar eine Gabe am Anfang ist.“ Ich verziehe nur die Brauen. Er mag Recht haben, aber das, worauf er hier offenkundig gerade hinauswill…

„Daher halten wir es für vorteilhafter, ihm eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen.“

„Und wie soll die aussehen?“, bringe ich heiser hervor und sehe noch einmal zu Jason hinüber. Auf seinen Wagen sind die Spuren von Tränen zu erkennen. Und Yuris Stimme wird zu einer frostklirrenden Nacht.

„Du wirst dafür Sorge tragen, dass er sich das Entschärfungssymbol aneignet. Und nebenbei wird er seine Gabe direkt in die Dienste des Staates stellen.“ Ich wirbele heftig zu ihm herum, als mir der Sinn seiner Worte aufgeht.

„Ihr wollt ihn dazu zwingen, seine Gabe zu benutzen“, knurre ich mit bebender Brust und mache ein paar impulsive Schritte nach links, wodurch ich halb beschützend vor dem Jungen stehe, der immer noch keucht vor Schmerz. „Um für euch zu töten!“ Yuris Gesicht zeugt von keinerlei Gefühlsregung, er scheint nicht einmal den Zugluftstoß von Skrupel dafür zu empfinden, was er hier gerade so perfide plant. Es beweist mir mit einer bitteren Brutalität, dass der Mann, den ich einst kannte, schon lange tot ist.

„Du übertreibst wie üblich“, seufzt er, die Hände in die Hosentaschen schiebend. „Niemand wird von ihm verlangen, Unschuldige zu töten.“

„Das macht keinen Unterschied“, unterbreche ich ihn hart. „Es ist schlimm genug, dass er mit so einer Fähigkeit verflucht ist, du kannst ihm nicht auch noch das Schicksal auferlegen, sie gezielt anzuwenden!“
 

Where Is My Mind - Yoav ft. Emily Browning - Sucker Punch Soundtrack
 

„Manchmal muss man Opfer bringen, um Opfer zu vermeiden“, fährt er beherrscht fort und ich würde ihn allein für diese Distanziertheit am liebsten schlagen. „Im Verlauf der letzten Jahre sind schon so viele Menschen durch unkontrollierte Crystal Rider zu Tode gekommen. Darunter besonders viele Polizisten, die versucht haben, sie aufzuhalten…“

„Er hat sich das nicht ausgesucht!“ Yuris rechte Augenbraue zuckte, als ich es ihm mitten in den Satz warf, jetzt mustert er mich wieder, aber es kommt mir so vor, als würde er mich dabei zum ersten Mal, seit diese Diskussion begonnen hat, wirklich wahrnehmen. Äußerlich hat er sich nicht verändert und genau darum ist es so qualvoll, zu sehen, wie groß die Diskrepanzen im Inneren sind. Wie ferngesteuert schüttele ich den Kopf.

„Früher hättest du so nicht geredet. Wir beide – wir haben den Virus erforscht, um seinen Infizierten zu helfen. Um sie verstehen zu lernen. Hat das jetzt alles keine Bedeutung mehr?“ Sein Brustkorb gibt ganz leicht nach – als hätte jemand einen der Fäden gekappt, die ihm diese straffe Haltung aufzwingen. Doch seine Augen sprechen eine andere Sprache.

„Menschen ändern sich.“

„Nicht Menschen, nur Umstände“, halte ich tonlos dagegen.

„Sieh es, wie du willst – du wirst dich unseren Anweisungen fügen oder wir nehmen die Sache selbst in die Hand.“ Ich stoße gepresst die Luft aus und verschränke langsam die Arme vor der Brust.

„Wie soll ich vorgehen?“

„Schon besser“, kommentiert Yuri zufrieden und ich kann nur mit Mühe ein Zähneknirschen zurückhalten. „Du wirst ihn trainieren. Die üblichen Techniken, vor allem Selbstverteidigung und Nahkampf. Des Weiteren müssen wir versuchen, ihn zu isolieren, damit er keine seinen Aufträgen hinderlichen Reuegefühle entwickelt.“

„Das ist krank“, flüstere ich, ohne dass ich es bewusst gelenkt habe und spüre, wie sich Wärme an den Rändern meines Sichtfeldes sammelt. Yuris Gestalt wird unscharf, als sich eine Träne aus meinen Augen herausstiehlt. „Das könnt ihr nicht ernsthaft von mir verlangen.“ Bevor ich mir eine noch größere Blöße vor ihm gebe, drehe ich mich um und trete auf die Liege zu.

Jasons Fingerknöchel sind bereits weiß geworden, so klamm hat er sie in sein Oberteil verkrallt. Herzhöhe. Da kommt der Schmerz her. Ich gehe behutsam in die Knie und strecke zaghaft die Hand aus, bis ich mir sicher bin, ihn nicht zu verschrecken, wenn ich sie auf seiner Stirn ablege. Dieses Haar… genauso schwarz wie seine Augen. Und seine Kleidung. Wie ein menschgewordener Rabe. Er sieht so hilflos aus, völlig verloren, orientierungslos in einer Wüste aus fremden Stimmen und Angst.

Und da fange ich an, zu begreifen, dass niemand außer mir ihm helfen können wird. Wenn ich mich weigere, ihn nach den Vorgaben der Abteilung zu behandeln, werden sie das Ruder übernehmen und ihm auch den letzten Rest Menschlichkeit entreißen. Ihn in einen gefühllosen Killer verwandeln. Unwillkürlich blicke ich über die Schulter zu Yuri.

Aber er hat mich hierher bestellt. Wäre es nicht einfacher gewesen, mich unverzüglich aus der Debatte herauszuhalten? Dann hätten sie sich ihren Bluthund in aller Seelenruhe zurechtformen können und ich hätte nicht einmal das Recht dazu, diese Entscheidung zu unterlaufen.

Aber nein. Sicher hat Yuri darüber gar nicht nachgedacht und mich nur aus reiner Routine hinzugezogen, um sich keinen unnötigen Streit mit der Rechtsordnung einzuhandeln, obwohl es sich im Falle eines Prozesses zu seinen Gunsten gewendet hätte.

„Ich tue es“, sage ich, während ich mich wieder Jason zuwende, aus dessen Augen sich gerade weitere Tränen lösen. „Genauso, wie du es dir vorstellst, aber…“ Meine Hand legt sich auf seine. Er zittert wie im Fieber. „Ich werde kein Monster aus ihm machen.“

„Einverstanden.“
 

Gold Delirium Music - Held Captive
 

Seufzend senke ich den Kopf und will wieder aufstehen, als sich Jason unvermittelt regt. Seine Finger geben die verkrampfte Haltung auf und schließen sich blitzschnell um mein Handgelenk. Irritiert schaue ich von der Gestik aufwärts in seine halb geöffneten Augen, die mich treffen, aber trotzdem durch mich hindurchsehen, als wäre ich nur eine Halluzination.

„…ian…“, höre ich es, ziehe die Brauen zusammen und beuge mich vor, um ihn besser zu verstehen. „…ob… ian…“

„Was möchtest du?“, frage ich, so vorsichtig wie möglich, aber trotzdem eindringlich genug, dass er mich wahrnimmt.

„Obsi… dian…“, gelingt es ihm nach einer Weile schließlich hervorzupressen, dann wird sein Blick glasig, seine Augen fallen zu und er verliert das Bewusstsein. Verwirrt weiche ich wieder zurück, als Yuri einen Befehl erteilt, Jason zurück ins Krankenzimmer zu bringen.

„Sobald sich sein Zustand stabilisiert hat, lasse ich ihn zum Internat bringen.“ Zwei Männer kommen an mir vorbei und ziehen die Barre aus dem Raum, während ich wieder auf die Beine komme und unschlüssig stehen bleibe.

Obsidian?

„Du solltest noch etwas schlafen“, meint er, als ich mich nach einigen Sekunden immer noch nicht rühre. „Liz?“ Die Luft entweicht in hohlen Stößen aus meinen Lungen. Das kalte Licht der Neonlampe lässt den Mann vor mir noch konturierter wirken, wie eine Federzeichnung unter dem Mikroskop. Habe ich sein Lächeln nur geträumt? Diese Mundwinkel machen jedenfalls nicht den Eindruck, es je erlernt zu haben.

„Damit wir eins klarstellen, Yuri…“ Meine Lippen bewegen sich, das spüre ich, aber die Worte sind eine fremde Materie, die sich irgendwo in meinem Inneren gebildet hat, nur für diesen einen Augenblick. Nur für ihn. „Ab jetzt mischst du dich nicht mehr in diese Sache ein. Du darfst deine Überwachungsclowns schicken, um dich davon zu überzeugen, dass alles so läuft, wie du es gern hättest, aber du hältst dich raus.“

„Darf ich auch den Subtext erfahren, der diese Aufforderung zur Verantwortung hat?“ Eines haben all die hohen Tiere gemeinsam, jeder, der mehr Macht in sich aufgenommen hat, als es für einen einzelnen Verstand verträglich ist. Sie schützen sich mit Worten; mit korrekter Eloquenz, detaillierter Artikulation und reservierter Sprachmelodie. Und ich kann mich davon auch nicht freisprechen. Aber jetzt schon.

„Ich will dich nicht mehr sehen. Leb wohl.“

Ende des Gesprächs. Ende des Kapitels. Ich wende mich ruckartig ab und verlasse das Zimmer. Neben der Tür wartet bereits eine Geleitperson auf mich, die mir etwas verdattert hinterherkommt, als ich einfach weitermarschiere.

Doch mitten auf der Route, sticht mir plötzlich ein etwas ins Auge, das vorhin noch nicht dort war, davon bin ich überzeugt. Ich bleibe stehen, gehe in die Hocke und pflücke es vom Boden. Es ist ein Edelstein, glänzend schwarz, mit weißflockigen Einschlüssen und einer gesprungenen Seite.

Es ist ein Schneeflockenobsidian.
 

Yoko Kanno – Sora
 

Ein Klopfen an der Tür holte mich zurück in die Gegenwart. Ich schlug die Augen auf und wischte die Edelsteine vom Tisch in meine Handfläche, um sie zurück in den Kasten purzeln zu lassen.

„Herein.“ Es war Mrs. Capella. Dem Anlass entsprechend hatte auch sie sich einen Kimono genäht, in arktischem Weiß mit graublauen Sternenmustern. Dass ich mich dazu entschlossen hatte, den Perlen Sternennamen zu geben, war auf ihrem Beitritt auf das Internet gefußt.

„Das Feuerwerk beginnt in einer halben Stunde“, sagte sie lächelnd und trat leichtfüßig wie immer an meinen Tisch heran. „Ich sollte Euch exakt diese Reichweite von Zeit vorher Bescheid geben.“

„Danke sehr, Capella“, erwiderte ich, ebenfalls lächelnd. „Ich bin in fünf Minuten dort.“ Sie nickte und wandte sich zum Gehen, stoppte jedoch noch einmal in der Bewegung und bedachte mich mit besorgten Augen.

„Geht es Euch nicht gut, Direktorin?“

„Nein, alles in Ordnung“, winkte ich bestimmt ab. „Ich war nur in Gedanken. Capella… denkt Ihr manchmal darüber nach, was hätte sein können?“

„Wie meint Ihr das?“ Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre aufwendige Hochsteckfrisur zu richten.

„Wie Euer Leben verlaufen wäre, wenn Ihr nicht infiziert worden wärt?“ Überraschenderweise fing sie an zu lachen.

„Dann säße ich jetzt immer noch in diesem stickigen Bordell und würde vulgären, alten Männern meine Gesellschaft verkaufen.“ Ich sah zu ihr auf. Natürlich kannte ich auch ihre Geschichte – ich hatte sie damals aus dem Freudenhaus freigekauft, da sie sie als Crystal Rider sogar noch lieber dort festgehalten hatten. „Ich bin froh, dass es geschehen ist. Es hat mir gezeigt, dass noch irgendwas in mir um eine bessere Zukunft kämpft und…“ Sie trat vor an den Schreibtisch und griff nach einem losen Blatt vom Stapel. Ihre Hände malten einige elegante Schleifen um es herum und schon war daraus eine grazile Kranichfigur geworden. „…noch weiß, was Schönheit ist.“ Zwinkernd stellte sie den Kranich auf der Ecke ab und tänzelte schließlich ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.

Ich stützte einen Ellenbogen auf und legte das Gesicht in die offene Hand, um abwesend den Ring an meinem Finger zu studieren. Was wäre, wenn. Die alte, immer neu aufgerollte Frage. Genauso häufig gestellt, wie unrealistisch. Denn die Vergangenheit konnte niemand ändern.

Aber darum ging es denjenigen, die sie heraufbeschworen auch gar nicht. Sie wollten es nicht ändern, sie wollten es nur verstehen. Um die Zukunft aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Um alte Fehler nicht zu wiederholen.

Aber manchmal war es selbst dafür zu spät. Manchmal waren alle Türen zugeschlagen worden, einige mit den eigenen Händen, andere von denen der anderen.

„Und hier stehst du, Liz“, hörte ich mich murmeln, derweil ich den Ring drehte und die drei eingravierten Symbole darauf betrachtete, „in einem Raum voller verschlossener Türen.“

Einsames Wesen

Crystal – Einsames Wesen
 

Relaxing Music (Instrumental Piano)
 

Langsam dämmerte es und wir hatten uns auf einer Decke unter den Kirschbäumen hingesetzt, doch war noch genügend Sicht auf den Himmel.

Jet hatte sich an einen Baum gelehnt und ich hatte mich neben ihn gesetzt. Amber lag ihm Gras und Moon, Opal und Maia saßen im Schneidersitz auf der Decke.

„Hier, meine Lieben“, war auf einmal Jade zu hören und sie hielt uns allen einen Topf mit Glückskeksen hin. Jeder von uns griff zögerlich hinein.

„Das Feuerwerk beginnt bald“, meinte sie und lächelte uns allen noch einmal zu.

Mein Blick ging zu Jet, welcher mir nur zulächelte. Immer wieder verlor ich mich darin und es war immer noch, als würde ich träumen.

Ich wusste noch genau, wie Jet am Anfang zu mir gewesen war, auch wenn er es nur getan hatte, um mich zu beschützen, doch jetzt kam es mir nur unwirklicher vor, dass er lächelte und fröhlich war. Ich war so glücklich mit ihm und ich wollte dieses Gefühl nicht mehr hergeben.

„Na, dann mal schauen, was die Zukunft uns so bringt!“, lachte Moon, teilte den Keksteig und zog den kleinen Zettel heraus, ebenso wie die anderen.

Plötzlich war ein Lichtblitz am Himmel zu sehen und ein lauter Knall zu hören. Alle blickten nach oben und ich erkannte wie rote Funken vom Himmel rieselten und die Umgebung in eine schöne pupurne Farbe tauchten.

Ich blickte langsam runter zu meinem Glückskeks und nahm immer wieder neue Raketen wahr, die am Himmel explodierten.

Langsam brach auch ich die zwei Hälften auseinander und zog den kleinen Zettel hinaus.

Achte dein Gegenüber und erkenne seinen Schmerz.

Ich blickte von dem kleinen Zettel auf und erkannte, wie Amber ruckartig zu Moon schaute, rot wurde und dann nur wieder zum Feuerwerk aufblickte. Was wohl auf seinem Zettel stand?

Jet legte seinen Arm um meine Schultern und ich lehnte mich an ihn, dann beobachteten wir zusammen das Feuerwerk.

Immer wieder bewunderte ich seinen Körper und durch das weiße T-Shirt hatte das alles noch einen ganz anderen Effekt.

Wieder glitt mein Blick zum Himmel und verschiedene Formen wurden deutlich, nach jeder neuen Rakete. Mal war eine Blume zu erkennen, dann wieder ein lächelndes Gesicht, aber überwiegend waren Kirschblüten zu sehen.

„Ey, Amber!“, rief jemand und wir sahen alle nach hinten. Drei Jungs kamen auf ihn zu und der eine klopfte lachend auf seine Schulter.
 

Reno – Cannot Stay
 

„Super Aktion vorhin!“

„Das hat eine Auszeichnung verdient!“, grinste der Hinterste und Amber lächelte zwar auch, aber man sah ihm deutlich an, dass er nicht wusste, worum es überhaupt ging.

Als die Typen wieder weggingen, drehte er sich zu uns und Opal und Maia konnten ihr Lachen nicht zurückhalten.

„Was war denn das?“, fragte Amber verwirrt.

„Die haben dir für deine Aktion mit dem BH gedankt“, grinste Moon und er wurde wieder rot, doch lachte mit ihr.

Meine Augen senkten sich, als ich wieder daran dachte und ich wurde vielleicht sogar etwas rot. Jet kicherte leise als er meine Reaktion darauf bemerkte und ich blickte schmollend zu ihm auf.

„Lach nicht“, murmelte ich und zwickte in seine Seite. Er zuckte zusammen und rutschte reflexartig von mir. Meine Augen wurden größer und ein kleines Lächeln breitete sich auf meinem Mund aus.

„Bist du … kitzelig?“, fragte ich und mein Lächeln wurde zu einem Grinsen.

„N-Nein“, murmelte er und zog langsam seinen Arm zurück.

„Ach ja?“, fragte ich wieder nach und drückte ihn dann auf den Boden, nur um mich dann auf ihn zu setzten und ihm das heimzuzahlen, was er mit mir gemacht hatte, als er mich gekitzelt hatte.

„Crystal!“, rief er, als ich ihn immer und immer wieder kitzelte und es genoss, dass er sich jetzt nicht wehren konnte. Dann lachte er und kniff seine Augen zu, versuchte meine Hände zu fassen zu bekommen, doch gelang es ihm nicht.

„Jet ist kitzelig?“, hörte ich Amber hinter mir lachen und wir alle stimmten mit ein.

„H-Hör auf!“, bettelte Jet und es war das erste Mal, dass ich ihn so lachen hörte. Es klang so fröhlich, so ausgelassen und ich stoppte mittendrin.

Halb lachend, halb keuchend versuchte er an Luft zu kommen und ich konnte sogar erkennen, wie eine kleine Träne aus seinem Auge floss, weil er so lachen musste.

„Du bist gemein“, grummelte er und konnte das Lächeln nicht aus seinem Gesicht verbannen.

„Ich weiß“, trällerte ich und beugte mich zu ihm hinab, um ihn zu küssen.

Ich legte meine Hände an sein Gesicht und er legte seine Arme um meinen Körper, doch ich musste wieder etwas lachen. Verwundert sah Jet mich an.

„Dass du kitzelig bist, hätte ich am wenigsten erwartet“, flüsterte ich und stupste seine Nase mit meiner an. Er verzog nur den Mund, doch gab mir wieder einen kleinen Kuss, dann richteten wir uns wieder auf.

Kiss me, beneath the milky twilight…“, fing auf einmal Maia an zu singen und Opal stieg sofort mit ein, Moon ließ auch nicht lange auf sich warten.

Amber verdrehte nur die Augen und Jet und ich fingen an zu lachen.

„Diese verrückten Hühner“, murmelte Amber und ich war mir sogar fast sicher, dass er das mit Absicht gesagt hatte, denn alle drei fingen an, wie Hühner wild loszugackern und er grinste gewinnend.

„Amber“, knurrte Moon als sie wieder normal sprechen konnte und er zuckte nur die Schultern.
 

Abraham Lincoln Vampire Hunter – 80 Miles
 

Spät in der Nacht gingen wir durch den Park und hier und da waren auch noch einige Schüler. Maia und Opal waren auf ihr Zimmer gegangen, also waren wir nur zu viert.

Man merkte es sofort, dass Maias Gabe sich nicht mehr auf Amber oder Moon auswirkte, denn sie sprachen nicht mehr miteinander.

Wir duckten uns durch die tiefen Kirschbaumäste und waren kurzerhand an dem kleinen See angekommen, auf den wir zugehalten hatten. Selbst hier waren kleine Laternen und Girlanden angebracht und der Kerzenschein breitete sich sanft in dieser Umgebung aus. Blätter und Blüten flogen langsam durch die Luft und plötzlich streifte eine davon meinen Hals.

„Ihr seid alle gleich! Und wir sind nur eure Marionetten!“, brüllt der Rider über mir und ich spüre, wie mir die Luft wegbleibt.

Ein Gefühl, als hätte sich eine Schlinge um meinen Hals gewickelt und würde immer weiter zugezogen werden. Die Angst spiegelte sich in meiner Verkrampfung wieder. Meine Hand ließ Jets schlagartig los und mit beiden griff ich an meine Kehle.

Zu lange war es her, dass ich diese Panikattacken gehabt habe und weil sie jetzt wiederkehrten, brach alles Standhafte in mir zusammen.

„Crystal!“, hörte ich Jet sorgenvoll rufen und spürte gleich darauf seine stützenden Arme um meinen Körper. Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Immer und immer wieder versuchte ich nach Luft zu schnappen, aber es war, als würde etwas meinen Hals blockieren. Keine Luft konnte eindringen und ich kniff die Augen zu.

„Schätzchen, sieh mich an!“ Die Stimme meiner Mutter dröhnte in meinem Kopf. „Crystal! Wir haben das doch schon oft durchgemacht! Sieh mich an und versuche normal durchzuatmen!“

„Crys! Ganz ruhig!“, flehte Moon und ihre Stimme vermischte sich merkwürdigerweise mit der von meiner Mutter.

Ich kratzte mit meinen Fingernägeln über meinen Hals, versuchte diese Schlinge wegzureißen, aber dort war nichts.

Verzweifelt zwang ich mich, die Augen zu öffnen und suchte Jets. Er hatte seine Hände auf meine Schultern gelegt und sah mich ängstlich an. Als unsere Blicke sich trafen, konnte ich ganz kurz einatmen und spürte, wie sich meine Lungen blähten und dankend die Luft aufnahmen.
 

A very sad song for broken hearts
 

Was war los? Warum brach ich zusammen? Warum brach mein Schutz?

„Ich dachte …“, fing ich krächzend an und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten.

„Was dachtest du?“, flüsterte Jet so ruhig er konnte, doch fühlte ich, dass seine Hände ganz leicht zitterten.

„Ich dachte, es wäre weg, es wäre vorbei und …“ Ich fing an zu weinen und er zog mich einfach in seine Arme, vorsichtig und schützend, aber kein Wort verließ seine Kehle. Ich versteckte mein Gesicht in seiner Brust und krallte in sein Oberteil hinein. Ich zitterte und konnte nicht aufhören zu weinen, als wäre mein Körper eigenständig und würde mir nicht mehr gehorchen.

„Was tust du denn immer, Crystal?“, fragte Moon traurig und besorgt und ich spürte wie sich ihre Hand auf meine Schulter legte.

„I-Ich … kann …“, stammelte ich, doch brach ich ab, denn ich wusste, egal was ich jetzt sagte, es würde nichts Vernünftiges rauskommen.

Jet zog mich wieder auf die Beine und hatte die ganze Zeit seinen Arm um meine Hüfte gelegt, während wir wieder zurück zum Hauptgebäude gingen.

„Ich will euch nicht … den Abend verderben, ihr könnt -“

„Der Abend war doch schön“, hörte ich Amber sagen und senkte nur meine Augen.

„Und du verdirbst ihn uns doch gar nicht“, sage Moon und versuchte, meine Laune etwas zu steigern, aber ich wusste, das sagten sie nur, um mich aufzuheitern.
 

Flute of Harmony – Sadness and Sorrow vs. Grief and Sorrow
 

Amber ging schon in sein Zimmer, doch Jet begleitete Moon und mich noch zu unserem.

„Moon, kann ich kurz mit dir reden?“, fragte Jet, als wir an unserer Zimmertür angekommen waren. Ich schaute zwischen den beiden hin und her, doch Jet lächelte mich nur an.

„Ja, klar“, sagte Moon und ging wieder etwas von der Tür weg.

„Ich warte drinnen“, murmelte ich und öffnete sie, dann ging ich sofort ins Badezimmer und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Meine Augen wanderten zu meinem Spiegelbild und ich erschrak vor meiner Erscheinung. Blasses Gesicht, gerötete Augen und doch leuchteten sie und das war das Abstrakte. Das waren einfach nicht meine Augen, das war nicht ich!

Ich atmete tief ein und kniff sie zu, dann drehte ich mich weg, ging einfach zu meinem Kleiderschrank und suchte mir eine Jogginghose und ein normales bequemes Top … selbst das gehörte nicht zu mir.

Schnell zog ich mich um und verkroch mich dann in mein Bett.

Mein Blick fiel auf die kleine verkohlte Eule und wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen.

Wärst du noch da, dann hätte ich noch eine Familie! Dann hätte ich noch ein Stück von meinem alten Leben … nur du hast Mom und mich zusammenhalten können. Jetzt bist du weg und sie auch. Ich will dich doch nur noch einmal sehen, ich will dir so gerne Jet vorstellen. Ich will, dass du sehen kannst, wie ich erwachsen werde …

Ich hielt inne … erwachsen werden konnte ich nicht mehr. Ich konnte nicht mehr älter werden, ich konnte keine Kinder bekommen und genauso wenig heiraten, denn ich wusste genau, dass es den Crystal Ridern nicht gestattet war.

Ich wusste, mein Vater hätte sich ein normales Leben für mich gewünscht, auch meine Mutter, aber das war nun Vergangenheit und ich war jemand, der in der Zeit stecken geblieben war. Sie lief an mir vorbei und hatte keine Bedeutung für mich, denn ich würde für immer neunzehn bleiben.

„Crystal?“, hörte ich eine leise Stimme und öffnete meine Augen. War ich eingeschlafen?

Ich suchte nach Jet, denn ich wusste, es war seine Stimme. In der Dunkelheit konnte ich die Umrisse seines Körpers wahrnehmen. Er saß auf meiner Bettkante und ich drückte mich sofort hoch, damit ich meine Arme um ihn legen konnte.

„Ich habe Moon gefragt, ob sie heute Nacht bei Amber schlafen könnte“, flüsterte er und legte seine Hand an meinen Hinterkopf.

„Sie hat einfach ja gesagt? Sie kommen doch gerade nicht so gut miteinander aus“, entgegnete ich leise und sah ihn an.

„Zuerst hat sie auch gezögert, aber sie meinte, dass sie will, dass es dir besser geht und deswegen hat sie damit kein Problem“, erklärte er und ich erkannte ein kleines Lächeln.

„Aber du hast doch heute auch Nachtwache“ murmelte ich und zog die Brauen zusammen.

„Ich habe Jade gefragt, ob Granite für mich einspringen könnte“, sagte er und ich runzelte die Stirn.

„Danke“, brachte ich nur noch raus, denn wieder überkamen mich die Tränen und mein Kopf sank auf Jets Schulter. „Es tut mir leid, dass ich so bin.“
 

Sad Anime OST – Yuukimaru's Theme
 

„Entschuldige dich nicht dafür, denn ich liebe dich so wie du bist“, sagte er bestimmt und das brachte mich nur noch mehr zum Weinen.

„Noch nie konnte ich so was zurückhalten …“

„Das sollst du doch auch nicht“, sagte Jet und nahm mein Gesicht in seine Hände. „Willst du mir nicht sagen, was dir gerade solche Sorgen bereitet?“

Ich blinzelte nur die Tränen weg und wusste nicht, was ich sagen sollte, doch dann überlegte ich genau und seufzte.

„Ich habe einfach nur wieder an meine Mutter denken müssen, genauso an meinen Vater und … dass du ihn nie kennen lernen wirst, zumindest nicht so, wie es hätte sein sollen“, sagte ich rau und traute mich nicht, in seine Augen zu schauen, weil ich Angst vor seiner Reaktion hatte, warum wusste ich selber nicht.

Langsam beugte er sich zu mir und legte seine Lippen auf meine.

Ich griff nach seinen Handgelenken, spürte den Puls und hielt ihn nur noch fester. Ich spürte noch eine Träne, die sich ihren Weg aus meinem Augenwinkel suchte und hinabfloss.

Jet wollte seine Hände langsam zu meinem Hals gleiten lassen, doch stockte er und zog sie zurück. Ich wusste, woran er dachte.

„Ist schon okay, das war nur vorhin“, meinte ich, als er mich entschuldigend anschaute. Dann legte ich jedoch meine Hände an seinen Arm und zog ihn ganz zu mir ins Bett, damit ich mich an ihn kuscheln konnte.
 

Thousand Foot Krutch – So far Gone
 

„Also bleibst du die ganze Nacht bei mir?“, fragte ich schüchtern und legte meinen Kopf auf seine Schulter und schaute zu ihm auf.

„Ich werde dich nicht allein lassen“, flüsterte er, legte seinen Arm um meine Schulter, gab mir einen Kuss auf den Kopf und legte sich mit mir hin. „Niemals.“

„Wie geht es dir eigentlich?“, fragte ich nach ein paar Sekunden und legte nur meine Hand auf seine Brust. Sein Herz schlug so schnell…

„Ganz gut, wieso fragst du?“, entgegnete er und strich gedankenverloren über meine Schläfe.

„Weil du in den letzten Tagen so müde aussiehst“, meinte ich und schloss meine Augen.

Kurz schwieg er und seine Finger stoppten an meinem Kinn, doch dann holte er langsam Luft.

„Die letzten Monate habe ich noch nicht gut verdauen können“, murmelte er rau und mir schossen augenblicklich die Bilder durch den Kopf, wie ich Jets Erinnerungen gesehen hatte, wie er Menschen hatte töten müssen. Seine angsterfüllten Augen hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt, wie er mir in Ketten gelegt dabei hatte zusehen müssen, wie ich gefoltert worden war. Der Schmerz war für mich nicht das Schlimme, aber dass er es mitansehen hatte müssen, das war für mich nicht zu ertragen.

Ich schluckte und verstand nun seine Verfassung und begriff, warum er diesen Albtraum gehabt hatte.

„Ich auch nicht“, flüsterte ich und drückte mich enger an ihn, im selben Moment drehte er sich zu mir und legte beide Arme um mich, dann küsste er meine Stirn.

„Nie wieder wird so was passieren“, sagte er beruhigend und ich neigte meinen Kopf so, dass ich in seine Augen schauen konnte. Meine fingen wieder an zu brennen und ich spürte die erste Träne ins Kopfkissen fließen.

„Solange du bei mir bist, fühle ich mich sicher“, meinte ich und lächelte schwach.

Mir wurde klar, dass dieses Glück, welches Jet und ich teilten, mehr als wertvoll war und dass ich alles dafür tun würde, es zu beschützen. Aber auch er würde niemals Kinder haben können, niemals heiraten können, genauso wie ich und doch … wollte ich bei ihm sein. Bei niemand anderem. Ich wollte nie wieder ohne ihn sein, denn er gab mir das, was ich mir immer gewünscht hatte. Sicherheit. Akzeptanz. Liebe. Er machte mich glücklich.

In meiner kleinen Welt voller Unglück.
 

Mark Petrie – Reach for the Stars
 

Der nächste Tag verging leider viel zu schnell, denn durch das Kirschblütenfest, waren wir erst spät ins Bett gekommen und hatten auch dementsprechend bis zum Nachmittag geschlafen.

Aber wir taten auch nicht viel mehr, als etwas zu essen oder an die frische Luft zu gehen, da auch die Stimmung zwischen Moon und Amber noch immer gedrückt war. Sie kam nur, sobald sie wach geworden war, so schnell wie möglich wieder in unser Zimmer und sprang unter die Dusche.

Amber hatte sich zwar gefreut, dass sie bei ihm geschlafen hatte, doch konnte ich mir gut vorstellen wie die Atmosphäre gewesen sein musste. Sie hatte sich bestimmt nur in Jets Bett gelegt und kein Wort zu Amber gesagt. Ich hatte die kleine Hoffnung, dass sie eventuell einknicken würde und wir wieder das alte Duo zu Gesicht bekamen, was sie einmal dargestellt hatten.
 

Nachdem Jet sich von mir verabschiedet hatte, ging ich wieder ins Bett, auch wenn ich noch hellwach war, aber morgen war wieder Unterricht und ich wollte nicht halb schlafend auf der Tischplatte hängen.

„Tut mir noch mal leid wegen gestern und … dass du dann bei Amber schlafen musstest“, murmelte ich in die Decke hinein, als Moon mit der Zahnbürste im Mund einmal quer durch das Zimmer lief und ihre Wäsche in den Wäschekorb schmiss.

„Entschuldige dich dafür nicht“, nuschelte sie und zwinkerte, dann ging sie schnell wieder ins Bad und wie es sich anhörte, spülte sie gerade ihren Mund aus und kam gleich darauf zu mir.

„Dir ging es gestern nicht gut und du brauchtest Jet“, lächelte sie und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

„Du bist eine so tolle Freundin, weißt du das?“, sagte ich leise und spürte, wie meine Wangen rot wurden, doch erkannte ich den gleichen Rotschimmer auf ihren, als ich das ausgesprochen hatte. Dann grinste sie übers ganze Gesicht.

„Du auch, Crystal!“ Ihre Augen gingen zum Fenster.

Die Sonne war zwar schon untergegangen, doch schimmerte der ganze Himmel noch orange-rötlich und spendete uns seichtes Licht.

„Ich bin so müde“, gähnte Moon ausgelassen und steckte mich damit an. „Wir sollten beide schlafen, du siehst auch schon wieder ziemlich fertig aus.“ Sie zeigte auf mich, lächelte und schmiss sich auf ihr Bett.

Ich lachte nur leise und beugte mich zu meiner kleinen Tischlampe und schaltete sie aus.

Auch wenn ich mich eben noch gefühlt hatte, als würde ich Bäume ausreißen können, so hatte Moon doch Recht, denn ich war plötzlich müde.
 

NieR Gestalt & Replicant – Ashes of Dreams / Aratanaru
 

„Ich möchte, dass du dir eines merkst, Crystal; es wird immer wieder Dinge in dieser Welt geben, die dir Angst machen, die dich abschrecken und zurückweichen lassen. Aber du darfst niemals vergessen, dass alles, was dir Angst macht, nicht schlecht sein muss. Oft verbirgt sich hinter dem abstoßenden Äußeren nur ein sehr einsames Wesen.“
 

„Solltest du mal nicht wissen wie es weitergehen soll, dann nimm deine kleine Eule in die Hand, schließe die Augen und lasse deiner Phantasie freien Lauf. Du wirst schon den richtigen Weg finden“, sagt er ruhig und stellt die Holzfigur auf mein Nachttisch.

„Das ist doch deine“, sage ich überrascht und schaue zu ihm auf.

„Ich habe sie für dich gemacht“, lächelt er und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut, mein kleiner Kristall.“

„Gute Nacht, Daddy!“, lächle ich und kuschele mich in meine Bettdecke, dann geht er raus und schaltet das Licht aus.
 

„Crystal … dein Vater … er ist tot …“, weint sie und umklammert meine Hand. Ich realisiere es nicht, kann sie nur anstarren, doch mein Körper reagiert. Stille Tränen fließen an meinem Gesicht entlang und es brennt so sehr, als hätte ich meine Augen jahrelang nicht mehr bewegt.

„Ein Rider hat ihn uns genommen!“, zischt sie und sieht weinend zu mir auf.
 

Ich schreckte hoch und atmete schwer. Mein Gesicht war nass und das war die Bestätigung, dass ich geweint hatte. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch bahnten sich immer mehr Schluchzer den Weg aus meiner Kehle und ich ließ einfach mein Gesicht in meine Hände fallen.

Immer wieder holte ich tief Luft und versuchte, ruhig zu atmen bis es mir gelang mich unter Kontrolle zu bekommen.

Meine Augen schweiften durch den Raum, aber ich erkannte so gut wie gar nichts. Die Gardinen waren aufgezogen und ich sah den Sternenhimmel, aber kein Mond war zu erkennen, das erklärte die Finsternis.

Ich stand auf und machte ein kleines Licht an. Das erste, was mir auffiel war, dass Moon nicht in ihrem Bett lag und im Badezimmer konnte sie auch nicht sein, da die Tür offen stand.

Ich seufzte bloß und wollte an die frische Luft, deswegen zog ich mir eine dünne Jacke über und suchte nach meinen Schuhen.

Als ich die Tür dann öffnete, trat ich in eine kleine Wasserpfütze im Flur und zuckte zurück. Mein Blick wanderte zum Boden und ich erkannte, dass sich eine ganze Spur den Flur entlang zog und verwirrt folgte ich ihr.

Nach einigen Gängen erreichte ich eine Wand, wo die Wasserspur endete. Es war ein unscheinbarer, kleiner Seitengang, der mir vorher nicht einmal aufgefallen war. Konnte es sein, dass…?

Ich ging auf die Wand zu und tastete sie impulsiv ab, bis sich tatsächlich ein Stein verschieben ließ und eine Tür öffnete. Dahinter führte eine Treppe in die Tiefe und ich setzte mich ungewollt in Bewegung. Es war eine Art Kellergewölbe. Ich hätte mich wahrscheinlich verlaufen, doch die Wasserspur setzte sich hier fort und ich folgte ihr bis zu einer weiteren Tür, wo sie erneut endete. Ich hörte dahinter eine Stimme, die mir bekannt vorkam … es war Amber.

Ich klopfte zaghaft an, doch reagierte er nicht und plauderte einfach weiter vor sich hin, aber was genau konnte ich leider nicht raus hören.

„Amber?“, fragte ich und wagte es, die Türklinke runterzudrücken und öffnete die Tür.

„Crystal?“, fragte er überrascht und ich sah ihn auf einem Stuhl sitzen.

Dann konnte ich ganz in den Raum schauen und riss meine Augen erschrocken auf.

Ein Wassertank stand an der Wand, und darin war … ich wusste nicht, wie ich das anders beschreiben sollte … Ein Fischschwanz, glänzend violett, schlängelte sich im Wasser. Hellblonde Haare waren um den Kopf des Wesens verteilt und schwammen seidig im Wasser. Die Augen wirkten so tierisch, einfach nicht normal, das ganze Wesen war nicht normal. Die Haut war schwammig und doch sah sie glatt aus. Eine Meerjungfrau? Oder eine Wassernixe? Ich konnte mich nicht regen, denn sie war auf eine ganz merkwürdige Art und Weise erschreckend und jagte mir eine Spur von Angst ein.

