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Yours to keep.

[Vivian & Theon]
von

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1. Kapitel - Edge of Sanity.


 

Vivian
 

Nicht, dass ich mich jemals an Zigarettenrauch gestört hätte, schließlich nahm ich selbst hin und wieder gern einen Zug vom Glimmstängel. Aber wenn jemand dieses Laster maßlos übertrieb und es offensichtlich war, dass er damit keine Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen wollte, dann hatte auch ich keinen Respekt mehr für das verdammte Suchtverhalten. Und mal ehrlich: Wer wollte als Dank für ein Foto und Autogramm schon gern mit einer dicken Ladung Qualm angeblasen werden?

Etwas Gegenteiliges durfte ich leider nicht sagen, ich musste meine Klappe halten, denn wie schnell würde sich das Gerücht verbreiten, dass wir einfach nur ein Haufen arroganter Schnösel waren, die ihre Fans schlecht behandelten. Es galt die Devise: Immer freundlich lächeln und winken, auch wenn dir eher nach Todesblick und Verwinken zumute war.
 

Leider ließ sich der Qualmer nicht so leicht vertreiben. Noch Sekunden später verharrte er cool und lässig an seinem Suchtmittel saugend wenige Meter entfernt mir, besah mich mit nicht wirklich einordbaren Blicken und schwieg. Schaute einfach nur zu, wie ich mich mit weiteren Fans unterhielt und sie mit eben den Gefälligkeiten versorgte, die der Kerl ebenfalls zuvor erhalten hatte.

Ich fühlte mich beobachtet, und ich hasste es. Es machte mich nervös, auch wenn dem ein oder anderen dieser Zustand merkwürdig vorkommen könnte, schließlich war ich Musiker, stand jeden Abend auf den Brettern und wurde da natürlich ebenfalls angeschaut. Wenn ich die Menge rockte und begeisterte, dann stellte es für mich kein Problem dar, unentwegt angesehen zu werden, doch wenn ich mich abseits der Bühne befand, dann fand ich, dass man sich doch ein wenig zurückhalten konnte.

Dieser Ansicht war er allerdings nicht. Er schaute und schaute, und das Schlimme war: Ich schaute zurück. Immer wieder. Ordnete den Typen automatisch in die Kategorie "arroganter Schönling" ein.

Mit allem, was er tat, schien er unendlich zu kokettieren; mit der Art und Weise, wie er die Zigarette zwischen seinen Fingern hielt, wie er die Augen schloss, wenn er einen Zug von ihr nahm oder wie er sich die langen, schwarzen Haare nach hinten strich. Seine Körpersprache verriet unmissverständlich, dass er sich unwahrscheinlich geil finden musste. Und wann immer sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde trafen und seine Mundwinkel aufreizend zu zucken begannen, wusste ich, dass er mich ebenfalls unwahrscheinlich geil fand.
 

Ich versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren, auch wenn es schwer fiel; es war allgemeinhin bekannt, dass man auffällige Leute, ob attraktiv oder nicht, ständig anstarren musste, nur glaubten einige Menschen noch immer, dass Glotzen etwas mit Anziehung zu tun hatte. Blicke musste ich mir verkneifen, denn sonst würde der Kerl noch denken, ich hätte Interesse an ihm. Dem war mit Sicherheit nicht so.
 

Der Abend neigte sich dem Ende zu, wahrscheinlich war es lange nach Mitternacht, als die letzten Fans sich von mir drücken ließen und sich dann an die Bar zurückzogen oder im dunstigen Nebel vor dem Club verschwanden. Nur er stand nach wie vor an die Mauer vor der Sitzecke mit den Sofas gelehnt, rauchte Zigarette um Zigarette und wirkte nicht so, als würde er langsam in Aufbruchsstimmung geraten.

Ganz im Gegensatz zu mir. Theon und der Rest trank bereits den ersten Wodka und schaute sich fragend nach mir um, schließlich wussten alle, dass ich bei einer Saufgelage niemals nein sagte.

Ich dachte gar nicht lange nach, fuhr mir mit der Hand über mein kurzes Haar und lief in Richtung der Bar, musste dafür allerdings an dem Rauchertypen vorbei. Erst als ich auf seiner Höhe stand und ich spürte, wie man mich am Arm packte und ich durch sein Zutun dem Kerl erschreckend nah gekommen war, schwelte ein Gefühl der Verwirrung in mir.

Seine Augen blickten mich ohne auch nur einmal zu blinzeln an und der direkte Körperkontakt zu dem ungefähr eine Hand breit kleineren Typen steigerten das unangenehme Empfinden meinerseits zugegebenermaßen noch. Mental schaltete ich bereits auf Abwehr, denn man wusste im Voraus nie, ob man es bei einem noch so harmlos aussehnenden Jungen mit einem Freund oder einem Feind zu tun hatte.
 

"Pennt ihr im Hotel?", wollte der Typ auf einmal vollkommen aus dem Nichts heraus in Erfahrung bringen; er zuckte dabei nicht einmal mit der Wimper, schämte sich überhaupt nicht für diese doch recht intime Frage, die ich ihm eigentlich nicht beantworten wollte.

"Wieso?", stellte ich schließlich die unbeholfene Gegenfrage, obwohl ich wusste, dass es effektiver gewesen wäre, von Vornherein auf höfliche Ignoranz zu schalten und mich nicht in ein Gespräch dieser Art verwickeln zu lassen.

"Na..."

Er hatte eine tiefe, raue Stimme, die sich zum Raunen dieser Silbe perfekt eignete, und auch das in meinen Augen ziemlich fiese Grinsen passte zu der Rolle des Bösewichtes. Als ich aber plötzlich bemerkte, dass seine Faust sich fester in den Stoff meines Oberteiles krallte und der Typ Anstalten machte, mich noch näher zu sich heranzuziehen, wusste ich endgültig, auf was er hinauswollte. Um ehrlich zu sein hatte ich ihn vorhin schon in seinen Augen funkeln sehen, diesen kleinen Glanz von Lust und Begierde, aber das hier war erst die Bestätigung für meine Vermutung.

"Wir könnten was Schönes zu zweit machen…"

Noch war ich nicht aus meiner Schockstarre erwacht, hörte ihn lasziv mit der Zunge schnalzen und sah, wie er seine Augenbraue in die Höhe huschen ließ. Erst als er übertrieben dreckig zu grinsen begann, löste ich seine Hand bestimmt von meinem Shirt und machte ihm selbstsicher wie eh und je klar, dass ich eine Familie hatte und nichts mit Groupies anfing, schon gar nicht mit männlichen.

Man, hatten die Kids es denn noch immer nicht verstanden, dass sich Lovex aus sechs heterosexuellen Typen zusammensetzte und sich an diesem Zustand auch nichts ändern würde?
 

Zum Glück war mein kleiner Möchtegerngroupie nicht sonderlich hartnäckig, ließ mich einfach ziehen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Interessanter schien für ihn wieder seine Sucht zu sein. Vorerst. Und ich, froh darüber, ihn erfolgreich abgewimmelt zu haben, gesellte mich zu meinen Kumpanen und orderte fast schon gierig meinen Wodka. Nach der Aktion brauchte ich etwas Scharfes in meiner Kehle, eindeutig. Nur leider musste ich mich nun der Neugierde meiner Bandkollegen stellen. Besonders Theon schien sich brennend für das zu interessieren, was sich eben zwischen mir und dem rauchenden Jüngling zugetragen hatte.
 