„Ich … ähm …“, stammelte ich nur und drehte mich dann bloß um und lief davon.

Wellenförmige Tränen

Amber – Wellenförmige Tränen
 

Pandora Hearts – Lacie's Melody
 

Ich habe panische Angst, denn ich bin alleine und ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich kann mir nicht helfen und anderen noch weniger, ich habe es nie gelernt. Sie hat mir immer geholfen und nun kann sie es nicht mehr. Sie ist nun jemand der Hilfe braucht, aber wie kann ich sie beschützen? Wie soll das funktionieren?

Weinend sitzt sie auf dem Stuhl und macht sich ganz klein. Schaut nicht zu mir und auch nicht zu Jade.

„Violet“, flüstere ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt zusammen und schaut erschrocken zu mir.

„Du willst mich nicht so sehen!“, zischt sie und versteckt wieder ihr Gesicht. „Du wirst genauso vor mir zurückschrecken!“

„Das werde ich nicht“, versuche ich sie zu beruhigen, doch sie schlägt meine Hand beiseite.

„Du weißt nicht, wie ich aussehen werde! Jeder hatte Angst vor mir und …“, sie stockt und ihr Blick gleitet zum Wassertank, den Jade bereitgestellt hat. Bis jetzt hat sie kein Wort dazu geäußert.

„Es ist so weit“, murmelt Violet und steht wie ein Roboter auf, geht auf das Wasser zu und klettert einfach hinein. Sie taucht unter und schließt die Augen, dann erkenne ich bloß, wie sie ihre Beine an ihren Körper zieht und sie sich praktisch verformen.

Ich blinzele überrascht und weiche einen Schritt zurück. Ihre Kleidung reißt und ihre Haut verändert sich, es sieht nun aus wie die Haut eines Fisches, dennoch fehlen die Schuppen.

Ihre Beine sind einem Fischschwanz gewichen, der violett schimmert. Zwischen ihren Fingern haben sich Schwimmhäute gebildet und damit greift sie an ihre nackten Schultern.

Dann öffnet sie die Augen und schaut zu mir. Doch ich erkenne sie nicht mehr und starre das Wesen erschrocken an.
 

Fairy Tail – Hisou
 

Crystals Augen weiteten sich und sie schritt langsam zurück.

„Bitte, bleib ganz ruhig“, flüsterte ich und stand langsam auf, doch sie drehte sich weg und lief davon. Meine Augen glitten kurz zurück in das Zimmer, doch dann lief ich Crystal hinterher.

„Warte doch!“, rief ich und hörte nur ihre hallenden Schritte im Kellergewölbe. Aber als ich um die Ecke bog, erreichte ich sie endlich, bevor sie die Treppe rauf zum Wohntrakt laufen konnte. Ich griff nach ihrem Handgelenk und sie drehte sich erschrocken um.

„Lass mich bitte!“, rief sie und wollte mir ihre Hand entreißen, doch ich schüttelte nur den Kopf und sah sie ernst an.

„Lass es mich bitte erklären, Crystal“, drängte ich und sie lehnte sich schützend an die Wand, trotzdem ließ ich ihren Arm nicht los.

„Was war das?“, fragte sie zittrig und kniff leicht die Augen zusammen. Ich seufzte und wagte mich zu etwas, was ich eigentlich nicht hätte tun dürfen.

„Das war Moon“, sprach ich es endlich aus und sie schnappte nach Luft, ihre Augen wirkten auf einmal so glasig.

„Das war nicht Moon, w-was redest du da?“

„Doch, sie war es“, sprach ich auf sie ein und trat einen Schritt näher. Crystal drückte sich weiter an die Wand und machte sich kleiner.

„Sie hatte solche Angst, dir davon zu erzählen, weil sie glaubte, dass du sie dann hassen könntest“, erzählte ich, aber Crystal schüttelte nur leicht den Kopf, doch sah mir weiterhin in die Augen.

Plötzlich sah ich ein Bild vor mir, wie Moon sich in diese Wassernixe verwandelte und mich ängstlich ansah. Ich setzte mich jedoch auf einen Stuhl, neben dem Wassertank und erzählte ihr so viel ich konnte. Die Erinnerungen an alle Neumondnächte kamen hoch und ich hörte mich immer wieder selber reden, manches Mal hatte Moon sich nur ihre Hände auf die Ohren gelegt, weil ich ihr ziemlichen Quatsch erzählt hatte. Aber das brachte sie immerhin zum Lachen.

Ich blinzelte nur und trat einen Schritt zurück. Crystals Augen flimmerten und sie schien ebenfalls überrascht zu sein, denn ich wusste, sie hatte die Bilder auch gesehen.

„Der Nachteil ihrer Gabe ist, dass sie sich immer in einer Neumondnacht in eine Wassernixe verwandelt und … im Wasser sein muss. Sie kann nicht sprechen und deswegen bin ich dann immer bei ihr“, erklärte ich weiter und hoffte auf eine Reaktion von Crystal.

Sie seufzte und senkte ihren Blick, dann legte sie beide Hände langsam an ihre Arme und holte tief Luft.
 

Wolfs Rain – Friends
 

„B-Bringst du … mich zu ihr?“, fragte sie zaghaft und schaute wieder zu mir. Ich blinzelte verwundert und doch musste ich lächeln, denn für einen kurzen Augenblick dachte ich, sie würde genauso reagieren wie alle anderen.

„Sie ist ein Monster! Wie kannst du nur mit so was zusammen leben?!“

Des Öfteren hatte ich solche Sätze gegen den Kopf geschmissen bekommen, aber mich interessierte es nicht, denn Violet war meine beste Freundin, sie war meine Familie.

„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte ich dennoch nach, ich wollte es nämlich nicht riskieren, dass Crystal dann doch schreiend weglief, während Moon nur dabei zusehen konnte.

„Ja, also … es ist schon merkwürdig, aber ich … immerhin ist es Moon und sie kann doch selbst nichts dafür“, murmelte sie und ich erkannte, wie sich ihre Mundwinkel leicht nach oben zogen. Ich hatte ein breites Grinsen im Gesicht und wünschte mir einfach nur in diesem Moment, dass alle so reagiert hätten, dass alle gesagt hätten, Moon könne nichts dafür. Denn bisher hatte ihr jeder nur die Schuld dafür gegeben.

„Schaffst du das? Du siehst ziemlich blass aus“, murmelte ich und gleich darauf wurde ihr Gesicht noch eine Spur heller, was mich zum Kichern brachte. „Tut mir leid.“

Crystal senkte nur ihren Kopf und schüttelte ihn, doch hörte ich auch von ihr ein leises Lachen und dann gingen wir langsam wieder zurück.

„Ich habe ihr versprochen, immer bei ihr zu sein und mit ihr zu reden, weil sie das gleiche für mich getan hat, als ich nicht sprechen konnte“, erzählte ich noch, bevor wir ankamen und sie nickte angespannt.

Langsam öffnete ich wieder die Tür und ließ Crystal vorgehen.
 

John Dreamer – True Strengh
 

Als Moon sah, dass Crystal mit mir hereinkam, legte sie sofort die Hände auf ihr Gesicht und drehte sich um. Ihre blonden Haare folgten langsam und seidig der Bewegung und ich konnte nicht beschreiben, wie schön sie selbst in dieser Gestalt war.

Crystal stockte und ich hörte, wie sie Luft holte. Ich schloss wieder die Tür und stellte mich zu ihr. Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und sie zuckte kurz zusammen, dann wanderten ihre Augen zu mir. Ich lächelte ihr aufmunternd zu und nickte, damit sie sich einen Ruck gab und das tat sie dann auch.

Sie schaute wieder nach vorne und ging näher an den Wassertank heran.

„Moon?“, fragte sie und legte ihren Kopf etwas schräg, um sie ansehen zu können, doch Moon verkrampfte noch mehr und ich sah wie ihre Schultern leicht zitterten. Sie schüttelte den Kopf und rührte sich dann nicht mehr.

Crystal verschränkte die Finger ineinander und musterte Moon eine Weile, bevor sie es zögerlich, aber trotzdem aufrichtig aussprach. „Du … siehst so … schön aus.“

Moons Kopf fuhr abrupt hoch und sie hielt die Hände vor ihre Brust. Langsam drehte sie sich im Wasser wieder zu uns und ihre Augen waren auf Crystal gerichtet.

Sie schwamm vorsichtig auf das Glas zu, legte eine Hand daran und Crystal kam näher, dann legte sie ebenfalls ihre Hand dorthin, wo Moons war und ich wusste, wäre sie jetzt nicht im Wasser gewesen, dann hätte sie geweint.

Langsam erkannte ich dann, wie ihr Gesicht wieder menschlichere Züge bekam und blinzelte.

„Ist es schon wieder Morgen?“, fragte ich leise und Crystal trat einen Schritt zurück. Moon schloss ihre Augen und machte eine schnelle Bewegung mit ihrem Schwanz Richtung Leiter. Ihre Schwimmhäute bildeten sich zurück und ihr Schwanz verformte sich zu ihren Beinen. Schließlich bekamen ihre Haare wieder die schwarzen Strähnen und ihr Gesicht entsprach wieder ihrem menschlichen Aussehen. Sie hatte keine Kleidung an und es war wahnsinnig kalt hier, deswegen schnappte ich mir sofort den Bademantel, als sie aus dem Tank kam und legte ihn ihr um, kaum dass sie aus dem Tank geklettert war.

Sie zitterte, ich rieb ihre Schultern wie schon so oft und lächelte sie an. Sie erwiderte es, doch dann drehte sie sich zu Crystal und es verschwand.

Es war nicht gut zu erkennen, da sie nass war, aber Tränen flossen aus ihren Augen und sie ging auf Crystal zu. Ihre Hände hatten sich in den Bademantel gekrallt.

„Du verabscheust mich nicht?“, fragte Moon brüchig und ich konnte erkennen, wie sie in sie zusammensank und heftiger zitterte, diesmal nicht wegen der Kälte.

Crystal kam ihr entgegen und nahm sie in den Arm, auch sie hatte Tränen in den Augen. „Ganz und gar nicht.“
 

Pandora Hearts - Lacie Melody 2 - Piano Music
 

„Leander! Bitte lauf nicht vor mir weg!“, schluchzt sie und ich sehe sie an.

„Warum sollte ich?“, entgegne ich und lächle.

„Weil ich ein Monster bin!“, schimpft sie und versteckt ihr Gesicht vor mir, doch ich gehe nur auf sie zu und nehme sie in den Arm. Selbst wenn sie sich immer verwandeln sollte, es ist mir egal. Sie ist meine beste Freundin, meine Violet.

„Egal, was passiert, ich werde immer bei dir sein, in jeder Neumondnacht und werde mit dir sprechen. Genauso wie du immer mit mir geredet hast, weißt du noch?“, frage ich und schaue zu ihr hinab, sie lächelt.

„Natürlich wird kein Mitschüler von mir etwas erfahren, wenn du das nicht willst“, höre ich Jade sagen und zusammen drehen wir uns zu ihr.

„Ich habe hier einen unbenutzten Raum neben einem der Mädchenzimmer und dort werde ich für dich einen Wassertank aufbauen, damit du die Nächte deiner Verwandlung dort in Ruhe verbringen kannst, Moon. Selbstverständlich werde ich dir auch keine Mitbewohnerin zuteilen, wenn du es nicht selber wünschst“, erklärt sie und Violet schaut sie mit großen Augen an.

„I-Ich danke Euch“, flüstert sie und wischt sich die Tränen aus den Augen.

Ebbe und Flut

Moon – Ebbe und Flut
 

Two Steps From Hell – Down
 

Das Zirkuszelt ist der Himmel und ich bin die Sternschnuppe. Ich falle, falle, leuchte, blinke, ziehe Funken durch den Raum und dann… glühe ich aus.
 

„Violet, kommst du runter zum Essen?“ Ich antworte nicht, krampfe mich nur noch weiter zusammen und unterdrücke einen weiteren Schrei.

„Violet?“, ruft meine Mutter schließlich nochmals, dann höre ich ihre Schritte auf der Treppe.

„Komm nicht rein!“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hält inne, doch dann öffnet sich die Tür und ich vergrabe hastig das Gesicht auf den Knien.

„Schätzchen… was ist denn los? Du zitterst!“

„Mom…“, wimmere ich durch meine Hände und den Stoff meiner Hose. „Mom, ich…“ Sie setzt sich neben mich auf den Boden und legt ihre Hände auf meine Schultern.

„Ist es wieder das Wasser? Soll ich Doktor Rift anrufen?“

„Nein, es… ist nicht…“ Mein Schrei entflieht, ich kann ihn nicht festhalten, denn es tut so weh. So unfassbar weh!

„Violet!“ Ich falle auf die Seite, krümme mich zusammen und versuche mit aller Kraft, die nächsten Laute zu ersticken, aber es ist nicht möglich. Etwas sticht in meinen Ohren – es klingt wie das reißende Stürzen eines Wasserfalls. Woher kommt das? Warum macht es mich so krank und zerrt an meinen Nerven?

„Oh mein Gott, was ist los?“ Das ist Dads Stimme, aber ich weiß nicht, ob sie von der Tür kommt oder ob er auch schon neben mir kniet. Alles kreist um mich herum und wie durch einen Knopfdruck in meinem Nacken, reiße ich die Augen auf und sehe dabei zu, wie meine Eltern erschrocken vor mir zurückweichen.

„Oh nein…“, haucht meine Mutter, presst sich die Hände auf den Mund und bricht in Tränen aus. Dad ist gefasster, aber auch er tritt zurück, sieht starr auf mich herab. Ich öffne den Mund zu einem Flehen. Es kommt kein Ton.

„Sie wurde infiziert…!“, stößt Dad bitter hervor, zieht die Finger zu Fäusten zusammen, aber wendet den Blick nicht von mir ab.

„Mom, Dad…“, schluchze ich. Der Schmerz hat nachgelassen. Jedoch ist bereits ein neuer an seine Stelle getreten – die Verachtung meiner eigenen Eltern. Ungewollt muss ich an Leander denken. Ob er mich jetzt genauso angesehen hätte?

„Es ist egal“, wirft meine Mutter auf einmal heftig in den Raum und Dad und ich fahren zusammen. Sie kommt unbeholfen auf mich zu getaumelt, sinkt neben mir zu Boden und schließt mich in ihre bebenden Arme. Ihre Tränen fallen in mein Haar. „Du bist immer noch meine Tochter, Violet… egal, wie du aussiehst. Ich werde dich immer lieben!“

„Ich auch“, flüstert Dad plötzlich ebenfalls und seine starken Arme umfangen mich und Mom. Ich lehne mich gegen sie und kann gar nicht begreifen, dass das wirklich ist. So oft habe ich schon von den Crystal Ridern gehört, wie sie von ihrer Familie verstoßen wurden, ausgesperrt, von heute auf morgen ungeliebt.

„Und was sollen wir tun?“, fragt Mom, als wir uns wieder lösen. Mein Vater spannt den Kiefer an.

„Du gehst morgen nicht zur Schule, Violet und verlässt nicht das Haus. Ein guter Freund von mir arbeitet bei der Polizei – über ihn werde ich an Kontaktlinsen für dich kommen. Und sobald wir sie haben, verlassen wir die Staaten.“

„Ist das nicht zu riskant?“, gibt meine Mutter ängstlich zu bedenken, während sie mich an ihre Seite drückt. Ich fühle mich ausgebrannt, realisiere ihre Worte kaum, aber etwas beginnt in mir zu flimmern… etwas, jemand…

„Es ist der einzige Ausweg. Violet?“ Ich blicke langsam zu ihm auf und kann erkennen, dass ihn meine strahlenden Augen verunsichern, trotzdem gibt er sich mit dem Lächeln alle Mühe. „Sei unbesorgt… Dir wird nichts geschehen.“

Und ich glaube ihm. Jedes Wort. Ich glaube der Umarmung meiner Mutter und jeder ihrer Tränen. Ich bin mir ihnen beiden so sicher. Ich hätte es niemals tun sollen.

„Was ist mit Lea…?“, stelle ich da heiser die Frage, die vorhin in mir zu brodeln begann. Aber Dad senkt nur die Augen und seufzt.

„Du wirst ihn nicht wiedersehen können.“
 

PMD 2 Explorers of Sky – In the Hands of Fate
 

Ich schwebe nicht, ich falle. Ich tanze nicht, ich werde hin und hergerissen. Ich bin nicht umgeben von Menschen, ich bin allein. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Monster.

Ich lebe nicht, ich bin tot.
 

Es vergehen nur zwei Tage.

Wie abgemacht, bin ich nicht aus dem Haus gegangen und obwohl ich so viele Nachrichten von Leander auf meinem Handy vorfand, habe ich auf keine geantwortet. Sondern sie immer nur wieder aufgerufen und durchgelesen, bis mir darunter die Augen zufielen. Es ist schrecklich, ihn nicht um mich zu haben und noch schrecklicher, zu wissen, dass ich es nie wieder haben werde. Ich bin nicht fähig, abzuwägen, was ihm weniger wehtun wird. Es glatt und schnell abzuschließen, mich nicht mehr zu melden und seine Nummer zu löschen – selbst, wenn ich sie ohnehin im Schlaf aufsagen kann – oder ob ich ihm die Sache erklären sollte. Dann wüsste er es und käme sich nicht verraten vor, aber… ich kann ihm so nicht unter die Augen treten. Ich kann es einfach nicht.

Es ist stockfinster in meinem Zimmer, da wir Neumond haben, aber ich wage es nicht, das Licht anzumachen, obwohl ich sicher bin, dass ich heute Nacht keinen Schlaf finden werde.

Langsam lasse ich die Hände in meine blonden Haare gleiten. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte oder wenn mich der Virus doch nur nicht getroffen hätte. Ich spüre, wie sich Tränen aus meinen Augenwinkeln stehlen und wische sie fahrig fort. Doch als die Tropfen auf meine Finger treffen, zischt es unvermittelt und ich reiße den Kopf hoch, um einen Blick darauf werfen zu können.

Dort, wo mich die Flüssigkeit berührt hat, ist meine Haut leicht gräulich geworden und hat eine Art Bienenwabenmuster. Verwirrt streiche ich mit der anderen Hand darüber. Es fühlt sich ölig und kühl an. Wie Fischhaut.

Und dann geht es los.
 

Circus Monster Instrumental [Piano/Classical Version]
 

Mir bleibt die Luft weg und das Blut, das in meinen Ohren rauscht, wird lauter und lauter. Und schriller, sodass es sich nicht mehr wie Blut anhört, sondern wie ein unbändiger Wasserstrom. Wasser… Ja, ich brauche Wasser!

Irgendwie gelingt es mir, mich aufzurappeln und zur Tür zu stolpern, die ich hektisch aufzerre. Kurz darauf wanke ich durch den dunklen Flur, taste mich blind an den Wänden lang bis zur Badezimmertür.

Inzwischen ist der Schmerz in meiner Brust unerträglich. So als hätte jemand meine Organe durch Lavaklumpen ersetzt, die mich schmelzen werden, wenn ich nichts unternehme. Keuchend stoße ich gegen den Badewannenrand, taste nach dem Hahn und drehe ihn voll auf, dann sacke ich in mich zusammen, drücke mich mit dem Rücken gegen die Wanne und ringe um Atem. Es ist zu dunkel, um Genaueres auszumachen, aber ich spüre, wie auch der Rest meiner Haut jenem Panzer weicht und nach einer Weile kommt noch ein grauenhaftes Ziehen in den Sehnen meiner Beine dazu. Als würden sie in die Länge gezogen werden, bis zum Zerreißen gespannt. Als das Wasser hinter mir überläuft, drehe ich mich hustend um und strecke eine zitternde Hand nach dem Hahn aus. Ich rutsche ab und die Rundung des Metalls schneidet in die Haut zwischen meinen Fingern.

Zwischen… meinen Fingern…?

Der Schrei tritt nur nicht aus, weil mir dafür der Sauerstoff fehlt. Mit aller Kraft greife ich noch einmal nach vorn und dieses Mal kann ich den Hahn zudrehen, dann hieve ich meinen seltsam schweren und steifen Körper am Rand hinauf und breche seitwärts durch die Wasseroberfläche. Augenblicklich verlöschen die Höllenqualen in meinem Inneren und ich bekomme wieder Luft – unter Wasser.

Zuerst liege ich nur da, warte, bis ich sicher sein kann, dass alle Schmerzen ausradiert sind, die Hitze sich beruhigt hat und fahre schließlich mit den Händen an meinen Hüften entlang. Statt Beinen, wie sie dort hätten sein müssen, erfühle ich einen glitschigen, runden Körper. Und wenn ich die Füße bewege, platscht es, so als würde sich eine Flosse durch das Nass winden…

Das kann doch nicht wirklich…

„Violet?“, höre ich Moms Stimme hinter der Tür.

Komm nicht näher, will ich sagen, aber es wird vom Wasser geschluckt. Es kostet mich einiges an Anstrengung, da mein ganzer Körper bebt, aber ich stütze eine Hand auf dem Wannenrand ab und hebe mich halb hinaus.

Die Tür steht längst offen. Das Licht ist angeschaltet. Und der Gesichtsausdruck meiner Mutter ist wie eine Ohrfeige.

In der nächsten Sekunde schreit sie auf, ihre furchtverzogenen Augen füllen sich mit Glanz, ihre Hände fingern nervös am Türschloss. Sie rupft den Schlüssel heraus, knallt die Tür zu und dann höre ich, wie sie abschließt. Ich will etwas sagen, ihr nachrufen, sie anbetteln, es versuchen, zu erklären, irgendwas… aber meine Stimmbänder artikulieren nicht mehr. Das Einzige, was seinen Weg hinaus findet, ist ein hohes, ohrenbetäubendes Fauchen. Wie Sirenengesang…

Mein Körper kann es nicht mehr, aber alles in mir weint. Alles zerbricht. Ist das meine Gabe? Diese Gestalt? Bin ich dazu verdammt, ein Monster zu sein?

Denn nichts anderes sehe ich im Spiegel, in dem mich, nun da das Licht an ist, erkennen kann. Tiefblassblaue Augen ohne Pupille oder ein Leuchten. Das sind Fischaugen. Das zwischen meinen Fingern sind Schwimmhäute. Das anstelle meiner Beine ist eine Flosse. Und das über meiner Haut ist ein Schuppenkleid.

Sind Meerjungfrauen in der Mythologie nicht wunderschön? Hat man sich die Geschichten nicht all die Jahre hindurch so erzählt?

Ich sinke mit dem Kopf in meine Arme und schluchze in jenen fremden Tönen, die sich wie das klägliche Heulen einer kaputten Mundharmonika anhören.

Das Wesen im Spiegel ist weder schön, noch mystisch. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Horrorgestalt. Dann sind die Gerüchte also doch wahr und der Virus ist ein Dämon, der die Seele des Menschen frisst und ihn in eine Ausgeburt der Hölle verwandelt.

Ich muss eine ganze Weile nur so dagelegen und vor mich hin gewimmert haben, denn als unten im Haus eine Zahl von fremden Stimmen erklingt, ist es am Horizont schon ein wenig heller geworden.

Das Schloss öffnet sich klickend und dann steht mein Vater im Rahmen. Seine Züge sind angespannt, aber ansonsten ist er beherrscht und durchgedrückt, sogar als er mich sieht. Hinter ihm stehen ein paar Männer in Anzügen, die mich schief beäugen. Wie ein Stück Fleisch auf dem Verkaufstresen. Panik rinnt in meine Glieder.

Was hat das zu bedeuten? Was wollen diese Männer hier?

„Nehmt sie mit“, meint mein Vater leise und weist auf mich, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Dad, will ich flehen, aber wieder dringt nur der schrille Ton aus meiner Kehle. Die Anzugträger kommen ins Bad, packen mich an den Armen und am Schwanz und schleifen mich halb aus der Wanne, weil ich wie von Sinnen um mich schlage. Aber es ist vergebens, sie sind zu fünft und nicht gerade schwach.

Dad!, versuche ich es noch einmal, aber er steht nur da, während sie mich an ihm vorbeiziehen. Er schaut mich nicht an. Er lässt zu, dass sie mich mitnehmen. Nein, falsch, er wollte es so – er hat sie hierher bestellt.

Die Wut und die Traurigkeit, die ich darüber empfinde, ist zu viel. Meine Gegenwehr erschlafft, gleichmütig lasse ich mich von den Männern die Treppe hinunterzerren, dann durch die Haustür, in den Innenraum eines großen Vans. Er ist mit einem kleinen Becken ausgelegt, das Wasser reicht mir nur bis zu den Ohren, so wie ich auf dem Rücken liege, aber es genügt, um meinen Körper zu besänftigen.

„Oho, das ist sie also!”, pfeift jemand von einem der Fahrerplätze aus. Im Augenwinkel erkenne ich einen großen, gefährlich aussehenden Mann. Ich weiß nicht, wieso er auf mich bedrohlich wirkt, denn er trägt nur schlichte, graue Kleidung und ist nicht gerade muskulös, eher schmächtig, wenn nicht dürr. Aber das sichelmondförmige Lächeln auf seinen Lippen lässt mich schaudern.

„Der Name ist Violet Bonham“, erklärt einer der Männer, die mich reingetragen haben und setzt sich neben den Mann auf den Beifahrersitz. Die anderen verteilen sich rings um mein Becken auf dem Boden. „Neunzehn.“

„Du wirst uns viel Geld einbringen, kleine Violet“, grinst er und ich presse die Augen zu. „Du wirst die Hauptattraktion in unserer Manege sein – das einzigartige Zirkusmonster.“

Der Wagen startet und die dünne Wasserschicht klatscht um meine Schultern.

Alle Gedanken sind taub und weiß. Und jedes Gefühl wurde abgeschaltet, um mich davor zu bewahren, jetzt durchzudrehen. Ich kann nur flüsternd leise die Angst vernehmen, die sich von Rand zu Rand meiner Nerven hangelt. Sie muss groß sein, denn sie ist überall. Genauso wie die Verzweiflung.

Jetzt ist es zu spät. Ich kann nicht mehr abwägen, was besser für Leander ist. Denn es ist wahr; ich werde ihn nie wiedersehen. Nicht so. Nicht in dieser Gestalt.

So darf er mich nicht sehen.

Niemals.
 

Und eine jede Sternschnuppe, die sich so magisch am Horizont entlang zog, wird zu Asche, wenn die Zeit zu Ende geht. Das weiße Sternenlicht verblasst und es bleibt nichts zurück, nicht einmal die Illusion von Stärke. Entstehe neu, um erneut zu fallen, kleiner Stern. Zerstöre dich selbst, aufs Neue, aufs Neue, aufs Neue… Verbrenne in deiner eigenen Wut.

Und vergiss nicht, dabei zu lachen.
 

Florian Bur - Thank You
 

„Deshalb warst du in der einen Neumondnacht nicht in deinem Bett“, realisierte Crystal, ich nickte und wickelte mich enger in den Bademantel, den Amber mir umgelegt hatte. Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben. All die Zeit war ich davon ausgegangen, dass niemand mich in dieser Gestalt akzeptieren würde – oder mich gar als schön bezeichnete. Außer Crystal… und Amber. Eine weitere Flut von Tränen benetzte meinen Wangen und ich lachte.

„Aber wieso habe ich in deinen Erinnerungen nichts davon gesehen?“, fragte sie verwirrt und meine Hände in ihren verkrampften leicht bei dem Gedanken daran.

„Ich habe sie ausgesperrt“, antwortete ich schließlich und sah hinüber zu Amber, der den Arm um meine Schulter gelegt hatte. Hatte ich so viel Güte überhaupt verdient? Solche Freunde? „Ich muss mich gezwungenermaßen einmal im Monat verwandeln, aber den Rest der Zeit, ist es, als gäbe es diese Gestalt nicht. Sie anzunehmen macht mir selbst solche Angst, dass ich…“ Ich brach ab, weil die Tränen mir die Stimmbänder einschnitten.

„Dass du sie sogar vergessen hast“, beendete Amber für mich. Seine Stimme war sehr rau, aber es klang nicht niedergeschlagen. Es klang erlöst, fast glücklich. So als wäre er derjenige, dessen Geheimnis gerade ans Licht gekommen war. Hatte er wirklich so mit mir mitgelitten? Nach all den Monaten, die er nun schon Nacht für Nacht neben mir gesessen und mir beigestanden hatte, musste es so sein…

„Aber wieso musst dich überhaupt verwandeln?“, stutzte Crystal nach einer Weile. „Hat Jade etwas dazu gesagt?“ Ich seufzte mit einem Blick auf ihre Handgelenke, hinter denen ich das Blut fließen hören konnte, wenn ich mich darauf konzentrierte.

„Sie hat mir erklärt, dass Gaben manchmal besonders mächtig sind. Das passiert, wenn der Rider schon als Mensch eine starke Affinität zu einer Sache besaß – bei mir war es Wasser.“ In Gedanken ging ich zurück zu jener Zeit unter Behandlung. Wie meine Eltern mich von einem Psychologen zum nächsten geschickt hatten. Und keiner hatte eine Lösung finden können. „Ich hatte immer das Gefühl, auszutrocknen, darum bin ich ständig mit Wasser in Kontakt geblieben. Das fanden andere natürlich seltsam und schlossen mich aus – außer Amber.“ Er lächelte, als ich es aussprach und irritierenderweise spürte ich, wie meine Wangen dabei anfingen, zu glühen. Hastig fuhr ich fort. „Meine Gabe ist sehr weitgreifend. Jede Flüssigkeit, in der sich Wasser befindet, gehorcht mir. Selbst Lebewesen kann ich lenken und zum Ausgleich für so eine große Kraft… zieht mich die Ebbe einmal mit sich ins Meer und kontrolliert mich. Bei Vollmond bin ich dafür am stärksten.“

Crystal sah mich geradeheraus an und mehr noch als die vielen Worte, die sie mir damit überreichte, Worte, die sie nicht formulieren konnte, war die Tatsache, dass sie mir in die Augen sah, ein unermesslich großes Geschenk. Denn das tat Crystal nur bei Menschen, denen sie vollkommen vertraute. Ich wollte gerade noch etwas sagen, als wie bestellt, die Tür aufgestoßen wurde. Wir zuckten simultan zusammen.

„Wieso hab ich das kommen sehen?“, flüsterte Amber dann und zog eine Augenbraue hoch.

„Was…?“, konnte Jet nur hervorbringen, als er wie üblich viel zu schnell für einen Normalsterblichen alle Fragmente, die der Raum hergab, gescannt und aufgenommen hatte.

„Also, die Sache ist die…“, fing Amber, sich unschlüssig am Kopf kratzend, an, aber ich unterbrach ihn, indem ich aufstand und auf Jet zuging. Er blickte ruhig auf mich herab und auf einmal hatte unsere erste Begegnung vor Augen und wie Amber mir zuvor von seiner Gabe erzählt hatte. Und wie er es so sorgsam vermieden hatte, mir in die Augen zu sehen. Damals schon hatte ich es gewusst und im Kopf ausgesprochen. Denn auch seine kühle, abwehrende Art hatte es nicht verbergen können.

Dieser Junge hat tausendmal mehr Angst davor, andere zu verletzen, als selbst verletzt zu werden.

Und da begriff ich, dass auch er mein Freund war. Dass er es verstehen würde, dass sogar die Möglichkeit bestand, dass er nicht vor meiner zweiten Gestalt zurückschrecken würde. Grinsend drehte ich mich halb zu Amber und Crystal um und wies zur Tür.

„Lasst uns ein paar Chips und Cola aus der Kantine stibitzen und in Crystals und mein Zimmer gehen – ich glaube, wir müssen Jet ein paar Dinge erklären.“

Und als Genannter dabei den Kopf schief legte, jedoch auch leicht lächeln musste, wusste ich… ich war nicht mehr auf mich allein gestellt. Ich saß nicht mehr im Käfig.

Und ich durfte ohne Angst weinen.
 

To the Moon OST – Moongazer
 

Das Bild, das sich mir am nächsten Morgen bot, war eine der merkwürdigsten und doch berührendsten Aufnahmen, die ich je aufgefangen hatte.

Ich lag zwar auf dem Fußboden, war aber warm und gemütlich in meiner Bettdecke eingerollt und mein Rücken lehnte an Ambers Brust. Er hatte beide Arme um mich gelegt, der untere musste entweder abgestorben sein oder war nun vermutlich taub bis in alle Ewigkeit, aber trotzdem döste er friedlich vor sich hin, das Kinn und die Lippen in meinen Haaren vergraben. Er hatte mich tatsächlich in die Decken gehüllt und selbst nichts davon für sich beansprucht, sondern sich nur hinter mich gelegt, um mich noch zusätzlich warm zu halten…

Ich seufzte mit einem gerührten Lächeln.

„Idiot…“ Als ich wieder nach vorn sah, erkannte ich Crystal und Jet. Sie lagen kaum einen ganzen Meter von uns entfernt, ebenfalls auf dem Boden. Waren wir etwa alle so eng beieinander eingeschlafen? Mrs. Capella hätte uns wahrscheinlich ihren Schülerrinnen zum Fraß vorgeworfen, wenn sie davon Wind bekommen hätte.

Ich regte mich, um herauszufinden, wie fest Amber mich hielt und ob es vonnöten war, ihn zu wecken, um freizukommen, als mir auffiel, dass Crystals Finger mit meinen verschränkt waren. Jet hatte sie zwar gänzlich in Beschlag genommen – es hatte was von einem Koalabär, der sein Baby an sich drückte – aber ihr rechter Arm lag ausgestreckt über dem Boden, ebenso wie meiner. Bei dem Anblick kamen mir wieder die Tränen, aber nur aus ungläubiger Freude heraus. Vorsichtig löste ich mich aus ihrem Griff, schälte mich ebenso bedachtsam aus Ambers Umarmung und stand auf.

Das Zimmer war ein Saustall – quer über die Dielen lagen leere Chipstüten, Überreste von Schokolade und Brezeln und angefangene oder zerquetschte Coladosen verteilt. Ich hob nur eine Augenbraue, schüttelte den Kopf und tappte ins Bad, um zu duschen.

Ich zog die Tür bloß ran, denn kaum war ich eingetreten, zog der Spiegel meinen Blick auf sich. Das gewohnte Gesicht. Da war keine Fischhaut, keine lichtfremden Augen, kein lippenloser Mund. Schritt für Schritt kam ich dem Spiegel näher und fuhr mir mit den Fingern gedankenverloren durchs Haar. Um mich düsterer zu machen, verruchter und damit auch älter, hatten sie mir damals im Zirkus die Haare gefärbt. Ich hatte alles versucht, aber die Farbe ließ sich nicht vollständig auswaschen – das lag daran, dass es so kurz nach meiner Verwandlung in einen Rider geschehen war, ein paar Strähnen waren in ihrer Zeit eingefroren. Nur wenn ich mich wandelte, kam meine reine, natürliche Haarfarbe wieder hervor.
 

Yuna – Mermaid
 

Ein weiteres Mal seufzend, streifte ich die alten Sachen ab und schleuderte sie in den Wäschekorb, dann wusch ich die verfilzten Stellen heraus, die Kälte von den Gliedern, die Gedanken aus dem Kopf. Es war befremdlich, das konnte ich nicht leugnen. So lange hatte ich mich mit diesem Geheimnis herumgedrückt und nun wussten sie es alle drei – und keiner von ihnen verurteilte mich. Jet hatte sich zugebenermaßen schwer getan, es zu glauben, aber seine letztendlichen Worte hallten noch immer tief in mir wieder.

Erlaube diesen Menschen nicht, dich zu etwas zu machen, was du nicht bist.

Das Schluchzen kam so unversehens, dass mir schwindlig wurde. Ich drehte eilig das Wasser ab, wrang mein Haar aus und verließ die Duschkabine. Obwohl sie es mir erschwerten, mich abzutrocknen und die frischen Klamotten anzuziehen, ließ ich zu, dass die Tränen sich anstauten und auch fielen. Mit einer Handbewegung dirigierte ich die Nässe aus meinen Haaren, dass sie wie geföhnt über meine Schultern glitten und beobachtete aufmerksam, wie sie dann im Abfluss verschwand.

Mir fiel gar nicht auf, dass ich die Hände auf dem Beckenrand abstützte und mich vornüber beugte, sodass mein Kopf zwischen den Schultern versank, bis sich hinter mir plötzlich die Tür öffnete.

„Violet?“, fragte Amber zaghaft, was in völligem Kontrast dazu stand, dass er wie selbstverständlich reinkam und die Tür wieder schloss. Unbewusst verlor ich mich kurzzeitig im Anblick seiner widerspenstigen Haare und dem leicht verschlafenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Seit wann war er so groß? Seit wann so muskulös? Wenn ich in seine Augen sah, die schon immer bernsteinfarben gewesen waren, blickte mir doch immer noch der kleine, von Angst erfüllte Junge entgegen… oder nicht?

„Mir geht’s gut“, beeilte ich mich zu sagen, indem ich die Tränen fortwischte und mich von ihm wegdrehte, damit es sie nicht sah, obgleich es dafür längst zu spät war. „Das ist nur alles… ein bisschen zu viel.“ Warum ich dann anfing, zu lachen, konnte ich mir auch nicht erklären. Amber hob unentschieden eine Hand, aber ich winkte ab. Doch dann kam mir ein Gedanke, zwirbelte sich hinunter in meine Stimmbänder und lenkte ihre Bewegungen.

„Ich hab mich nie wirklich bei dir bedankt.“

„Wofür denn?“, fragte er leise und wieder mit dieser ungewohnten Rauheit. Oder war sie mir nur niemals so stark aufgefallen?

„Für alles“, schniefte ich ungewollt und zog mit einem plötzlichen Hicksen die Nase hoch. Hicksen… das hatte ich früher oft gehabt, wenn ich als Kind besonders heftig hatte weinen müssen. Amber schien sich auch daran zu erinnern, denn er kam prompt näher. „Dass du immer für mich da warst, dass du mich getröstet hast… dass du mich aus dem Zirkus gerettet hast. Ich… werde das nie begleichen können.“

„Unsinn“, flüsterte er und zog mich so unvermittelt an seine Brust, dass mein Hicksen erschütternder wurde. „Freundschaft ist doch kein Tauschgeschäft, Violet. Und selbst wenn, du hättest dasselbe für mich getan. Du hast es getan.“

Seine Worte drangen zu mir durch, verursachten, dass ich wieder lachen musste, noch mehr weinen und noch mehr hicksen, aber alles, woran ich denken konnte, war, dass er so warm war. Dass seine Haut nach Sonnenlicht und Bienenwachs roch und doch anders. Dass sein Herz so schnell schlug wie ein Presslufthammer.

Wann war aus jenem Jungen dieser Mann geworden? Wann waren seine Schultern und Arme so kräftig geworden, dass ich mir in ihrer Mitte so zierlich, fast zerbrechlich vorkam? Wann war er erwachsen geworden? Und wann war ich es?

Und auf einmal stand mir wieder jener Nachmittag vor Augen, an dem mich Crystals Gabe getroffen hatte. Wie ich aufgewacht war und direkt in Ambers Gesicht geblickt hatte und dann…
 

„Ich hatte solche Angst, weil…“ Er ringt mit sich und ich mache mich steif, als wüsste ich bereits, was jetzt kommt, „…weil…ich dich liebe, Moon.“ Ich sinke etwas tiefer in die Kissen und balle die Hände so fest zu Fäusten, dass das Laken zwischen meinen Fingern quietscht.

„Das ist ein schlechter Scherz, oder?“, höre ich mich ausstoßen, ohne ihn anzusehen. Ihm tritt nur ein verwirrter Ausdruck auf die Züge. Verwirrt und tief verletzt. „Das kannst du nicht ernst meinen.“

„Und wie ich es ernst meine!“, wirft er mir heftig entgegen. „Ich dachte, ich verliere dich! Denkst du da wirklich, ich würde dir das nur aus Spaß erzählen?!“

„Das ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass die Gefühle einseitig sind“, erwidere ich tonlos und wage es immer noch nicht, ihn anzusehen. Und das scheint ihm noch viel mehr zuzusetzen als mein reservierter Tonfall. „Für mich bist du nur ein Freund.“

Es ist kaum ausgesprochen, da springt er schon wieder auf die Beine und flüchtet aus dem Krankenzimmer. Gerade als er die Tür aufreißt, erscheint Jade dahinter und schaut ihm irritiert hinterher, als er sich an ihr vorbeischiebt und davonläuft.

Sie ist taktvoll genug, mir keine Fragen zu stellen und dafür bin ich mehr als dankbar. Denn es ist schwer genug, die Worte in meinem Kopf zu sortieren.

Ich scheitere wie so oft an meiner eigenen verqueren Denkweise. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann ist, dass ich Jets Arme mit meiner Gabe aufgerissen habe und wäre er nicht dort gewesen, um sie zu beschützen, hätte sie sogar Crystal getroffen. Ich habe Crystal angegriffen… ich wollte sie verletzen!

Jade legt ihre Hand auf meine Schulter, woraufhin ich den Blick hebe, welcher in Tränen steht. Amber kann mich nicht lieben, das ist absurd – so jemanden wie mich sollte niemand lieben. Ich tue allen nur weh.
 

Bevor mein eigener Verstand mich mit all diesen Fragen überwältigen konnte, löste ich mich von Amber, rieb mir fahrig über die Augen und ging an ihm vorbei zur Tür.

„Also… danke. Ich werde schon mal vor zur Mensa gehen. Weck Crystal und Jet, heute ist Unterricht…“ Ich konnte seinen Blick in meinem Nacken spüren, aber ihn zu erwidern, hätte bedeutet, auch das letzte Bisschen Selbstbeherrschung einzubüßen.

Was sollte ich nur tun? Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu zerplatzen. Darum wartete ich nicht auf seine Antwort, sondern verließ schnellen Schrittes das Bad, dann das Zimmer und hetzte durch die Korridore Richtung Mensa. Und versuchte dabei nur, meinen Herzschlag zu glätten, doch je häufiger ich es tat, desto beharrlicher hielt er dagegen. Fast als würde er sagen: Du kannst dich nicht mehr verstecken, Violet…
 

Silent Hill 4: The Room - Room Of Angel
 

Er ist für mich immer nur der Direktor, obwohl sein Name mehrmals am Tag fällt. Ich nenne ihn nur den Direktor, er ist identitätslos wie ein Schatten, ein Monster unterm Bett – nennst du es beim Namen, wird es Realität und nur darum bekämpft man es mit Namenlosigkeit.

Die Zeit ist bedeutungslos geworden, die Musik klingt in meinen Ohren nach und betäubt meinen Geist, wenn ich tanze und lache. Ich kann es vergessen und nachts kommen die Tränen, wenn sie kommen dürfen, aber bewegen mich nicht mehr.

Anfangs war ich verzweifelt, jede Minute aufs Neue, aber jetzt ist es wie ein Film, ein sich wiederholendes Zeitfenster. Und es geht an mir vorbei, obwohl ich die Hauptrolle darin spiele.

Crystal Rider lassen sich nicht so leicht unter Kontrolle halten – meine Gabe könnte sie alle in ihre Einzelteile zerlegen; die Clowns, die Akrobaten, die Dompteure und Feuerschlucker. Ich würde sie so leicht töten und von hier fliehen können, aber sie haben Ketten, die, wenn ich nicht gehorche, Magnetimpulse abgeben. Untragbarer Schmerz. Ich weiß nicht, woher der Direktor sie hat. Sein ganzes Milieu ist Schwarzmalerei. Ich und nahezu alles andere in der Manege ist illegal, aber die Leute, die kommen, schert das nicht. Sie wollen unterhalten werden und das geschieht, also sind sie zufrieden.

Die Ketten sind mit glitzernden Steinen besetzt, um beim Auftritt nicht aufzufallen. Und sie rufen mich Blue Hour. Blaue Stunde, eine Phase des Zwielichts, in der sich der Himmel so blau verschleiert, dass alles in ihrem Ton zu schlummern scheint – die Welt wird Eis. Mystisch und unerklärbar. Violet Bonham ist verschwunden.

Die Nächte kommen und gehen und schließlich ist es wieder einmal Neumond. Die schlimmste Zeit des Monats, denn da kann ich nicht abschalten, nicht unterdrücken. Da bin ich entblößt.

Sie schleifen mich aus dem Käfig, reißen mir die Kleider vom Leib, werfen mich in das riesige Aquarium, lange bevor die Verwandlung eintritt und die Leute kommen, um mich anzustarren. Dann kommt der Moment, wenn der Direktor auf seine Fernbedienung drückt und die Ketten an meinen Handgelenken reagieren. Dann soll ich die Leute anfauchen, kreischen, mich winden – ihnen Angst einjagen. Soll dabei zusehen, wie sie vor mir zurückweichen, „Monster“ schreien und mich auslachen. Ich bin seine Bestie und so soll ich mich verhalten. Wie eine aufgezogene Marionette im Glaskasten.

Aber irgendwann ist auch die Nacht vorbei. Sie holen mich aus dem Tank, werfen mich zurück in die Zelle und mir die Klamotten vor die Füße. Der Käfig ist draußen und ich bin nass bis auf die Haut, aber was spielt das für eine Rolle? Crystal Rider können sich nicht erkälten, nicht sterben. Aber sie können frieren.

Sie können innerlich verenden.

In dieser Nacht fällt es mir schwer, mich zusammenzureißen. Mit bebenden Schultern, bebend unter Schluchzern, zwänge ich meinen nassen Körper in die Kleidung und lehne mich gegen die Holzkiste in meinem Käfig. Dann ziehe ich die Knie an, lege die Arme darum und mache mich ganz klein, versuche zu vergessen und die Taubheit zurückzuerlangen. Aber es ist schwerer als sonst. Mir fehlt mein altes Leben so sehr. Mir fehlt unser kleines Haus in Manhatten, die Stimmen meiner Eltern, der Garten mit dem Teich, mir fehlen meine Bücher und CDs, die kaputten Stellen im Wohnzimmerteppich, das Geräusch des laufenden Fernsehers am Abend, das Knarzen in den Dielen – mir fehlt mein bester Freund.

„Wo bist du?“, bringe ich gebrochen hervor. „Wieso bist du nicht bei mir?!“ Das Hicksen schnürt mir den Atem ab, die Brust zu. Wenn ich doch nur sterben könnte! Ich kann das alles nicht mehr ertragen! Ich verliere den Verstand!

Ich bin so gefangen in meiner plötzlichen Verzweiflung, dass es einen Moment dauert, bis ich registriere, dass es heller geworden ist. Jemand hat den Vorhang, der über meinem Käfig liegt und ihn abdeckt, zur Seite gezogen. Es ist zu dunkel, um etwas Genaueres zu erkennen, erst als die Person den Vorhang vollständig heruntergezogen hat, kann ich ihn im dumpfen Schein der Laterne, die am Wohnwagen des Direktors hängt, erkennen.
 

Hachiko Original Soundtrack - Parker and Hachi
 

Es war noch zu früh, um in eine belebte Mensa einzutauchen. Die wenigen Rider an den Tischen waren Lehrer und hier und da vereinzelt ein paar Schüler mit Insomnia oder Mitternachtshunger. Das Buffet wurde noch aufgebaut, während schon der Duft von gebackenen Brötchen und frischem Obst durch die Atmosphäre schwirrte. Ich machte jedoch einen Bogen um das Kantinenfenster – für den Fall, dass Fayalite unsere kleine Bestanddezimierung schon bemerkt hatte – und ließ nur rasch einen Apfel vom halb fertigen Essenstisch mitgehen und wollte gerade auf unseren Stammtisch zuhalten, als mir drei wohl vertraute Gesichter auffielen.

„Hey, Moon!“, rief Maia mich da schon heran und ich lenkte vom Weg ab, um zu ihnen zu kommen. „Guten Morgen.“

„Morgen“, entgegnete ich verhalten, ließ mich neben Opal auf den freien Stuhl gleiten und nahm einen Bissen von meinem Apfel, um beschäftigt zu sein. Neben Opal und Maia war noch Ain. Ich wusste, dass die drei bereits ein eingespieltes Team waren, da Ain nicht ins Musterbespiel einer Perle passte; ebenso wenig wie Maia. Es hatte sich also eins zum anderen gefunden.

„Wie siehst du denn aus?“, bemerkte Opal auf einmal. Ich kaute unnötig lang auf – aus irgendeinem Grund wollte mein Magen nichts aufnehmen. Gut möglich, dass es an den Tonnen von Süßkram lag, den wir heute Nacht in uns reingeschaufelt hatten, aber es kam mir eher so vor, als würde ein Orkan in meinem Bauch toben, der allen Platz für sich beanspruchte. Und merkwürdigerweise hatte ich bei dieser Erkenntnis wieder Ambers Gesicht vor Augen.

„Du bist knallrot“, ergänzte Maia stirnrunzelnd und Ain fing an, zu kichern, was ihm direkt einen bösen Blick von mir einbrachte.

„Ich hab nur schlecht geschlafen“, verteidigte ich mich, die Stimme so gut es eben ging in neutralem Tonus. „Was treibt euch denn schon so früh hierher?“ Ain verschränkte die Arme und lehnte sich ausgiebig gähnend in seinem Stuhl zurück. Ich wusste, dass seine Gabe Rhythmusgefühl war – darum zweckentfremdete ihn Mrs. Capella auch in jeder ihrer Tanzstunden mit den Neulingen – aber niemals hatte ich ihren Einfluss bemerkt. Jede Gabe konnte etwas bewirken, aber daneben hatte auch eine jede eine Aura. Und in dieser wogte der innerste Kern des Riders – es war, als wäre unsere Seele mit der Gabe zu einem außerkörperlichen Schutzring geworden. Ich musste Ain nur ansehen und schon nahm mein Herzschlag wieder seinen gängigen Takt an.

„Wir haben von Mrs. Capella eine besondere Form der Gruppenarbeit erhalten“, erklärte Maia und ich schüttelte den Kopf, denn die Gedanken um den Perlenjungen hatte mich ihre Anwesenheit ganz vergessen lassen. „Ains und meine Gabe greifen laut ihr wie Zahnräder ineinander und üben eine beruhigende Wirkung aus. Und das“ – sie beschrieb mit den Zeigefingern einen Kreis Richtung Opal – „sorgt dafür, dass Opal ihre Gabe besser unter Kontrolle bekommt.“

„Und dass wir so früh hier sind, liegt daran, dass Mrs. Capella sich den bisherigen Stand ansehen möchte“, murrte Opal, ihr Kopf lag schon auf der Tischplatte und sie schmatzte verschlafen. „Und das vor dem Frühstück, weil der frühe Vogel angeblich den Wurm fängt.“

„Und da kommt sie auch schon“, bemerkte Ain und erhob sich sofort. Streber.

„Vielleicht bis später, Moon“, sagte Maia noch und tätschelte mir die Schulter. Auch ihre Gabe umwehte sie wie eine zweite Haut. Mein Herz schlug wieder schneller.

„Mhm, viel Spaß euch dreien“, rief ich ihnen nach und stand ebenfalls auf, um für Amber, Crystal, Jet und mich Frühstück zu besorgen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie auftauchen würden.

Doch ich stockte, als ich nach einer Müslischale griff. Betrachtete sie eingehend, wog sie in der Hand und verstand gar nicht, was ich da tat und dass es nur ein Vorwand meines Körpers war, um die Erinnerungen wachzurütteln.
 

Pandora Hearts - Lacie Piano & Orchestra
 

„Was ist eigentlich dein Lieblingsessen, Lea?“, lache ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um an das obere Schubfach ranzukommen. Ich bin dafür leider immer noch zu klein.

„D-Du… wirst… la-lachen…“, meint er bloß, zieht einen Flunsch und verschränkt die Arme vor der Brust, wie er es oft tut. Diese Geste gibt ihm immer etwas Trotziges, aber gleichzeitig wirkt er fest verankert. Ein Fels in der Brandung.

„Ich verspreche, ich werde nicht mal grinsen, wenn du es mir verrätst!“, gebe ich im Brustton der Überzeugung zurück und lege mir sogar eine Hand aufs Herz. Er hält noch eine Weile mit sich Zwiesprache, aber dann gibt er sich doch geschlagen, als mein Dackelblick zum Einsatz kommt.

„M-M-Müsli…“ Und leider muss ich doch lachen, woraufhin er mir die Finger in die Seiten rammt und ich aufkreischend nach einem Löffel greife, um ihn abzuwehren. Er tut dasselbe, bekommt aber nur einen Teelöffel zu fassen und als ihm das auffällt, wird aus dem überlegenden Grinsen ein enttäuschter Schmollmund, was mich noch mehr zum Lachen bringt.

„I-Ich… sag d-do-doch… dass du… lach-lachen wirst…“

„Aber nicht, weil ich mich über dich lustig mache“, lächle ich, lege den Esslöffel beiseite und versuche noch einmal, an das Schubfach heranzukommen. „Das ist der Grund, warum du mein bester Freund bist, Lea…“ Seufzend gebe ich den Kampf mit der Größe noch einmal auf und drehe mich ihm stattdessen ganz zu. „Du bist immer ehrlich. Selbst, wenn andere deine Meinung komisch finden.“

„D-Du doch auch…”, stutzt er mit einem Blick in meine Augen.

„Nein“, erwidere ich schwach lächelnd, verschränke hinter dem Rücken die Hände hintereinander und schaue zum Fenster hinüber, hinter dem die ersten Sonnenstrahlen zu sehen sind und den Himmel mit einem Hauch von Wärme durchziehen. „Ich lüge Mom und Dad so oft an, schon wegen Kleinigkeiten. Ich bin eine falsche Schlange.”

„Da-da-das st-st-stimmt doch… gar… n-nicht“, flüstert er, dann kommt er unvermittelt auf mich zu, bleibt neben mir stehen und streckt die Hand nach dem Schubkasten aus. Er ist größer als ich, trotzdem gelingt es auch ihm nicht, ihn zu erreichen. „Ich… g-glaube… dass Ehr-Ehrlich… k-keit… dass da-das nicht nur… W-W-Worte sind… D-Das sind… auch… Ta-Ta-Taten. Und d-du-du bist… auf-auf-aufrichtiger… als… je-jeder andere… Violet.“

Verwunderung streift meine Züge und ich spüre, wie meine Wangen rot werden, als ich Leander anschaue. Doch als er mich angrinst, steckt er mich sofort damit an.

„Komm, mach mir eine Räuberleiter“, schlage ich enthusiastisch vor und er tut es. Ich erreiche den Schubkasten und ziehe die schmale Packung heraus. „Jackpot!“ Ich klettere mit der Beute vorsichtig wieder nach unten und weise Leander an, sich mit mir auf den Boden zu setzen, nachdem wir uns die Schalen, die Löffel und die Milch vom Tisch genommen haben. Die Cornflakes sind voll mit Zucker, sagt Mom und darum hat sie sie vor uns versteckt, aber so leicht sind wir nicht auszutricksen.

„Also dann, Lea, auf dass wir immer ehrlich zueinander sind!“, verkünde ich feierlich, während ich ihm Milch einschenke und wir dann sogar mit den Schalen anstoßen. „Du kannst mir alles sagen. Jederzeit!“

„D-Du mir… auch…”, kichert er und nimmt zufrieden den ersten Löffel in den Mund. Und ich beobachte ihn nur und bin so dankbar, dass er da ist und dass er Müsli genauso gern mag wie ich. Und es sogar genauso isst wie ich.

Denn er ist der der beste Mensch auf Erden und wenn der beste Mensch auf Erden sein Müsli auf dieselbe Weise isst wie ich… wie viel schlechter kann ich dann sein?
 

Change by Tracy Chapman
 

„Moon?“

Die Schale glitt mir aus den Fingern und zerschellte mit einem lauten Knall auf dem Boden. Ich hatte Crystal nicht herankommen hören, sie hatte ganz leise und sanft gesprochen, aber ich war nicht darauf gefasst gewesen, war nicht im Hier gewesen…

„Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt und bückte sich mit mir, um die Scherben einzusammeln. „Ist es noch wegen gestern?“

„Nein.“ Ich zögerte, aber Crystal drängte mich nicht. Diskret senkte sie die Augen, lud die Scherben auf ihre Handfläche und wartete, bis ich aufstand, ehe sie es mir gleichtat. „Ich kann das alles zwar immer noch nicht ganz glauben, aber… das ist es nicht.“

„Was dann?“ Wir gingen hinüber zum Mülleimer, um die Bruchstücke zu entsorgen und eine der Küchenhilfen wedelte mit ihrem Besen zum Zeichen, dass sie sich um die Überreste kümmerte. Ich nickte ihr dankend zu.

„Wenn ich das wüsste…“, seufzte ich lediglich. Sie tat mir den Gefallen, nicht weiter nachzubohren, also stellten wir nur schweigend das Frühstück zusammen und trugen die Tabletts zum Tisch. Jet und Amber saßen wie Yin und Yang da, denn nur ersterer trug ordnungsgemäß seine Uniform, wohingegen letzterer es wie schon so häufig verplant hatte. Unwillkürlich schmunzelte ich und erschrak gleich darauf darüber. Was war nur los mit mir?

„Danke“, lächelte Jet, als Crystal ihm seinen Teil des Frühstücks zuschob und aus irgendeinem verrückten Grund, verkrampfte ich bei diesem Anblick. Sogar noch mehr, als Crystal sich daraufhin vorbeugte, um ihm einen Kuss zu geben, bevor sie sich setzte und Jet ein „Und dafür auch“ anhängte. Und dabei freute ich mich für die beiden. Das war es nicht… es hatte einen anderen Grund, warum es mich störte – nur welchen?

„Willst du gar nichts essen?“, fragte Amber und ich fuhr herum, vermied es allerdings, ihn anzusehen. Ich hatte das Tablett nur für ihn beladen und es ihm so hingestellt, dass es auch unmissverständlich für ihn vorgesehen war.

„Nein, ich… bin noch satt von letzter Nacht.”

„Wir haben es zum Glück auch gar nicht übertrieben“, lachte er mit einem Stoß gegen Jets Schulter, welcher sich demonstrativ räusperte. Plötzlich schien Amber ein Gedanke zu kommen, denn seine Züge fielen ab, ehe sein Grinsen in doppelter Ausfachung zurückkehrte und er Jet japsend den Ellenbogen gegen den Arm stieß. „Sag mal, Jet, du wirst nicht etwa einen Jetlag haben, oder?“ Crystal war die Einzige, die lachte, ob aus Höflichkeit oder Fremdschämen war nicht ersichtlich, derweil Jet und ich synchron eine Hand gegen die Stirn legten und seufzten.

„Und, hey, guck mal, wer da kommt!“, fuhr Amber noch beschwingter fort, als hätte er unsere Reaktionen gar nicht gesehen, „Opal Corsa, Maia-ey day und Ain-gel!“ Er kippte fast vom Stuhl vor Lachen und Jet warf mir einen Blick zu, als wollte er sagen: Kann man den irgendwo abschalten? Aber ich schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Du bist immer ehrlich. Selbst, wenn andere deine Meinung komisch finden.“

„Übrigens, Ain hat mal mit mir getanzt, als ich meine Gabe herausfinden sollte“, sagte Crystal unvermittelt, da sich Ambers Lachkrampf noch nicht gelöst hatte. Es war offensichtlich, dass sie versuchte, Jet eifersüchtig zu machen. Und es konnte ihr so gesehen auch niemand verübeln, hinsichtlich dessen, dass jedes Mal, wenn eine Perle oder auch eine normale Schülerin am Tisch vorbeikam, er mindestens eine Kusshand oder ein schwärmerisches Seufzen hinterhergeschmissen bekam. Allerdings musste ich kichern und Jet genauso, was Crystal irritierte, bis er mir mit der Erklärung zuvorkam.

„Ain ist schwul. Da müsste ich mir eher Sorgen um Amber machen.“

„Was?“, versetzte Erwähnter und hob den Kopf. Sein Lachanfall war abrupt erstorben.

„Oh“, hauchte Crystal bloß und widmete ihre Aufmerksamkeit eilig den Orangenscheiben auf ihrem Teller. „Dann verbirgt er das aber gut…“ Ich grinste.

„Perlen-Rider sind sehr feminin, darum ist Ain auch der einzige Junge in der Klasse. Was aber nicht heißt, dass Schwule automatisch Perlen sind.“

„Gibt es denn noch mehr auf dem Internat“, hakte Crystal, ernsthaft interessiert, nach und ich nickte.

„Selbstverständlich.“ Jet hob unwillkürlich den Kopf und sah sich mit gerunzelter Stirn um, was wir alle drei beobachteten, bis Amber die Augen verdrehte.

„Sei mal nicht so eingebildet“, schnappte er mit einem Bissen von seinem Brötchen.

„Wieso eingebildet?“, erwiderte er, ehrlich verwundert und Crystal und ich stießen infolge unseres Lachens mit den Köpfen gegeneinander, als es wie aus heiterem Himmel zum Unterricht klingelte.

„Dann mal los“, schnaufte ich und rieb mir den schmerzenden Kopf. „Bevor Amber sich noch dazu entschließt, diese Konversation mit einem Sprichwort zu krönen.“

„Du wirst noch dein blaues Wunder erleben, Moon“, rächte er sich nonchalant und schon war meine Haut, mein Haar, meine Kleidung, einfach alles in ein knalliges Neonblau abgerutscht, dass ich aussah wie ein überdimensionaler Schlumpf. Das brachte dann sogar Jet zum Lachen und Amber zuckte spitzbübisch die Schultern. „Hoppla.“

„Mach Klartisch, Amber“, grummelte ich und sah mit grimmiger Zufriedenheit dabei zu, wie er anfing, das Geschirr zusammenzustellen und ordentlich wegzuräumen, indes seine Miene von unterdrückter Mordlust sprach.

Und obwohl das alles so normal und alteingesessen wirkte, war ich mir nie sicherer, dass es das hinter den Kulissen nicht so war. Und ich wusste nicht, wieso.
 

Muss mit dir reden. Komm bitte nach Unterrichtsschluss ins Zimmer. Crystal

Ich drehte die Notiz verwundert in den Händen und steckte sie schließlich zurück in meine Hosentasche. Crystal hatte sie mir vorhin auf dem Flur untergejubelt, als sie sich auf den Weg zum Philosophiekurs gemacht hatte, die letzte Stunde für heute. Ich hatte gerade die Trainingseinheit hinter mich gebracht und tauschte die Uniform in der Umkleide gegen normale Klamotten. Hoffentlich ging es ihr gut. Wenn sie mich schon so fragte, anstatt direkt, dann konnte da nur etwas im Argen liegen.

So schnell es ging, stopfte ich meine Sachen in die Tasche und verließ die Sporthalle. Es war wieder ein bisschen wärmer geworden, weshalb ich mir auf halber Strecke die Jacke von den Schultern streifte. Ich war gerade dabei aus dem zweiten Ärmel zu schlüpfen, als ich das Zimmer erreichte, die Türklinke mit dem Ellenbogen runterdrückte und eintrat. Ich warf sie hinter mir mit dem Fuß zu, ließ die Tasche zu Boden plumpsen und sah erst dann auf. Und wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert.
 

To the Moon OST – Everything’s Alright
 

„Moon?”, stieß Amber verdattert hervor von seiner Position am Fenster aus. Die Jacke rutschte mit einem leisen Knistern herunter.

„Was machst du denn hier?“ Er räusperte sich und lenkte seine Augen von meiner nun entblößten Schulter zum Bett.

„Jet hat mich herbestellt und… Crystal dich, oder?“

„Diese…“, knirschte ich Augen verdrehend und schubste die Tasche beiseite. „Wir waren ihnen zu gute Lehrer, fürchte ich.“

„Ich glaube, ja“, lachte er und ich fiel augenblicklich ein. Aber als es wieder verklungen war, schwiegen wir – schwiegen, wie wir seit den letzten Tagen oft geschwiegen hatten. Nämlich betreten, unsicher und steif. So, dass man es kaum ertragen konnte. Es war seit er mir die Liebeserklärung gemacht hatte.

„Tja“, seufzte Amber schlussendlich angespannt, wippte leicht vor und zurück und hakte die Daumen in seine Hosentaschen. Die Jeans stand ihm, genauso wie das Kapuzenshirt. Seit wann sah er so gut aus? „Dann werde ich mal wieder…“ Wahrscheinlich hatte ich genickt, denn er tat es ebenfalls und wandte sich zum Gehen. Aber als er sich an mir vorbeischieben wollte, hielt ich ihn plötzlich fest. Ohne es entschieden zu haben.

„Warte“, flüsterte ich. Er machte ein paar Schritte rückwärts, bis er wieder vor mir stand und sah besorgt zu mir herab, aber ich wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern. Ob er mein Herz wohl hörte? Ich selbst konnte kaum etwas anderes vernehmen, so schnell und schallend pochte es. Was war hier nur los? Warum machte mich sein Geruch so wahnsinnig, dass ich am liebsten nach etwas getreten hätte, um mich zu beruhigen?

„Was ist wirklich los, Violet?“, fragte er so sanft, dass es wie eine Berührung war und eben diese brachte mich dann dazu, in Tränen auszubrechen.

„Das ist doch zum Verzweifeln hier!“, platzte es aus mir hervor. Ratlos hob ich die Hände und presste sie gegen die Schläfen, denn es fühlte sich an, als müsste mein Kopf zerspringen. „Ich versteh das nicht – seit dem Kirschblütenfest, seit jener Nacht, kann ich… ich kann… nicht…“

„Was?“, raunte Amber eindringlich, umfasste vorsichtig meine Handgelenke und ich erlaubte ihm, mir die Hände vom Gesicht zu ziehen. Erlaubte ihm auch, meine Schultern zu berühren, mir das Haar aus der Stirn zu streichen, meine Wange zu streifen…

„Ich kann nicht aufhören… an dich zu denken, du Mistkerl“, brachte ich nach einer weiteren Unendlichkeit von Sekunden hervor und lachte die Tränen aus den Augen und das Hicksen die Kehle hinauf. Ambers Augen flimmerten wie Windlichter. Wie schön das aussah. Wie wunderschön er war… Wieso war mir das nie aufgefallen? Dieses Gesicht, das ich schon so lange kannte und von dem ich glaubte, dass es mich nicht mehr überraschen würde können. Es raubte mir den Verstand.

Und da weinte auch er. Es waren nur zwei Tränen, die in seinen Augenwinkeln glitzerten und kaum waren sie gefallen, wischte er sie verlegen fort, lachte zittrig auf und seine Hand verkrallte sich genauso unruhig in meinem Top. Wann war sie zu meiner Taille gewandert?

„Willst du damit sagen, dass…?“, setzte er mit wackliger Stimme an und anstelle einer Antwort aus Worten, legte ich beide Hände an sein Gesicht, grub meine Finger in sein Haar und zog seine Lippen an meine.

Zuerst schien er es nicht glauben zu können – und war damit nicht der Einzige – aber als die Bedeutung meiner Gestik bei ihm angekommen war, schloss er die Arme so fest um meine Taille, dass ich in unseren Kuss keuchte, aber er hätte sogar noch fester zupacken können, ich hätte es willkommen geheißen. Kurz darauf drückte mein Rücken gegen die Tür.

„Hör bloß nicht damit auf“, knurrte ich, als wir uns kurz voneinander lösten, um zu Luft zu kommen.

„Niemals“, erwiderte er in gleicher Weise, küsste sich an meinem Kinn abwärts zum Schlüsselbein und schob dabei mein Top hoch. Ich stöhnte leise auf, als seine Hände über meine Rippen glitten. Unfassbar, aber wahr. Das Chaos in meinem Kopf hatte sich in Luft aufgelöst. All die Jahre hatte ich mit dem Gefühl gelebt, auszutrocknen, auch nach der Verwandlung und nur die Berührung des Wassers hatte diese Folter lindern können.

Und jetzt erfuhr ich, dass es noch etwas gab, das es vermochte; Ambers Berührungen, seine Küsse, sein Atem auf meiner Haut.

„Ich liebe dich doch auch, du Idiot…“
 

Poets of the Fall – Heal my Wounds
 

Zuerst halte ich es für einen Traum.

Oft genug habe ich mir ausgemalt, er würde plötzlich vor meinem Käfig stehen, um mich hier rauszuholen. Oft genug wurden meine Hoffnungen enttäuscht. Und so halte ich es auch jetzt nur für ein Hirngespinst, das meinem Wunschdenken entsprungen ist, um mich heimzusuchen. In den schlimmsten Momenten. Denn falsche Hoffnung ist noch grausamer, wenn man sie dringender denn je braucht.

Erschöpft lasse ich den Kopf zurück auf meine Arme fallen und die Tränen fließen.

„Violet…?“, fragt es von den Gitterstäben aus und ich schluchze so heftig auf, dass ich kurzzeitig glaube, zu ersticken. Ein erneutes Hicksen verbrennt mir die Atemwege. „Violet, ich bin es, Leander. Erkennst du mich denn nicht?“

„Geh einfach weg!“, kreische ich plötzlich, presse mir die Hände auf die Ohren und versuche, durch das Wüten meines Körpers hindurch, einen klaren Gedanken zu fassen. „Lass mich in Ruhe!“ Leander kann nicht reden, ohne zu stottern und das ist ein handfester Beweis dafür, dass ich nur wieder halluziniere. Kann es nicht einfach vorbei sein? Warum darf ich nicht vergessen? Warum muss ich immer noch leiden?

„Violet, bitte, hör mir zu…“, versucht die Wahnvorstellung es erneut, aber ich reagiere nicht. Irgendwann wird es verschwinden und dann kann ich vielleicht noch schlafen, bevor ich zurück in die Manege muss. Oder… liege ich schon längst in einem Albtraum?

„Na fein, dann eben anders…“, höre ich ihn murmeln, da mein Wimmern anfängt, auszuklingen. Jetzt sind meine Tränen fast wieder stumm, so wie all die Monate zuvor. „Die Gitterstäbe werden sich in Rauch auflösen.“

Was dann geschieht, kann ich mir nicht erklären. Die langen Schatten der Eisenstäbe, die sich über den Käfigboden und mich erstreckten, sind verschwunden und es riecht nach etwas Verbranntem. Irritiert hebe ich den Blick und erkenne Leanders Umrisse, die sich durch eine Schicht von graublauem Qualm bewegt und dann vor mir niederkniet.

„Das wird nicht lange halten, Violet, also komm!“ Ich begreife seine Worte nicht, noch, dass er vor mir steht, noch, dass die Käfigwände nicht länger zu existieren scheinen… Ich habe ja schon viele abstruse Träume gehabt, aber dieser steckt sie alle in die Tasche.

Als ich nicht reagiere, lässt Leander ergiebig die Luft entweichen, krabbelt neben mich und schiebt rasch beide Arme unter meinen Körper. Irgendein Teil von mir ist geistesgegenwärtig genug, ihm die Arme um den Hals zu legen, damit er es nicht ganz so schwer hat – aber wieso, wenn das doch nur eine Illusion ist? Ist es? Es fühlt sich erstaunlich real an…

„Wie dünn du bist…“, haucht er, jedoch eher an sich selbst gerichtet, während er mit mir im Arm aus dem Käfig klettert. Gerade noch rechtzeitig, denn da zieht sich der Rauch wieder zusammen und die Gitterstäbe kehren zurück.

Das ist alles nicht normal, aber… Leanders Geruch, seine warme Haut, seine Stimme und dieser Atemrhythmus – in keinem Traum zuvor habe das so intensiv wahrgenommen.

Er setzt mich vorsichtig ab, allerdings nur um mich dann direkt in die Arme zu schließen und so fest an seine Brust zu drücken, dass meine Füße für ein paar Sekunden in der Luft hängen.

„Oh Gott, ich dachte, du wärst tot, Violet… ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“ Dann zieht der Sturm in seiner Brust auf. Es bebt, tost, reißender Wind und knallender Regen. Und erst da, als dieses mir so vertraute Weinen an meinem Ohr rauscht, da wird mir klar, dass es kein Traum ist. Dass das wirklich passiert. Dass mein bester Freund tatsächlich vor mir steht.

Dass ich gerettet bin.

„Lea!“, hickse ich hervor, schlinge ihm die zittrigen Arme um den Körper und vergrabe mich so tief in seiner Umarmung wie ich nur kann. Es ist vorbei, ich bin kein Monster mehr. Ich bin wieder Violet – er hat sie mir zurückgebracht. Er hat mich ins Leben zurückgeholt.

„Was ist bloß passiert?“, keucht er, als wir uns wie abgesprochen voneinander lösen. „Auf einmal warst du verschwunden! Deine Eltern haben gesagt, du wärst abgehauen… Ich hab dich gesucht, aber…“

„Ich… hab mich verändert…“, flüstere ich, bevor er weitersprechen kann und suche zielstrebig Augenkontakt, damit er es versteht. Doch was ich sehe, stößt mich vor den Kopf.

„Ich mich auch…“, erwidert er sanft, streichelt behutsam meine Wange und seine bernsteinbraunen Augen leuchten irisierend auf. Er ist ebenfalls infiziert worden.

„Wann?“, kann ich lediglich hervorstoßen. Leander seufzt. Darin erahne ich, was er hinter sich hat. Sicher haben auch seine Eltern Panik bekommen und ihn rausgeworfen.

„Heute früh. Mom und Dad haben mich zu einem Internat gebracht – sie können uns dort helfen. Da sind wir in Sicherheit.“ Ich hole stockend Luft.

„Wirklich?“ Er drückt mich noch einmal an sich und ich kralle die Finger in seine weiche Jacke. Er trägt immer noch so flauschige Klamotten wie früher und ich hoffe, das wird sich nie ändern…

„Versprochen.“

Ich will gerade etwas antworten, als unweit von uns entfernt die Lichter angehen und Schritte näherkommen.

„Schnell, weg hier!“, zischt Leander, legt mir den Arm um die Schultern und will mich mit sich ziehen, aber da schießt mir der altvertraute Schmerz von den Handgelenken aus durch alle Sehnen und Muskel. Ein erstickter Schrei windet sich empor, bevor ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann.

„Violet!“

„Wo willst du denn hin, kleine Blue?“, flötet jemand und ein neuer Schock rast mir ins Blut.

„Was zum…?!“, keucht Leander, so wie ihm auffällt, dass die Glasperlen an meinen Handgelenken da sind, um die darunter liegenden Schellen zu verbergen. „Was ist das?“

„Magnetismus…!“, quält sich meine Stimme aus der Kehle und wieder drückt der Direktor auf die Fernbedienung. Ich sinke kraftlos gegen Leanders Schulter.

„Boss, sieh mal, das ist auch einer!“, ruft Graham, einer der Akrobaten, mit dem ich oft zusammen in der Show tanze. Einmal hat er auch versucht, mich zu vergewaltigen. Als hätte Leander das gespürt, drückt er mich beschützend an seine Seite.

„Fantastisch!“, raunt der Direktor und ich kann förmlich vor mir sehen, wie er die Hände aneinander reibt. „Ich habe sowieso nach einer neuen Attraktion gesucht! Schnappt sie!“

„Lauf weg!“, röchele ich so eindringlich wie möglich. „Na los, jetzt flieh endlich!“ Es sind zu viele – in einem Handgemenge würde Leander den Kürzeren ziehen und ich bin machtlos, ich kann ihn nicht beschützen. Aber allein hätte er eine Chance.