"Passt auf, das ist ein Schwuler", warnte ich die anderen mit leichtem Anflug von einem Grinsen und deutete mit dem Kinn in die Richtung meines Verehrers.

"Wollte er deinen Arsch?", fragte Theon prompt nach und schaute mit einem Mal ziemlich besorgt drein, aber ich winkte nur ab und lachte kurz auf.

"Na ja, wahrscheinlich so in der Art."

Theon guckte noch immer nicht wieder froh. Und das sollte auch noch eine ganze Weile so bleiben. Selbst als ich ihm hart aber herzlich gegen die Schulter boxte und ihn damit aufzog, dass er wohl Angst um seinen Hintern hatte, lachte er nicht über mein Scherzchen.

"Ganz ehrlich, Viv, früher", warf Julian nun ein und linste mich schelmisch von der Seite her an, "früher hättest du den doch nicht abblitzen lassen. Oder?"

Ich trank meinen Wodka leer, bestellte einen neuen und meinte daraufhin nur eines: "Nur weil ich mal Make Up getragen habe, hieß das noch lange nicht, dass ich was von Typen wollte. Oder wart ihr damals alle bisschen bi in der Birne?"

Verhaltene Reaktion, begleitet von Kopfschütteln. Das sollte wohl ein Nein sein. Der Einzige, der in Gedanken versunken zu sein schien, war noch immer Theon.

"Was hast'n?", wollte ich wissen, legte nun recht grob einen Arm um ihn und zog ihn zu mir heran. "Aaach, du hast wohl nicht nur Angst um deinen Arsch, du hast wohl auch Schiss, dass ich dir mit diesem Kerlchen fremdgehen könnte, was?"

Schmunzelnd legte ich meine Lippen an sein Ohr.

"Aber keine Sorge, Toro, ich steh nicht auf Gothic-Metal-Typen mit langen Loden. Blonde Haare und eisblaue Augen sind mir viel lieber..."

Die anderen schienen einen Teil meiner selbstverständlich nicht ernstgemeinten Treuebekundung und Liebeserklärung mitbekommen zu haben, denn es ging ein kollektives Gelächter durch die Runde, dem sich schließlich auch Theon anschloss, auch wenn es ziemlich halbherzig wirkte, wieso auch immer.
 

Ich, ebenfalls lachend, trank den nächsten Wodka ebenfalls leer, weitere folgten in kurzen Abständen.

Wie viele, das kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen...
 


 

Theon
 


 

Es entging mir nicht, dass Vivian wieder einmal viel zu begeistert seinem Alkoholkonsum frönte. Schon wieder kippte er sich einen Wodka hinter die Binde, verzog kaum eine Miene und hatte bereits wenige Sekunden später schon wieder ein volles Glas in der Hand.

"Viv", warf ich irgendwann ein, nachdem ich selbst längst dazu übergegangen war, nur noch Wasser zu bestellen, um die Promillezahl ein wenig zu drücken. "Du solltest dann besser aufhören, dich volllaufen zu lassen, morgen - oder besser gesagt heute - ist doch der Dreh."

Es wirkte unbeholfen, wie er mir daraufhin auf die Schulter klopfte, aber es genügte, damit das dumpfe Spannen in meinem Magen zurückkehrte, jenes Gefühl, welches ich hasste wie kaum etwas anderes.

"Keine Angst, ich habs nicht vergessen", lallte er mehr, als dass er sprach, und auch sein Blick wirkte ziemlich glasig, ein Anzeichen, dass er tatsächlich schon komplett zu war. "Und ich versprech dir, am Nachmittag wieder fit zu sein."

Er hob das Glas, so hastig, dass der Inhalt beinahe übergeschwappt wäre und grinste breit.

"Schließlich bin ich ein Mann und kein Weichei."

Wenn ich allerdings die Momente Revue passieren ließ, in denen Viv komplett die Kontrolle über sich verloren hatte, glaubte ich das Märchen vom starken Mann längst nicht mehr. Jedenfalls nicht aus Vivians Mund. Viv war derjenige von uns, der viel zu oft seine Grenzen beim Saufen überschritt, dem man in das Hotelzimmer führen musste, weil er kaum noch gerade stehen konnte. Seit ich ihn kannte war er dem Alkohol sehr zugeneigt und verlor fast immer jegliche Hemmungen. Schlimm war zudem, dass er am nächsten Tag nicht nur zu nichts mehr zu gebrauchen war, sondern auch, dass er sich im Rausch manchmal benahm wie - ein Schwein. Stets hatte ich ein wenig gehofft, dass er sich bessern würde, wenn er auf die Dreißig zuging, aber dem war nicht so. Bei Weitem nicht. Er soff noch immer wie ein Zwanzigjähriger. Den Tag über wirkte er stets so erwachsen, in Gesprächen sehr besonnen und vernünftig. Aber sobald die Nacht anbrach und er Alkohol in die Hände bekam, drehte er vollkommen durch. Und ließ sich von niemandem mehr etwas sagen. Selbst von mir nicht. Obwohl ich sein bester Freund war.
 

Ich tauschte besorgte Blicke mit den Jungs, die ebenfalls ihre letzten Wodkas leerten und insgesamt noch ziemlich nüchtern wirkten im Gegensatz zu Viv.

Sammy machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als ich merkte, wie sich plötzlich jemand zwischen die Hocker von Vivian und mir drängte.

Der Typ mit den langen Haaren. Mit der Zigarette. Der Schwule...

Das schmeckte mir gar nicht. Wieso, das überlegte ich mir gar nicht erst, war es doch viel zu spät um nachzudenken. Tief in mir wusste ich ohnehin, was mir an ihm nicht passte. Im Normalfall wäre mir seine arrogante Attitüde wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, aber mit dieser einen, speziellen Gewissheit begann ich prompt regelrechte Hassgefühle gegenüber dem Bürschchen zu entwickeln.

Natürlich begaffte er wieder Viv, allerdings nicht mehr so unverhohlen wie vorhin noch. Ich hatte sie genau beobachtet, mit klopfendem Herzen beinahe darauf gewartet, dass Vivian sich von dem Kerl einlullen ließ. Doch nichts war geschehen und ich hatte aufatmen. Er hatte ihm einen unmissverständlichen Korb gegeben. Und genau deswegen wagte es der Langhaarige sicher nicht mehr, ungeniert zu glotzen. Bestellte ebenfalls einen Wodka und nippte stumm an ihm. Vivs Glas war inzwischen einmal mehr geleert worden und sein Besitzer hielt es der Bardame freilich erneut unter die Nase und erklärte uns: "Das ertrag ich nur besoffen."

Mit 'das' meinte er selbstverständlich seinen Groupie. Gut so. Ich beäugte ihn dennoch argwöhnisch. Im Gegensatz zum Rest der Truppe. Die schien sich auch noch für den Burschen zu interessieren. Na super, in diesem Falle würden wir ihn gar nicht mehr losbekommen, stöhnte ich gedanklich.
 