„Jetzt reicht’s!“, brüllt er unvermittelt, lässt mich los und stellt sich entschlossen vor mich. Ich will ihm zuschreien, aufstehen, ihm helfen, aber ich kann nicht. Alles schmerzt. „Ich lasse nicht zu, dass ihr sie auch nur noch einmal anfasst, ihr Schweine!“

„Und was willst du tun, Kleiner?“, lacht Graham. „Dir schlottern doch jetzt schon die Knie!“

„Lea!“, keuche ich voller Angst. Aber da dreht er sich zu mir um, lächelt, als wäre alles in Ordnung. Dieses wundersame Lächeln, das sagt „Alles wird gut“ und das ohne zu lügen. Denn Leander lügt nicht. Auch jetzt nicht.
 

Ivan Torrent - Remember Me (Feat. Roger Berruezo)
 

Es setzte etwas in ihm frei, dass ich es aussprach. Er hielt an meinem Hals inne und suchte meinen Blick. Seiner flackerte im Rausch der Emotionen. Rief wirklich ich das in ihm wach?

„Ich hatte Angst, weißt du“, flüsterte ich, legte meine Hand auf seine Wange und zog mich wieder zu ihm heran, um meine Stirn an seine zu legen. „Ich bin so unstet wie das Meer. Ich begreife mich selbst nicht. Aber ich wollte, dass du… nicht darunter leiden musst. Ich wollte, dass…“

„Violet“, unterbrach er mich rau, „du warst, du bist und du wirst für mich immer der wundervollste Mensch der Welt sein. So wie du bist, egal, in welcher Gestalt oder in welcher Stimmung. Ich liebe dich und hab nie etwas anderes getan.“ Seine Worte erreichten mich wie fallende Federn, schmolzen, durchflossen meine Venen. Ich konnte atmen, ich konnte mich bewegen, ohne das Gefühl, meine Haut würde in ihrer Trockenheit reißen. Die Flut nahm mich mit sich. Ich war zuhause. Endlich wieder zuhause…

„Okay“, sagte ich mit belegter Stimme, machte mich sehr achtsam, aber resolut von ihm los und schob ihn ein Stück von mir weg, was er mit tief gerunzelter Stirn durchgehen ließ. „Genug ist genug.“

„W-Was…?“, formte er mit den Lippen, ich hob kritisch eine Augenbraue und verschränkte ebenso missbilligend die Arme vor der Brust.

„Du kannst einer Frau doch nicht ernsthaft so was Romantisches sagen und dann einfach abwarten.“

„Was… meinst du damit?“ Ich holte tief Luft, stieß sie mit einem flinken, unverbindlichen Seufzer aus und drehte mich halb zur Tür, um den Schlüssel im Schloss herumzudrehen. Dann zwinkerte ich vielsagend.

„Runter mit den Klamotten.“

Und Macht seiner Gabe fielen ihm jäh alle Kleidungsstücke vom Körper wie bei einem Dominospiel. Das Grinsen kehrte auf mein Gesicht zurück und obwohl Ambers Wangen schon in Flammen zu stehen schienen, setzte ich noch einen drauf, in dem ich betont langsam abwärts sah.

„Und du hast ja wirklich einen Wachstumsschub hingelegt!“

„Violet!“, beschwerte er sich, errötete noch mehr und hielt sich rasch die Hände vor. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.

„Sorry, ich gebe zu, das war nicht fair, aber…“ Meine Haut kribbelte, als ich wieder an ihn herantrat. Jetzt, wo sein Oberkörper entblößt war, wurde ich der vielen Muskeln erst vollständig bewusst. Es war beinahe hypnotisierend, wie sie sich unter seiner Haut bewegten, wie das Blut dahinter floss, sein Herz an Tempo gewann. „Ich mach es wieder gut.“ Damit zog ich mein Top bis unter die Brust hoch, griff nach seinen Händen und legte sie auf beide Seiten meiner Taille. „Du bist dran, Lea.“

Und das musste ich ihm nicht zweimal sagen. Binnen Sekunden hatte er mir das Oberteil ausgezogen, dann den BH gelöst. Seine Hände ertasteten noch die Rundungen meiner Brüste, da hatten unsere Münder schon wieder zueinander gefunden. Hungrig, fast gierig, küssten wir einander. Ich war so berauscht, dass ich nur am Rande bemerkte, wie er mir die Hose und das darunter liegende auszog. Und dann fand ich mich auch schon auf seinen Armen wieder.

Er trug mich zum Bett hinüber, legte mich trotz seines Verlangens, das ich in seinen Küssen so stark spürte, das mich halb in den Wahnsinn trieb, ganz behutsam auf der Matratze ab und löste sich dann von mir, um mich anzusehen.

„Bist du dir sicher…?“, fragte er leise und küsste mein Handgelenk, dort, wo der Puls war. Ich drehte die Hand so, dass ich seine Wange berühren konnte, versank in seinen Augen und wünschte mir nichts mehr, als…

„Versprich mir vorher etwas.“

„Alles“, sagte er sofort, küsste meine Stirn und die übrig gebliebenen Tränen von meinem Kinn. Ich lächelte auf jene Art, auf die ich es niemals vor jemandem tat. Denn sie verriet, was ich wirklich fühlte. Das war mein wahres Lächeln. Mein wahres Gesicht.

„Lass mich nie wieder los…“

„Nie wieder“, bestätigte er, so intensiv, dass mir fast wieder die Tränen kamen. Leander log nie. Auch jetzt nicht.

„Danke…“ Darauf lächelte er nur noch und ich entspannte mich, zum Zeichen, dass er sich nicht mehr zurückhalten musste. Sacht neigte er sich wieder vor, legte seine Lippen auf meine und drückte mich ein wenig tiefer in die Kissen. Mein Körper erzitterte und die Welt wurde leiser, wurde weicher und mit jedem seiner schnellen Herzschläge wärmer. Er beugte sich über mich, Haut traf auf Haut und unsere Hände verschränkten sich ineinander, krallten sich fester, als es geschah, ließen nicht los, würden es niemals wieder tun.

Und plötzlich erinnerte ich mich an etwas, das Jade einmal zu mir gesagt hatte.

Der Mond scheint nicht von sich aus. Es ist die Sonne, die hinter ihm schwebt und ihn zum Erstrahlen bringt. Aber seine Durchsichtigkeit ist kein Zeichen seiner Schwäche, sondern seiner bedingungslosen Güte.
 

MythFox - Time To Come
 

„Lachhaft“, lässt Graham selbstgefällig fallen und macht einen Schritt auf Leander zu. „Was soll eine halbe Portion wie du schon für eine Gabe haben? Ich dachte immer, der Virus sucht sich nur außergewöhnliche Menschen aus.“

„Dir fällt doch bestimmt das ein oder andere Sprichwort ein, oder?“, versetzt er und vergrößert seinen Ausfallschritt. Graham zieht misstrauisch die Brauen hoch, hält jedoch weiterhin auf meinen besten Freund zu. Ich will ihm erneut zurufen, aber ein jedes Wort geht in seiner Stimme unter, die so klar und fessellos ist wie ich es mir nie habe vorstellen können. Und er wahrscheinlich ebenso wenig.

„Jetzt halt mal die Luft an, Junge“, sagt er gelassen und Graham kommt lediglich noch dazu, den Mund zu öffnen, holt dann jedoch tief Atem und hält ihn an. Konfus lasse ich die Augen zwischen ihm und Leander hin und herschnellen. Genauso wie alle anderen auch.

„Was zum…?!“, grollt der Direktor, aber Leander hält die Hand hoch, als wollte er ihn beruhigen.

„Ihr spielt hier grad nur die zweite Geige.“ Und wie aus dem Nichts hat der Direktor eine alte, schäbige Violine in der Hand und fängt an, die Unterstimme irgendeines bekannten Opernstücks zu spielen; und dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass er das Instrument überhaupt beherrscht.

„Und ihr da hinten macht jetzt auch ‘nen Abflug“, fährt er neckisch fort, mit einem Fingerzeig auf die Artisten hinter dem Direktor, woraufhin sie gesammelt davongeweht werden, so schnell, dass es für Momente so aussieht, als würden sie fliegen. „Ach und nur zur Sicherheit, würde ich euch beide bitten, für eine Weile die Klappe zu halten.“ Das richtet er wieder an Graham und den Direktor, die sich gerade von der Geige und der Atemlosigkeit befreien konnten. Aber schon stürzen sie simultan auf den Wohnwagen zu und umklammern in vollstem Einverständnis die hintere Ladeklappe. Jedenfalls in vollstem Einverständnis ihrer Körper.

„Was ist das für eine Hexerei?!“, wütet der Direktor und Graham knurrt lediglich, als ihm klar wird, dass er seine Hand nicht lösen kann.

„Dein Ende, du Ratte“, gibt Leander schonungslos zurück und obwohl der Direktor etwas zu erwidern versucht, kann er es nicht mehr, denn seine Zähne sind zu Nagetierbeißern geworden, seine Ohren doppelt so groß und rund und hinter seinem Rücken ragt ein ziemlich hässlicher Rattenschwanz hervor. Bei diesem Anblick muss ich unwillkürlich lachen. Da erklingen unerwartet Sirenen in der Ferne.

„Die Bullen?!”, brüllt Graham, während der Direktor nur seltsam aufquiekt.

„Ein kleiner, anonymer Hinweis“, meint Leander schulterzuckend, dann macht er einen Schritt auf die beiden zu und pflückt die Fernbedienung vom Boden auf, die dem Direktor aus der Hand fiel, als die Geige erschien. Leander dreht den Kasten kurz in den Händen, dann holt er unvermittelt aus und zieht Graham damit gekonnt eins über. Stöhnend sackt er in sich zusammen.

„Das war für meine Freundin“, zischt er, dreht sich nach links und verpasst auch dem Direktor einen saftigen Kopfschlag, der ihn Sterne sehen lässt. Anschließend wirft er seinen bewusstlosen Körper auf den Rücken und tastet ihn ab, bis er den Schlüsselbund findet. Damit kommt er auf mich zu und schließt die Handschellen auf. Als sie abfallen, fühlt es sich an, als würden hunderte von Kilos von mir bröckeln und ich falle meinem besten Freund schluchzend um den Hals.
 

Egypt Central – Backfire
 

„Nie wieder wird dir so was geschehen, Violet, dafür sorge ich…“, raunt er in mein Haar, macht sich behutsam von mir los und wirft die Fernbedienung neben uns auf den leicht gepflasterten Boden, nur um dann mit voller Wucht draufzutreten.

„Warte, ich will nur sichergehen“, flüstere ich, bevor er mich fortziehen kann. Ich hebe eine Hand wie einen Revolver und ziehe das verbliebende Wasser aus meiner Kleidung, um es dann wie einen Schuss genau auf die herauslugende Chipkarte in der Fassung abzufeuern. Grimmig schmunzelnd sehe ich dabei zu, wie sie in ihre Einzelteile zerspringt und nie wieder reparierbar sein wird. Leander legt mir den Arm um die Schultern und weist zum Wald.

„Komm, beeil dich, bevor man uns hier sieht.“ Er hat Recht, denn auf die Sekunde genau werden die Sirenen lauter und grelles Licht flutet durch die Zirkusanlage. Ich nicke und folge Leander eilig in den Schutz des angrenzenden Waldes.

„Lea“, bringe ich irgendwo mitten auf dem Weg hervor, als wir anhalten müssen, um eine Straße zu überqueren.

„Ja?“ Langsam beuge ich mich vor und drücke meine Stirn gegen seinen Hals, wo warm das Blut hinter der Haut pulsiert.

„Wie hast du mich gefunden? Niemand wusste, dass ich dort war.“ Er seufzt und legt seinen Arm wieder um mich. Die Straße leert sich nicht, noch immer rasen zu viele Autos vorbei, aber das ist in Ordnung. Jetzt bin ich die Ketten los. Selbst, wenn sie uns einholen, sie können uns nichts mehr tun.

„Den Abend, bevor ich anfing, mich zu verwandeln, konnte ich bereits… richtig sprechen. Und das ein oder andere Sprichwort ist sogar schon wahr geworden, auch wenn es zu Beginn nur für dumme Zufälle gehalten wurde.“ Er biss sich leicht auf die Unterlippe. „Und na ja, ich bin zu deinen Eltern gegangen und habe sie mit der Gabe dazu gebracht, mir die Wahrheit zu sagen. Meine recht emotionale Reaktion darauf, muss letzten Endes der Trigger gewesen sein – ich fing an, mich zu verwandeln.“

Ich schluckte, denn seine Erläuterung bringt mich wieder zu dem Gedanken an den zweiten Teil meiner Gabe. Ich muss einen Weg finden, das vor ihm geheim zu halten. Er darf mich so nicht sehen, denn dann würde er sich vor mir fürchten.

„Jetzt“, holt mich Leander wieder aus den Überlegungen und nimmt meine Hand, um mich über die gerade leer gewordene Straße zu ziehen. Den Rest des Weges schweigen wir und hängen eigenen Gedanken nach.

Ich weiß nicht, wie, aber ich werde eine Möglichkeit finden. Lange genug habe ich Leander nicht mehr beschützen können, das muss ich jetzt wiedergutmachen. Und wenn es bedeutet, mein Herz zu verschließen, dann soll es so sein.

Verrückt ist es schon irgendwie. Denn ich weiß auf einmal, dass das Liebe sein muss. Echte Liebe. Sie kann einen sogar zur Selbstzerstörung zwingen, damit der andere glücklich werden kann. Aber alleine lassen… werde ich ihn nie wieder.

Nichts wird uns mehr trennen. Absolut nichts.

Leerer Schall

Jet – Leerer Schall
 

In the End - Linkin Park - Piano, strings and vocal version
 

Mako schläft tief und fest. Sie hat sich in die kaputte Decke eingerollt und murmelt leise unverständliche Worte vor sich hin – ein handfester Beweis dafür, dass sie hoch oben auf Wolke sieben schwebt. Ich beuge mich ganz leicht vor und gebe ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann erhebe ich mich und schleiche auf Zehenspitzen davon, nur um sicherzugehen, dass sie nicht aufwacht, auch wenn es normalerweise weit mehr braucht, um Mako aus dem Schlaf zu reißen.

„Tut mir leid“, murmele ich noch in ihre Richtung. „Ich bin bald wieder da.“ Dann wirbele ich herum und verschwinde in die Dunkelheit der Nacht. Ich passiere einige baufällige Häuser, von denen es hier in der Gegend viele gibt und bleibe dem Schein der noch leuchtenden Laternen fern. Für eine Sommernacht ist es unangenehm kalt, darum streife ich mir die Kapuze auf und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch bis zum Kinn.

Wenn ich mich nicht beeile, könnte es böse für mich enden. Einen schwarz bezahlten Job findet man nicht unbedingt an jeder Straßenecke, jedenfalls keinen, der nicht auf Mord oder Drogenschmuggel ausgelegt ist.

Kaum vernehme ich das altvertraute Rauschen des Wassers, kann ich die Umrisse der Frachter ausmachen und schiebe mich im Eilschritt durch die ersten Docks. Aber etwas ist komisch. Es ist zu still. Um diese Uhrzeit mag hier noch kein Hochbetrieb herrschen, aber von derartiger Geräuschabwesenheit kann auch nicht gesprochen werden.

Verwundert trete ich an den Rand des Hafenbeckens. Bin ich vielleicht doch zu früh? Oder hat man vergessen, mich über irgendwas zu informieren?

Gerade will ich mich auf dem Weg zum Büro des Chefs machen, als hinter mir Schritte über den Asphalt knarzen. Angespannt drehe ich mich herum, denn mein Gefühl sagt mir nichts Gutes. Aber was ich sehe, ist bei Weitem nicht das, was ich erwartet habe.

Genau im Lichtkegel der Laterne steht Mako und starrt mich an. Doch ihre Kleidung ist zerfetzt, ihre Arme, ihr Hals, alles ist aufgeschlitzt, das Blut fließt in Strömen an ihrem Körper hinab und auch aus ihren Augen quillt es heraus. Das Einzige, was ganz und gar nicht dazu passt, ist ihr Blick – kalt, abgeklärt und unversöhnlich. So würde man seinen ärgsten Feind ansehen.

„Gute Arbeit, Jace“, sagt sie mit einem angedeuteten, bösen Lächeln. „Jetzt hast du, was du wolltest. Ein gutes Leben, mit Menschen, die dich lieben. Und schon brauchst du uns nicht mehr, was?“

„Mako…!“, kann ich nur hervorstoßen und will auf sie zugehen, aber sie weicht zurück und schüttelt bitter lachend den Kopf.

„Das war nie die schöne Hollywoodkulisse hier, das ist mir auch klar. Aber was ist mit uns? Wie kannst du uns einfach vergessen?“

„Ich habe euch nicht vergessen!“, werfe ich ihr heftig entgegen und spüre, wie sich Tränennetze auf meinen Wangen ausbreiten. „Es tut mir Leid, aber ich…“

„Gib dir keine Mühe“, fällt sie mir ins Wort und ihr Lachen wird zu einem Schluchzen. Das Blut bildet eine große Pfütze auf dem Boden. „Werd‘ glücklich in diesem Ding namens ‚Jet‘. Alles andere gehört der Vergangenheit an, nicht wahr?“

„Mako!“, brülle ich und stürze auf sie zu, aber meine Hände greifen ins Nichts. Ihr Körper ist verschwunden, aber etwas blieb zurück.

Ihr Blut auf meinen Händen.

Und dann spüre ich plötzlich die Hitze in meinem Nacken. Ich komme noch so weit, herumzuwirbeln, die Flammen zu sehen und dann… zerfetzen sie mich.

Und alles, was ich einst Zuhause nannte.
 

Most Wonderful Music: Hopeless Fall
 

Als ich diesmal erwachte, hielt Crystal mich schon im Arm und ich musste mich im Halbschlaf bereits ebenfalls an ihr festgeklammert haben. Meine Hände bebten so heftig, dass ich ihr Top schon völlig zerknautscht hatte.

„Wieder ein Albtraum?“, flüsterte sie und streichelte mir sanft das Haar aus der Stirn. Als ich nicht antwortete, rückte sie ein wenig von mir ab und nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Jet?“

„Ja“, nuschelte ich, die Augen niederschlagend. „Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe.“

„Hast du nicht.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, nahm ihre Lippen aber nicht fort, sondern ließ sie dort verweilen, bis sich mein Atem wieder beruhigt hatte.

„Was ist geschehen?“, fragte sie schließlich, als ich mich von ihr löste und aufstand, um wieder Gefühl in die Muskeln zu bekommen. Ich zögerte und ließ ihr dabei den Rücken zugedreht, damit sie nicht sah, wie ich das Gesicht verzog, als mich die Erinnerung überkam.

„Ich kann mich nicht an viel erinnern“, log ich letztendlich. „Aber es war das Übliche. Ich verliere die Kontrolle und… töte jeden um mich herum.“ Ich trat hinüber ans Fenster und beobachtete, wie sich der Himmel zusehendes aufhellte, wie sich eine Farbe in die andere schmiegte und die wenigen Wolken ihre Spielereien auffingen. Sonnenaufgänge schienen immer Millionen von Geschichten auf einmal zu erzählen – und das ohne Worte.

„Weißt du, Jet“, hörte ich Crystal wieder sprechen. Die Decke raschelte und eins der Kissen fiel dumpf zu Boden, als sie aufstand und knapp hinter mir stehen blieb. „Vielleicht solltest du mal mit Jade über diese Träume reden.“

„Wozu?“, fragte ich kurz angebunden und Crystal sah unschlüssig zu Boden, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und verschränkte dann missmutig die Arme vor der Brust.

„Sie scheinen sich in letzter Zeit zu häufen und du siehst immer so müde aus. Außerdem isst du nicht viel und…“

„Es geht mir gut“, fuhr ich sie harsch an, kaum, dass ich mich umgedreht hatte. Ihre Augen wurden größer und ihre Schultern hoben sich vor Schreck. Erst an diesen Details begriff ich, was ich da gerade getan hatte.

„C-Crystal, es… tut mir leid.“ Versuchsweise streckte ich die Hand nach ihr aus, sie kam dem Angebot nach und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. „Tut mir Leid…“

„Schon okay“, murmelte sie in den Stoff meines T-Shirts. Eine Weile standen wir nur eng umschlungen da und schwiegen, indes neben uns die Sonne an Kraft gewann.

„Meinst du, Moon bringt mich um, wenn ich eure Dusche benutze?“ Crystal lachte, löste sich von mir und legte ihre Hände auf meiner Brust ab, wo sie sich leicht abstieß und wieder heranzog. „Sie ist den ganzen Nachmittag und die Nacht nicht wiedergekommen“, erklärte ich mich grinsend. „Ich halte es daher für keine gute Idee, ins Zimmer zu platzen.“

„Du hast Recht“, erwiderte sie kichernd. „Das Risiko, dass sie dich umlegt, wenn du sie und Amber störst, ist größer, als wenn du ihr Haarshampoo zu Gesicht bekommst, denke ich.“

„Verrate es aber trotzdem nicht, nur zur Sicherheit.“ Sie nickte lächelnd, ehe sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um mich zu küssen. Die Berührung drang sofort zu meinen Sinnen durch und ich zog sie so eng an mich, dass ich ihre Rippen auf meinen fühlte.

„Mach es mir jetzt bitte nicht so schwer, dich loszulassen…“, hauchte ich gegen ihre Lippen, als wir uns lösten und sie schnaubte empört, als würde gerade der Richtige sprechen, ließ aber, wenngleich zaudernd, von mir ab. Doch bevor ich mich zum Bad wenden konnte, schnellte sie noch ein letztes Mal hervor und gab mir einen Kuss auf die Brust. Mitten aufs Herz.

„Pass gut auf mein Herz auf“, raunte sie, auf den Lippen ein so liebevolles Lächeln, dass der Druck hinter meinen Augen wieder spürbar wurde. Ehe er mich überrennen konnte, beugte auch mich vor, um sie auf die gleiche Stelle zu küssen.

„Und du auf meins.“
 

Final Fantasy VIII OST – Slide Show, Pt. 1
 

Als wir in die Mensa kamen, saß Moon bereits an ihrem abgestammten Platz, nur von Amber fehlte jede Spur. Dafür sagte ihr äußeres Erscheinungsbild einiges aus. Sie hatte ein feines Schmunzeln auf den Lippen, ihre Wangen waren mit rosafarbenen Tupfern übersäht und das Blau ihrer Augen hatte ich noch nie zuvor so strahlend und gleichmäßig erlebt.

„Guten Morgen“, begrüßte sie uns ruhig, als wir mit unseren Tabletts ankamen und nahm einen genießerischen Bissen von ihrem Sandwich. Crystal und ich tauschten lediglich einen Blick. Offenbar war es gut gelaufen und Moon war uns wegen unserer Aktion nicht böse, aber…

„Wo ist denn… Amber?“, wagte Crystal schließlich zu fragen. Moon kaute auf und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als irgendwo hinter uns Teller zu Bruch gingen und unsere Aufmerksamkeit auf sich zogen.
 

Final Fantasy VIII OST – Slide Show, Pt. 2
 

Wie vom Blitz getroffen stürmte Amber in die Mensa, den Mund weit aufgerissen, woraus ein, nur von Atempausen unterbrochener, ausgedehnter Schrei drang. Obwohl ihn so ziemlich jeder anstarrte, verstummte er nicht, sondern rannte geradewegs auf unseren Tisch zu, packte mich bei beiden Schultern und schüttelte mich, ohne das Schreien zu unterlassen. Dabei fiel mir auch auf, dass seine Augen ebenso geweitet waren.

Ich war schon drauf und dran, mich von ihm loszumachen, als er den Griff von sich aus lockerte und das ganze Prozedere bei Crystal wiederholte. Moon jedoch blickte er nur an, der Schrei verebbte für die Sekunde, dann setzte er wieder ein und mit ihm lief Amber erneut los. Auf halber Strecke zur Tür schnappte er sich Maia, die gerade auf dem Weg zu ihrem Tisch war. Wieder fasste er sie an den Schultern, schüttelte sie und schrie ungefähr fünf Sekunden lang auf sie ein. Kaum war sie abgefertigt, knöpfte er sich auch Opal und Ain vor, die hinter Maia hergekommen waren.

Und als krönender Abschluss bekam er kurz vor der Tür auch noch Mira zu fassen, welche ihm infolgedessen eine Ohrfeige verpassen wollte, jedoch nicht mehr dazu kam, da Amber sich hastig in Sicherheit brachte. Sein Schrei hallte noch im Flur wider, sowie er zur Tür hinausgehetzt war und scheinbar auch nicht mehr so bald wiederkommen würde.

Die Schüler verstreuten sich wieder, einige kopfschüttelnd und Crystal und ich sahen äußerst langsam zu Moon hinüber, die bloß die Schultern zuckte, als wäre das alles völlig normal gewesen.
 

[Beautiful Soundtracks] Boku no kanojo wa saibôgu Cyborg She OST - Koukai to Henka
 

„Amber und ich haben gestern miteinander geschlafen“, erklärte sie stocknüchtern, warf sich eine Mandarinenscheibe in den Mund und seufzte wohlig. Obschon Crystal und ich beide damit gerechnet – und sogar darauf gesetzt hatten – klappte uns gleichzeitig die Kinnlade runter.

„Und da reagiert er so?“, hakte Crystal ungläubig nach und warf einen Blick zur Tür, aus der Amber verschwunden war.

„Offenbar schon“, sagte Moon mit derselben unbefangenen Art wie eben schon. Sie schob lediglich die Unterlippe ein wenig vor und zuckte erneut die Schultern. „Aber du hättest ihn in Aktion erleben sollen – ich sag dir, der Kerl ist nicht das Unschuldslamm, das er zu sein scheint!“

„Oh, bitte keine Details…“, murrte ich mit Nicken auf mein Frühstück. Moon grinste.

„Also ist er doch mehr als ein Freund für dich?“, lächelte Crystal und streckte die Hand nach ihrer aus. Moon verdrehte nur die Augen, musste jedoch wieder lachen und wurde dabei ziemlich sichtbar noch röter.

„Okay, ihr habt mich drangekriegt, ihr Füchse.“

„Das freut mich so für euch“, flüsterte Crystal und wischte sich hastig die Tränen weg, woraufhin Moon das Gleiche tun musste. Wie gerufen, kam Amber mit seinem Tablett an den Tisch. Seine Haare standen immer noch querbeet, aber er hatte zumindest mit dem Schreien aufgehört. Seufzend ließ er sich auf den Stuhl neben Moon fallen. Aber als sie sich unvermittelt herüberlehnte und ihm einen Kuss auf die Wange gab, ging es prompt wieder mit ihm durch, weshalb ich eine Apfelscheibe nach ihm warf.

„Wofür war das denn?“, beschwerte er sich heiser. Den aufkommenden Schrei hatte es erfolgreich unterbunden.

„Für mein Trommelfeld“, gab ich trocken zur Antwort.

„Ich will gar nicht wissen, wie viele Dollar hier drin grad von Hand zu Hand gehen“, zerfuhr Moon unser vorheriges Gesprächsthema nonchalant und rückte kurzum zu Amber auf, damit sie sich auf seinen Schoß ziehen konnte, was er mit hilflos roten Wangen aufnahm, bevor er es wagte, seinen Arm um ihre Taille zu legen. Aber Moons Fokus galt gar nicht ihm. „Oh mein Gott, sogar Azurite, dieses Miststück, ich hab’s doch gewusst!“

„Moon, wovon redest du?“, stutzte Crystal für uns alle, aber sie legte Amber nur die Arme um den Hals und gab ihm einen nicht gerade zimperlichen Kuss. Seine Miene verriet, dass er ebenso wenig wusste, was das alles zu bedeuten hatte, aber sich von Moon loszumachen, kam auch nicht infrage.

„Verstehst du das?“, wandte sie sich an mich und ich sah mich einmal im Kreis um, bis es mir aufging. Und zwar in dem Moment, in dem ich zusah, wie Lesath, eine Perle, eine ihrer Klassenkameradinnen einen Zwanzigdollarschein zusteckte. Und das, als ihr Blick auf Moon und Amber fiel.

„Wetten“, stellte ich langsam fest. „Ich fürchte, so gut wie das gesamte Internat hat Wetten abgeschlossen, ob und wann die beiden zusammenkommen.“

„Meine Güte, sogar die Lehrer, jetzt bin ich etwas enttäuscht“, ließ Moon verlauten, als sie sich wieder von Amber gelöst hatte, der mittlerweile den Eindruck machte, auf Droge gesetzt worden zu sein. Konnte es ihm einer verdenken, so lange wie schon in sie verliebt war?

„Wie dem auch sei“, schloss sie, machte es sich auf Ambers Schoß bequemer und lehnte sich so zur Seite, damit er an sein Essen rankam, was er heute sowieso nicht mehr anrühren würde, da war ich mir sicher. Er schüttelte den Kopf, als hätte er sich in Trance befunden.

„Ah, Moonstone, Amber, Jetstone und Crystal“, ließ eine bekannte Stimme uns da unvermittelt aufhorchen. Keinen Atemzug später stand Mrs. Capella neben unserem Tisch. Und das war kein gutes Omen.

„Wir, äh… können es erklären?“, lachte Moon nervös und rutschte ohne Verzug von Ambers Schoß.

„Ich bin ganz Ohr“, entgegnete Mrs. Capella mit einem strahlenden Lächeln. Nur war es ohne Zweifel die Art von Lächeln, die auch kleine Kinder in Horrorfilmen hatten, wenn sie ein Messer hinter dem Rücken versteckten…
 

The Jazz Crusaders - Funny Shuffle
 

„Mann, hat diese Frau Augen im Hinterkopf oder wie hat sie das jetzt schon wieder herausgefunden?“, brummelte Amber, warf lustlos sein Putztuch in den Eimer und machte sich daran, die obere Regalreihe leerzuräumen. „Und überhaupt, was ist das bitte für eine bescheuerte Strafarbeit? Ich dachte immer, Perlen sind die geborenen Ordnungsfreaks.“

„Oh, da denkst du aber weit daneben“, kommentierte Maia und lugte hinter einem der Regale hervor, wo sie und Opal eine der Wände dekorativ anmalten. Es handelte sich dabei um ein offen stehendes Fenster, hinter dem sich ein Strand bei Nacht erstreckte. Auf der Fensterbank davor saß ein Stoffteddybär und blickte hinaus und neben ihm mit dem Blick ebenfalls zum Meer, eine Eule. „Kreativität ungleich Putzfimmel, sag ich dir – aber dieses Mal haben die Mädels wirklich einen Saustall hinterlassen.“

Amber stöhnte nur etwas Undefinierbares in seinen Kragen und wischte die großzügigen Staubschichten vom Holzbrett. Ich seufzte, während ich Bücher über stilvolle Gestaltungsmethoden an ihren Platz zurücksortierte. Crystal kam gerade mit einem großen Kasten voller Pinsel um die Ecke. Ich ließ die Bücher einfach fallen, als ich es bemerkte, obwohl sie sofort wie ein Dominospiel nach links klapperten, und ging ihr zur Hand.

„Danke“, prustete sie und streckte die Finger. „Da hat sich ganz schön was angesammelt.“

„Sollst du die alle sortieren?“

„Sieht so aus“, schnaufte sie und krempelte entschlossen die Ärmel hoch. Ich lachte leise in mich hinein.

„Wah, Opal, wo bist du?!“, kam es da plötzlich von Maia und wir wirbelten allesamt zur Wand herum, wo jetzt nur noch Genannte stand.

„Direkt vor dir!“, haspelte Opals Stimme. Da schien Maia eine Idee zu kommen.

„Warte, das ist es! Halt still!“ Bevor sie irgendjemand aufhalten konnte, hob sie den Pinsel und zog eine blaue Linie quer über das unsichtbare Etwas vor sich, dessen Standpunkt nur noch an dem eigenen Pinsel, in der Luft stehend, auszumachen war.

„Maia!“, protestierte Opal und wurde vor Entsetzen glatt wieder sichtbar. Eine langer, dunkelblauer Farbstrich zog sich von ihrer rechten Schläfe bis hinunter zum Kinn und Maia brach direkt in schallendes Gelächter aus.

„Und ich dachte immer, ich wäre sadistisch“, bemerkte Moon, beinahe anerkennend. Sie war damit beschäftigt, Bastelpappe zu sortieren und nicht mehr zu gebrauchenden Verschnitt zu entsorgen. Auf einmal öffnete sich die Tür und wir machten uns alle steif, aber es war nur Ain.

„Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“, fragte er leichthin und trat an den Schreibtisch heran, um sich einen Notizzettel, sowie einen Stift zu nehmen. „In einer halben Stunde beginnt das Abendessen.“

„Bis dahin dürften wir hier durch sein“, entschied ich, steckte das letzte Buch in die Reihe und streckte mich. Das ständige Bücken und Aufstehen forderte seinen Tribut.

„Da wäre ich mir ja nicht so sicher“, grummelte Crystal. Der Pinselkasten wirkte noch immer brechend voll, obwohl sie schon so viele in die vorgesehenen Schubladen verfrachtet hatte.

„Ich helfe dir gleich“, lächelte ich ihr zu und als sie meinem Blick begegnete, fielen ihr ungeahnt die Pinsel, die sie gerade herausgenommen hatte, aus den Händen. Einige flogen gleich zu Boden, die anderen jonglierte sie kurzzeitig ungewollt in der Luft und schleuderte sie dann quer durch den Raum.

„Pfft, das war filmreif, Crys!“, japste Moon.

„Sei schon still“, herrschte sie sie halbherzig an und kam mit roten Wangen herüber, um die Pinsel vom Boden aufzuklauben, die in meine Richtung gesegelt waren. Ich blieb, wo ich war und nahm mir die letzte Regalfläche vor, bis Moon und Amber anfingen zu kichern.

„Was ist?“ Verwundert ließ ich die Augen von einem zum anderen wandern, als Opal und Maia auch noch einfielen. „Was denn?“
 

Rosette Daikatsuyaku - Chrono Crusade Gospel I Original Soundtrack
 

„Na super, der Pinsel ist unter das Regal gerollt“, schnappte Crystal da unter mir. Sekunde… unter mir? Und schon wusste ich, wieso die anderen sich schon die Lachtränen aus den Augen wischten, denn während sich Crystal mit einer Hand an meiner Hüfte festhielt, lehnte ihr Kopf an einer ziemlich offensichtlichen Stelle.

„Ähm, Crystal…“, setzte ich an, aber da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und dieses Mal war es Capella. Ihr Blick hätte einen Tornado beschwören können.

Rasch griff ich nach Crystals Schulter und zog sie hoch, aber sie machte sich nur wieder von mir los.

„Warte, ich hab ihn doch gleich“, beteuerte sie und bückte sich ein weiteres Mal. Moon war bereits umgekippt vor Lachen. Tief seufzend zog ich Crystal wieder in die Vertikale und streckte mich selbst nach dem Pinsel, war allerdings schon so nervös, dass ich mir beim Versuch den Kopf an der Regelwand stieß.

„Verdammt“, zischte ich und wollte mich wieder aufrichten, wobei ich jedoch mit Crystals Kinn kollidierte, da sie nach mir zu sehen versucht hatte. Ich hörte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen und drehte mich panisch zu ihr herum.

„Allef guff“, brachte sie hervor und daraufhin war es endgültig um Moon, Amber, Opal und Maia geschehen. Ihr Gackern hätte jedem aufgebrachten Hühnerstall Konkurrenz gemacht. Und dabei wollte ich gerade nichts lieber, als einfach im Boden zu versinken. Jetzt hatte sich Crystal meinetwegen auch noch auf die Zunge gebissen!

„Es tut mir leid!“, stammelte ich, ihre Schultern umfassend. „Geht es? Soll ich…?“ Ich hatte keine Ahnung, was ich hätte tun können, ich wusste nur, dass ich etwas finden musste und zwar schnell, sonst brannten mir gleich wirklich sämtliche Sicherungen durch.

„Geteiltes Leid ist halbes Leid, Jet“, warf Amber da zwischen einem nicht enden wollenden Lachkrampf ein. Im nächsten Moment durchzog ein dumpfer Schmerz meine Zunge und ich strafte ihn mit einem fischblütigen Schulterblick, der dafür sorgte, dass nun auch er zu Boden ging. Und zu allem Überfluss konnte auch Crystal sich nicht mehr halten, als sie auf meine geröteten Wangen aufmerksam wurde. Mir fiel unwillkürlich auf, dass ich den Pinsel von eben noch in der Hand hielt – ich hatte ihn tatsächlich zu fassen bekommen. Nur… war er mir eben gerade wieder aus den Fingern gerutscht.

„Das reicht jetzt!“, funkte Capella endlich dazwischen. „Moonstone, Amber und Crystal – ihr könnt zum Abendessen gehen. Jetstone, Ihr werdet die Pinsel zu Ende sortieren und dann könnt Ihr auch gehen.“

„Wieso denn ich?“, ließ ich fallen, obwohl ich mich normalerweise über nichts aufregte.

„Diese Frage dürftet Ihr Euch doch wohl auch gut allein beantworten können“, meinte sie scharf und tippte mit ihren in Vollendung manikürten Nägeln auf meine Brust, auf das Aushilfslehrersymbol. „Von den anderen hätte ich ein solch infantiles Verhalten vielleicht noch erwartet, aber von Euch bin ich zutiefst enttäuscht, Jetstone. Ain wird Euch helfen, also tragt es mit ein bisschen mehr Fassung.“ Mir klappte der Mund auf, aber in gewisser Weise hatte sie gerade so ziemlich jede Art von Gegenargument entkräftet. Konnte das heute eigentlich noch besser werden?

„Man sieht sich dann später, Playboy!“, grinste Moon mir noch entgegen und ich würgte mit aller Kraft ein Knurren ab. Amber verpasste mir nur einen Schlag auf die Schulter, war aber noch immer viel zu sehr damit beschäftigt, nach all dem Gelächter wieder zu Atem zu kommen, um irgendeine Bemerkung abzugeben. Crystal war die Einzige, deren Miene von Mitleid sprach und die Mrs. Capella überreden wollte, mir zu helfen, aber Moon hakte sich bei ihr ein und schleifte sie mit sich hinaus.
 

Black Cat Soundtrack - Hungry Kitchen
 

„Womit hab ich das eigentlich verdient?“, brummelte ich, indem ich mich nach einem der Pinsel bückte, der den Raum einmal komplett durchrollt hatte.

„Du bist echt ein armes Würstchen“, lachte Maia. Sie und Opal hatten sich zur Spüle begeben, um die Pinsel und Paletten auszuwaschen. „Aber hey, Dämpfer sind immer ein Beweis dafür, dass man Spaß im Leben hat.“

„Ja, total…“, schnaubte Opal, im scheinbar aussichtslosen Versuch, sich den blauen Anstrich vom Gesicht zu schrubben und Maia hob abwehrend die Hände, bevor die Retourkutsche kommen konnte.

Wie auch immer, ich war fürs Erste bedient. Als alle Pinsel vom Boden wieder in den Kasten zurückgefunden hatten, ließ ich unsicher die Hände auf beide Ränder fallen und versuchte mir die Sache irgendwie zu erleichtern, indem ich im Kopf voraussortierte.

„So, Süßer, wie kann ich dir helfen?“, fragte es da urplötzlich vor mir und mir entglitten unvorsätzlich die Gesichtszüge. …Süßer?

Ain blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen und griff ohne Weiteres in die Kiste hinein, um sich einen Schwung Pinsel herauszunehmen – und ruinierte damit auf der Stelle mein System. Ich gab es auf und schnappte mir resigniert seufzend ebenso eine Handvoll Pinsel, um sie im Einzelnen zuzuordnen.

„Also, was läuft da eigentlich wirklich bei euch vieren?“, fing er wieder an, zu reden und ich hob verwirrt den Kopf. Der Perlenjunge schmunzelte vergnügt. „Moon und Amber sind ja jetzt offenbar zusammen und du mit Crystal, aber beim Kirschblütenfest hat Amber dich geküsst, oder nicht?“ Bei der Erinnerung daran schauderte ich wieder.

„Er war betrunken und hat eine viel zu wirksame Gabe, das ist alles.“ Schnaubend warf ich die Pinsel in ihre Kästen, so schnell es eben ging, denn allmählich wurde mir dieser Raum hier zum Graus.

„Schon klar“, stichelte Ain grinsend und ich verzog nur den Mund, um nicht irgendwas zu sagen, was ich später bereut hätte. Zum Glück war das alles, was er noch dazu fallen ließ, denn er lud sich die vollen Kästen auf die Arme und brachte sie zum Regal.

Die Kiste war auch so gut wie leer, es war doch schneller gegangen, als gedacht. Gott sei Dank. Gerade angelte ich die verbliebenden Pinsel heraus und wog stirnrunzelnd ab, wozu sie gehören könnten, als mir jemand vollkommen unerwartet mit der flachen Hand auf den Hintern schlug.

Desillusioniert bis zum Rand wirbelte ich herum und konnte nur noch sehen, wie Ain mir zuzwinkerte, ehe er hinter der Eingangstür verschwand. Ich brauchte noch einen Moment, um zu realisieren, was sich da gerade abgespielt hatte. Aber mit Maias und Opals unterdrücktem Gekicher vom Nebenraum, kam auch die Erkenntnis bei mir an. Gezwungenermaßen schüttelte ich mich, schmiss die übrigen Pinsel wahllos in die Kästen und stellte sie ins Regal. Dann räumte ich noch schnell die Kiste beiseite und ergriff förmlich die Flucht.

Maias Worte streiften mich trotzdem noch.

„Ein bisschen Bi schadet nie, Jety!“

„Halt doch die Klappe“, grummelte ich nur und wünschte mir zum ersten und vermutlich auch letzten Mal in meinem Leben, Ambers Gabe zu haben.
 

Gothic Storm - Memories Flooding Back
 

„Jet?“

Die Gänge waren leergefegt, darum hallte mein Name von den Wänden wider. Die Mittagspause war gerade vorbei, die Schüler im Unterricht, aber ich würde heute niemanden mehr trainieren. Und Jade auch nicht.

„Komm bitte kurz mit“, sagte sie, drehte sich um und ging voraus zum Trainingsraum. Ich folgte ihr, wenngleich zögerlich. Es konnte nichts Gutes verheißen und obschon ich es längst ahnte, kämpfte ich den Gedanken stur zurück. Ich schloss die Tür hinter mir, als ich den kleinen Raum betrat, der von unruhigem Frühlingslicht eingenommen war. Jade ging bis zur Mitte, blieb stehen und drehte sich so langsam zu mir herum, dass ich jetzt schon wusste, ich würde hier nicht schadlos herauskommen.

„Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, kam sie ohne Umschweife zum Kernpunkt. Ich machte ein paar unwillige Schritte auf sie zu, das Kinn gesenkt. „Ich bin nicht blind, Jet. Was belastet dich?“ Ich spannte den Kiefer an, aber es hatte keinen Zweck, auszuweichen. Jade hatte mich gestellt, im falschen Moment – ich hatte keine Chance mehr, mit einer einfachen Lüge davonzukommen.

„Es ist die Ungewissheit“, stieß ich letztendlich hervor, ohne sie anzusehen.

„Ungewissheit worüber?“, bohrte sie nach und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich der Gründe schon lange bewusst war. Sie fragte nur, um mich aus der Reserve zu locken. Wie so oft. Es gab Tage, da hasste ich sie dafür, auch wenn ich mir tief im Inneren im Klaren darüber war, dass sie mir damit half. Oder es zumindest versuchte.

„Mako“, erwiderte ich schlicht. „Und ich. Meine Vergangenheit, der Filmriss… Etwas hat sich verändert, Jade. Ich habe plötzlich andere Gedanken daran – so als würden meine Erinnerungen langsam zurückkommen, aber…“

„Aber was?“ Diesmal suchte ich ihren Blick, suchte die warmen, grünen Augen und hoffte, sie wären stark genug, um den Schatten standzuhalten, die in mir tobten.

„Aber ich habe Angst.“

Sie hielt wie erwartet inne und musterte mich reglos, bis ich von allein weitersprach.

„Jedes Mal, wenn ich der Erinnerung näherkomme, ist da dieses Gefühl… Es ist, als wäre etwas falsch und je weiter ich gehe, desto größer wird es. Jade, ich…“ Jetzt musste ich lachen. Hart und so bitter, dass mir davon fast übel wurde. Ich taumelte leicht. „Das klingt sicher albern, aber es kommt mir so vor, als wäre ich nur halb da. Und solange das so ist, kann ich mich dem nicht stellen – ich bin nicht stark genug.“

„Dann lass mich dir helfen.“ Irritiert sah ich wieder zu ihr auf. Anstelle eines neuen Wortes, trat sie zur Wand und griff sich zwei Langstöcke. Einen davon warf sie mir zu und ich fing ihn auf, mehr aus Gewohnheit als aus Reflex.

„Ich will, dass du die Augen schließt und langsam mit mir die Aufwärmübungen durchgehst. Währenddessen werde ich dir Fragen stellen. Du wirst kurz über sie nachdenken und dann antworten.“

„Jade, das…“, setzte ich an, aber ihr Blick war frei von Zweifeln. „Also gut.“ Damit schloss ich die Augen, konzentrierte mich und als das Raumgefühl aufflackerte und sich in meinen Muskeln ausbreitete, fühlte ich mich wieder besser. In diesem Zustand kam ich mir beizeiten sogar unverwundbar vor.

„Fang an“, forderte Jade und ich tat, wie geheißen, ließ den Stock vorwärtsgleiten, folgte der Bewegung und als er den Widerstand ihres Stockes traf, stellte sie die erste Frage.

Ohne um den Ausgang dieses Experiments zu wissen.
 

Cinematic Groove Addicts - Kill or Be Killed
 

„Wo bist du?“
 

Alles ist verzerrt, die Realität ist ein Flimmern in der Ferne. Wohin man auch sieht stehen Trümmer, ehemalige Gedanken und die Last von Jahren.
 

„Ich bin auf einer Brücke.“
 

Der Wind ist kalt wie eine Sense, dringt durch alle Fasern und gibt mir ein Gefühl völliger Blöße, obwohl ich sehen kann, wie er an meiner Kleidung reißt, sie sich bauscht und hin und her tanzt. Tief, tief unter mir ist das Wasser. So dunkel wie Öl. Und genauso wenig verlockend für ein Bad.
 

„Was willst du dort?“
 

Die Welt scheint Kopf zu stehen, denn der Himmel ist genauso schwarz. Kein Mond, keine Sterne. Die Welt verschluckt und verzehrt, ohne dass irgendwer dagegen ankämpfen könnte. Aber es wird schnell vorbei sein. Hoffe ich.
 

„Ich will springen.“
 

Ein Husten bringt mich dazu, die Streben kurz loszulassen. Es brennt in meiner Brust und als ich die Hand fortnehme, kann ich das Blut darauf fühlen. Ich wische es angewidert am kalten Metall ab und atme tief durch. Kann es wirklich so schwer sein? In meinem Kopf bin ich schon tausende Male von dieser Brücke gesprungen. Schon tausende Male innerlich gestorben…
 

„Wie fühlst du dich?“
 

Mit jeder Sekunde werden meine Hände klammer. Vielleicht muss ich mich nicht dazu entschließen, sondern nur lange genug warten, bis ich die Kraft verliere und herunterstürze.

Es ist schwer, aufrecht stehen zu bleiben, denn alles schmerzt. So als hätten mir diese Typen jeden Knochen einzeln gebrochen.
 

„Ich wurde zusammengeschlagen.“
 

Schließlich kann ich mich nicht mehr halten, aber anstatt zu fallen, lasse ich mich nur auf die Knie sinken und lehne den Kopf gegen den Pfeiler neben mir. Ein Schluchzen bahnt sich in meiner Kehle auf. Ich bin so schwach… so unendlich schwach.
 

„Was ist da noch?“
 

Meine Kopfwunde hat aufgehört zu bluten und es ist im Nacken getrocknet, hat die Haare dort festgeklebt. So oft, wie mir da schon Blut hinabrann, könnte man fast glauben, die roten Strähnen hätten ihre Farbe daher.

Aber das ist mein geringstes Übel.
 

„Da ist… etwas an meinem Arm.“
 

Langsam blicke ich hinüber zu meiner Armbeuge. Der Verband hat sich während der Schlägerei gelöst und die entzündeten Einstiche verschwimmen vor meinen Augen, kaum dass ich an ihre Ursache denke. Aber auch daran sterbe ich nur im Inneren.
 

„Woher kommt es?“
 

Mir wird wieder übel und ich spucke etwas Blut in den Abgrund. Wahrscheinlich habe ich auch schon Fieber, es würde mich nicht wundern. Wenn ich losließe, würde ich vermutlich nicht einmal die Zeit haben, zu ertrinken, denn die Kälte würde mein Herz lange zuvor zum Stillstand bringen.
 

„Drogen.“
 

Adrenalin ist schneller verflogen, als es kommt, auch wenn das kaum einer glaubt. Das Schluchzen wird stärker, zerfetzt mir die Lungen und die Tränen scheinen im Wind zu gefrieren. Es ist hoffnungslos. Es gibt keinen Platz für Menschen wie mich in dieser Welt.
 

„Was denkst du?“
 

Ich bin zu feige, das weiß ich. Das ist mir schon klar gewesen, als ich hier hochgeklettert bin.

Aber was ist, wenn ich es vergesse? Nur noch einmal. Ich bin nicht hier, das ist alles nur ein Traum und wenn ich aufwache, habe ich wieder eine Familie. Eine Mutter, die mich nicht in der Babyklappe zurücklässt oder einen Vater, der auf keinen meiner Anrufe reagiert.

So ist es doch, wenn wir in Träumen sterben, wachen wir auf.
 

„Dass es vorbei ist.“
 

Ich kann diesem Albtraum entkommen, ich muss mich nur einmal in meinem Leben ernsthaft zusammenreißen. Es wird wehtun, aber es wird nicht lange dauern. Außerdem kann ich mit Schmerz mittlerweile umgehen. Nur ein Schritt, nur loslassen. Ich kann mich sowieso kaum noch halten. Nur den Kampf aufgeben, kapitulieren, vergessen.

Bring es zu Ende, jetzt mach schon, lass endlich los!
 

„STOPP!“
 

Linkin Park – My December
 

Ich bin unfähig zu reagieren. Meine Hände lösen sich von den Streben, aber ich falle nicht. Stattdessen werde ich rückwärts gezogen, hänge für eine Sekunde in der Schwebe und lande dann dumpf auf dem Rücken. Sofort muss ich wieder husten und rolle mich eilig auf den Bauch, um Luft zu bekommen.

„Alles okay?“, fragt die Person, die mich eben davor bewahrt hat, in den sicheren Tod zu springen. Was mich wütend macht – unerträglich wütend.

„Was sollte das?!“, fauche ich sie an, sobald ich wieder sprechen kann und hebe den Blick. Es ist sehr dunkel, aber ich kann trotzdem sehen, dass es ein Mädchen ist. Ihre Haare sind schwarz so wie meine und sie trägt sie zum Pixieschnitt. Das gibt ihr etwas Burschikoses, genauso wie die Lederjacke, die ausgefranste Jeans und die Springerstiefel. Im Nachhinein wundert es mich, dass ich sie sofort als Mädchen erkannt habe. Aber etwas in ihren Zügen ist so weich und unschuldig, dass es nicht zu einem Jungen gehören kann. „Wieso hast du das gemacht?!“

„Um dir den zu Arsch retten?!“, schnauzt sie ebenso barsch zurück. „Brich dir bloß keinen Zahn ab, danke zu sagen.“

„Bist du eigentlich blind?“, fahre ich sie wieder an, während ich mich auf die Beine hieve. Sie ist einen Kopf kleiner als ich, aber das scheint sie nicht annährend einzuschüchtern. „Ich hab da oben nicht gerade um Hilfe gerufen, falls dir das entgangen ist.“

„Ist mir nicht entgangen“, knurrt sie und stößt mich ein Stück zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. „Genauso wenig wie dein Geheule, Mistkerl.“ Das lässt mich innehalten. Mit einem Mal fehlen mir die Worte und ich wende missmutig den Blick ab.

„…danke.“ Da lacht sie und ich sehe verdutzt wieder auf, denn sie hat eine eigentümliche Art, zu lachen. So geradeheraus, fast schon provozierend. So muss eine Tigerin lachen, wenn die Tiere das könnten.

„Ich bin Mako“, stellt sie sich vor und hält mir die Hand hin. Einen Augenblick lang starre ich nur darauf. Ihre Nägel sind schwarz lackiert und die Haut ziemlich schmutzig, aber… trotzdem sind die einzelnen Fingerglieder so schmal und zierlich. Es hat etwas von Pianistenhänden und ich fange an, das Mädchen zu durchschauen. Es gibt ein Sprichwort dazu, aber jetzt gerade kann ich es sogar noch weiterdichten. Umso härter die Schale, desto weicher der Kern.

„Snow“, gebe ich dann zur Antwort und ergreife ihre Hand. Die zarten Finger haben nicht gerade wenig Kraft. „Jason Snow.“

„Ach, was für ’n putziger Name“, bemerkt sie, verschränkt die Arme und schaut sich um. „So und du wohnst hier in der Gegend?“ Ich zucke bloß die Schultern und vergrabe die Hände in den Hosentaschen.

„Kann man so sagen, wenn man will. Ich lebe auf der Straße.“ Das scheint sie nicht zu überraschen, trotzdem legt sie den Kopf schräg und mustert mich etwas ausführlicher, was mir nicht gerade behagt. Obwohl mir eigentlich egal sein sollte, was sie denkt.

„Und du bist Mitglied einer Bande, richtig?“

„Und du ‘ne Stalkerin?“, mutmaße ich, woraufhin sie grinst und ich muss ungewollt mitlachen.

„Nein, keine Bange, ich kann Besseres mit meiner Zeit anfangen. Denk ich jedenfalls.“

„Wie meinst du das?“

„Na ja“, seufzt sie und schlendert auf den Brückenrand zu, um die Ellenbogen aufzustützen und in die Ferne zu sehen, wo New York in all seiner Lichterpracht glüht und bebt. „Ich bin von Zuhause weggelaufen. Mein Dad ist ein gottverdammter Bulle und ich will nie wieder etwas mit ihm zu tun haben – Amen. Und, wie unaufgeräumt ist dein Nähkästchen, Schnucki?“ Es ist seltsam. Alles in allem. Sowohl dass dieses Mädchen mir so mir nichts dir nichts ihre Lebensgeschichte auftischt, als auch die Tatsache, dass ich im Begriff bin, dasselbe zu tun. Und das, obwohl ich sie erst seit fünf Minuten kenne. Wie war das noch? Einsamkeit verbindet?

„Meine Mutter hat mich in der Babyklappe zurückgelassen, weil mein Vater nach der Geburt nichts mehr von ihr wissen wollte. Ich hab seine Nummer herausfinden können, aber er will mich nicht sehen. Und ich kann drauf verzichten, jemanden, der nicht einmal meinen Namen erfahren will, um Geld zu erpressen.“

„Das nenn ich Taktgefühl“, meint Mako mit einem schiefen Lächeln, das mich wie schon vorhin, ebenfalls zum Schmunzeln bringt. Sie hat sich wieder umgedreht und die Arme links und rechts auf das Geländer gestützt.

„Ist das nicht verrückt?“, höre ich mich da sagen. „Wir reden über unsere nicht gerade wenig beschissenen Vergangenheiten und lachen nur darüber.“
 

Gold Delirium Music – Memories
 

„Das ist nicht verrückt“, raunt sie mir zu und da sehe ich plötzlich etwas in ihrem Blick, das nicht viele Menschen besitzen. Aufrichtigkeit. „Das ist Kampfgeist.“

„Was ist mit deiner Mutter passiert?“, frage ich dann und Mako beißt sich auf die Unterlippe, bevor sie erst mich und dann den Brückenrand betrachtet.

„Selbstmord.“

Und da ergibt ihre unbedarfte Rettung einen neuen Sinn. Verlegen reibe ich mir über den Nacken, denn jetzt tun mir meine Anschuldigungen von vorhin Leid. Allerdings durchzuckt mich bei der Bewegung ein grässlicher Schmerz, weshalb ich ein Stöhnen nicht zurückhalten kann.

„Alles klar bei dir?“

„Ja, alles bestens“, keuche ich, aber schon setzen Magenkrämpfe ein. Dann kehrt das Herzstechen zurück. Ungewollt sinke ich vornüber auf die Knie und spucke ein weiteres Mal Blut.

„Scheiße, was ist los mit dir? Antworte!“ Makos Stimme fängt an, sich zu verlieren und an ihre Stelle tritt das Rauschen des Windes, der gerade beschlossen hat, zum Sturm zu werden.

„Was hast du? Hey!“ Ich presse die Augen zu und mein ganzer Körper krampft sich zusammen. Es ist, als würden sich brennende Sägen durch meine Muskeln fressen.
 

„Jet, Jet!“ Als ich begriff, dass es nicht länger Makos Stimme war, die ich rufen hörte, kehrte für eine wahnsinnige Sekunde das Gespür für die Wirklichkeit zurück.

Meine Lieder fuhren in die Höhe und ich konnte erkennen, wie Jade auf mich zugelaufen kam. Ihre Gestalt flackerte, kippte zur Seite und ich konnte sogar noch hören, wie mein Stock klirrend auf den Boden traf.

Dann verschlangen mich das Wasser und der Himmel. Wie der düstere, gierige Schlund eines Monsters ohne Fänge und ohne Augen.

Denn es war die Dunkelheit selbst.

Unbekannte Tiefen

Mira – Unbekannte Tiefen
 

Pandora Hearts – Wrapped in Darkness
 

Meine Güte wo steckte Jade nur? Ich lief jetzt schon seit einer gefühlten Stunde durch das Internat und hatte sie immer noch nicht gefunden. Allmählich wollte ich schon aufgeben und bis morgen früh warten, denn da war ich mir sicher, sie würde in ihrem Büro sein.

Doch ich hielt kurz inne, denn ich hörte Stimmen aus dem Trainingsraum.

Langsam ging ich den leeren Flur entlang und sah, dass die Tür einen Spalt offen stand. Ich wollte erst einfach reinplatzen, aber bevor ich die Tür auch nur berühren konnte, hörte ich einen erstickten Schrei und zuckte zusammen.

War das …?

Ich beugte mich nach vorne und schaute durch den Spalt in den Raum. Jet lag bewusstlos auf dem Boden und Jade kniete neben ihm und rüttelte ihn leicht an der Schulter.

„Jet!“, drängte sie und ich verkrampfte. Was zum Teufel war passiert? Kurz war es still und es wirkte, als wäre die Zeit eingefroren, doch dann regte Jet sich wieder und hob langsam seinen Kopf.

„Alles … okay“, murmelte er und ich verzog das Gesicht. Dem Kerl ging es ganz offensichtlich nicht okay. So wie Jade ihn anschaute, dachte sie das wahrscheinlich auch gerade.

Ich trat zwei Schritte von der Tür weg, denn gleich würden sie raus kommen und ich wollte nicht, dass sie mich bemerkten. Mein Blick ging einmal nach links und dann nach rechts.

„Ich muss an die Luft“, hörte ich Jet sagen und schon war es zu spät um zu verschwinden, denn er riss die Tür auf und stand direkt vor mir.

Heilige Scheiße, war der schon immer so dünn?

„Ist Jade da drin?“, fragte ich überflüssigerweise nach, um den Anschein zu erwecken, dass ich gerade erst gekommen war.

Jet nickte nur, steckte seine Hände in die Hosentaschen und ging schließlich an mir vorbei.

Ich biss die Zähne zusammen, denn sein Anblick ließ mich leicht schaudern. Er sah aus als hätte er tagelang nichts mehr gegessen und auch ebenso wenig Schlaf bekommen.

„Mira“, hörte ich Jade plötzlich sagen und blickte erschrocken zu ihr. Sie stand im Türrahmen.

„Ich hab nach dir gesucht“, stammelte ich und schluckte, denn jetzt wollte mir beim besten Willen nicht mehr einfallen, was ich von Jade gewollt hatte. „A-Aber … das hat sich jetzt glaube ich auch erledigt.“ Mein Blick ging wieder zurück in den Flur, wo Jet verschwunden war.

„Darf ich dich um etwas bitten?“, fragte sie auf einmal und langsam schaute ich wieder zu ihr.

„Könntest du mit Jet reden? Ihn bedrückt etwas, aber er will es niemandem erzählen und das macht mir Sorgen.“

„Moment, warum sollte er es dann mir erzählen?“, wehrte ich ab und hob meine Hände an. „Ich habe doch so gut wie gar nichts mit ihm zu tun.“

„Genau aus diesem Grund, habe ich das Gefühl, dass er dir mehr erzählen wird, als mir, Moon, Amber oder Crystal. Er will nicht, dass wir uns Sorgen um ihn machen“, erklärte sie und ihr Blick war glasig.

„Aber ich -“

„Du musst mir oder den anderen auch nichts davon erzählen, ich will nur, dass er jemanden hat, mit dem er darüber reden kann.“ Es war schon fast ein Flehen und ich seufzte, schloss kurz die Augen und nickte dann.

„Ich danke dir“, flüsterte sie, legte die Hand auf meine Schulter und machte sich schließlich auch davon.

Eine Weile blieb ich noch wie angewurzelt stehen und warf meinen Kopf in den Nacken.

Ich hatte mit Jet rein gar nichts zu tun, aber wenn Jade der Meinung war, er würde mir etwas anvertrauen und es würde ihm dadurch besser gehen, dann redete ich eben mit ihm.
 

Gintama – Sad Song
 

Eine leichte Brise kam mir entgegen, als ich aus dem Haupthaus rausging. Der Himmel war lila gefärbt und es war schon recht dunkel. Ich sah mich kurz um, aber Jet war nicht hier, also schlug ich die Richtung zum Park ein.

Die Kirschblüten hatten einen richtigen Teppich gebildet und bedeckten selbst die Oberfläche des kleinen Sees. In dem Licht sah es magisch aus.

Leise ging ich zum Pavillon und als hätte ich es gewusst, war Jet hier. Er hatte sich auf die andere Seite auf die Holztreppe gesetzt und rührte sich nicht. Mir war klar, dass er mich wahrscheinlich schon längst gehört hatte. Ich verschränkte die Arme und überlegte was ich sagen konnte.

„Was willst du, Mira?“, fragte er leise, aber schaute nicht zu mir.

„Ich will mal mit dir reden“, sagte ich trocken und setzte mich einfach neben ihn auf die Treppe. Sein verwirrter Blick entging mir nicht, doch das ignorierte ich.

„Wieso?“

„Dir ist schon bewusst, dass sich jeder Sorgen um dich macht?“, fing ich an und blickte hinauf zum Himmel. Jet erwiderte nichts. „Mir sollte es eigentlich egal sein, aber da ich irgendwie angefangen habe, Crystal zu mögen, sehe ich das es ihr ebenso scheiße geht, aber sie sagt nichts … dir zuliebe.“ Meine Augen wanderten langsam wieder zu ihm und er starrte auf den Boden. Er rieb gedankenverloren seine Hände aneinander und ich beschloss, zu warten, bis er etwas sagte.

„Ihr geht es schlecht?“, fragte er rau nach.

„Ja, und das, weil du sie belügst. Ich meine keiner von uns ist blind, selbst Askella hat bemerkt, dass etwas mit dir ist und mal ehrlich … sie ist nicht die Hellste und achtet schon gar nicht auf andere Menschen“, sagte ich ernst. Jet seufzte und stützte seine Ellenbogen auf den Beinen ab, dann schloss er die Augen.

„Mir ist wirklich egal, mit wem du darüber redest, aber du solltest es bald mal tun, denn du merkst selbst, dass wenn du es für dich behältst, es dir nur schadet“, redete ich auf ihn ein und lehnte mich leicht nach hinten um mich mit meinen Händen abzustützen.
 

Linkin Park - Leave Out All The Rest [Piano Version]
 

„Es ist einfach ziemlich kompliziert“, meinte er nach langem Schweigen. „Ich habe … ständig diese Albträume, die wirklich was ganz anderes aussagen, als ich Crystal erzählt habe.“

„Was hast du ihr denn erzählt?“

„Dass ich mich nicht unter Kontrolle hätte und jeden um mich herum töte, doch meine Träume sind anders geworden. In gewisser Hinsicht zeigen sie einen Teil meiner Vergangenheit … zumindest glaube ich das, denn einige Bilder kommen mir schrecklich vertraut vor“, erzählte er und ich war ehrlich gesagt überrascht, denn so viel hatte er bestimmt noch nie am Stück geredet, jedenfalls nicht vor mir. Und nicht über sich selbst.

„Ich kann nicht mehr richtig schlafen und wenn, dann kommen diese Albträume und sobald ich aufwache, bin ich noch erschöpfter. Ich habe nicht mal mehr Appetit auf irgendwas…“

„Dass du dir dann nicht helfen lässt, verstehe ich nicht. Merkst du denn nicht, dass du das scheinbar nicht alleine schaffst?“, sagte ich plötzlich und erkannte, wie er etwas in sich einsank. Aber er sagte dazu nichts.

„Manchmal muss man sich zwingen, seine Sorgen auszusprechen, damit es besser wird. Egal, ob man jemand anderem damit Sorgen bereitet. Nur so können sie einem helfen“, sagte ich und wurde zum Schluss hin immer leiser.

Warum versuchst du immer, stark zu sein?

Ich seufzte. „Denk darüber einfach mal nach, Jet.“ Langsam stand ich auf und ging einige Schritte wieder zurück.

„Ich hab das Gefühl, als wäre ich zwei Personen zur selben Zeit“, sagte er mit einem Mal und ich hielt inne, dann drehte ich mich zu ihm. Er griff in seine Tasche und zog einen kleinen schwarzen Stein mit weißen Flecken hinaus. Es sah aus wie ein Schneeflockenobsidian.

„Was ist das?“, fragte ich leise und legte den Kopf etwas schräg.

„Mein Glücksbringer“, sagte er rau und betrachtete ihn stumm.

Jet wirkte so kraftlos in diesem Augenblick und so viel schwächer, wenn er diesen Stein anschaute. Es kam mir nicht so vor, als wäre das sein Glücksbringer, sondern viel mehr ein Unglücksbringer.

In diesem Moment sah ich in ihm nicht den starken Mann, sondern einen kleinen Jungen, der einfach nicht wusste, wohin er gehörte.

Ohne noch etwas zu sagen, drehte ich mich um und begab mich wieder zum Haupthaus.
 

Dave Matthews Band - Out Of My Hands
 

Irgendwie machte es mir Angst Jet so zu sehen, denn … er war so dünn. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ein Rider so abnehmen konnte – der Virus würde doch alles tun, damit der Körper am Leben blieb. Warum nicht auch bei ihm? Es musste zwar noch einiges mehr dazu kommen, aber Jet war auf einem guten Weg dorthin…

Ich verstand es nicht und sowieso wirkte Jet ganz anders, als alle Crystal Rider, die mir bisher unter die Augen gekommen waren. Er war der Einzige, der nichts von seiner Verwandlung wusste, er konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern. Darum beneidete ich ihn ein wenig, aber mit so etwas leben zu müssen, mit so einer Ungewissheit, das konnte und wollte ich mir auch nicht vorstellen.

Ehrlich gesagt, tat er mir furchtbar Leid und Crystal auch, denn man sah, dass sie genauso darunter litt. Wie stark musste sie ihn bloß lieben…

Ich stieß die Tür zur Eingangshalle auf und stolperte direkt über die Schwelle. Ich war so in Gedanken, dass ich nicht mal normal gehen konnte. Schnell schüttelte ich den Kopf, ließ die Tür hinter mir zufallen und ging langsam und leise durch den Flur. Dieses Mal konnte mich wirklich niemand bemerken, denn ich hatte normale Schuhe an.

Nach nur einer Minute erreichte ich mein Zimmer, doch ich hielt davor inne. Wenn Askella auch da war, dann schlief sie bestimmt schon, denn heute hätte sie keiner wachhalten können. Nicht mal Mrs. Capella.

So leise wie möglich öffnete ich die Tür, denn ich wollte sie nicht wecken, aber als ich eintrat sah ich, dass meine Mühe umsonst war. Sie war gar nicht erst da. Ich seufzte, schloss wieder die Tür und begab mich zu Onyx' Zimmer. Er hatte keinen Mitbewohner, also klopfte ich unbefangen an. Ich wartete kurz, doch es öffnete niemand. Schlief er schon?

Dann hörte ich Schritte, die näherkamen und drehte mich um. Es war Ivory, der nur an mir vorbeiging. Er lächelte mir zu und nickte zur Begrüßung. Kurz erwiderte ich sein Lächeln, doch wandte mich wieder zur Tür, die immer noch geschlossen war. Ivory war dann wieder verschwunden.

Ich biss auf meine Unterlippe und senkte den Blick. Entweder schlief Onyx oder er war gar nicht da, in beiden Fällen war ich hier überflüssig. Mein Körper drehte sich schon wieder nach rechts, als ich hinter mir erneut Schritte wahrnahm, doch ich ging weiter.

„Mira?“, fragte die Person und ich blieb sofort stehen, dann sah ich zurück. Onyx kam mir entgegen.

„Wo warst du?“, fragte ich und wandte mich nun ganz zu ihm. Wir wollten uns nicht treffen, wir hatten nichts vereinbart … und wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit dem Kuss. Also musste er mir nicht sagen, wo er war und natürlich konnte er auch hingehen, wohin er wollte. Warum störte es mich dann?

„Nur in der Mensa“, antwortete er verwirrt und ich griff an meine Oberarme. Irgendwie war mir eiskalt.

„Ist alles okay?“, fragte er und ich nickte sofort.

Seine Haare waren total durcheinander und doch wusste ich, dass er sie immer so herrichtete. Sein Pony hing in einzelnen Strähnen in seiner Stirn und hinten waren sie etwas kürzer.

Er hatte ein schwarzes Hemd an, welches nicht zugeknöpft war und darunter ein weißes T-Shirt. Die Ärmel waren hochgekrempelt und gaben seine braun gebrannte Haut frei. Warum ich so darauf achtete, wusste ich selbst nicht, aber sein Anblick jagte mir eine angenehme Wärme durch den Körper.

Als mir klar wurde, dass ich ihn gerade die ganze Zeit angestarrt hatte und meine Wangen immer röter wurden, drehte ich mich eilig um und steuerte auf mein Zimmer zu.

„Mira, jetzt warte doch bitte mal“, rief er mir hinterher und folgte mir auch. Erst als er mich am Arm festhielt, blieb ich stehen, doch sah ich ihn nicht an.

„Ich will endlich wissen, was mit dir los ist“, sagte er ernst und stellte sich vor mich hin. Meine Augen wanderten zu seinen und unwillkürlich dachte ich an meine Worte, die ich Jet an den Kopf geschmissen hatte.

Manchmal muss man sich zwingen, seine Sorgen auszusprechen, damit es besser wird. Egal, ob man jemand anderem damit Sorgen bereitet. Nur so können sie einem helfen.
 

Jewel – Hands
 

„Komm mit“, murmelte ich und hielt auf mein Zimmer zu. Wenn Askella eben noch nicht da war, dann würde sie jetzt bestimmt auch nicht mehr kommen. Bei ihr kam es mehr als nur oft vor, dass sie woanders übernachtete.

Als wir im Zimmer standen, ging ich zu meinem Schrank und holte eine Schachtel raus. Dann setzte ich mich auf mein Bett und schloss kurz die Augen. Onyx setzte sich neben mich, aber er sagte nichts.

„Meine Eltern waren ein richtige Vorzeigepärchen“, fing ich an, zu erzählen und spürte schon wieder den Ekel in mir hochkommen, sobald ich nur daran dachte, was sie den Leuten alles vorgemacht hatten. „Lieb und nett, hilfsbereit und sehr spendabel … aber das taten sie nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und Geld.“
 

„Es ist doch schön, wenn man helfen kann!“, sagt meine Mutter überfreundlich und lacht auf ihre gespielte Art. „Gern geschehen.“ Dann legt sie auf. Ich stehe in der Küche und schenke mir etwas zu trinken ein, doch da kommt sie schon anstolziert.

„Mach dich bald fertig! Wir müssen zu einer Pressekonferenz“, meint sie und ich blicke langsam zu ihr.

„Was habe ich damit zu tun?“, frage ich leise.

„Du weißt, dass du dabei sein musst, schließlich brauchen wir dich.“
 

„Sie brauchten mich, damit wir die kleine glückliche Familie spielen konnten, die wir eigentlich nie waren“, murmelte ich und öffnete die Schachtel. Darin war ein Zeitungsartikel.
 

„Sie ist infiziert!“, brüllt mein Vater und schubst mich von sich. Ich verliere mein Gleichgewicht und falle zu Boden.

„Was sollen wir machen? Das darf doch nicht wahr sein! Ich wusste, du bist nur ein Klotz am Bein!“, schreit meine Mutter auf mich ein, während ich am Boden liege und meine Hände auf meine Brust presse, es schmerzt so sehr!

„Als erstes müssen wir dafür sorgen, dass keiner davon erfährt, Liebling“, höre ich meinen Vater sagen und schöpfe Hoffnung, dass er mir helfen will.

„Aber wie?“

„Wir schaffen sie ins Internat. Und Gabriela fährt sie dorthin.“
 

„Gabriela war mein Kindermädchen, sie sprach aber unsere Sprache nicht, zumindest nicht so gut. Aber als sie mich dort abgesetzt hatte, meinte sie zu mir, dass sie mich liebt und das es ihr leidtäte“, flüsterte ich und wieder wurde mir so unangenehm kalt. Dann griff ich in die Schachtel und holte den Zeitungsartikel hinaus.

„Das habe ich einige Tage nach meiner Ankunft hier gefunden“, sagte ich, blickte zu Onyx und reichte ihm den Artikel.

„Eine Todesanzeige?“, fragte er nach und ich nickte.

„Arianna Felicia Connor, das ist mein richtiger Name und das“ – ich zeigte auf die Anzeige – „ist meine Todesanzeige. Nach meiner Infizierung haben meine Eltern mich einfach für tot erklärt.“ Ich knirschte mit den Zähnen und versuchte, mich zu beruhigen, doch spürte ich wieder, wie es mir nicht gelang. Dafür war meine Wut einfach zu groß … und ich hatte das zum ersten Mal ausgesprochen. Ich konnte nicht mehr …

„Mira?“, fragte Onyx, als ich den Kopf senkte, um meine Tränen zu verbergen, aber ich schaffte es nicht, denn schon flossen sie an meinem Gesicht hinab.

„Aber es ist auch egal, meine Eltern sind mir egal. Sie können von mir aus in der Hölle brennen!“, zischte ich und stand auf.

„Wenn deine Eltern dir so egal sind, warum hast du dann immer noch den Artikel aufbewahrt?“, fragte er ruhig, aber es fühlte sich an wie ein Messerstich.
 

Linkin Park – In Between
 

„Meine Eltern sind mit egal!“, schrie ich und drehte mich ruckartig zu ihm um. Er schien nicht überzeugt zu sein. „Die beiden sind die letzten Menschen auf dieser Welt, die ich jemals wieder zu Gesicht bekommen will!“ Er seufzte, legte den Artikel wieder in meine Schachtel und kam zu mir.

„Warum bist du so wütend?“, fragte er und legte seine Hände auf meine Schultern.

„Was ist denn das für eine Frage?!“

„Wären deine Eltern dir egal, dann würdest du ihnen gegenüber auch nichts empfinden, aber du bist sehr enttäuscht worden und das macht dich wütend, weil du nach allem mit so etwas ttrotzdem nicht gerechnet hättest“, sagte er und ich kniff die Augen zusammen.

„Du hast doch keine Ahnung!“, schrie ich und drehte mich weg, dann brach alles in mir und ich sank runter auf die Knie. Das Schluchzen ging in Wellen durch meinen Körper und es wollte nicht mehr aufhören.