"Du bist uns schon beim Gig aufgefallen", meinte Juke. "Du warst doch der in der ersten Reihe, oder?"

"Klar", erhielt er nur als Antwort; anscheinend war er nicht an einem Gespräch mit unserem Drummer interessiert, die sehnsüchtigen Blicke, die er Viv hin und wieder noch zuwarf, sprachen eine eindeutige Sprache. Jedenfalls flüsterten sie mir etwas zu, was sicher auch die anderen vernahmen, so hoffte ich. Ich konnte tatsächlich von Glück reden, dass Vivian im besoffenen Zustand trotzdem nicht leicht für jeden zu haben war. Auf der anderen Seite stellte es allerdings auch ein großes Pech dar...heute jedenfalls schätzte ich diesen Umstand und ermahnte Viv auch gar nicht mehr bezüglich seines Trinkverhaltens. Es hatte ja doch keinen Zweck.
 

"Stimmt...du warst doch der, der die ganze Zeit nur rumgestanden hat und keine Miene verzogen hat", erkannte Sammy, schnippte mit den Fingern und zeigte auf den Typen, der für mich einfach nur ein Fremdkörper war, obwohl er unserer Fanbase angehörte und ein Musiker doch seine Fans lieben sollte, alle, ohne Ausnahme. Doch manche machten es einem wirklich sehr schwer, besonders die, die ganz offensichtlich an Vivian interessiert waren. Dann sah ich mir sofort alle Felle wegschwimmen, obwohl es doch ohnehin keine Rolle mehr spielte. Vivian hatte seine eigene, kleine Familie, er war sogar Vater einer ganz bezaubernden Tochter, die so viel von ihm geerbt hatte...von mir aus sollte sie komplett wie er sein, Vivian war toll, er war der tollste Mensch, den ich je getroffen hatte. Nur der Hang zum Alkohol stellte eine Eigenschaft dar, die ich nicht an ihm schätzte.

Ansonsten...war er perfekt.
 

Sein Groupie schien derselben Ansicht. Nur dass er mittlerweile noch mehr mit sich und seinen unwahrscheinlich langen Haaren zu tun hatte als mit Vivian. Er stützte sich lässig mit einem Arm auf dem Tresen ab und lieferte schließlich seinen Kommentar auf Sammys Bemerkung hin.

"Na und?", meinte er und zuckte dabei fast schon abfällig mit den Schultern. "Ich bin schließlich hier, um zu glotzen, sonst nichts."

Das nahm ich ihm sofort ab. Den Blick, den er dem komplett besoffen wirkenden Vivian nun zuwarf, versetzte mir einen Stich gepaart mit einem Anflug dumpfer Wut. Obwohl das alles nichts Neues war, hätte ich mich in diesem Augenblick am liebsten auf ihn gestürzt.

Doch das war nicht vonnöten. Vivian konnte sehr gut allein auf sich aufpassen, im alkoholisierten Zustand etwas zu gut. Das Bürschchen startete tatsächlich einen erneuten Annäherungsversuch, trotz vorangegangen Korbes, trotzdem Vivian nicht das geringste Interesse an ihm zeigte.

Ich kochte, als er sich aufreizend gegen Viv drängte, fühlte mich gleichzeitig hilflos, wollte das alles am liebsten gar nicht sehen. Auf der anderen Seite aber konnte ich nicht anders, als hinzuschauen. Wahrscheinlich flüsterte er ihm nun etwas zu, etwas Sexuelles, mit Sicherheit. Trotzdem wirkte Vivian noch wie die Ruhe selbst, tat so, als würde er nichts hören, es war gut. Es beruhigte mich etwas.

Fast jede Nacht verfolgte mich der Gedanke, dass Viv sich irgendwann mal auf einen Mann einlassen könnte, der nicht ich war. Dieses Szenario stellte einen meiner schlimmsten Albträume dar. Wenn ich ihn nicht haben durfte, dann sollte ihn keiner haben.
 

Der Langhaarige entfernte sich schließlich wieder etwas von Viv, wahrscheinlich aber nur, weil sein Wodka leer war und es ihm nach Nachschub dürstete.

"Wie heißt'n?", versuchte Julian nun in Erfahrung zu bringen; morgen würde ich ihn dafür schlagen, dass er den Typen beschäftigte, das schwor ich mir.

"Neo", antwortete der Angesprochene, warf sein Haar zurück und in der nächsten Sekunde trafen sich unsere Blicke. Ganz kurz nur. Aber es genügte mir, um mich noch wütender zu machen. Ständig schwirrte die Gewissheit durch meinen Kopf, dass er dasselbe von Vivian wollte wie ich, und eben das machte uns zu stillen Konkurrenten. Ob er es ahnte? Ich wusste es nicht. Aber ich hoffte, ich würde meine Gefühle unauffällig genug in mir zu verstecken wissen.
 

"Und wie alt bist du?"

"Juke..."

Das war Viv. Er verdrehte genervt die Augen, hatte sichtlich die Schnauze voll von dem Kerl, der ihn in einem Fort bedrängte. Doch unser Nesthäkchen ließ sich nicht von seiner Fragerei abbringen.

Dieser Typ, der sich uns als Neo vorgestellt hatte (von mir aus hätte er auch Hans-Peter heißen können, es hätte mich so sehr interessiert wie die sechsundfünfzigste Nachkommastelle des Pi), grinste nun vor sich hin, schob das Glas dabei zwischen seine Lippen und trank einen Schluck. Erst dann gab er Julian eine Auskunft.

"Ich bin sechzehn."

"Sechzehn?", stieß Vivian geschockt hervor, hustete, hatte sich vor Schreck wohl fast an seinem Wodka verschluckt. "Was glaubst du eigentlich, was man mit mir gemacht hätte, mal angenommen, ich hätte dich wirklich mit ins Hotel genommen?"

Er beugte sich zu ihm vor.

"Na? Na? Kommst du selbst drauf?"

Doch dieser Neo blieb die Coolness selbst und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Also deckte Viv die Karten auf.

"Man hätte mich in den Knast gesteckt! Ein Zweiundreißigjähriger, der sich an sechzehnjährigen Jungs vergreift. Nee, nee, nee..."

Selbst diese Worte kümmerten den Kleinen nicht im Geringsten. Entspannt steckte er sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und rauchte. Rauchte einfach. Wahrscheinlich hatte es ihn doch nicht so kalt gelassen, dass Vivian eine Mauer zwischen ihnen aufgebaut hatte, die endgültig nicht überwunden werden konnte.

Ein Schwall Schadenfreude stieg in mir auf. Und er verstärkte sich noch weiter, als der abgewiesene Groupie eindeutig in Aufbruchsstimmung geriet.

"Ich mach los, man sieht sich", meinte er nur kurz angebunden zum Abschied, dann löste er sich von der Bar und lief in Richtung Ausgang.
 

"Ein Glück", seufzte Vivian erleichtert. "Hätte der noch länger hier rumgegangen und mich angemacht, hätte ich ihm vielleicht auf die Fresse hauen müssen."

"Aber Viv, man schlägt doch keine Kinder!", gluckste Jason nun in seiner gemütlichen Art, doch im Grunde war dies überhaupt nicht zum Lachen. Wie wir alle wussten konnte Viv in seltenen Fällen auch aggressive Züge annehmen, wenn er zu viel getrunken hatte. Bisher hatte er so manchem Typen allerdings lediglich eine Tracht Prügel angedroht und wir konnten ihn noch schnell aus der Affäre ziehen, ehe etwas geschah, was uns allen nicht zugutekam.

Wie gesagt, bisher. Nicht auszudenken, wenn es wirklich einmal geschehen würde...
 

"Ich geh mal für kleine Vivs."

Sagtes und schob sich vom Barhocker, nur um dann festzustellen, dass er kaum noch stehen konnte und immer wieder zu einer Seite wegkippte. Bedenklich.

In uns allen Wuchs Besorgnis heran, das sah ich den anderen an, nur Viv lachte doof vor sich hin und torkelte schließlich in Richtung der Toiletten.

"Hoffentlich findet er die richtige Tür", meinte Christian.

"Glaubst du, der geht versehentlich aufs Damenklo?", mutmaßte Sammy belustigt, aber unser Keyboarder zuckte daraufhin mit den Schultern.

"Nee, ich dachte eher daran, dass er plötzlich vor dem Club steht und in den Schnee pisst. Die Klos sind gleich neben dem Eingang, habt ihrs noch nicht gesehen?"

Wir reagierten nur verhalten. Tranken schweigend unser Wasser aus. Bis plötzlich ein Heidenlärm an unsere Ohren drang und wir erschrocken aufhorchten.

2. Kapitel - Guardian Angel.


 

Vivian
 


 

Die Welt drehte sich. Das tat sie zwar immer, aber heute erschien sie mir schneller als gewöhnlich. Deutlich schneller.

Bereits das kleine Männchen, das mir von der Tür der Männertoilette her bedeutete, dass ich hier an der richtigen Adresse war, vollführte irgendeinen neumodischen Tanz, von dem ich noch nie gehört hatte. Mit der Kraft seiner Gedanken bewegte es nun auch noch die Türklinke; als es mir dennoch gelang, diese zu greifen, lachte ich triumphierend auf.

"Denkst wohl, du kannst mich austricksen, kleiner Freund?"

Nein, mich konnte man so schnell nicht hereinlegen, dazu war ich eindeutig zu intelligent. Egal, wie schnell sich die Welt drehte, für die Details hatte ich immer ein offenes Auge. Dachte ich. Denn als ich in den Waschraum trat musste ich feststellen, dass jemand darauf aus zu sein schien, meine Klugheit infrage zu stellen.
 

"Ach nee, du schon wieder", seufzte ich, bemerkte dabei einmal mehr, wie schwer mir das Sprechen derzeit fiel und wollte mich nur noch auf das Wesentliche beschränken. Das allerdings würde sich schwierig gestalten, das wusste ich, denn ich hatte mich vorhin schon beinahe in der Gegenwart dieses aufdringlichen, minderjährigen Vogels vergessen.

Nun stand er hier im Klo. Lehnte an einer Kabinenwand und qualmte den gesamten Stall voll. Obwohl er stark zu schwanken schien und wahrscheinlich nicht abgeneigt war, mit dem Männermännchen an der Toilettentür Tango zu tanzen, erkannte ich so etwas wie ein Grinsen in seinem Gesicht. Aber endgültig verging mir das Pinkeln erst, als er sich in Bewegung setzte und schließlich direkt vor meiner Nase stehen blieb. Dazu schaute er mir eindringlich und irgendwie wohl auch lasziv in die Augen und setzte noch ein letztes Mal alles auf eine Karte, die eigentlich längst verspielt war.
 

"Komm schon, du willst doch", hauchte er mir verführerisch entgegen, seine Hand packte mich nun entschlossen am Halsausschnitt meines Shirts und verursachte bloßes Verdutzen meinerseits. "Jetzt sind wir allein, niemand wird es merken, wenn du mich gleich hier auf dem Klo vögelst."

Endlich besann ich mich. Löste ziemlich bestimmt seine vorwitzige Hand von meiner Kleidung.

Wut schwelte in mir. Wut über seine Hartnäckigkeit. Darüber, dass er partout nicht akzeptieren wollte, dass zwischen uns nichts laufen würde. Dass er zu jung war. Dass Sex mit einem Mann für mich nicht infrage kam.

"Hab ich mich denn nicht klar ausgedrückt?", herrschte ich den Typen an, der wie beiläufig seine Zigarette in das Waschbecken warf und mir dabei ganz kurz seine Wange darbot.

Ich nutzte diese Chance und pfefferte ihm eine, so wie er es sich für seine Aufmüpfigkeit verdient hatte. Man schlug wahrscheinlich wirklich keine Kinder, aber solchen hormonbetriebenen Kerlen musste man einfach ein paar Manieren beibringen.
 

Nach dem klatschenden Schlag war Stille eingekehrt. Erst hatte der Bengel in Schockstarre verharrt, und auch ich zweifelte ganz kurz nur an der Richtigkeit meiner Tat, aber dann schaute er mich plötzlich direkt an.

Sein Grinsen war noch breiter geworden, noch dreckiger. Von Einschüchterung oder Aufgeben schien keine Spur zu sein, ich suchte diese beiden Sachen jedenfalls vergeblich in seinem Blick. Im Gegenteil, es wirkte viel eher so, als hätte ich mit meinem Tun ein Feuer in ihm entfacht. Er stand doch nicht etwa darauf, wenn man ihn schlug...?
 

"Genau so eine Aktion habe ich erwartet", meinte er, seine Stimme klang hocherfreut. "Männer, die wie du so verdammt wild und leidenschaftlich auf der Bühne sind, die sind auch wild und leidenschaftlich in der Kiste."

Er kaute auf seiner Unterlippe herum, kam dann wieder näher und tat etwas, das er besser hätte bleiben lassen: Er legte seine Hände auf meine Gürtelschnalle, machte Anstalten, diese zu öffnen. Dabei sah er mir wieder fest in die Augen und presste die Lippen aufreizend aufeinander.

"Ich werde deinen Namen stöhnen", versprach er im selben Zug, sein Gesicht berührte beinahe meine Wange und ich konnte deutlich seinen Atem auf meiner Haut spüren. "Vivian, Vivian..."

Er hauchte es, so obszön, so anrüchig - und es sorgte dafür, dass in meinem Kopf endgültig alle Sicherungen durchbrannten.

Mein Körper handelte, ohne dass ich darüber nachdachte, nachdenken konnte; ich sah lediglich meine erhobene Faust, die nach dem Gesicht des verdammten Typen schlug, mehrmals, aber nie zu treffen schien, nicht einmal, was mich noch mehr in Rage brachte.

Irgendwann bekam ich ihn allerdings mit der Linken am Kragen zu fassen, hielt ihn so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten und es zu schmerzen begann. An seinen Blick erinnere ich mich nicht mehr, er interessierte mich auch nicht im Geringsten; ob der Bengel nun auch noch Lust empfand, jetzt, wo er meine tiefschwarze Seite kennenlernte, wusste ich nicht. Doch ich bezweifelte es.
 