„Ich hasse sie so sehr!“

„Bitte beruhige dich“, flüsterte Onyx und war plötzlich neben mir und legte seinen Arm um mich.

„Hör auf, lass mich in Ruhe!“, rief ich und wollte am liebsten alleine sein, denn so sollte mich keiner sehen. „Ich will einfach nicht …“

Plötzlich schlug mein Herz schneller und ich atmete zittrig ein. Die Kälte verschwand und mir wurde warm. Langsam wurde ich ruhiger und drehte mich zu Onyx. Er sah mich neutral an, aber seine Augen schimmerten. Er beruhigte mich mit seiner Gabe und ich konnte nicht anders, als sein Gesicht in meine Hände zu nehmen und meine Lippen vorsichtig auf seine zu legen.

Sanft berührte er meine Wange, doch seine Berührungen wurden zunehmend verlangender, ebenso wie meine. Ich krallte meine Hand in sein Haar, schob die andere unter sein T-Shirt an seinem Rücken entlang, krallte mich dort fest und er zog mich mit sich auf die Beine.

Meine Zungenspitze glitt über seine Lippen und ich streifte ihm das Hemd ab. Dann drückte er mich an die Wand, doch stoppte sofort und schob mich von sich.

„Das will ich so nicht“, meinte er erschrocken. „Tut mir leid.“ Sofort löste er sich von mir und ließ mich stehen.

„Was?“, fragte ich irritiert und folgte ihm.

„Das war meine Gabe, das wollte ich nicht, ich wollte nur, dass du dich beruhigst“, erklärte er und griff mit einer Hand in seine Haare.

Ich schluckte und versteifte mich. War das wirklich nur seine Gabe? Ich wusste es nicht, denn ich fühlte mich so … manipuliert? Nein, das war es nicht … mein Verlangen nach Onyx ließ auch nicht nach.

„Es tut mir wirklich leid, Mira, das wollte ich nicht“, fing er wieder an sich zu entschuldigen. „Es ist nur … ich müsste mich eigentlich beherrschen können, weil…“ Er stockte und blickte erschrocken zu mir. Immer noch konnte ich nur daran denken, wie wunderschön er war, ignorierte seine Worte dennoch nicht.

„Warum musst du dich beherrschen können?“, fragte ich nach.

„Eben … Also Ivory therapiert mich ja, seitdem ich auf dem Internat bin und eben hat er mir gesagt …“ Er sprach nicht weiter und senkte seinen Blick.

„Was?“ Ich wurde ungeduldig und bekam ein ungutes Gefühl.

„Er hat mich zur Abschlussprüfung angemeldet.“

Das war genau der Schlag, den ich erwartet hatte. Meine Augen weiteten sich und ich ballte meine Hände zu Fäusten.
 

„Mira, ich muss dir leider sagen, dass es bei dir wahrscheinlich noch ein paar Jahre dauern wird, bis du zur Abschlussprüfung kannst. Deine Gabe ist zu sehr von deinen Gefühlen abhängig“, sagt Capella mir mit mitfühlender Miene.

„Ich will nicht mal zur Abschlussprüfung. Hier sind wir doch alle am sichersten“, erwidere ich abwehrend.
 

Linkin Park – The Messenger
 

„Willst du die Prüfung antreten?“, fragte ich leise und spürte einen Kloß im Hals.

„Nein“, sagte er sofort. „Ich will nicht entschärft sein, dann müsste ich hier weg. Ich müsste da raus.“ Onyx machte eine deutliche Handbewegung zum Fenster, doch wurde dann etwas rötlicher um die Nase. „Ich könnte dich nicht mehr sehen.“ Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu erwidern, aber mir fiel nichts ein. Seine Worte überrumpelten mich.

„Wie lautet dein richtiger Name?“, hörte ich mich plötzlich fragen, vielleicht, um vom Thema abzulenken, vielleicht aber auch aus bloßem Reflex. Seine Augen wanderten langsam wieder zu meinen.

„Das … ähm, das hat mich lange keiner mehr gefragt und ich habe es auch ebenso lange niemandem mehr erzählt“, murmelte er rau und legte kurz seine Hand in seinen Nacken.

Aber ich wartete, denn ich wollte es wissen.

„Mein richtiger Name ist Riley Greyheart“, flüsterte er und lächelte verlegen. Auf meinen Lippen bildete sich ein breites Lächeln.

„Was denn?“, fragte er irritiert.

„Der Name ist sehr schön“, meinte ich und spürte selbst, wie meine Wangen immer heißer wurden.

„Früher hasste ich diesen Namen, weil mein Vater ihn mir gegeben hat“, erklärte er und ich legte fragend den Kopf schräg. Nun wurde sein Lächeln düsterer und kurz glaubte ich, den alten Onyx vor mir zu haben. Er drehte sich weg und schaute zum Fenster hinaus. Es war bereits so dunkel, dass man ohne die Laternen gar nichts gesehen hätte.

„Mein Vater … er war …“ Er seufzte, als würde er nicht die richtigen Worte finden und als würde ihn das sehr bedrücken.

„D-Du musst nicht -“, fing ich an, doch da baute er sich auf und holte Luft.

„Er hat mich missbraucht, geschlagen, angeschrien und … es war wirklich die schlimmste Zeit in meinem Leben. Meine Mutter hat er auch geschlagen, aber sie hat sich trotzdem nicht von ihm getrennt. Doch … auf einmal war er nicht mehr da und meine Mutter sagte mir, dass er einen Autounfall gehabt hätte. Das war mir egal.“ Er presste die Lippen aufeinander und schloss langsam die Augen, als hätte er die Bilder direkt vor sich.

„Endlich war er weg und endlich konnte ich normal leben, musste keine Angst mehr haben, im nächsten Augenblick eine Gürtelschnalle gegen den Kopf zu bekommen oder dass er nachts in mein Zimmer kam … zumindest dachte ich das. Ich habe normal die Schule weiter gemacht, habe gesehen wie meine Mutter endlich wieder lachen konnte und lernte Leute kennen.“

Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, aber nach einer Sekunde verschwand es wieder, dann war sein Blick eiskalt und er starrte in die Ferne.

„Aber das Glück verschwand schnell … ich trug eine unglaubliche Wut in mir und irgendwann konnte ich sie nicht mehr verstecken. Nun war ich es, der anfing meine Mutter zu schlagen, prügelte auf Leute ein, weil sie mich angerempelt hatten. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Und an einem Abend passierte dann auch das, was ich selbst so sehr gehasst hatte. Ich lernte ein Mädchen kennen und sie lud mich zu sich ein. Es war ganz offensichtlich, dass sie nicht weiter gehen wollte, aber das war mir egal. In diesem Moment wich jedes Gefühl aus mir und -“ Er stockte und biss die Zähne zusammen. „Ich wusste immer, dass es falsch war, aber … ich konnte nicht anders. Ich habe es einfach ignoriert.“

Langsam drehte Onyx sich wieder zu mir und ich erkannte, dass seine Augen glasig waren. Ich rührte mich nicht, sondern sah ihn nur an.

„Na ja, das alles fing auch erst richtig in den letzten Jahren meiner Schulzeit an und ich bekam viele Anzeigen, saß auch schon im Gefängnis, aber nur wegen Körperverletzung. Keine der Frauen hat sich jemals getraut, jemandem davon zu erzählen, ich hatte ihnen nämlich deutlich gemacht, dass sie es bleiben lassen sollten.“ Ich hörte förmlich das Knirschen seiner Zähne und versuchte, keine Reaktion zu zeigen, auch wenn es schrecklich war, was er mir da erzählte.
 

Shadow Of The Damned – Main Theme
 

„Als ich dann infiziert wurde, war ich fünfundzwanzig und ich hatte da schon von den außergewöhnlichen Gaben gehört und fragte mich natürlich, was meine war. Es dauerte auch nicht lange, bis ich das rausfand“, murmelte er und senkte angewidert seinen Blick.

„Ich ging nach kurzer Zeit dennoch freiwillig ins Internat, denn da dachte ich mir, schlimmer als jetzt, kann es nicht mehr werden. Und da hatte ich auch noch Recht mit behalten, denn selbst, nachdem ich Jade meine Geschichte erzählt hatte, nahm sie mich auf und sagte, dass sie mir helfen würde … ich weiß bis heute nicht, was sie da geritten hat und bis vor kurzem war es mir auch egal, was andere von mir halten.“

Er lachte kurz auf.

„Aber diese Frau hat ihr Wort gehalten, sie hat mich nicht aufgegeben, hat Ivory mit dazu geholt, weil er es besser beurteilen kann mit seiner Gabe. Er spürte immer, wenn ich – selbst unbewusst – meine Gabe benutzt habe“, sprach er aufgeregt und ungläubig zugleich.

Ich selber lächelte ebenfalls ganz leicht und sah ihn einfach nur an, doch dann dachte ich daran zurück, wie es bei mir war. Er hatte mir gerade alles offenbart, doch ich nicht ihm … warum fiel es mir so schwer? Ich biss auf meine Unterlippe. Na los!

„Ich litt, seit ich zwölf Jahre alt war unter Magersucht“, murmelte ich und atmete stockend ein. Onyx ließ seinen Blick sofort wieder auf mich fallen.
 

„Finger weg von diesem Zeug!“, schimpft meine Mutter, als ich mit einem Hamburger in der Hand nach Hause komme. Verwirrt sehe ich zu ihr auf.

„Das macht dich dick und hässlich und du musst hübsch sein, Arianna!“, zischt sie angewidert, nimmt nur mit Fingerspitzen den Hamburger und schmeißt ihn in den Müll. „So ein Zeug kommt mir nicht ins Haus.“

„A-Aber ich hab Hunger“, flüstere ich und ziehe meine Brauen zusammen.

„Dann iss das“, sagt sie, geht zum Kühlschrank und holt einen Diätjogurt raus. Den drückt sie mir in die Hand und geht.
 

„Wie bescheuert das einfach war, dass ich da mitgemacht habe. Aber groß eine andere Wahl hatte ich auch nicht. Irgendwann war es für mich zur Routine geworden, nichts mehr zu essen und wenn man mir etwas angeboten hat, wollte ich nicht. Nicht mehr, weil meine Mutter es mir verboten hatte, sondern weil ich schon selbst dem Mist glaubte. Und das ist auch der Grund, warum ich auch jetzt nicht viel esse, weil ich es einfach nicht gewohnt bin. Aber ich könnte selbst Wochen hungern und mein Körper würde keinen Schaden nehmen, aufgrund des Virus. Ich würde schwächer werden, aber groß bedrohlich wäre das nicht für mich“, erzählte ich und Onyx lächelte sanft. Fast schon dankend, aber genauso auch ich.

Er hatte mir gerade alles anvertraut und ich hatte noch nie so was Schlimmes gehört, doch er redete mit mir darüber. Das war ein Geschenk.

„Warum hast du mir das alles erzählt?“, fragte ich und verschränkte hinter meinen Rücken meine Hände. Er öffnete leicht den Mund, doch schloss ihn wieder und mit derselben Miene schaute er auf den Boden.

„W-Weil … ich dich …“ Er stockte und blickte mich ernst an. Plötzlich schimmerten seine Augen und mein Herz begann, wie wild zu schlagen. Dann gingen wir beide aufeinander zu und er nahm mein Gesicht in seine Hände, küsste mich und ließ eine Hand zu meiner Hüfte gleiten. Ich krallte in sein T-Shirt, schob es leicht hoch und fuhr mit meiner anderen Hand durch seine Haare.

Jede Berührung von ihm kribbelte und ich bekam Gänsehaut. Mir wurde heiß und ich zog ihn noch enger an mich, biss in seine Lippe und stöhnte lustvoll auf. Er hatte seine Arme eng um mich gelegt, ließ seine Hände zu meinem Rücken gleiten, dann zu meiner Taille, zu meiner Hüfte …

Wie vorhin hörte er abrupt auf, mich zu küssen und ließ mich schlagartig los. Doch ich hielt ihn weiterhin fest, denn ich wollte nich,t dass er aufhörte.

„Nein … verdammt!“; zischte er und wollte meine Hände von sich nehmen. „Meine Gabe … ich hab sie bei dir einfach nicht unter Kontrolle.“

„Hör nicht auf“, raunte ich und schob langsam meine Hand unter sein Shirt.

„I-Ich … hab dich manipuliert …“, versuchte er, sich zu wehren.

„Onyx“, fing ich an und legte meine Hände auf seine Brust.

„Nein, nein! So will ich das nicht. Das wollte ich nicht“, stammelte er und ging wieder ein paar Schritte rückwärts.

Nun zischte ich, packte seinen Kragen, drehte ihn zum Bett und schubste ihn darauf. Erschrocken sah er zu mir auf und ich kniete mich über ihn.

„Onyx, das ist nicht deine Gabe“, knurrte ich an seinem Ohr und endlich ließ er sich darauf ein. Begierig legte er seine Hände an meine Taille, schob mein Oberteil hoch und zog es mir schließlich aus. Dann zog ich ihn soweit hoch, dass ich ihm ebenfalls sein Shirt ausziehen konnte.

Er sah mich an, hielt meinen Blick fest und strich eine Strähne hinter mein Ohr. Sanft küsste er mich wieder und seine Lippen wanderten von meinem Mund zu meinem Hals und dabei strich er mir über den Rücken und öffnete den Verschluss meines BHs.

Ich hatte meine Arme um seinen Hals gelegt, fuhr immer wieder durch seine Haare und genoss jede Berührung von ihm an meinem Hals, meiner Brust, meinen Bauch.

Dann zog er mich plötzlich nach vorne und drehte mich auf den Rücken, sodass er über mir war. Er lächelte, als er mein überraschtes Gesicht sah und beugte sich nur wieder runter, um seine Lippen auf meine zu legen. Seine Hände strichen über meine Haut und langsam zog er mir die restliche Kleidung aus. Immer wieder wanderten meine Finger über seine Brust, dann zu seinem Bauch und mal an seinen Rücken um mich dort festzukrallen. Doch dann ließ ich mich genauso drauf ein und zog ihm auch die letzten Kleidungsstücke aus.

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und er krallte mit einer Hand in meinem Haar, mit der anderen stütze er sich auf.

Und in diesem Augenblick waren wir nicht nur körperlich verbunden … Nein. In dieser Nacht teilten wir noch etwas anderes, etwas Unbeschreibliches und ich wusste, dass ich Onyx vertrauen konnte und ich wusste auch, dass er mir genauso vertraute.
 

River Flows in You - Cello & Piano Orchestral Version ft. Yiruma
 

Meine Augen öffneten sich ein kleines Bisschen und ich spürte, dass Onyx ebenfalls wach war. Hatten wir schon Morgen?

Ich lag mit meinem Kopf auf seiner Brust und er hatte seinen Arm um mich gelegt, während er mit seinen Fingern leicht über meine Schulter strich. Es war noch ziemlich dunkel draußen, also früher Morgen, tippte ich. Ein Schauer überkam mich und ich lächelte. Früher war er nie bei mir geblieben in der Nacht, genauso wenig, wie ich bei ihm, wenn wir in seinem Zimmer gewesen waren.

Langsam drehte ich mich so, dass ich zwar immer noch mit dem Kopf auf seiner Brust lag, aber ihn anschauen konnte.

Er lächelte mich an und ich erwiderte es. Seine Haare waren komplett durcheinander und dieses Mal war es ungewollt. Doch es ließ ihn unglaublich schön wirken.

„Ich habe über gestern Abend nachgedacht“, flüsterte er ruhig und ich wartete bis er weitersprach. „Über das, was du mir mit deiner Magersucht erzählt hast und wie deine Eltern waren.“

„Was ist damit?“, fragte ich und spürte, dass ich nicht aufhören konnte zu lächeln. Er schaute kurz an die Decke und überlegte. Dann hatte er die richtigen Worte gefunden.

„Du bist wie ein Phönix“, meinte er und ich zog meine Brauen zusammen.

„Wie … meinst du das?“, fragte ich irritiert nach.

„Dieser Vogel vernichtet sich selbst und kann dennoch neu auferstehen. Aus etwas Zerstörtem wird etwas ganz neues, etwas Wunderschönes und genau das kannst du auch“, lächelte er und ich blinzelte, während die Hitze in mein Gesicht schoss.

„Du kannst aus der Asche deiner Vergangenheit treten und neu anfangen, so eine zweite Chance hast du mehr als verdient, Mira“, raunte er und strich mit seinen Fingerspitzen sanft über meine Wange.

Ich senkte kurz meine Augen und presste meine Lippen zusammen, doch dann hob ich wieder den Kopf und beugte mich näher zu ihm heran, kurz vor seinen Lippen blieb ich dann stehen.

„Du auch, du hast es genauso verdient, Onyx“, flüsterte ich und küsste ihn. Dann schauten wir uns in die Augen und er legte eine Hand an meine Wange.

„Ich liebe dich“, flüsterte er ruhig und mein ganzer Körper verkrampfte. Das spürte er und verzog schon ängstlich seinen Mund. Warum sagte er das? Meinte er es wirklich so?

Ich atmete kurz ein und spürte, dass meine Augen anfingen zu brennen, bis die erste Träne auf Onyx' Brust tropfte. Ich zitterte.

„Ich liebe dich auch“, sagte ich dann und spürte seine Erleichterung, spürte wie seine Haut wärmer wurde und dann zog er mich enger an sich und wir küssten uns.

Das war es also … die ganze Zeit über war es Liebe gewesen, die mich so verrückt werden ließ, wenn es um Onyx ging. Ich wollte immer nur, dass es ihm gut ging. Im Nachhinein war es so klar und doch hatte ich es einfach nicht gesehen.

Jetzt verstand ich auch, warum ich mich bei ihm nie beherrschen konnte, verstand warum er der Einzige war, der mir, wenn er mir nur in die Augen blickte, praktisch meine Seele sah. Er war der Einzige, bei dem es mich auch kein bisschen störte, wenn er etwas von mir wusste, wenn er wusste, wer ich wirklich war. Und genau dieses Gefühl, ließ mich über seine Vergangenheit hinwegsehen.

Aber wie konnte ich mir so sicher sein? Ich hatte noch nie geliebt und das, was ich spürte, wenn ich Onyx ansah, kannte ich nicht. Dennoch fühlte es sich unglaublich an und es machte mich… glücklich.

Etwas anderes als Liebe konnte es nicht sein.

Schneeflocken

Crystal – Schneeflocken
 

Pandora Hearts – Cradle
 

Das Kratzen machte mich wahnsinnig … auch wenn ich es selbst verursachte, ich hätte am liebsten die Gabel gegen das Fenster geschmissen. Warum wollte diese blöde Nudel auch nicht auf die Gabel?

„Crystal?“, fragte Moon und beugte sich verwundert nach vorne. Ich richtete mich auf, ließ die Gabel auf den Teller fallen und seufzte. „Ich geb's auf.“

„Was?“, fragte Amber kauend und schaute blinzelnd zu mir.

„Die Nudel weigert sich, gegessen zu werden“, sagte Moon entschieden und Amber stockte mitten im Kauen, schluckte und seine Augen wanderten auf meinen Teller, auf der nur noch diese eine Nudel lag.

„Wenn sie nicht will, dann will sie nicht“, murmelte er und plötzlich richtete sich die Nudel auf, dann ertönte nur ein quietschendes „Nö“, sie sprang vom Tisch und rollte davon.

„Was zum …?“, stammelte ich und schaute überrascht zu Amber. Wenigstens sah es jetzt so aus, als hätte ich aufgegessen. Ich sah mich einmal kurz um, doch schon wieder wurde ich enttäuscht.

„Ihr wisst auch nicht, wo Jet ist, oder?“, fragte ich sah wieder zu Amber und Moon.

„Nein, nach der Strafarbeit gestern habe ich ihn auch nicht mehr gesehen“, sagte Moon und schaute zu Amber.

„Er war am Abend, als ich ins Bett gegangen bin, noch nicht da, aber in der Nacht habe ich ihn gehört. Heute Morgen war er schon wieder weg“, sagte er und ich verzog leicht den Mund. War etwas mit ihm passiert? Als hätte Jet uns gehört, kam er auf einmal in die Mensa, holte sich kurz einen Nudelauflauf und setzte sich neben mich.

„Kann mir einer von euch sagen, warum da gerade eine Nudel im Flur an mir vorbeigerollt ist?“, fragte er tonlos und schaute dennoch sofort zu Amber. Dieser lachte nur und biss von seinem Brötchen ab.

Ich beobachtete ihn eine Weile und mir fiel schnell auf, dass er schon wieder nichts aß. Er hatte zwar seinen Teller voll, aber stocherte nur darin herum. Die Tage davor hatte er wenigsten ein bisschen gegessen, aber jetzt rührte er es gar nicht an.

„Geht es dir gut?“, fragte ich etwas leiser, als Amber auf einmal anfing, Moon zu ärgern – halb hörte ich, dass sie darüber diskutierten, ob seine Gabe auch auf eine Ravioli gewirkt hätte. Jet blickte zu mir und lächelte, aber es war nur aufgesetzt, das erkannte ich.

„Wo warst du gestern den ganzen Abend? Du hast gesagt, du wolltest nachkommen.“

„Entschuldigung, Jade wollte noch mit mir reden“, sagte er und drehte sich ganz zu mir. Ich seufzte und er nahm meine Hand. „Mach dir bitte keine Sorgen.“

„Das ist schwer“, flüsterte ich und da entglitt ihm das Lächeln.

„Komm kurz mit, ja?“, sagte er da plötzlich und stand auf, ich sah verwundert zu ihm auf und schaute dann zu seinem Teller.

„Und was ist mit deinem Essen?“

„Ich habe grad keinen Hunger, das kann Amber essen, wenn er will“, meinte Jet und Amber grinste.

„Danke!“, sagte er und zog den Teller zu sich.

Ich nickte nur, stand ebenfalls auf und zusammen gingen wir aus der Mensa. Jet führte mich zu seinem Zimmer und schloss hinter uns die Tür.
 

Clannad OST – Nagisa
 

Man erkannte genau, wer auf welcher Seite schlief. Jets Seite war ordentlich und Ambers … das wollte ich nicht beschreiben.

„Crystal, es tut mir wirklich unendlich leid, was ich dir alles zugemutet habe“, sagte er auf einmal und nahm meine Hände in seine.

„Wie meinst du das?“

„Ich habe die ganze Zeit gedacht, keiner würde sehen, wie es mir geht, wenn ich das verstecke. Ich wollte einfach nicht, dass ihr euch Sorgen um mich macht. Aber ich bin wohl ein schlechterer Schauspieler, als ich dachte“, murmelte er und hatte ein verlegenes Lächeln im Gesicht.

„Allerdings“, stimmte ich zu.

„Ich verspreche dir, dass ich das ab jetzt besser machen werde. Ich werde es in den Griff bekommen“, versicherte er mir und auf einmal erkannte ich etwas in seinen Augen. Aber … was war das? Es sah aus, als würden sie schimmern … nein, das beschrieb es auch nicht.

„Ist alles okay?“, fragte er und zog seine Stirn in Falten. Dieses 'Schimmern' war weg.

„Deine Augen … da war grad …“ Wie konnte ich das beschreiben?

„Meine Augen?“, fragte er nach und ich schüttelte nur den Kopf.

„Ist schon okay, ich hab mich bloß verguckt“, lächelte ich und schaute auf den Boden. Das hatte mich jetzt wirklich aus dem Konzept gerissen. Langsam ließ ich seine Hände los und schlang meine Arme um seine Mitte.

„Bitte … pass auf dich auf“, flüsterte ich in seine Brust und spürte, wie er ebenfalls seine Arme um mich legte.

„Das werde ich, versprochen“, entgegnete er und gab mir einen Kuss auf meine Haare.

„Ich will dich einfach nicht verlieren, ich will nicht, dass dir etwas zustößt … Jet, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben“, sagte ich und blickte zu ihm auf.

Ein kleines überraschtes Lächeln erkannte ich auf seinem Mund und dann küsste er mich kurzerhand. Es war nur kurz und so sanft und doch reagierte mein ganzer Körper. Mir wurde warm, mein Herz schlug schneller, in meinem Bauch kribbelte es und meine Wangen fühlten sich so an, als wären sie rot wie eine Tomate.

„Du bist auch der wichtigste Mensch für mich“, flüsterte er und legte seine Hände an mein Gesicht.

„Was wollte Jade eigentlich gestern von dir?“, fragte ich leise und er schluckte.

„Sie hat mich gefragt, was mit mir los ist“, entgegnete er und ließ mich los.

„Und was ist mit dir los?“

„Ich bin mir einfach nur unsicher … wegen meiner Vergangenheit und den ganzen Lücken in meinem Gedächtnis“, murmelte er und drehte sich zum Fenster.
 

Air TV – Natsukage
 

„Jet“, fing ich an und stellte mich neben ihn, mit dem Blick ebenfalls zum Fenster. „Egal, was passiert, ich werde immer bei dir sein, solange du mich bei dir haben willst.“

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie er mich von der Seite anschaute und musste lächeln.

„Egal, was passiert?“, wiederholte er und ich blickte zu ihm auf.

„Genau“, stimmte ich zu und er lächelte.

„Du bist mein kleiner Schutzengel“, meinte er und sein Lächeln wurde breiter.

„Ich bin nicht klein“, schmollte ich und da fing er an, zu lachen. Ich verzog den Mund, fing selber an zu grinsen und zwickte ihm in die Seite, sofort zuckte er zurück.

„Hey!“, beschwerte er sich und ich war nun diejenige, die lachte.

„Du bist gemein“, grummelte er.

„Bin ich das?“, fragte ich lächelnd nach und er erwiderte es. Dann hob ich meine Hand zu seinen Haaren und brachte sie durcheinander. Sofort griff er nach meinem Gelenk und zog mich zu sich, dann hob er mich einfach hoch, legte mich schnell auf sein Bett und begann, mich zu kitzeln.

„Jet!“, presste ich lachend hervor und versuchte seine Hände wegzuschieben, aber er hatte sich über mich gekniet und verhinderte damit jeden Versuch von mir, ihn aufzuhalten.

„Ich kann genauso gemein sein“, lachte er und packte nun meine Handgelenke, damit ich mich nicht wehren konnte. Ich schürzte meine Lippen und sah zu ihm auf.

„Das ist unfair, du bist stärker als ich“, knurrte ich und er kicherte kurz, ließ mich danach aber los und beugte sich nur zu mir, um mich zu küssen. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog ihn näher zu mir, doch dann klingelte es wieder zum Unterricht.

Jet stockte, blickte mich neutral an und hatte dann wieder sein Lächeln im Gesicht.

„Was…?“, fragte ich vorsichtig.

„Du hast doch jetzt mit mir Training“, meinte er und ich nickte langsam.

Er lehnte sich zurück, stand auf und sah zu mir herab. Ich richtete mich ebenfalls auf.

„Dann komm“, sagte er und hatte auf einmal blitzschnell seine Arme um meine Taille gelegt, nur um mich dann mit Leichtigkeit hochzuheben und über seine Schulter zu werfen.

„Jet!“, schrie ich erschrocken auf und versuchte runterzukommen, aber er hielt mich eisern fest. „Lass mich runter!“

„Wir gehen jetzt zum Trainingsraum“, hörte ich ihn nur sagen und da trug er mich dann tatsächlich hinaus auf den Flur. Ich schlug gegen seinen Rücken, aber er ließ nicht locker.

„Jeeet!“, quengelte ich und strampelte mit den Beinen.

„Was macht ihr denn da?“, hörte ich auf einmal Jades Stimme und versteifte, dann versuchte ich mich so gut es ging zu drehen, damit ich sie sah.

„Wir haben jetzt Training zusammen“, sagte Jet trocken, als würde ihm mein Gewicht gar nichts ausmachen. Jade ging langsam um Jet herum, damit sie mich ansehen konnte. Mittlerweile hatte ich meine Ellenbogen gegen seinen Rücken gelegt und meinen Kopf mit meinen Händen abgestützt.

„Alles gut?“, fragte Jade mit einem fast schon zufriedenen Lächeln und ich schmatzte kurz.

„Mhm“, grummelte ich und da ging Jet weiter.

„Bis nachher dann“, rief er kurz und Jade nickte lachend, dann sah ich, wie auch sie sich umdrehte und davonging.

Auch, wenn ich das gerade ganz und gar nicht toll fand, musste ich unweigerlich daran denken, dass Jet nicht einfach nur stark war, er würde mich vor allem beschützen können. Das war schon irgendwie beruhigend.

Hin und wieder kamen uns Schüler entgegen und ich sah genau, wie sie Jet und mir nachblickten und verwundert etwas austauschten.
 

Greatest Battle Music Of All Times: Into The Fire
 

Erst als wir in der Trainingshalle waren und Jet die Türen schloss, ließ er mich runter. Ich verschränkte augenblicklich die Arme vor der Brust und starrte ihn vernichtend an. Bei dem Blick musste er noch mehr lachen.

„Glaub mir, so etwas genau vor dem Training zu machen, wird nur deiner Gesundheit schaden“, knurrte ich, zog meine Schuhe aus, ebenso meine Uniformjacke, machte mir einen Zopf und schnappte mir dann den Kampfstab.

Er lachte nur in sich hinein und ich grinste böse. Dann bereitete er sich auch auf das Training

vor und stellte sich genauso vor mich, wie immer wenn wir anfingen. Dann begannen wir unseren mittlerweile eingeübten Tanz.

Er trat einen Schritt nach vorne, holte dabei mit seinem Stab aus und ich wehrte ihn mit einem Querhieb ab. Dann stieß ich ihn zurück, drehte den Stab mit einer Hand über meinen Kopf um mehr Schwung zu bekommen und schlug zu. Jet wich aus, indem er seinen Körper nach hinten warf und drunter durchtauchte.

Er schob blitzschnell seinen Stab von der Seite gegen meine Beine, um sie mir wegzuziehen, aber ich sprang drüber und stieß meine Stabspitze gegen seinen Oberschenkel und er wich zurück. Ich nahm mit beiden Händen an jedem Ende den Stab, wollte quer gegen seine Schulter schlagen, aber Jet gelang es, seinen Stab zwischen meine Arme zu schieben, ihn dann zu packen und zu wenden. Dabei drückte er meinen einen Arm hoch und den anderen runter, sodass ich zur Seite kippte und auf den Boden landete.

Mein Stab landete klirrend neben mir und ich stützte mich ab.

„Wie war das mit meiner Gesundheit?“, fragte er lächelnd nach und reichte mir seine Hand.

„Idiot“, murmelte ich und ließ mir aufhelfen.

„Noch mal?“ Bevor er es auch nur ausgesprochen hatte, schnappte ich mir wieder meinen Stab und schlug im Umdrehen damit nach Jet, doch er wich überrascht zurück und sah mich erschrocken an. „Hey!“

„Natürlich noch mal!“, lachte ich, „wir haben doch gerade erst angefangen.“

Dann nahmen wir wieder unsere Positionen ein und schlugen parallel zu, sodass unsere Stäbe aufeinandertrafen, immer und immer wieder. Das Klirren und Knallen hallte durch den Raum, bis ich einmal zurückwich, Jet damit aus dem Konzept brachte und nun ihn zu Boden werfen konnte.

„Ha!“, rief ich aus und sprang vor Freude in die Luft. „Endlich!“ Doch dann traf mich unerwartet sein Stock in die Kniekehlen und auch ich fiel zu Boden, direkt in seine Arme.

„Verdammt!“, zischte ich, denn ich wusste, Jet hatte sich doch absichtlich fallen gelassen, um mich aus dem Konzept zu bringen.

„Nie deine Deckung vergessen“, sagte er und sah mich an.

„Du bist einfach zu gut“, flüsterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Jet lächelte nur und gab mir einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze.
 

Perfect World – Fly with Me
 

„Du bist schon viel besser geworden“, sagte er und ich blinzelte.

„Bin ich nicht“, murmelte ich.

„Doch, glaub mir, es ist nicht mehr so leicht, dich zu besiegen“, sagte er und ich senkte meine Augen. Das machte mich natürlich glücklich, denn endlich konnte ich mal etwas richtig gut. Trotzdem musste ich noch besser werden, wenigstens einmal wollte ich Jet besiegen und wenn es nur Zufall war.

Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Brust und spürte, wie er sich mit mir nach hinten sinken ließ, bis wir auf dem Boden lagen. Dann fing er an gedankenverloren über meine Haare zu streichen. Ich schloss entspannt meine Augen und kuschelte mich bei ihm ein. Einfach mit ihm nur so dazuliegen war schön. Auch wenn es der Boden vom Trainingsraum war, egal wo ich mich mit Jet befand, es genügte vollkommen.

„Ich freue mich immer noch wie verrückt für Moon und Amber“, sagte ich nach einer Weile.

„Ich freue mich auch für die beiden“, entgegnete Jet und ich spürte das Lachen an seiner Brust.

„Moon brauchte aber auch echt nur einen Schubs in die richtige Richtung“, lachte ich und blicke zu ihm auf.

„Wo du Recht hast“, stimmte er zu und schüttelte hoffnungslos den Kopf. „Sie hat Amber ja richtig zappeln lassen.“

„Dafür sind sie bestimmt noch abgedrehter.“

„Findest du?“, fragte er nach und ich nickte.

„Das kommt mit Sicherheit noch“, grinste ich.

„Vielleicht beruhigen sie sich ja auch gegenseitig“, murmelte er und ließ seinen Kopf wieder nach hinten sinken.

„Die beiden? Niemals, die haben doch eher Spaß daran, alles und jeden verrückt zu machen“, erwiderte ich und ließ meinen Kopf ebenfalls wieder auf seine Brust sinken.

„Das kann ich mir gut vorstellen“, flüsterte Jet, als wäre er die Ruhe selbst. Ganz im Gegensatz zu mir.

Doch dann klopfte jemand an die Tür und wir richteten uns wieder auf.

„Ja?“, rief Jet und die Tür öffnete sich. Ich kniete mittlerweile neben ihm. Ivory kam rein und blinzelte kurz, als er uns auf dem Boden hocken sah.

„Ähm, ich wollte nur wissen, ob der Raum gleich für die nächste Stunde frei wäre“, sagte er und hinter ihm erschien unvermittelt Onyx. Ich hörte richtig, wie Jet die Zähne aufeinander schlug. Mir war selbst etwas mulmig.

„Ich habe hier nächste Stunde keinen Unterricht, da müsstest du dann Jade fragen, Ivory“, antwortete Jet mit einer plötzlichen Kälte. Bis eben war er noch so sanft gewesen…

„Ach so, trotzdem danke“, sagte Ivory, lächelte sein typisch vertrautes Lächeln und ging wieder raus. Bevor Onyx ihm folgte, traf sein Blick noch auf Jets … vernichtender konnte keiner von den beiden gucken, das könnte ich mir zumindest nicht vorstellen. Dann drehte Onyx sich weg und schloss hinter sich wieder die Tür.

„Was sollte das denn?“, fragte ich und blickte verwundert zu Jet.

„Was?“, fragte er wiederum nach und sofort wurde sein Blick wieder sanfter.

„Vergiss es“, seufzte ich und schon klingelte es erneut.
 

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Amber, Moon, Jet und ich saßen zum Abendessen wieder zusammen am Tisch und während Amber und Moon sich gegenseitig piesackten, aßen Jet und ich gemütlich etwas und sahen dabei zu.

„Hör auf, mir ständig die Banane wegzunehmen!“, kreischte Moon und drückte mit ihrer einen Hand sein Gesicht zurück und hielt in der anderen die Banane so weit es ging von Amber weg.

„Das war die letzte, du kannst wenigstens teilen!“, jammerte Amber und versuchte, danach zu schnappen.

„Du bist wie so ein Kapuzineräffchen!“, schimpfte Moon und auf einmal, als der Widerstand von Ambers Gesicht weg war, fiel sie fast vom Stuhl und schreckte doch sofort wieder zurück. Als Jet und ich sahen, was passiert war, fiel uns beiden fast das Besteck runter und ich verschluckte mich sogar an meinem Essen.

„Amber?“, fragte Jet, beugte sich etwas nach vorne und da sprang schon, der zum Kapuzineraffen gewordene Amber auf den Tisch. Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, schnappte ich schnell nach Luft und Jet drehte sich schon erschrocken zu mir, doch ich fiel vom Stuhl vor Lachen.

„Crystal!“, rief er aus und hockte sich neben mich. Ich hielt mir schon die Hände an den Bauch und konnte nicht mehr. Besorgt schaute Jet mich an.

„Sie lacht doch nur, Jet“, hörte ich Moon fröhlich sagen und dann seufzte Jet und konnte selbst nicht anders, als zu grinsen.

„Damit hab ich jetzt nicht gerechnet!“, lachte ich und versuchte wieder hochzukommen, Jet half mir dabei. Als ich wieder auf dem Stuhl saß und Amber sah, fing ich nochmal an zu lachen, konnte mich aber halten.

Dann beschwerte er sich, aber es ertönten nur Affengeräusche. Er drehte sich zu Moon und beschimpfte sie wüst, doch auch sie konnte nur lachen.

„Na gut, jetzt will ich mal nicht so sein“, grinste sie, machte die Bananenschale auf und brach die Spitze ab. Dann hielt sie sie dem kleinen Amber hin und er wollte schon glücklich danach greifen, doch Moon machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie schob ihm das viel zu große Stück einfach in den kleinen Mund und das, was nicht mehr passte, bekam er auf den Kopf geschmiert.

Wieder beschwerte Amber sich, aber die Töne kamen nur gedämpft raus.

„Warum dauert das dieses Mal eigentlich so lange mit seiner Gabe?“, fragte Jet leise und ich zuckte grinsend die Schultern.

„Ähm, Moon?“, fragte ich und sie drehte sich kurz zu mir, während Amber versuchte, die Banane runterzuschlucken und den Rest aus seinem Fell zu schmieren, das machte es aber nur schlimmer.

„Du weißt, wenn er wieder normal ist, dann … solltest du vielleicht laufen“, riet ich ihr und ihre Augen wurden groß. Amber sprang wieder auf seinen Stuhl und Moon stand langsam auf. Mit einmal mal hörten wir nur ein Zischen und der Amber, den wir kannten, saß wieder auf dem Stuhl.

Er blinzelte, schaute zu Moon und schmatzte kurz.

„Hehe … ähm, ich sollte … mal eben“, stammelte sie, grinste verlegen und rannte plötzlich wie von der Tarantel gestochen davon.

Amber verweilte noch kurz, dann schloss er die Augen und rannte ebenfalls so schnell wie Moon los. Aus dem Flur hörten wir, wie sich einige Schüler beschwerten.

„AMBER!“, kreischte Moon und dann fingen beide an zu lachen.

„Was hab ich dir gesagt?“, meinte ich und beugte mich zu Jet.

„Stimmt … es wird schlimmer.“ Er schüttelte hoffnungslos den Kopf und dann aßen wir schnurgerade weiter, während noch einige Male das Kreischen und Lachen von den beiden zu hören war.
 

Final Fantasy XIII-2 - Main Theme - Separate Ways (FM)
 

Später am Abend, brachten Amber und Jet, Moon und mich zu unserem Zimmer und wir verabschiedeten uns.

„Können wir nicht vielleicht doch Zimmertausch machen?“, fragte Moon mit einem Schmollmund und Amber lächelte nur.

„Wir wollen Mrs. Capella doch nicht auf die Palme treiben, oder?“, meinte Jet, sah aber selber nicht sonderlich glücklich damit aus. Ich hätte ihn auch viel lieber in der Nacht hier bei mir gehabt, vor allem, weil er heute auch keine Nachtwache hatte. Aber er hatte Recht. Capella war wirklich schon am Rande ihrer Nerven mit uns.

„Dann gute Nacht“, seufzte Amber und beugte sich runter zu Moon, um sie zu küssen. Es war immer noch ungewohnt, egal wie oft sie sich schon vor uns geküsst hatten. Aber ich fand es gleichzeitig auch furchtbar niedlich.

Dann stellte ich mich auf Zehnspitzen um Jet auch einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Er zog mich etwas näher zu sich, aber dann lösten wir uns wieder voneinander. Moon und Amber waren mittlerweile in eine richtige Knutscherei vertieft. Jet seufzte, packte Amber hinten am Kragen und zog ihn einfach mit sich.

„Hey!“, beschwerten er und Moon sich.

„Ich bin müde“, hörte ich Jet nur noch sagen und dann gingen auch Moon und ich in unser Zimmer. Ich bog direkt nach rechts ins Badezimmer und machte mich fertig fürs Schlafen, denn durch das Training war ich heute ziemlich müde.

Nachdem ich meine Zähne geputzt und meine Haare gekämmt hatte, ging ich wieder ins Zimmer, wo Moon schon umgezogen war und nur gewartet hatte, dass das Bad frei wurde.

Sie ging sie hinein und ich zog mir meine Jogginghose an und mein violettfarbenes Top.

Sofort legte ich mich in mein Bett und schnappte mir wieder meine verkohlte Eule. Unweigerlich musste ich daran denken, wie nett Mira auf einmal zu mir war. Und doch war auch sie es, die die einzige Erinnerung an meinen Vater vernichtet hatte. Ich wusste immer noch nicht, was ich von ihr halten sollte.

„So, fertig!“, verkündete Moon und schaltete das Licht aus. Ich blickte langsam zum Fenster, die Gardinen waren offen.

„Bald ist wieder Neumond“, murmelte ich und hörte nur, wie Moon sich in ihr Bett kuschelte.

„Ja, leider“, antwortete sie. „Aber es ist nicht mehr so schrecklich, seitdem ich weiß, dass ihr hinter mir steht.“ Ich hörte, wie sie lächelte.

„Natürlich tun wir das“, bestätigte ich noch mal und schaute zu ihr. Sie lag mit dem Gesicht zu mir.

„Wir sollten schlafen“, meinte sie und ich nickte.

„Gute Nacht“, flüsterte ich und schloss die Augen.

Eine Weile dachte ich noch nach, hielt dabei meine Eule in den Händen und strich immer wieder über ihren Kopf.

Ich war lange nicht mehr beim Grab meines Vaters gewesen und ehrlich gesagt schämte ich mich dafür, aber … was konnte ich auch machen? Es war mir nicht erlaubt, da ich nicht entschärft war.

Ich wollte so gerne wieder bei ihm sein, ihn einmal wieder besuchen, mit ihm reden. Das war meine einzige Verbindung zu ihm gewesen.

Und ich wollte mit Jet zusammen bei ihm sein, es war für mich etwas Besonderes und ich wollte solche Momente mit ihm teilen. Lange konnte ich mich nicht wachhalten und langsam glitt ich in den Schlaf.
 

Pandora Hearts – Reminiscence
 

„Dad“, fange ich an und er dreht sich zu mir um. Seine Brille ist ihm etwas von der Nase gerutscht und er schiebt sie wieder hoch.

„Ja?“, fragt er und ich lächle, dann blicke ich zurück in den Flur und ziehe Jet hinein.

„Ich möchte dir jemanden vorstellen“, sage ich fröhlich und als mein Vater Jet sieht, steht er auf und geht auf ihn zu. Dabei lächelt er die ganze Zeit.

„Guten Tag, Mr. Adams“, grüßt Jet und sie reichen sich die Hände. „Mein Name ist Jason Snow.“

„Nenn mich Greg, Jason“, lächelt mein Vater und Jet scheint sich etwas entspannen zu können.

„Wie lange kennt ihr euch?“, fragt mein Vater und schaut mich an.

„Schon ein paar Monate“, lächle ich verlegen und mein Vater runzelt die Stirn.

„Und dann stellst du ihn mir jetzt erst vor, Crystal?“, fragt er gespielt entsetzt und ich verdrehe die Augen.
 

Ich öffnete meine Augen und spürte, wie warm mir war, doch als ich merkte, dass es nur ein Traum gewesen war, schluckte ich und die Kälte holte mich ein. Trotzdem war es hier so stickig und die Decke nervte mich nur. Sofort schlug ich sie zur Seite und stellte meine Eule auf den Nachttisch.

Das würde niemals passieren … Mein Vater würde Jet niemals kennenlernen. Jet würde niemals wissen, wie wundervoll und liebevoll mein Vater war.

Ich stand auf und zog mir meine Schuhe an. Die Luft hier drinnen half mir nicht, ich musste raus. Leise ging ich den Flur entlang und steuerte auf die Eingangshalle zu, doch als ich an der Tür der Mensa vorbeikam, sah ich, dass sie einen Spalt weit offen stand. Nachts war sie sonst immer geschlossen.
 

World's Most Emotional Music Ever: Charm
 

Ich drückte die Tür langsam auf und sah mich um. Der Raum war leer, bis auf eine Person, die am Fenster weiter hinten stand. War das Jet?

Der Mond schien durch die große Glasscheibe und die Person trug schneeweiße Kleidung.

Ich zog die Tür hinter mir zu und trat etwas näher heran. Das musste Jet sein, seine schwarzen Haare und die roten Spitzen waren unverkennbar.

Aber irgendetwas war anders, er sah kindlicher aus … oder täuschte das durch das Licht?

„Jet?“, fragte ich und ging langsam auf ihn zu, doch er reagierte nicht. „Jet?“ Ich versuchte es erneut, doch wieder rührte er sich nicht, sondern blickte nur aus dem Fenster.

Ich berührte ihn am Arm und erst da drehte er sich zu mir. Das Mondlicht erhellte sein ganzes Gesicht und seine Augen schimmerten, genau wie gestern. Dieses Mal sah ich genauer hin und nun wusste ich, was es war. Es sah aus, als würden kleine Schneeflocken durch seine schwarze Iris tanzen.

„Wer bist du?“, fragte er und ich blinzelte. Seine Stimme war rau und leise, fast fremd. In dem Licht sah er aus wie ein Geist … oder wie ein Engel. Und die weiße Kleidung verstärkte den Gedanken noch.

„Ich bin es … Crystal, erkennst du mich denn nicht?“, fragte ich verwundert und er hob kurz seinen Blick in die Ferne.

„Crystal …“, flüsterte er und ließ seine Augen wieder zu mir gleiten. Dann legte er seine Hände an meine Schulter und beugte sich zu mir.

Ganz sanft, eigentlich nur wie eine kurze Berührung, legte er seine Lippen auf meine. Doch das war irgendwie anders, so hatte Jet mich noch nie geküsst. So sacht, nur wie ein Hauchen und doch war es ganz normal.

Er beugte sich zurück und ich sah in seine Augen. Dann tauchte ich in seine Erinnerung …
 

„Du bist so ein Idiot!“, schreit Mako und ich weiche zurück.

„Du kannst doch nicht immer von mir verlangen, alles richtig zu machen!“, schreie ich sie ebenso an.

„Du könntest es wenigstens mal versuchen, man kann dich keine Sekunde aus den Augen lassen!“

„Jetzt dreh doch nicht gleich so durch, Mako“, flüstere ich traurig und sie hält inne. Ich hasse es, mich mit ihr zu streiten.

„Es tut mir leid, dass ich es wieder verbockt habe“, meint sie und grinst auf ihre niedliche Art.

„Wir beide haben es verbockt“, sage ich und nehme ihr Gesicht in meine Hände und küsse sie.
 

Ich schluckte, riss die Augen auf und starrte Jet erschrocken an, er sah mich ebenso schockiert an. Seine Augen irritierten mich so sehr und dieses Licht ließ alles ganz anders wirken. Was war hier los? Und warum hatte Jet Mako geküsst? War es vielleicht genau das, woran er sich nicht erinnern konnte? Und hatten die zwei sich deswegen damals gestritten?

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ließ Jet mich los, hatte wieder diese merkwürdige Miene aufgesetzt, wo ich glaubte, jemand anderem ins Gesicht zu schauen und ging an mir vorbei und hinaus aus der Mensa. Doch hörte ich kein Geräusch … keine Schritte … gar nichts…

Ich war definitiv zu verwirrt, um ihm zu folgen, also blieb ich eine Weile dort stehen und sah nur hinaus zum Fenster, so wie er es gemacht hatte. Was hatte da draußen nur gesehen? Es hatte beinahe so gewirkt, als hätte er nach etwas gesucht.

Das Einzige, was mir noch mehr Kopfzerbrechen bereitete, war, dass ich nicht einfach nur seine Erinnerung gesehen hatte und das gefühlt, was er fühlte, sondern praktisch mit ihm verschmolzen war. Ich war in diesem Moment Jet gewesen.

Das war zum ersten Mal geschehen.
 

Headstrong ft. Stine Grove – Tears
 

Am Morgen wachte ich in meinem Bett auf, nachdem der Wecker von Moon nicht aufgehört hatte, zu klingeln. Aber sie war schon aufgestanden und dabei, sich für den Unterricht fertig zu machen. Ich jedoch schaffte es irgendwie nicht aus dem Bett. Ich fühlte mich zu schlapp, aber nur geistig, krank werden konnte ich ja nicht.

Lag das an gestern? Oder war das überhaupt wirklich passiert? Denn so wie Jet sich benommen hatte… konnte das nicht echt gewesen sein.

„Crys? Kommst du?“, fragte Moon und stellte sich vor mein Bett.

„Ja … geh schon mal vor, ich komme nach“, murmelte ich und schälte mich langsam aus der Decke.

„Geht es dir gut?“, fragte sie und hockte sich vor mir hin. Ihre Augen nahmen sofort einen dunkleren Ton an.

„Ich hab nur was ganz Merkwürdiges geträumt“, sagte ich und lächelte schwach.

„Na gut, aber ich kann auch auf dich warten“, bot sie an und ich stand auf.

„Wenn du das willst?“, fragte ich dankend nach und sie erhob sich selbst und setzte sich auf ihr Bett.

„Mach ich gerne“, lachte sie und ich schleppte ins Badezimmer, um mich zu waschen.

Heute hatte ich keine Lust, meine Haare offen zu tragen, denn sie nervten jetzt schon, also band ich sie einfach zu einem unordentlichen Knoten und strich die heraushängenden Strähnen hinter meine Ohren. Dann ging ich wieder aus dem Bad, suchte mir irgendwelche Kleidung raus und zog sie an. Mein Griff hatte sich für eine dunkelblaue Jeans und ein hellviolettes Shirt entschieden. Es war egal.

Zusammen gingen Moon und ich in die Mensa und holten uns etwas zu Essen. Ich hatte mich nur für einen Apfel entschieden und sie für gleich zwei Käsebrötchen mit Salat.

Jet und Amber saßen bereits am üblichen Tisch und Moon und ich setzten uns dazu. Moon begrüßte Amber mit einem kleinen Kuss, doch sie beließen es auch dabei. Wahrscheinlich hatte Jets Reaktion von gestern damit zu tun.

Meine Augen wanderten langsam zu ihm. Er trug schwarz, wie immer und als er mich ansah und lächelte, erwiderte ich es, doch versuchte auch darauf zu achten, ob ich wieder diese Schneeflocken in seinen Augen sah. Aber da war nichts.

Dann beugte er sich zu mir, um mich ebenfalls zu küssen und ich ließ es natürlich zu. Auch der Kuss war nicht so wie gestern, er war bestimmter und es fühlte sich mehr nach Jet an. Ich hatte das wohl wirklich nur geträumt … aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass das mit Mako der Realität entsprach, es hatte so echt gewirkt.

Moon und Amber zankten sich schon wieder um irgendwas, aber das blendete ich aus und atmete kurz ein.

„Jet?“, fragte ich und kam mir vor, als wäre ich wieder in meinem Traum, aber dieses Mal reagierte er auf seinen Namen. Denn er schaute zu mir und hatte auch gleich die typische Sorgenfalte zwischen seinen Brauen, als er meine Stimme wahrnahm. Ich hörte mich wirklich alles andere als gut an.

„War … da wirklich nichts zwischen dir und Mako?“, fragte ich ihn und blickte in seine Augen, immer noch keine Schneeflocken … warum versteifte ich mich darauf?

„Nein, wirklich nicht“, sagte er überrascht und ich schluckte. „Wie kommst du denn jetzt darauf, Crystal?“

„I-Ich … wollte … ich weiß es nicht, tut mir leid“, murmelte ich und setzte ein gespieltes Lächeln auf.

„Schon okay. Ist alles gut mit dir?“, fragte er und wandte sich ganz zu mir.

„Ja … na ja … eigentlich … nicht“, stammelte ich und stand auf.

„Crystal?“, fragte Jet und griff nach meiner Hand als ich weggehen wollte.

„Ich werde Jade fragen, ob sie mich heute vom Unterricht befreien kann“, murmelte ich und hörte, wie Moon und Amber mit dem Streiten aufhörten und uns zuhörten.

„Okay“, meinte Jet und ließ meine Hand los.

„Wenn wir nachher eigentlich zusammen Training hätten, kommst du dann zu mir?“, fragte ich und wandte mich wieder ihm zu. Jet stand sofort auf und kam zu mir.

„Natürlich, wenn du das willst“, meinte er gleich und nahm kurz mein Gesicht in seine Hände, dann küsste er meine Stirn und sah mich besorgt an.

„Bis nachher“, sagte ich dann und blickte noch mal zu Moon und Amber, die beiden nickten und dann ging ich aus der Mensa.

Dass er Mako geküsst hatte, ließ mich nicht mehr los. Und irgendwie konnte ich ihm das nicht glauben, dass nichts zwischen den beiden gelaufen war. Aber er konnte sich daran nicht mehr erinnern, also hatte er mich auch nicht belogen.

Wahrscheinlich ging es Jet auch nur so schlecht, weil er sich um Mako sorgte und das konnte ihm auch niemand nachsehen, denn er empfand wahrscheinlich doch mehr für sie, als ich oder er gedacht hatten.

Wunschdenken

Jet – Wunschdenken
 

Noragami OST -「Fluctuation」02
 

Ich sah Crystal mit einer Mischung aus Sorge, Verwunderung und Betretenheit nach, bis schließlich die Tür der Mensa sie verdeckte. Aber selbst dann löste ich nicht den Blick, als wäre sie immer noch da und würde mich ansehen. Mit diesem undefinierbaren Zug um ihren Mund. Was war los? Es war fast, als hätte sie nach etwas in meinem Gesicht gesucht, es jedoch nicht gefunden.

„Sie war heute Morgen schon so“, holte Moons Stimme mich zurück ins Hier und Jetzt und ich drehte mich ihr und Amber langsam wieder zu. Mit einem Blick auf die Tabletts, stellte ich fest, dass Crystal kaum etwas angerührt hatte. Ich dagegen hatte mein Bestes gegeben – hätte man die beiden Teller vertauscht, hätten sie einem das Bild der vergangenen Wochen gezeigt. „Sie sagte, sie hätte etwas Komisches geträumt.“

„Geträumt?“, echote ich und sah ungewollt zu Amber hinüber. Sicher, er hatte nicht sonderlich viel von meinen Albträumen mitbekommen können, obwohl er mein Mitbewohner war – denn ich hatte mich die letzte Zeit öfter zur Nachtwache gemeldet, damit Granite sich auf die Entschärfungsprüfung vorbereiten konnte und folglich immer tagsüber geschlafen, wenn Amber nicht da war. Die ein oder andere Nacht musste er es dennoch mitbekommen haben.

„Mehr hat sie dazu nicht gesagt“, erwiderte Moon seufzend und griff nach Ambers Hand auf dem Tisch. Ich lehnte mich zurück und konzentrierte mich auf meine Atmung. Gestern Nacht hatte ich seit langem mal nicht geträumt oder vielleicht doch, aber die Erinnerung war fort. Denn ich hatte außergewöhnlich tief geschlafen und war sogar erst nach Amber wach geworden, was bis Dato noch nie vorgekommen war. Aber es war absurd, zu glauben, dass das in irgendeiner Art und Weise mit Crystal in Verbindung stand.
 

„Jetblack… Das ist eine Bezeichnung für ‚schwärzer als schwarz‘, wusstest du das?“
 

Gehetzt sah ich mich um und spürte, wie Moon und Amber irritiert blinzelten.

„Habt ihr das gehört?“, murmelte ich, ohne sie anzusehen. Beide zogen die Brauen hoch.

„Was gehört?“, fragte Amber gedehnt. „Hier sind viele Geräusche unterwegs, Jet.“

„Egal“, stieß ich hervor, sank zurück in den Stuhl und stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte auf. „Das war bloß Einbildung.“ Man konnte Moon ihre Fragen an jeder Pore ablesen, aber sie stellte nicht eine. Genauso wie die letzten Tage – vielleicht aus Diskretion, obwohl ich nicht davon überzeugt war, dass sie das Wort überhaupt buchstabieren konnte. Aber vielleicht auch nur, weil sie wusste, keine konkrete Antwort zu erhalten.

Allmählich war ich diese Geheimniskrämerei leid, aber ich selbst hatte damit begonnen. Ich war eine einzige Grube aus Vertuschung. Und lief davon, wenn es mir zu eng wurde. Und belog so ziemlich jeden, der mir näher als zwei Meter kam…

„Wie haltet ihr das eigentlich alle mit mir aus?“, grummelte ich unversehens, denn ich hatte es nicht bewusst gesteuert. Seufzend ließ ich die Stirn in die Hände fallen und raufte mir die Haare.
 

Silent Hill Shattered Memories - Hell Frozen Rain
 

„Jet, was…?“, setzte Amber an, aber ich unterbrach ihn mit einer knappen Geste.

„Es kotzt mich an, wisst ihr?“, schnappte ich, verschränkte sogar die Arme vor der Brust und ignorierte die Stimmen in meinem Kopf, die mich wie üblich abhielten, weiterzureden, mehr preiszugeben, als mein Verstand für gut hielt. Ich hatte lange genug vergessen, wie es war, ungezügelt und unbeherrscht zu sein. Für wen hatte ich das getan? Für mich selbst? Wenn ja, hatte ich einen guten Job geleistet, mich selbst in die Schlinge zu manövrieren und Labyrinthwände aufzubauen.

„Wovon sprichst du?“, wagte Moon sich, zu flüstern, aber etwas ließ ihre Mundwinkel zucken. Womöglich ahnte sie, was vor sich ging und musste sich selbst daran hindern, zu grinsen. Bei Amber würde das auch nicht mehr lange dauern, er begriff nur nicht ganz so schnell wie Moon.

„Jason Snow, aber Jace ist auch in Ordnung“, warf ich ihnen schulterzuckend entgegen und als sie einen verdatterten Blick tauschten, redete ich weiter. „Das ist mein richtiger Name. Meine Mutter hieß Juliet Morgan, mein Vater Ian Snow – sie waren nie verheiratet. Nach der Geburt hat meine Mutter mich im Krankenhaus abgegeben, weil mein Vater sie verlassen hatte. Ich war im Waisenhaus, bis ich sechszehn war, dann bin ich abgehauen, hab mich einer Bande angeschlossen und meine Tage auf der Straße gefristet. Irgendwann wurde ich am Hafen für einen schwarz bezahlten Job angeheuert und hab angefangen, Träume zu hegen. Aber dann…“ Ich verschränkte die Arme noch fester. Jade hätte jetzt gesagt, ich würde eine Schutzhaltung aufbauen. Fein, meinetwegen. „…wurde ich allem Anschein nach infiziert und irgendwas hat mich so sehr schockiert, dass ich infolge des Traumas meine Erinnerung daran verloren habe. Das hier ist das Einzige, was…“ Ich griff in die Tasche und wollte den Schneeflockenobsidian hervorziehen, aber ich bekam ihn nicht zu fassen. Perplex richtete ich mich auf und nahm eine jede Tasche an meinem Körper unter die Lupe, zweimal, dreimal – nichts. Sonst trug ich ihn immer an derselben Stelle. Immer.

„Entschuldigt mich!“, brachte ich atemlos hervor, stand auf und rannte los, so schnell ich nur konnte. Moon und Amber kamen nicht einmal mehr dazu, meinen Namen zu rufen.
 

„Das kann doch nicht wahr sein…!“, knirschte ich und trat so heftig gegen den Nachtisch, dass er knallend umfiel. Ich hatte das halbe Zimmer auseinandergenommen. Mein Bett war in seine Einzelteile zerpflückt, die Schranktüren standen offen und von dort aus, sowie in den ganzen Raum hinein zog sich eine Spur aus Kleidungsstücken. Alles, wirklich jeden Zentimeter hatte ich überprüft. Sogar unter den Schränken hatte ich nachgesehen und Ambers Bett ebenso inspiziert, obwohl das eigentlich nicht ansatzweise als Aufenthaltsort infrage kam. Stöhnend lehnte ich mich gegen den schmalen Fenstersims und rieb mir mit einer Hand über die Augen.

Jetzt war eigentlich nicht der Zeitpunkt für überstützte Handlungen. Es wäre ratsamer gewesen, ruhig und kalkuliert an die Sache heranzugehen und darüber nachzudenken, wo ich zuletzt gewesen war und ihn hätte verlieren können. Aber das war meine übliche Vorgehensweise und die hatte gerade Sendepause. Das schien heute echt nicht mein Tag zu sein.
 

„Entspann dich, J. Uns wird hier keiner finden, vertrau mir.“
 

Keuchend kniff ich die Augen zu und drückte mir eine Hand aufs Herz. Es schmerzte nicht, dabei hätte es das eigentlich tun müssen – die Hand darauf zu legen war ein Reflex. Aber da war nichts von jenem Ziehen zu vernehmen. Dieses Mal war es bloß mein Kopf, der mich in den Wahnsinn trieb. Bevor es noch schlimmer werden konnte, kam ich dem stummen Befehl in meinem Inneren nach und verließ das Zimmer. Ohne das Chaos zu beseitigen. Amber würde sich darüber freuen…

Aber das war mir im Moment gleichgültig. Die Suche nach dem Stein füllte mich gänzlich aus. Ich war so unkonzentriert, dass ich im Flur sogar gegen einige Schüler stieß, weil ich rannte und sie nicht schnell genug ausweichen konnten. Etwas an diesem Gefühl kam mir vertraut vor, aber es ließ sich nicht demaskieren. Dafür fehlte mir… die Erinnerung.
 

„Ich hab grad versucht, dir zu verklickern, dass ich dich liebe, du Trottel. Das kommt bei Menschen wie mir nur alle hundert Jahre vor!“
 

„Ah“, kam es ungewollt zwischen meinen Lippen hervor. Dann taumelte ich, verlor die Kontrolle über meine Beine und fand mich mit der Schulter an der Wand wieder. Der Korridor drehte sich, aber es war kein Schüler in Sichtweite. Es musste irgendwann zum Unterricht geklingelt haben.

„Jet?“, wurde plötzlich eine Stimme vor mir deutlich. Die Konturen kehrten zurück und zeichneten der Person vor mir ein Gesicht auf. Füllten den Umriss mit Farbe und kurz darauf erkannte ich sie, im gleichen Augenblick, wie die Beherrschung über meine Muskeln wiederhergestellt war.

„Mira?“
 

The Pretty Reckless – Zombie (Acoustic)
 

„Was zum Teufel machst du da?“, kam sie mir mit schief gelegtem Kopf und misstrauisch verzogenen Brauen zuvor.

„Ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen…“ Ich wollte mich an ihr vorbeischieben, aber sie trat mir in den Weg.

„Wow, wow, warte mal!“, meinte sie mit erhobenen Händen. „Was ist denn in dich gefahren? Du siehst aus, als wärst du gerade von einem Hochhaus gefallen.“

„Kommt mir auch so vor“, erwiderte ich mechanisch, schob sie nicht grob, aber eindeutig zur Seite und rannte weiter. Aber kurz bevor ich die nächste Kurve erreichte, zischte ein tennisballgroßer Feuerschwall haarscharf an meinem Ohr vorbei und kleckste einen schwarzen Fleck auf die Wand vor mir.

„Was zum…“, zischte ich im Herumdrehen. Mira trat betont langsam wieder auf mich zu und schnaubte.

„Dir ist schon klar, dass du im Kreis rennst, Jet?“ Auf meinen verständnislosen Blick hin, fuhr sie fort. „Ich sehe dich hier jetzt schon zum dritten Mal langlaufen.“

„Ist das dein Ernst?“ Betroffen senkte ich die Augen. Es stimmte, darum waren mir die Gänge hier auch alle gleich vorgekommen. Weil es die gleichen gewesen waren.

„Und, äh… hast du nicht eigentlich Unterricht?“ Mein Kopf schnellte so hastig wieder hoch, dass es mich schwindelte. Verdammt…!

„Was ist mit dir?“, versetzte ich, um die aufkommende Panik zu überspielen. Ich war noch nie zu spät gekommen, kein einziges verfluchtes Mal. Mira strich sich das Fuchshaar aus der Stirn, welches sie heute zum Zopf trug. Geflochten. Es stand ihr, keine Frage, aber es gab ihr eine völlig andere Ausstrahlung. Und jetzt, wo mir das aufgefallen war, sah ich auch, dass sie weder Make-up noch hohe Schuhe trug.

„Ich hab ‘ne Freistunde und muss etwas mit Ivory besprechen, aber du solltest jetzt vielleicht Fersengeld geben…“

„Ja“, entgegnete ich schlicht und konfus wie seit langem nicht mehr. Ich schüttelte den Kopf, wartete aber, bis Mira schließlich den ersten Schritt setzte. Sie beobachtete mich aus dem Augenwinkel, ging aber trotzdem weiter. Erst, als sie die Kurve schon fast erreicht hatte, löste sich der Widerstand in meinen Beinen und ich machte mich ebenfalls auf den Weg. Oder wollte es, denn wie aus einem Impuls heraus, drehte ich mich noch einmal um.

„Mira?“, rief ich und glaubte anfangs, sie wäre schon außer Hörweite. Da lugte ihr Kopf unvermittelt hinter der Biegung hervor.

„Was?“

„Danke“, sagte ich, gerade laut genug, dass sie es noch hören konnte. Dann wandte ich mich ruckartig ab und lief Richtung Sporthalle.
 

Dustin O'Halloran - Snow + Light
 

Keiner der Schüler ließ einen Kommentar dazu fallen, dass ich zu spät erschienen war. Und das Getuschel, das sich hin und wieder in Gang setzen wollte, ließ sich mit nur einem Blick in ihre Richtung im Keim ersticken. Amber hatte mal im Scherz gesagt, dass jeder, der von mir trainiert wurde, wusste, dass man sich mehr vor meiner Strenge als vor meiner Gabe fürchten musste. Damit hatte er wohl nicht ganz Unrecht.

Die Stunde verging wie im Flug und doch quälend langsam und als ich mich schon aufmachen wollte, die Mensa abzusuchen, fiel mir wieder ein, dass die nächste Einheit, die vor dem Mittagessen, die Einzelstunde mit Crystal war. Konnte ich in dem Zustand wirklich zu ihr gehen? Ihr ging es nicht gut und wenn jetzt auch noch ich mit meinen Problemen kam…

„Ach, halt doch einfach den Mund, du Idiot“, flüsterte ich mir selbst zu und drehte entschieden ab, um dem Weg zum Mädchentrakt zu folgen. Vielleicht hatte ich den Stein sogar dort verloren. Ich hatte gestern keine Nachtwache gehabt und war mir sicher, ihn das letzte Mal beim Abendessen in die Hand genommen zu haben. Die Chancen standen also nicht schlecht.

Ich klopfte an, bevor ich die Tür öffnete, aber Crystal hatte sich lediglich auf ihrem Bett zusammengerollt und streichelte mit den Fingern wiederholt über den verkohlten Körper ihrer Eule. Sie hob leicht den Kopf, als ich eintrat und die Tür hinter mir zuschob, veränderte ihre Position aber nicht anderweitig.

„Hey, wie geht es dir?“, fragte ich, während ich mich auf ihre Bettkante sinken ließ. Abrupt gab sie die Eule aus der Hand, stellte sie zurück auf den Nachttisch und richtete sich auf.

„Nicht wirklich besser“, gestand sie – denn ja, ich hatte die zurechtgelegte Lüge über ihr Befinden schon aufwallen sehen, aber sie entschied sich für die Wahrheit. Und dasselbe sollte ich auch tun. Wie gerufen verzog sie das Gesicht.

„Ist denn bei dir alles in Ordnung?“

„Nein, gar nicht. Ich hab…“ Ich holte tief Luft und griff mir ins Haar. „Der Obsidian ist verschwunden.“ Crystals Brauen fuhren überrascht in die Höhe.

„Was? Wie ist das denn passiert?“ Ich zuckte die Schultern und stand auf, um den Raum abzusuchen. Es machte mich nervös. Wenn ich nicht wenigstens versuchte, ihn wiederzufinden, womit auch immer, rissen mir noch die Zügel. Und meine Nerven gleich im Anschluss.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich leise, durchmaß systematisch den Raum und heftete die Augen auf einen jeden Quadratzentimeter. „Gestern Abend hatte ich ihn noch. Vorhin, kurz nachdem du gegangen bist, ist mir dann aufgefallen, dass er nicht mehr da ist.“

„Vielleicht hat ihn jemand gefunden?“, bot Crystal an. Ein paar Sekunden lief ich noch wie ferngesteuert im Kreis, dabei wusste ich schon längst, dass ich hier nicht fündig werden würde. Es fühlte sich auch nicht so an, als wäre er hier. Allerdings konnte ich auch nicht sagen, wo sonst. Erschöpft fiel ich zurück aufs Bett.

Crystal streckte die Hand nach mir aus und strich mit den Fingerspitzen beruhigend über meinen Nacken. Das tat sie immer, fiel mir auf. Wenn ich mich schlecht fühlte und ihr das bewusst war, legte sie die Hände in meinen Nacken, dort, wo die roten Spitzen waren. Wieso mir das auffiel oder vielmehr, wieso es mich zum Lächeln brachte, konnte ich nicht sagen.

„Wir werden ihn wiederfinden, Jet, keine Sorge.“ Ich nickte nur. Im Augenwinkel sah ich, wie sie sich auf die Lippe biss und drehte mich so, dass ich sie direkt ansehen konnte. Ihr Haar fiel in zerzausten Strähnen über ihre Schultern und ihre Augen hatten rote Ränder. Aber selbst so war sie noch die schönste Person auf der Welt.

„Hör auf, mich so anzuschauen“, murmelte sie plötzlich und schlug errötend die Wimpern nieder. „Du machst mich verlegen.“ Ich grinste und beugte mich vor, um sie zu küssen.

„Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen.“ Einige Minuten verstrichen, die mir nur wie Sekunden vorkamen, während wir irgendwo im Rahmen des Kusses ganz aufs Bett glitten.

Als wir uns schließlich lösten, befand sich ihr Bolero auf dem Zimmerboden, ebenso wie meine Uniformjacke. Meine Hände ruhten an ihren Hüften, ihre unter meinem T-Shirt, während sie so auf meinem Schoß saß, dass mein Körper ihr zu verstehen geben konnte, wie sehr sie mich um den Verstand brachte. Die Bestätigung war ihr Lächeln.

„Eigentlich wollte ich dir was sagen“, flüsterte sie dann, ihre Hände zu meinem Gesicht wandern lassend. „Ich hatte gestern Nacht einen Traum, in dem… ich dich meinem Dad vorgestellt habe.“

„Und? Wie stark blamiert hab ich mich?“, fragte ich mit einem schiefen Grinsen und hätte mich mal wieder dafür ohrfeigen können, dass ich unter Einfluss von Sorge um Crystal ständig diesen bescheuerten Humor entwickelte. Aber sie lachte bloß und fuhr mit den Fingern durch meine Haare – sehr sanft, so als wäre ich etwas Zerbrechliches. Etwas von Wert…

„Nein, nein, das ist es ja…“, sagte sie mit vor aufkommenden Tränen rauer Stimme. „Es war großartig. Mein Vater hätte dich sehr gemocht, Jet. Er hätte dich sofort ins Herz geschlossen.“

Das brachte mich zum Schlucken. Nicht, weil es sich schlecht anfühlte, im Gegenteil. Es machte mich sprachlos. Crystals verzweifelter Versuch, die Tränen aufzuhalten scheiterte letztendlich.
 

Siah – Forever
 

„Ich weiß, dass es ihn glücklich gemacht hätte, wenn ich tue, was mich glücklich macht. Und ich… das klingt langweilig, ich weiß, aber ich hatte eigentlich immer nur den Wunsch, normal zu sein.“ Langsam sank sie tiefer, bis sie ihr Gesicht in meiner Halsbeuge verbergen konnte. Ich legte ihr eine Hand auf den Hinterkopf und streichelte ihr Haar. Zwar traten schon erste Gedanken an das, was sie sagte, an die Oberfläche, aber fürs Erste wollte ich ihr nur zuhören. Und sie sollte wissen, dass ich das tat. Zu jeder Zeit.

„Bei uns zuhause lief alles Mögliche ab, aber wir waren nie normal“, sprach sie nach wenigen Sekunden weiter und vergoss lautlos weitere Tränen, um die ich nur wusste, weil sie in meinen Kragen flossen. „Meine Mutter hatte so viel Angst vor den Crystal Ridern, sogar schon vor Dads Tod. Sie hat mich jeden Tag mit in die Kirche zu schleifen versucht, weil sie geglaubt hat, wenn ich bete, dann trifft mich der Virus auch nicht. Dad hat dem immer widersprochen, aber er hat sich nicht gern mit ihr gestritten, auch wegen mir. Darum hat er oftmals einfach nachgegeben.“ Vorsichtig hob sie den Kopf wieder, fegte sich die Tränen von den Wangen und suchte meinen Blick. Und wieder kam es mir so vor, als würde sie nach etwas darin Ausschau halten. „Meine… nicht Freunde, Mitschüler haben mich immer für spröde und lustlos erklärt – wie die Farbe Grau eben – weil ich keine Partys mochte, kein Interesse an den angeblich coolen Jungs hatte, mich nicht bis zur Besinnungslosigkeit betrinken wollte… Und ich hab das auch selbst geglaubt. Dass ich langweilig bin, weil ich nicht viel vom Leben will. Aber das ist die Wahrheit, das bin ich. Ich wünsche mir nicht, die Welt zu bereisen und so viel mitzunehmen, wie nur irgend möglich ist. Ich will kein aufregendes und wildes Leben, keine zehntausend Mails in meinem Postfach, keine großen Feiern oder Geld. Jet… ich hab mir immer nur gewünscht, normal leben zu können.“ Sehr langsam löste sie den Blick wieder von mir und ließ ihn stattdessen nach rechts zum Fenster schweifen, wo der Himmel voll von Wolken hing. „Mit den Menschen zu lachen, die ich liebe und die mich so annehmen und akzeptieren, wie ich bin. Jeder hat mich deswegen niedergemacht, weil ich meine Jugend ausnützen müsse und mich noch früh genug zur Ruhe setzen könnte. Und wenn ich versucht habe, es zu erklären, sagten sie, ich wüsste es eben noch nicht besser. Aber ich kenne mich und mein Vater tat es auch. Er hat mir immer geraten, das zu tun, was ich für richtig halte, denn egal, wie es aussieht, ein Leben nach den Maßstäben anderer macht nicht glücklich…“

Es war erstaunlich, dass sie so viel sprach. Sicherlich hatte sie in meiner Gegenwart schon öfters lange Reden gehalten, aber nie hatte ich erlebt, dass sie ohne Pausen derart viel von sich selbst preisgab. Wie lange musste sich all das schon angestaut haben?

„Ich träume nur davon, irgendwann zu heiraten, Kinder zu haben, an Samstagen zu lunchen… was weiß ich.“ Sie strich sich verlegen grinsend das Haar aus der Stirn. „Ich wäre die perfekte Durschnittamerikanerin, wie es scheint.“ Gedankenlos wanderten ihre Finger über meine Schlüsselbeine. „Wie siehst du das?“

Statt ihr direkt zu antworten, ließ ich meine Hände an ihren Armen aufwärts gleiten, bis ich ihr Gesicht in den Händen hielt, dann zog ich sie zu mir herunter. So vorsichtig es ging streiften meine Lippen ihre. Ich wusste nicht, wieso ich das tat, denn so zaghaft war ich sonst nicht. So als würde ich dünnes Porzellan berühren. Crystal schien es ebenfalls zu irritieren, obwohl ihre Augen ganz neutral blieben, als wir uns wieder lösten, ihre Mundwinkel erzählten etwas anderes.