Nun konnte er mir nicht mehr entkommen. Wahrscheinlich war er ohnehin zu erschrocken, um Gegenwehr zu leisten. Nur der Gedanke daran, ihm endlich zu zeigen, wie der Hase lief, versetzte mich in einen Rausch der Endorphine, erweckte meine sadistische Ader, die so selten in mir pulsierte, und noch seltener zum Ausbruch kam.

Wieder erhob ich vor Erregung zitternd meine Faust, war gerade drauf und dran, ihm mitten auf die Nase zu hauen, als mich irgendetwas von ihm wegzog. Ein Magnet, der an der Wand des Waschraumes befestigt war, wahrscheinlich. Allerdings bohrte sich dieser ungewöhnlicher Weise in meine Oberarme und presste mich an etwas Warmes, etwas, das atmete.

"Verdammte Scheiße, fick dich, verpiss dich!"
 

Noch schwelte die Wut in mir, ich fluchte auch noch immer wie ein Postkutscher, doch das Gefühl wurde schwächer und schwächer, als ich letztlich erkannte, dass es Theon war, der meine Tracht Prügel verhindert hatte.

Ich begehrte noch ein paar Mal auf, wie ein wildes Tier, beschimpfte meinen besten Freund sogar, aber dieser ließ mich dennoch nicht mehr los, hielt mich so lange fest, bis ich wieder normal atmete und runtergekommen war.

Der Typ war mir mit einem Mal egal. Diese Situation fühlte sich gut an. Seine Wärme lullte mich ein. Seine Nähe.

Das war genau das, was ich jetzt brauchte.

Nur das konnte mich wieder auf den Boden der Tatsachen holen.
 


 

Theon
 


 

Noch nie hatte ich ihn so erlebt. So vollkommen außer sich. Für gewöhnlich glich Viv einem Lämmchen, war der liebste Mensch auf der ganzen Welt, aber dieser verdammte Alkohol hatte ihn in eine Bestie verwandelt. Schon öfter hätte er sich beinahe in Schlägereien mit Typen verwickelt, die ihn angeblich dumm angemacht hatten, aber der heutige Ausbruch war ungewöhnlich heftig.

Er zitterte in meinen Armen. Ich ertappte mich beinahe schon dabei, wie ich Mitleid für ihn entwickelte. Dabei wäre dies absolut nicht angebracht gewesen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn ich mich nicht prompt nach dem Vernehmen des Krachs, der aus den Toiletten drang, vom Barhocker geschoben hätte, um nachzusehen, was hier gespielt wurde. Vielleicht hätte er diesem Neo die Nase gebrochen. Oder ihn ins Koma geprügelt. Wer wusste das schon...
 

Apropos Neo: Der hatte sich längst vom Acker gemacht. Ihm war gottseidank nichts passiert.

"Was machst du hier eigentlich für Scheiße?", wollte ich enttäuscht und gleichzeitig entsetzt wissen, als wir allein waren. Dabei blickte ich dieses hilflose Bündel, das mal der tollste Mann auf der ganzen Welt war, vorwurfsvoll an.

"Der hat sich das verdient", kam es gekrächzt von Viv, der ohne Hilfe längst nicht mehr stehen konnte und sich in mein Shirt krallte wie ein Baby. Jämmerlich. Beängstigend. "Der hat nicht mehr aufgehört...dem müssen doch mal Manieren beigebracht werden...!"

Ich benötigte meine ganze Kraft, um Viv gegen eines der Waschbecken zu drücken und ihn einigermaßen aufzurichten. Doch auch als das mehr schlecht als recht geschafft war, wirkte er wie ein Häufchen Elend, bebend, zitternd und noch immer irgendwie geladen. Hoffentlich wurde ich nun nicht Ziel seiner Aggressionen, bangte ich. Schließlich hatte ich ihm sein Opfer abspenstig gemacht und die Flüche, mit denen er mir vorhin besehen hatte, waren ihm vielleicht nicht genug. Dabei hatten sie mir wehgetan, obwohl ich genau wusste, dass er es nicht ernst meinte. Dass er zu betrunken war, um klar und rational denken zu können. Dass seine Wut in diesem Augenblick einfach entweichen musste.
 

"Wir hätten richtig großen Ärger bekommen, wenn du den Typen verletzt hättest", redete ich auf Viv ein, merkte aber, dass es sinnlos war. Nicht nur, weil Vivian sich das Gehirn weggesoffen hatte, sondern auch, weil er immer wieder die Augen schloss und mir wegsackte. Einfach im Stehen einschlief. Ungünstig, äußerst ungünstig. Wie sollte ich ihn denn transportieren, ganz alleine? Ich würde ihn niemals zum Auto tragen können, er war viel zu schwer. Wenn sich die anderen einmal blicken gelassen hätten. Aber die dachten sich bestimmt wieder einmal nichts weiter und unterhielten sich sicher nach wie vor blendend.
 

"Hey, bleib munter!", forderte ich, als Vivs Lider sich erneut hinabsenkten und schlug ihm mehrmals auf die Wange, woraufhin er brummend zu grinsen begann und erst etwas Unverständliches nuschelte, ehe Worte seine Kehle verließen, die mir zusetzten.

"Bist wohl eifersüchtig gewesen, mh?"

Sein Grinsen wurde breiter. Seine Hand versuchte sich unbeholfen auf meine Schulter zu legen, erwischte aber nur mein Gesicht und ich hatte Mühe, sie wieder von diesem loszubekommen.

"Deswegen bist du gucken gekommen...du wolltest wissen, ob ich es schon mit dem Kerl treibe..."

Seine Hand war wieder im Zaum. Doch ich hielt sie fest. Viel zu lange. So lange, bis Viv sich mir entgegendrängte. Sich an mich klammerte. Sein Gesicht in meine Halsbeuge sackte und ich erschauderte ob dieses Körperkontakts.

Egal, wie besoffen er war, er blieb Vivian. Er blieb der Mann, der so viel für mich war. Der einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hatte. Schon ewig. Schon immer.
 

"Doch keine Angst, Toro, ich hab doch gesagt, ich steh viel mehr auf blonde Haare und eisblaue Augen. Ich -"

Er kippte mir um. Zum Glück reagierte ich schnell genug und packte ihn an den Hüften. Zog ihn wieder hoch. Und bugsierte ihn schließlich langsam aus der Toilette. In Richtung Clubausgang sollte es gehen. Ein Taxi musste her. Ein Taxi, das uns in das Hotel bringen würde.
 

Die restlichen Jungs mussten mir helfen, Viv zu transportieren. Zwei schnappten sich die Beine und zwei weitere besangen das Schauspiel. Im Grunde liefen sie einfach nur nebenher und wollten umherrennend wie aufgescheuchte Hühner wissen, was sich zugetragen hatte. Ich aber erzählte kein Sterbenswörtchen, denn auch wenn Viv keine Scham für sein Verhalten zeigte, ich tat es.

Und ich schämte mich dafür, dass ich ihn selbst in diesen beschissenen Augenblicken noch liebte. Dass dieses vollkommen ruinierte Häufchen der Mann war, dem ich nahe sein wollte. So oft wie möglich.