„Ich kann nur wiederholen, was ich schon einmal gesagt habe; nichts könnte aufrichtiger sein. Es erfordert unendlich viel davon, um in so einer Welt nicht zu vergessen, wer du bist und dich nicht von anderen umstrukturieren zu lassen. Sei stolz darauf, Crystal… du bist frei.“ Ich sprach all das aus und meinte es auch so, aber als ich zum Ende hin den Blick abwandte, traten die hauptflächigen Gedanken zurück in mein Bewusstsein. Diese Dinge, das normale Leben, die Familie… all das würde ich ihr niemals geben können. Und ich war ferner Schuld daran, dass auch niemand sonst es mehr konnte.

Crystal spürte meinen inneren Aufruhr und hob sanft mein Gesicht an, damit ich sie wieder ansah.

„Entschuldige, ich war nur in Gedanken…“

„Nein, nein, ich meine nur…“, setzte sie an, brach jedoch ab und betrachtete mich nur eingehend. Etwas war seltsam daran und als ich schließlich erkannte, dass ihre Augen zu schimmern begonnen hatten, begriff ich, was vor sich ging. Aber bevor ich etwas sagen oder mich abwenden konnte, klingelte es urplötzlich zum Unterricht. In gewöhnlicher Lautstärke, aber ich hörte es mit einem Mal dreifach so laut und Crystal offenbar auch.

„Hast du noch Unterricht?“, fragte sie, kaum dass das ohrenbetäubende Läuten verebbt war. Ich räusperte mich und versuchte, den Gedanken abzuschütteln, dass sie gerade ihre Gabe auf mich anzuwenden versucht hatte.

„Das nicht, aber Ivory wollte mich sprechen. Es geht um irgendwas Organisatorisches.“ Ich setzte eine kleine Pause und runzelte die Stirn. „Darum reiße ich mich also immer um die Nachtwache. Wenn ich tagsüber Zeit habe, will irgendwie immer jeder was von mir.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, hob ich Crystal von meinem Schoß, setzte sie auf dem Bett ab und erhob mich.

„Sehen wir uns beim Mittag?“, fragte ich noch, als ich schon die Türklinke zur Hand genommen hatte. Sie nickte nur und ich wusste, dass etwas unausgesprochen geblieben war, das hätte ausgesprochen werden müssen. Denn jetzt hing es wie schwerer Rauch im Zimmer und es gelang mir nicht, ihn zu durchbrechen. Mein Kopf überschlug sich, aber meine Stimmbänder verharrten ungetaner Dinge. Wortlos schob ich die Tür auf und zögerte kaum länger als einen Augenaufschlag, aber der genügte.

„Jet?“

„Ja?“

„Entschuldigung.“ Stockend drehte ich den Kopf über die Schulter und begegnete ihrem Blick, der voller Reue war. Genauso schwer und alles überdeckend wie die Wolken am Himmel.

„Schon okay“, murmelte ich mit einem seichten Lächeln. „Wenn ich ehrlich bin, hätte ich dasselbe getan.“ Daraufhin schlug sie bloß ein weiteres Mal die Augen nieder. Aber mir fehlten die Worte, um die Sache vollständig zu klären – ich wusste nicht einmal, woran es lag, aber es war unabänderlich. Und darum drehte ich mich lediglich um und verließ schweigend das Zimmer.
 

Valentin Boomes – Marine Lights
 

Die Ungewissheit gegenüber dem, was zwischen Crystal und mir vorgefallen war, nagte noch an mir, als ich den Philosophieraum erreichte. Darüber hinaus hatte ich auch den Obsidian noch nicht wieder und ertappte mich alle fünf Minuten, wenn nicht Sekunden, wie ich danach greifen wollte, um mich zu beruhigen. Die Nervosität wuchs mit jedem Schritt, weshalb ich atemlos und angespannt bei Ivory eintraf, die Tür grob zur Seite stieß und rasch die Hände den Hosentaschen verbarg, bevor noch etwas zu Schaden kam.

Und als hätte sich extra jemand die Mühe für ein Sahnehäubchen gemacht, stand neben Ivory, in Nähe der Tafel, Onyx. Besser hätte es ja nicht kommen können… Noch bevor der Lehrer mit den cremefarbenen Augen dazu kam, mich zu begrüßen, trafen sich unsere Blicke und ich konnte denselben Hass und die Abscheu in Onyx‘ Augen lesen, denen er sich jetzt gegenübersehen musste. Verstärkt noch dadurch, dass wir beide schwarze Iris hatten.

„Hallo, Jet“, meinte Ivory, während er Onyx eine Hand auf die Schulter legte, damit er aufhörte, mich wie Giftmüll anzustarren. „Danke, dass du gekommen bist.“ Ich seufzte und lenkte meine Konzentration von dem Kerl hinüber zu Ivory. Er würde vermutlich eh gleich gehen, es war also nur unnötiger Nervenaufwand, mich mit ihm zu befassen. Aber der Lehrer machte mir einen Strich durch die Rechnung.

„Der Grund, weshalb ich dich hierher bestellt habe, ist, dass ich deinen Rat bezüglich Onyx brauche.“ Mir fiel prompt die Kinnlade runter und Onyx verschränkte schnaubend die Arme, als würde ihm das Ganze noch viel weniger gefallen. Unwillkürlich trat mir unsere erste Begegnung wieder vor Augen. Ich hatte mich lange mit diesem Rider herumschlagen müssen, denn er war zu ungefähr dergleichen Zeit hier angekommen wie ich und seitdem nicht entschärft worden.
 

Seine Schulter trifft meine, obwohl ich schon so weit wie möglich ausgewichen bin und bei der Heftigkeit des Zusammenstoßes, verliere ich haarscharf die Balance. Der Mann, der mich angerempelt hat, verzieht keine Miene, geht aber auch nicht weiter. Also wende ich nur ruckartig den Blick ab und will verschwinden, da ruft er mir nach.

„Jetstone, richtig?“ Innerlich seufzend stoppe ich und wende mich ganz leicht um, denn Augenkontakt will ich selbst bei so jemandem um jeden Preis vermeiden. „Ich bin Onyx. Ich hab ja schon einiges von dir gehört – aber mit so einer Gabe ein derartiger Jammerlappen zu sein, ist mir unbegreiflich.“ Da ich nichts erwidere, redet er weiter. „Wusstest du, dass Gagat früher als Imitationsgrundlage für Onyx genutzt wurde? Nur dass der Schwindel immer schnell aufgeflogen ist, denn Gagat ist eigentlich bloß ein Stück Kohle. Die Metapher beschreibt dich bis ins kleinste Detail, nicht wahr? Und da fällt mir auch noch mehr ein…“

„Was willst du von mir?“, zische ich ihm ins Wort, um einen Riegel vorzuhängen. Er schmunzelt gewinnend, denn das war seine Intention – mich solange zu provozieren, bis ich auf sein Geschwafel eingehe.

„Nur die Standpunkte klarstellen.“ Es macht mich rasend, allein die Art, wie er es betont. Denn er tut nichts anderes, als Jades Ordnung, keine Schichten aufzubauen, mit Füßen zu treten. Es geht mir nicht den Kopf, wieso sie sich dazu bereit erklärt hat, ihn hier zu integrieren, anstatt ihn der Polizei zu überlassen. In solchen Momenten kann ich die Frau nicht verstehen und stelle ihr Einschätzungsvermögen infrage, obwohl ich es sonst nie tue.

„Viel Spaß dabei“, murmele ich lediglich, drehe ab und lasse ihn stehen. Noch weiter darf ich mich nicht reizen lassen, meine Gefühle übersteuern zu schnell und ich will nicht, dass etwas geschieht. Doch Onyx genügt es nicht.
 

Thousand Foot Krutch - Courtesy Call
 

Mit dem Gedenken an jenen Tag, traten auch die an die darauffolgenden wieder ins Licht und ich erinnerte mich mit knirschenden Zähnen, dass Onyx ausschlaggebend für meine Verbannung aus dem Internat in das Apartment gewesen war. Er hatte mich so lange angestachelt, mir aufgelauert und versucht, mich einzubrechen, bis ich ihn geschlagen hatte. Niemand war dabei ums Leben gekommen, aber die Schüler hatten von jenem Tag daran festgehalten, dass meine überkochenden Gefühle mich früher oder später dazu gebracht hätten. Damals hatte ich Jade gehasst, auch wenn ich ihr das nie gesagt hatte. Heute wusste ich, dass es rein gar nichts gegeben hatte, was sie hätte tun können und sie nebenbei bemerkt sowieso alles in ihrer Macht stehende versucht hatte, doch damals hatte ich nur eines denken können: Für diesen Kerl kämpft sie und für mich nicht.

„Was kann ich tun?“, fragte ich leicht verstimmt. Die Erinnerungen waren wie ein Zug an mir vorbeigerauscht und das Hier und Jetzt war unangenehm still.

„Ich habe Onyx kürzlich auf die Prüfungsliste gesetzt“, meinte Ivory mit seiner Wogen glättenden Stimme. Dieser Mann ließ sich von nichts und niemand aus der Ruhe bringen. Anders hätte er es mit all den komplizierten Ridern wohl auch nicht aushalten können. Aber was er sagte, war mir nicht gerade neu.

„Das hast du letztes Jahr auch schon getan.“ Onyx verdrehte die Augen und Ivory musste sogar etwas lachen.

„Und das Jahr davor und das davor, ich weiß“, schloss er mit einer Handbewegung auf seine Unterlagen. „Aber dieses Jahr haben wir eine Veränderung auf den Gegebenheiten zu verzeichnen, Jet.“ Ich wusste sofort, was er meinte. Crystal hatte Einfluss auf Onyx ausgeübt – gewaltigen, um nicht zu sagen, sie hatte ihn allem Anschein nach in einen anderen Menschen verwandelt. Nach außen hin, aber mich täuschte er nicht.

„Ferner“, fuhr Ivory fort, indem er Onyx wieder die Hand auf den Rücken legte, „hat Onyx einen Wunsch geäußert, wie es nach der Prüfung, im Falle eines Bestehen, weitergehen soll. Und hier kommst du ins Spiel.“

„Ich fürchte, ich kann nicht folgen.“

„Ich will Lehrer werden“, schaltete sich unerwartet unser Gesprächsgegenstand selbst ein.

„Du willst… was?“, brachte ich völlig vor den Kopf gestoßen hervor und wechselte einen harschen Blick mit Ivory. „Das kannst du ihm nicht ernsthaft in Aussicht gestellt haben. Das ist absurd, Ivory, er…“

„Halt den Mund, Killer“, knurrte Onyx ungehalten dazwischen. „Du kennst mich nicht.“

„Ach nein?“, gab ich genauso bissig zurück und trat abrupt ein paar Schritte näher. „Wer war es denn dann, der dich in all den Nächten von bis zum letzten manipulierten Frauen weggerissen hat?! Du kannst nicht aus deiner Haut und das wirst du auch nie können.“

„Aber du kannst es, oder was?“, brüllte er unvermittelt, trat vor und packte meinen Kragen. Er hatte keine Angst, mir zielstrebig in die Augen zu starren und zwar, weil er genau wusste, ich würde das selbst ihm niemals antun.

„Hört auf, alle beide!“, herrschte Ivory uns an und zog uns eilig auseinander. Zwar gehorchten wir, aber Onyx‘ Mund verzog sich beim Zurückgehen zusehends, bis er wieder das exakte Ebenbild seines alten Ego war.

„Ich muss zugeben, ich handle sonst nur um meinetwillen, aber bei der kleinen Crystal… da wollte ich eigentlich nur dir eins auswischen.“ Von hier auf jetzt sah ich rot, machte einen Satz auf ihn zu und schlug ihm mit der Faust so fest ins Gesicht, dass er rückwärts gegen die Tafel stolperte. Er schüttelte sich hastig, wischte sich den Blutfaden vom Kinn und holte dann ebenfalls aus, aber ich war schneller, bekam seinen Arm im Vorwärtsschnellen zu fassen, zog ihn heran, packte auch seine Schulter und schleuderte ihn quer durch den Raum, dass er Tische umriss.

„Jet!“, polterte Ivory in meinem Rücken und ich wirbelte mit einem genervten Atemzug herum.

„Ivory, bitte. Gerade dir müsste klar sein, dass ich nicht einmal dran denke, meine Gabe zu benutzen.“ Onyx hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und renkte sich mit schmerzverzerrter Miene die Schulter wieder ein. Sein Schrei war nur gedämpft, für alles andere war er zu stolz, das wusste ich. Aber als ich schon glaubte, mit ihm fertig zu sein, machte sich mir nichts dir nichts ein fremdes Gefühl in mir breit. Und als ich auf Onyx‘ glühende Iris aufmerksam wurde, konnte ich ihm auch einen Ursprung zuordnen.

Seine Gabe war manipulativer Natur, reagierte aber auf jeden Menschen ein wenig anders, je nachdem wie er Onyx gegenüberstand. Die absolute Mehrheit der Frauen ließ sich davon verführen, denn die Gabe wirkte auf das Gefühlszentrum anregend als auch lindernd, bis dahin, dass diejenige ihren Kopf komplett ausschaltete und sich nur noch von Emotion tragen ließ. Bei jemandem wie mir dagegen war Onyx‘ Einfluss wie der unglückliche Versuch, ein offenes Feuer mit Wasser zu löschen.

„Schluss jetzt!“, ging Ivory entschieden dazwischen, als mein Herzstechen schon wieder eingesetzt hatte und ich gegen den Tisch taumelte, um nicht hinzufallen. Und da sah ich zum ersten Mal, was ich bisher nur gehört hatte. Ivory nutzte seine Gabe sonst nur zum Teil, weil sie ihm in ihrem gänzlichen Ausmaß zu viel abverlangte, aber jetzt blieb ihm kaum eine andere Wahl. Er hob den Blick, richtete ihn auf Onyx, seine Augen schillerten und dann verschwand der Druck in meiner Brust schlagartig.
 

Audiomachine – Reunion
 

Er hatte die Gabe wortwörtlich unterbunden. Fast so, als würde man die Lautstärke bei einem Radio runterdrehen. Onyx schüttelte den Kopf, um sich zu fangen, dann seufzte er, die Augen betreten gesenkt.

„Tut mir Leid, Jet“, sagte er nach einer Weile und ich sah, dass es keine leeren Worte waren. Es war der gleiche Ausdruck, den er mir gezeigt hatte, als er sich im Flur bei Crystal entschuldigt hatte. „Ich weiß nicht, wieso ich das gesagt habe. Das war ziemlich dumm…“

Für die Annahme seiner Entschuldigung war ich noch nicht bereit, aber ich fing an, zu verstehen, wieso Ivory ihn als Lehrer wähnte.

„Psychologie“, meinte ich knapp und beide schauten mich verwirrt an. „Für den Kampfsport fehlen dir die Reflexe. Und wenn du bei Nutzung deiner Gabe weniger an dich und mehr an andere denkst, dann wärst du ein wertvoller Gewinn fürs Kollegium, glaub mir. Also streng dich in der Prüfung an, Onyx.“

„Ist das dein Ernst?“, flüsterte er fassungslos und ich nickte tief.

„Mein voller Ernst. Wenn du es verpatzt, belasse ich es nicht bei Worten, denn Jade hat deinetwegen lang genug kein Auge zugetan.“ Mehr brauchte es nicht und mehr wäre mir auch zu viel geworden. Darüber hinaus kamen Menschen wie er besser mit Taten zurecht, als mit Worten. Langsam wandte ich mich ab und machte mich auf den Weg, bis Onyx‘ Stimme noch einmal erklang.

„Hey, Mann… ich hab es nicht verdient, das weiß ich selbst und darum… na ja, danke.“

Halb drehte ich mich noch einmal um, genauso wie damals bei unserer ersten Begegnung. Nur dass ich dieses Mal nicht in ein mit Arroganz maskiertes Gesicht blickte, sondern in die klaren schwarzen Augen eines reinen Minerals. Onyx gehörte zur Quarz-Gruppe, war also am Ende ebenfalls ein purer Kristall – das war jetzt das erste Mal, dass ich das glauben konnte.

„Du irrst dich“, widersprach ich ihm bestimmt. „Du hast es verdient. Und du solltest anfangen, auch selbst daran zu glauben.“ Ich wartete nicht mehr auf ein Gegenargument, geschweige denn, dass eines gekommen wäre, zog den Kopf zurück und ging hinaus, schloss jedoch noch sorgsam die Tür hinter mir.

„Siehst du, wie dumm ich mich ohne dich anstelle?“, formte ich mit den Lippen, als ich reflexartig nach dem Obsidian greifen wollte, ohne ihn in die Finger zu bekommen. Aber war das wirklich dumm gewesen? Was wusste ich schon. Ich hatte keine Ahnung von diesen Dingen. Trotzdem spürte ich, wie sich während des Weges langsam aber sicher ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.

Onyx konnte nur von Glück reden, dass ich ihn nie in meinen Kursen gehabt hatte.
 

Kevin MacLeod – Windswept
 

Ich stellte den dampfenden Kaffee neben dem Bildschirm ab und ließ mich unschlüssig auf den Stuhl gleiten. Es war noch früh am Morgen, daher war außer mir niemand in der Bibliothek, was mir nur recht war. Der Computer sprang summend an, kurze Zeit später flimmerte künstliches Licht auf und gab den Blick auf ein schlichtes Hintergrundbild frei. Meine Hände fanden sich wie ferngesteuert auf der Tastatur ein und ich löste die Augen nicht mehr vom Monitor, bis die Suchmaschine erschien und der kleine schwarze Balken in der Spalte aufleuchtete und wieder verschwand, immer und immer wieder.

War das wirklich eine gute Idee? Was brachte es mir? Das Internet würde mir nichts anderes erzählen können als die ganzen Wälzer in den Regalen hinter mir. Hier waren die Informationen zu Edelsteinen im Dutzend billiger. Jeder Kulturkreis wurde abgespeist und nicht ein unbedeutendes Detail außen vor gelassen. Aber ich stand mittlerweile irgendwo am Rande der Verzweiflung, vielleicht diente diese Aktion also lediglich dazu, mich auf andere Gedanken zu bringen.

Schneeflockenobsidian, tippte ich zögerlich ein und ließ meinen Zeigefinger einen Moment über der Enter-Taste schweben, unsicher und schwermütig. Er war nicht wieder aufgetaucht, obgleich mir Amber, Moon und Crystal bei der Suche geholfen hatten. Wir hatten die Mensa nahezu auf den Kopf gestellt, unsere beiden Zimmer noch einmal gründlich durchkämmt, die Trainingsräume abgesucht und sogar in der Wäschekammer nachgesehen, aber er war unauffindbar. Und das hatte dafür gesorgt, dass ich gestern Nacht wachgelegen und an die Decke gestiert hatte, bis die Sonne aufgegangen war. Jetzt saß ich hier, mit vor Müdigkeit brennenden Augen und viel zu viel Kaffee auf nüchternen Magen. Mit einem Stoßseufzen bestätigte ich die Eingabe. Eine Reihe von Seitenlinks erschien, vorranging esoterischen Ursprungs. Heilsteinlexika, Astrologie, Onlineshops und darüber eine Ansammlung von Bildern. Als ich sie sah, musste ich schlucken und meine rechte Hand führte automatisch die Bewegung aus, wie ich sonst über die Bruchstelle strich.

„Wo hast du dich nur versteckt?“, hauchte ich in meinen Kragen und zog ein Bein auf den Stuhl, um mein Kinn auf dem Knie abzulegen. Dann fuhr ich mit der Maus auf einen der Links und klickte ihn an. Ein violetter Sternenhimmel überflutete den Hintergrund, hier und da von Werbefenstern durchbrochen. Ich überflog die Texte, fand aber nichts, was ich nicht so oder so ähnlich schon gelesen hatte.

„Erkennung oder Auslöschung eigener Schattenseiten“, formte ich die Worte ohne Ton mit den Lippen nach, „auch Wolkenobsidian genannt, Licht und Dunkel, gegen Angst…“ Stöhnend schloss ich die Augen. Ich vergeudete nur meine Zeit. Alles, was sonst noch kam, war viel zu esoterisch, um es auch nur ertragen zu können und bei der Suche nach dem Stein würde es mir erst recht nicht helfen.
 

Eureka seveN OST 1 // Sexy Lady Bluesy
 

Grummelnd öffnete ich die Augen wieder und wollte das Fenster schließen, als mein Blick unvermittelt an den lilafarbenen Wolken hängen blieb, die um den Mittelstreifen mit dem Text herumwogten. Lila… das war Crystals Lieblingsfarbe. Jedenfalls vermutete ich das, da sie nahezu jeden Tag etwas in diesem Farbradius trug.

Bevor ich die Absicht überhaupt vergegenwärtigt hatte, fuhr ich mit dem Zeiger schon zurück auf die Suchmaschine und gab die Farbe ein. Wieder erschien eine Vielfalt von esoterischen Beratungsseiten und Magazinartikeln. Ich klickte auf den erstbesten Link und ließ meine Augen über die Erläuterungen wandern, über die Kostbarkeit der Farbe damals, der tief in sich verbissene Widerspruch, weil bei ihr Kälte und Wärme aufeinandertrafen und musste unweigerlich schmunzeln, weil vieles davon mehr als nur auf Crystal zutraf. Doch dann kam ich bei jenem Absatz an, der mir schon mit seiner Überschrift den Inhalt auf die Nase band. Lila als Zeichen sinnlicher Sehnsucht.

Meine Finger stockten über dem Scrollrad, während ich las und meine Augenbrauen immer höher wanderten, jedenfalls fühlte es sich so an. Als ich den Absatz durchhatte, wechselte ich zurück und setzte nur ein S hinter die Farbe, schon bombardierte mich der Bildschirm mit neuen Anzeigen. Ich klickte mich durch einige hindurch, bis mir auffiel, dass meine Wangen zu glühen begonnen hatten. Gerade wollte ich mich straffen und den PC unverzüglich ausschalten, als sich hinter mir jemand diskret räusperte.

Erschrocken wirbelte ich herum, blieb irgendwo hängen und wusste wenig später auch wo, als die Kaffeetasse mit einem lauten Knall auf dem Boden aufkam. Jades Blick wanderte fragend von dem sich über den Boden ergießenden Getränk zu mir und wieder zurück, aber ich hatte schon wieder andere Sorgen. Hastig drehte ich mich zurück und schloss das Fenster, obwohl mir längst klar war, dass sie alles beobachtet hatte. Ich wollte gar nicht wissen, wie lange sie mir schon zusah…
 

Final Fantasy IX Soundtrack – Jesters of the Moon
 

„Ähm…“, brachte ich hervor und stieß mir beim Aufstehen das Bein an der Lehne. Ich schnappte mir eins der Handtücher vom Fensterbrett und wischte mit akribischer Sturheit den Kaffee auf. Jade lachte leise, ehe sie in die Knie ging, um mir zu helfen.

„Wieso bist du denn so rot im Gesicht?“, fragte sie betont ahnungslos, als wir das Chaos bereinigt hatten.

„Bin ich doch gar nicht“, nuschelte ich, vergrub das Kinn im Kragen und huschte an ihr vorbei zum Mülleimer, um die Scherben zu entsorgen. Im Rücken hörte ich sie ein weiteres Mal kichern und dann das Geräusch einer klappernden Tastatur. Aber bevor ich sie daran hindern konnte, traf mich schon ihr Blick über den Raum hinweg. Allem Anschein nach, musste sie sich extrem zusammenreißen, nicht loszuprusten. Und so was sah ich bei ihr nicht gerade jeden Tag.

„Das hätte ich von dir am wenigsten erwartet“, grinste sie und ich fluchte innerlich auf die Erfindung des Internetverlaufs.

„I-Ich muss los…“, schnappte ich, stolperte beim Versuch vorwärts zu gehen jedoch beinahe über meine eigenen Füße.

„Du hast heute frei, Jet“, versetzte Jade stirnrunzelnd, schaltete den PC aus und setzte sich halb auf den Tisch, um an ihrem Tee zu nippen. Gerade, dass sie ihre Seelenruhe derart bewahrte, kratzte mich nur noch mehr auf. Auch wenn ich nicht den Ansatz einer Ahnung hatte, woran das lag.

„Ivory braucht mich.“ Das tat er zwar unter Garantie nicht, aber allmählich verspürte ich nur noch den Drang, hier so schnell wie möglich rauszukommen. Ich warf dem PC ungewollt einen vernichtenden Blick zu.

„Ivory hat auch frei“, hielt Jade kopfschüttelnd dagegen und lachte in ihre Tasse. „Heute ist Samstag.“ Konnte sie nicht wenigstens ein bisschen entgegenkommend sein? Wieder grinste sie, als ich spürte, wie eine neue Welle von Wärme in meine Wangen aufstieg. Das war doch nicht zum Aushalten!

Ohne weitere, sinnlose Rechtfertigungen wandte ich mich ab und marschierte zur Tür hinaus. Oder wollte es, aber Jade ließ es heute wirklich drauf ankommen.

„Ich bin stolz auf dich, glaub mir!“, rief sie mir nach und schlimmer noch als das war das offenherzige Gelächter, das folgte und die Tatsache, dass ich mit der Jacke an der Türklinke hängen blieb und wieder um Haaresbreite der Länge nach hingefallen wäre, hätte ich nicht in letzter Sekunde das Gleichgewicht wiedergefunden. Was war hier bloß los? Ich hätte heute Morgen vielleicht doch nicht aus dem Bett kommen sollen.

In all den wirren Gedankenspiralen vertieft, kam mir das Gespür für meine Umgebung abhanden und da ich mich im Laufschritt fortbewegte, konnte sie auch nicht mehr schnell genug abbremsen und prallte mit einem abgedämpften Laut gegen meine Brust.

„Verdammt, tut mir leid!“, beeilte ich mich, zu sagen und packte Crystal bei beiden Schultern, damit sie nicht hinfiel. Sie schüttelte sich und rieb sich die Nase, lächelte dabei aber schon wieder und meine Augen wollten sich urplötzlich nicht mehr von ihren Lippen lösen lassen.

„Alles gut bei dir?“, fragte sie nach einigen Sekunden und ich kappte meine Aufmerksamkeit zerstreut von ihrem Mund. Allerdings nur, um sie dann auf den Stoff ihres Oberteils zu lenken. Ein kräftiges Dunkelviolett. Als hätte ich mich verbrannt, nahm ich meine Hände von ihren Schultern.

„J-Ja, mir geht’s fantastisch!“, stammelte ich und realisierte im selben Moment, dass ich eine solche Wortwahl hiermit zum ersten Mal benutzte. Crystal schien das auch aufzufallen, aber sie blinzelte nur ein wenig und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um mich zu küssen. Ich erwiderte es. Vorerst. Aber je länger ihre Lippen auf meinen lagen, je länger ihr Duft an meine Nase drang und ihr Körper gegen meinen drückte, desto heißer fing mein Blut an zu kochen. Und das, obschon der Kuss nicht länger als fünf Sekunden gedauert haben konnte. Und eine davon musste ich schon abziehen, als ich sie nicht grob, aber doch schnell von mir schob.

„Ich muss aufpassen, was ich mit meinen Händen tue…“, keuchte ich fast lautlos und schluckte, wobei ich ohne Zustimmung meines Verstandes an ihrem Hals abwärts blickte.

„Du musst was?“, stutzte Crystal mit gefurchter Stirn. Verflucht, trug sie schon immer so tiefe Ausschnitte?!

„Nichts, gar nichts!“, winkte ich mit heiserer Stimme ab, räusperte mich und griff kurzentschlossen nach ihrer Hand, um sie mit zur Mensa zu ziehen. Sie ließ es widerspruchslos geschehen.
 

Baten Kaitos OST - Tenkai Flower Temple
 

Moon und Amber warteten schon am Stammtisch und starrten mich synchron an, als ich mit den Tabletts und Crystal im Schlepptau dazu stieß. Aufgrund der Suche nach dem Obsidian hatten wir gestern nicht mehr über das gesprochen, was ich ihnen in meiner Rage um die Ohren geworfen hatte. Wir kannten uns jetzt über drei Jahre lang und nie hatte ich ihnen mehr verraten, als dass ich nicht gerne über mich sprach. Jetzt lagen die Würfel anders. Einerseits wollte ich um alles in der Welt wissen, was sie diesbezüglich in ihren Köpfen vorging, andererseits wollte ich es nicht.

Aber gegenwärtig hatte ich sowieso keine Konzentration mehr dafür übrig. Ich heftete die Augen mit stoischer Geduld auf meinen Teller, während ich aß, nahm aber von allen dreien hin und wieder fliegende Seitenblicke wahr. Irgendwann brachte mich das dann doch aus dem Konzept, vor allem, weil auch niemand redete und ich verschluckte mich als krönender Abschluss am Brot.

„Das ist neu“, stellte Moon unvermittelt fest, stieß Amber mit der Schulter an und zeigte auf mich wie auf einen merkwürdig gefiederten Vogel oder etwas in der Größenordnung. „Sonst ist das bei dir wie mit einer Wand. Es ist absolut unmöglich, zu sagen, ob überhaupt irgendwas in dir vorgeht. Aber jetzt… was ist los?“

„Gar nichts“, hustete ich und nahm einen raschen Schluck vom Wasser. Na wundervoll. Sobald Moon auf etwas gestoßen war, konnte ich damit rechnen, keine Ruhe mehr vor ihr zu bekommen. Und die Frühstückspause hatte gerade erst begonnen. Davon abgesehen, dass heute Samstag war. Dummerweise schweifte mein Blick dabei kurzweilig zu Crystal hinüber, beziehungsweise zu ihrem Dekolletee…

Reiß dich zusammen, du Idiot!

Aber Moon war schon darauf aufmerksam geworden und zählte gekonnt eins und eins zusammen.

„Oh, jetzt wird es gerade noch verlockender!“

„Warte, ich hab eine Idee“, schaltete sich Amber mit beängstigendem Elan ein, wühlte in seiner Tasche und zog ein dickes Lexikon mit dem Titel Sprichwörter und Redewendungen aus aller Welt hervor. Er schlug es beim Buchstaben W auf. „Es gibt doch hier bestimmt irgendwas, womit man jemandem die Wahrheit entlocken kann…“
 

Bleach OST - Magots Dance
 

„Du bist ein Genie, Amber!“, rief Moon aus und beugte sich enthusiastisch zu ihm, um mit ins Buch schauen zu können. „Schau mal, das hier könnte doch was sein…“ Wortlos erhob ich mich leicht, entwendete Amber das Lexikon mit einer Handbewegung, ließ es zuschnappen und warf es in hohem Bogen über meine Schulter.

„Hey!“, beschwerten sich drei Stimmen im Chor. Sekunde… drei? Verwundert wandten wir uns allesamt um und erkannten Mira, die gerade an unserem Tisch hatte vorbeigehen wollen, nur dass das schwere Buch sie auf halber Strecke erwischt und ihr das Tablett aus den Händen gerissen hatte. Wütend pflückte sie den Wälzer vom Boden auf und setzte ihn gewissenlos in Brand. Amber kreischte auf und Moon stürzte vorwärts, fegte dabei die Hälfte unseres Frühstücks vom Tisch und schleuderte mit ihrer Gabe eilig den Inhalt unserer Tassen auf die lodernde Literatur.

Zischend erloschen die Flammen, aber der Einband war völlig ramponiert und die Seiten schwarz verkohlt. Darüber hinaus erhob sich stechender Qualm in die Höhe. Amber sank entgeistert davor in die Knie.

„Das war das letzte Exemplar!“, keuchte er voller Angst. „Oh Gott, ich bin geliefert!“ Moon kam noch dazu, den Mund zu einem „Nicht!“ zu öffnen, aber da war es schon zu spät und anstelle von Amber lag ein großes, braunes Paket auf dem Boden.

Mira, die immer noch daneben stand und bis eben versucht hatte, das, was noch von ihrem Frühstück zu retten war, aufzuklauben, schnaubte und trat kurzerhand gegen die Kartonwand.

„Kannst du nicht lesen?!“, protestierte es gedämpft aus dem Inneren. „Da steht ‚Vorsicht zerbrechlich‘ auf der Außenseite!“ Im nächsten Moment hörte man es von innen klopfen. „Und könnte mir jetzt bitte mal einer helfen?“ Crystal neben mir fing an, zu lachen.

„Komm, das kriegen wir wieder hin!“, meinte Moon zuversichtlich, klatschte einmal in die Hände und machte sich dann daran, das Paket seitwärts zum Tisch zurückzurollen, woraufhin sich Amber nur noch lauter beklagte, allerdings in unverständlichen Schmerzenslauten. Kurz bevor sie uns erreichten, legte sich auf einmal eine Hand auf meinen Oberschenkel und obwohl ich das natürlich von Crystal gewohnt war, zuckte ich dieses Mal heftig zusammen.

Ach, richtig. Da war ja noch was…

„Dieses Styropor juckt!“, drang irgendwo von links Ambers Stimme zu mir durch, ebenso wie Moons enttäuschtes „Schon wieder keine Luftpolsterfolie“.

„Ist wirklich alles in Ordnung“, fragte Crystal unbefangen und ihre Hand rutschte ein ganz kleines Bisschen höher, wahrscheinlich nicht mal gewollt, aber ich krampfte automatisch die Hände zusammen.
 

Always Look on the Bright Side of Life (from Monty Python)
 

„Brüste!“, platzte es aus Moon hervor und ich fuhr so schnell zu ihr herum, dass ich mit der Hand gegen die Tischkante donnerte. „Ich wusste, dass er darauf reagiert.“ Sie schnippte grinsend in Ambers Richtung, dessen Fokus den Überresten des Lexikons galt. „Jet, dir wird doch nicht irgendwas Unanständiges durch den Kopf gehen?“ Ich wollte etwas erwidern, kam auch so weit, den Mund zu öffnen, aber einen Ton bekam ich nicht hervorgewürgt. Stattdessen war mein Körper erneut der Meinung, dass meine Wangen mehr Blutversorgung nötig hatten.

„Uhuhu, jetzt will ich es aber genauer wissen! Amber, ran auf’n Meter!“ Wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, rutschte er über den Boden, wobei ihm das verschmorte Buch aus den Händen fiel und kam dicht hinter Moon zum Stillstand. Dass sie beiden immer noch auf dem Fußboden saßen und ringsum zerbrochene Teller, Tassen und Essenreste verstreut lagen, war mir dabei fast entgangen. Wie infolge eines Reflexes ließ ich das Gesicht in die Hand des Arms fallen, den ich auf dem Tisch abgestützt hatte. Ich war verflucht, ganz einfach. Das musste es sein. Ich benahm mich wie die Ausgeburt eines schlechten Teeniefilms…

„Och, komm schon, weih’ uns ein, du alte Miesmuschel!“, bat Moon mit weinerlicher Stimme und ich hob das Gesicht leicht aus der Handfläche. Amber hatte sein Kinn auf ihre Schulter gelegt und ebenso wie auch sie den Kopf schief gelegt, die Augen groß und glasig, der Mund ein Flunsch. Ich widerstand eigentlich nur noch den Impulsen, Dinge nach ihnen zu werfen. Am besten große, schwere Dinge, die viel Schaden anrichteten.

Aber bevor ich auch nur dazu kam, mich nach etwas Geeignetem umzusehen, legte Crystal plötzlich ihre Hand auf meinen Arm, kam näher und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ihr Duft traf mich wie ein Vorschlaghammer, genauso wie die Weichheit ihrer Lippen oder die Rundungen ihrer Brüste, die durch ihr Vorwärtsbeugen ganz sanft an meiner Seite spürbar wurden.

Ehe ich mich versah, hatte es mich ausgehebelt und ich rutschte so vom Stuhl, dass ich mit dem Rücken vor Moon und Amber auf dem Boden landete. Meine Beine lagen noch halb oben.

Erst war es totenstill. Stecknadelfallstill. Aber dann lehnte sich Crystal vor und ich sah, wie sie mich zwischen meinen Beinen hindurch anschaute und fragte, ob alles in Ordnung sei. Das gab den Ausschlag, Moon und Amber explodierten in einem Lachanfall, der geschlagene zehn Minuten anhielt. Ich stöhnte nur, ließ den Kopf nach hinten fallen, schloss die Augen und tat mein Bestes, mir vorzustellen, mich einfach in Luft auflösen zu können. Aber irgendwann – ich lag immer noch auf dem Rücken – hörte ich ein eigentümlich vertrautes Geräusch und fühlte ein Beben in meiner Brust, das sich bis hinunter zum Bauch zog und sogar im Kiefer noch zitterte. Und es dauerte tatsächlich einen Moment, bis ich begriff, dass ich mitlachte.

Und zwar aus voller Kehle.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  JadeJunkfood
2015-02-13T23:01:13+00:00 14.02.2015 00:01
ich hab den ersten teil geliebt und mag den hier nicht lesen bevor er fertig ist. eben kurz reingelesen und ich weiß jetzt schon, dass ich das warten nicht aushalten würde ! wenn du mir eine ens schicken würdest, wenn die ff abgeschlossen ist, lese ich sie natürlich sofort! :)

lg jade junkfood
Von:  you_make_me_smile
2014-03-11T09:00:15+00:00 11.03.2014 10:00
Ich liebe die Geschichte so. Sie ruft so viele Emotionen beim lesen hervor. Einfach nur klasse <3
Antwort von:  Rainblue
12.03.2014 11:43
Hey! =D
Vielen Dank für deine lieben Worte! >u< Auch von meiner Freundin. Wir freuen uns, dass dir die Geschichte gefällt! <333



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