Wie sehr wünschte ich mir, dass er seine Liebesbekundung wenigstens ein klein wenig ernst meinte. Aber ich musste mir keine Hoffnungen mehr machen. Nicht nach all den Jahren, in denen wir einfach nur Freunde waren.

Es war einfach nur ein weiteres Relikt seiner Trunkenheit. Etwas, das schon morgen nichts mehr bedeuten würde. An das er sich nicht mehr erinnern könnte. Alles nur Schall und Rauch, vorgetragen ohne Gefühl, ohne darüber nachzudenken.

Ich musste mich damit abfinden, wie so oft.
 

Vivis Herz würde niemals mein sein.

Denn Vivi empfand nicht dasselbe für mich wie ich für ihn.
 

*****
 

Außer den skeptischen Blicken des Taxifahrers gab es auf dem Weg ins Hotel keine besonderen Vorfälle mehr. Viv verhielt sich lammfromm, hatte den Kopf auf meinen Schoß gebettet und pennte wie ein kleines Baby. Ein besoffenes kleines Baby. Ab und an brummte er etwas vor sich hin oder kratzte sich die Nase. Als Letzteres überhandnahm, ergriff ich seine Finger und hielt ihn von seinem selbstverletzenden Verhalten ab.

Die restliche Band wollte später im Hotel auftauchen, erst einmal war es wichtig, dass Viv ins Bett kam. Dass wir zu sechst unmöglich in ein kleines Taxi gepasst hätten, war ihnen zum Glück ebenfalls klar. Wir hatten uns also darauf geeinigt, dass ich Viv nach Hause geleitete, weil ich es schließlich auch war, der sich seiner ohnehin schon angenommen hatte. Vielleicht schien ihnen die Gegenwart eines Stockbetrunkenen auch zu viel Verantwortung abzuverlangen.

Ich wusste es nicht und es war mir auch herzlich egal. Denn auch wenn ich mich für Vivs Verhalten schämte, so tat ich es doch gern. Wahrscheinlich besaß auch ich einfach nur einen Beschützerinstinkt, wie jeder Mann. Vielleicht genoss ich es aber auch nur ein wenig zu sehr, wie Vivs Kopf halb auf meinem Schritt lag und seinen Atem dagegen blies. Vielleicht gab es mir zu viel, dass ich seine Hand halten konnte, so lange ich wollte, während er schlief. Ich betrachtete seine Finger, fühlte, wie warm sie waren, nahm jedes noch so kleine Detail war. Doch schon nach wenigen Sekunden schimpfte ich mich einen Idioten und versuchte, die Gefühle in mir zurückzudrängen, starrte aus dem Fenster hinein in die dunkle Nacht, die uns umgab.

Und hoffte. Hoffte noch nach all den langen Jahren. Wollte nicht einsehen, dass es vergebens war. Meinte, dass diese friedliche Szene, die einen schlafenden Viv beinhaltete und einen viel zu wachen Theon, irgendetwas bedeutete. Ein Omen war.

Viel zu viel interpretierte ich in den Moment, bis ich nicht mehr anders konnte und über seinen Rücken streichelte. Meine Finger glitten zwischen seinen Schulterblättern hindurch, bahnten sich ihren Weg hoch in sein Haar. Wäre es nicht so kurz gewesen, hätte ich mit seinen schwarzen Strähnen gespielt. So blieb mir nur die Möglichkeit, über seine Stoppeln zu streicheln, immer wieder, bis ich es müde wurde. Außerdem waren wir ohnehin an unserem Ziel angekommen.
 

"Viv, Viv, munter werden!", kommandierte ich, mein Ton war allerdings nicht der eines Oberoffiziers.

Der andere regte sich allerdings erst, als ich ihm wieder sacht auf die Wange klatschte, ansonsten hätte er wohl weiterhin im Land der betrunkenen Träume verweilt.

Wach war er nun also geworden, ich überreichte dem Taxifahrer die gewünschte Summe, während Viv Gelegenheit hatte, so munter zu werden, dass er wenigstens nicht komplett von mir getragen werden musste.

Dass es ein absolutes Trauerspiel werden würde, war mir klar. Trotzdem hatte ich gehofft, Viv würde wenigstens nicht wie ein nasser Sack im Taxi liegen bleiben und schon wieder die Augen schließen. Es war schlimm. Und ich musste handeln. Schnell. Denn der Taxifahrer wurde schon sichtlich ungeduldig und murmelte etwas von 'betrunkenem Pack' und unendlicher Zeit. Es kümmerte mich nicht, wie er über Viv dachte, im Augenblick war ich sowieso viel zu beschäftigt damit, den anderen aus dem Auto zu zerren, sodass ich mich nur noch darauf konzentrieren konnte.

Er wog gefühlte drei Tonnen und ich spürte regelrecht, wie meine Arme länger und länger wurden, aber irgendwann hatte ich ihn zumindest draußen und der Taxifahrer konnte sich endlich vom Acker machen.
 

So stand ich am Straßenrand, hielt den schlaffen Viv umklammert und wusste nicht, wie lange ich ihn noch einigermaßen in der Vertikalen halten konnte.

"Jetzt gib dir mal ein bisschen Mühe!", herrschte ich ihn an, woraufhin er tatsächlich die Muskeln anspannte und einigermaßen selbstständig stehen konnte. "Geht doch. Und jetzt bitte einen Fuß vor den anderen setzen."

"Nich so schnell!", lallte Viv, als ich mich in Bewegung setzte, verlangsamte daraufhin gnädiger Weise mein Tempo. Ob wir nun in einer Stunde oder in drei auf dem Zimmer waren, spielte ja nun auch keine Rolle mehr. Es war ja nicht so, dass mir bald die Arme abfielen. Mitnichten. Ich war ja nur fast am Ende meiner Kräfte und mit jedem Schritt kam ich der Grenze etwas näher. Und doch schleppte ich Viv irgendwann erfolgreich durch die Tür in die Lobby und von dort in den Fahrstuhl.

Es war fast geschafft. Nur noch schnell in den dritten Stock düsen, sagte ich mir, rechnete aber noch nicht damit, dass mich ein großes Unglück ereilen würde.
 

"Mirs schlecht", kam es von Viv, als wir gerade mal den ersten Stock überquert hatten. Mir schwante Schlimmes. Wenn Viv schon zugab, dass ihm schlecht war, dann war er nicht mehr weit vom Spucken entfernt.

Scheiße. Ich feuerte den Fahrstuhl gedanklich an, dass er sich doch bitte beeilen möge, aber es half trotzdem nichts. Wir standen fast vor unserer Zimmertür, als Viv zu husten begann und sich kurze Zeit später erbärmlich würgend auf dem Teppich erbrach. Nein, nicht nur auf diesem: Ich bekam auch etwas ab, hätte Viv zur Strafe am liebsten losgelassen und mich nicht darum gekümmert, ob er die ganze Nacht in seiner eigenen Kotze auf dem Gang gepennt hätte.

Doch ich konnte nicht. Schleppte Viv weiter, stieß endlich die Zimmertür auf und wollte nur noch raus aus diesen Klamotten, ekelte mich immer stärker, umso intensiver ich darüber nachdachte. Also: Nicht darüber nachdenken. Was natürlich leichter gesagt als getan war.
 

Die erste Erleichterung machte sich in mir breit, als ich Viv auf meinem Bett absetzte. Sein eigenes stand ein paar Meter dahinter, da mir jedoch jeder weitere Schritt zu viel gewesen wäre, entschied ich, ihn zunächst auf meiner Matratze abzuladen.

Er legte sich sofort hin und ich lief ratlos im Raum herum auf der Suche nach einem Behältnis, das einen weiteren Kotzanfall auffangen würde. Meine Wahl fiel schließlich auf den Papierkorb, welchen ich mir schnappte, um ihn neben Vivs Bett zu platzieren. Doch der Kerl machte mir einen Strich durch die Rechnung. Innerhalb weniger Sekunden schien er wieder in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein, und für eine erneute Weckung fehlte mir schlichtweg die Kraft. Froh war ich, dass ich ihn nicht mehr schleppen musste, also entschied ich mich dazu, ihn einfach in meinem Bett liegen zu lassen und vor diesem den Papierkorb aufzubauen. Dann schälte ich mich endlich aus meinen beschmutzten Klamotten, warf sie zunächst achtlos auf den Fußboden, als ich mich aber an die Kotzflecken erinnerte, schnappte ich sie an einer Ecke und trug sie in das Badezimmer, schmiss sie auf die Fließen.

Doch ich konnte noch immer keine Ruhe finden. Ich stand schließlich nur mit meiner Unterhose bekleidet im Raum und begutachtete den pennenden Viv, der noch seine komplette Kleidung trug, selbst die Schuhe hatte er freilich noch an. Wenigstens diese wollte ich ihm ausziehen, denn es war mein Bett, welches er einsaute und ich würde wohl heute Nacht ebenfalls in diesem verbringen.
 

Ich fiel wie in ein tiefes Loch, als ich mich endlich auf mein Kissen fallen ließ. Schloss die Augen und merkte erst jetzt, wie sehr mich die ganze Sache angestrengt hatte.

Bereits im Halbschlaf befand ich mich, als ich plötzlich von Vivs Hand aufgeschreckt wurde, die sich einmal mehr unbeholfen auf mein Gesicht legte, um dort zu verharren. Durfte sie freilich nicht. Ich schlug sie weg, war dieses Mal aber nicht sonderlich behutsam, sondern einfach nur grob, denn ich wollte nichts lieber als meine Ruhe haben. Doch das war nicht so leicht zu bewerkstelligen, denn kurze Zeit später lag Viv halb auf mir drauf und blies mir seinen warmen Atem geräuschvoll gegen die Brust. Dass seine Hand nun fast auf meinem Schritt zum Liegen kam, war zu viel für mich. Und das, was er im Schlaf oder Halbschlaf murmelte, genügte, um mich trotz übermannender Müdigkeit nicht mehr schlafen zu lassen.
 

"Mein Mann...du bist mein Mann...nur du..."
 

Also blieb ich wach. Ein paar Stunden. Vielleicht auch nur ein paar Minuten. Ich wusste es nicht. Dann fiel ich doch noch in einen traumlosen Schlaf.

Und das, obwohl Viv zu allem Überfluss auch noch ein leichter Kotzgeruch anhaftete.

3. Kapitel - Crash my World.


 

Vivian
 


 

Es gab Tage, an denen gestaltete sich das Erwachen grausam. Man bekam die Augen nicht auf, obwohl man sich noch so sehr bemühte, gegen den Schlaf war man allerdings machtlos und musste sich geschlagen geben.

Wenn ich getrunken hatte war es immer besonders schlimm. Dann kamen noch ein quälender Kopfschmerz und schwache Glieder hinzu, die einem das Leben zusätzlich zur Hölle machten und das Munterwerden zu einem Ding der Unmöglichkeit mutieren ließen.

Ich weiß nicht, ob es Pech oder eher Glück war, dass meine Bandkollegen von meinen postalkoholischen Problemen wussten und alles dafür taten, damit ich meinen Hintern aus dem Bett schwang.

So auch heute. Kaum war der milchige Schleier, der sich über Nacht auf meine Augen gelegt hatte gewichen, rüttelte man unsanft an meiner Schulter und brüllte mich beinahe an.

"Vivian! Der Videodreh!"

Eindeutig Theons Stimme. Ich grummelte. Ach ja, der Dreh. Nach dem war mir allerdings überhaupt nicht zumute. Ich sah mich jedenfalls noch nicht irgendwo in Tampere stehen und die gemeinsamen Szenen mit Theon abdrehen. Dazu pochte mein Schädel zu stark. Und als ich mich leicht bewegte, stellte ich fest, dass mein Hirn mal wieder hin und her flutschte wie ein Schwamm in einem mit Wasser gefüllten Behälter.

"Gleich...", murrte ich, rieb mir über den schmerzenden Kopf und hoffte auf Gnade, die mir jedoch nicht gewährt wurde. Theon konnte gnadenlos sein, wenn auch selten, und dann hasste ich ihn auch immer ein wenig, aber das war nie von Bedeutung.

Er schien Verstärkung in Julian gefunden zu haben, denn die Beine vor meiner Nase identifizierte ich als die seinen und es gab zudem keine andere Stimme, die mir so durch Mark und Bein gehen konnte. Zwar handelte es sich bei ihm um unser Nesthäkchen, aber das bedeutete nicht, dass er keinen perfekten Weckruf auf Lager hatte, der einen augenblicklich stramm stehen ließ.

"VIV! DU STEHST JETZT AUGENBLICKLICH AUF UND SPIELST NICHT WEITER DAS WEICHEI, VERSTANDEN?"

Dazu riss er mir die Decke vom Leib und schleuderte sie aus meiner Reichweite. Ich fühlte mich schrecklich, aber ich begab mich langsam in die Vertikale.
 

Oh Scheiße, Videodreh fällt aus, dachte ich einmal mehr, kniff die Augen zusammen und verbarg sie zusätzlich mit den Handflächen vor dem grellen Licht.

"Hier, trinken", wurde ich nun von Theon angewiesen, bekam ein Glas Wasser gegen die Hand gestoßen, in dem eine Brausetablette sprudelte, wie ich feststellen konnte, als ich dann doch leicht blinzelte.

Ja, genau das brauchte ich jetzt. Eilig stürzte ich das zugegebenermaßen ziemlich eklige Gebräu hinunter und hoffte auf baldige Besserung. Bis dahin brauchte ich meine Ruhe. Doch für Ruhe blieb keine Zeit.
 

"Hopp, hopp, es ist schon fast zwölf Uhr!", trieb Theon mich an und klatschte dabei auffordernd in die Hände. "Du kannst jetzt nicht rumsitzen, du musst dich noch waschen und anziehen und -"

"Ja, ja, ist ja gut", murrte ich und erhob meinen Arsch letztlich von der Matratze, um daraufhin schwerfällig in das Badezimmer zu trotten. Und ich fragte mich nun ernsthaft, wieso ich mich nur so volllaufen gelassen hatte. Ich sollte disziplinierter werden, eindeutig. Schließlich war ich keine zwanzig mehr und besonders wenn man wie ich eine Tochter hatte musste man sich ein wenig zusammenreißen. Schon wegen der Vorbildfunktion. Aber ich tat es trotzdem immer wieder. Der Alkohol winkte mir jedes Mal förmlich zu und ich konnte nicht widerstehen.

Genau das war es auch, was ich Theon erklärte, als wir mit der Eisenbahn zu unserem Drehort nach Tampere tingelten.

Ich war wieder einigermaßen beisammen, sah jedoch noch immer aus wie eine Moorleiche, wie mir mein bester Kumpel lachend bestätigte.

"So ist das eben", redete ich weiter und zuckte mit den Schultern. "Du kannst doch bei schönen Frauen auch nicht nein sagen."

Mir war klar, dass Theon es nicht mochte, wenn ich dieses Thema anschnitt, warum auch immer, aber ich tat es trotzdem ziemlich häufig, denn es bereitete mir einen nicht abzustreitenden Spaß, Leute in Verlegenheit zu bringen. Besonders bei Theon gefiel es mir, wenn er sich leicht schämte, dann wurden seine Wangen rot und sein Lächeln wurde ganz breit. Ja, er hatte dann tatsächlich etwas von einem schüchternen Mädchen an sich, wie ich fand. Aber das sagte ich ihm natürlich nicht, denn welcher Mann wollte schon mit einem Mädchen verglichen werden?
 

"Aber du solltest dich in Zukunft wirklich zügeln", beharrte der andere noch immer auf dem Ausgangsthema. "Das gestern, das war schon heftig. Sehr heftig. Das hat den Vogel total abgeschossen."

Nun war ich verwirrt.

"Hä, wieso 'Vogel abgeschossen?'", hakte ich etwas beunruhigt nach und wurde sofort über mein Verhalten am gestrigen Abend aufgeklärt. Dank Filmriss konnte ich mich nur noch bis zu dem Moment erinnern, an dem dieser kleine Groupie zu uns an die Bar gekommen war. Dahinter gaffte ein riesengroßes Nichts.

Geschockt musste ich mir erzählen lassen, dass ich meinem Verehrer gegenüber beinahe handgreiflich geworden wäre und Theon mich dann heimbringen musste, weil ich weder selbständig stehen noch laufen konnte.

"Sorry, dass ich dir das so direkt sagen muss, Viv", meinte Theon abschließend, "aber du hast dich benommen wie ein Arschloch."

"Aber du hast mich trotzdem nicht in irgendeiner Ecke liegen gelassen...", überlegte ich leise und schüttelte dann den Kopf über mich selbst. Dann schaute ich den anderen direkt an, der den Blick fragend erwiderte.

"Weißt du was? Sollte ich mich wieder mal so gehen lassen, dann trete mir einfach in den Arsch und schrei mich an. Wahrscheinlich brauche ich das, wenn ich besoffen bin. Vielleicht lerne ich dann endlich mal, wo meine Grenzen liegen."

Ein leichtes Lächeln zuckte über mein Gesicht.

"Wenn man mich dann noch bemuttert und zu sich ins Bett nimmt, genießt es mein betrunkenes Ich doch erst recht noch."

"Ich konnte halt nicht anders", kam es ernst von Theon, der seinen Blick abwandte und nun den Boden anstarrte, als wiese dieser irgendein interessantes Muster oder dergleichen auf. "Du bist doch...mein bester Freund..."

"Ach, Toro", seufzte ich tief und legte mir ohne groß darüber Gedanken gemacht zu haben den Arm um ihn, so wie oft. "Du bist eindeutig zu gut für mich. Zu gut für diese ganze Welt. Wenn ich dich nicht hätte..."

Die letzten Worte waren mehr nur noch ein Säuseln, ich meinte es ernst. Der häufig so stille Theon, der selten über seine Gefühle sprach, aber umso häufiger über sie sang, hatte so ein gutes Herz. Selbst einem Rüpel wie mir hatte er einen Platz darin eingeräumt und diesen über all die Jahre niemals freigegeben. Wahrscheinlich würde er es auch in Zukunft nicht tun, überlegte ich. Wahrscheinlich, weil ich im Grunde doch kein so schlechter Kerl war. Weil auch ich meine Qualitäten hatte.

Aber so ein Goldschatz wie Theon war ich bei Weitem nicht. Das war niemand. Theon war jemand, der immer hinter dir stand, wenn er dich mochte. Der dich niemals mit Absicht verletzt hätte. Der so gut und geduldig zuhörte, wenn dir eine Laus über die Leber gelaufen war. Der nicht verurteilte, sondern immer ruhig blieb, egal, was du ihm gerade eröffnetest.
 

Ich musste wieder lächeln, ganz kurz nur, als ich ihn betrachtete, ihn, den schon wieder so abwesend wirkenden Sänger.
 

Ja, Theon war schon toll. Ich war so froh, dass ich ihn hatte.
 

*****
 

Wir hatten Glück. Das Wetter hatte uns nicht wie beim letzten Mal einen Strich durch die Rechnung gemacht und danach verlangt, den Dreh auf einen anderen, trockeneren Zeitpunkt zu verschieben. Selbstverständlich hatte es auch seinen Reiz, ein Video komplett im strömenden Regen abzudrehen, schließlich sorgte dieser doch für eine ganz besondere Atmosphäre, aber es gestaltete sich wesentlich einfacher für uns sowie das Team, wenn der Boden trocken war. Und außerdem war die Laune aller Beteiligten bei Sonnenschein deutlich besser.

Besonders Miikka, dem Regisseur, war es sofort anzumerken, wenn er wetterbedingt schlechte Stimmung schob. Heute schien jedoch alles in Butter. Er hüpfte uns beinahe schon wie ein überdimensional großer Gummiball entgegen, als Theon und ich am Ort des Geschehens eintrafen. Bedingt durch seinen doch etwas korpulenteren Körperbau verstärkte sich dieser Effekt noch zusätzlich und es war fast schon niedlich mit anzusehen, wie er uns am liebsten in die Arme geschlossen hätte.

Irgendetwas hatte ihn in Hochstimmung versetzt, das konnte er nicht abstreiten. Und wir sollten im Folgenden erfahren, was es war.
 

"Jungs!", jubelte er vollkommen außer sich, wirkte dabei wieder wie ein kleiner Junge, obwohl er schon rapide auf die Vierzig zuging. "Ich habe die Idee des Jahrhunderts! Und das nur, weil Susa krank geworden ist! Jungs, ihr glaubt es gar nicht, aber ich würde ihr am liebsten die Füße küssen dafür."

Hätte uns diese Information nicht wie der Blitz getroffen, hätten wir uns wahrscheinlich über Miikkas Euphorie amüsiert, genau wie das restliche Kamerateam. Doch mir blieb das Lachen prompt in der Kehle stecken. Und auch Theon schaute aus der Wäsche, als hätte er einen Geist gesehen.

"Krank? Susa ist krank? Aber -", setzte Theon geschockt an, er war der erste, der die Fähigkeit zu sprechen wiedererlangt hatte.

Bevor er jedoch weiterreden konnte, fuchtelte Miikka wie verrückt mit den Händen herum und schüttelte heftig den Kopf.

"Keine Sorge, Jungs, wie gesagt, das hat mich zu der Idee des Jahrhunderts inspiriert!", erklärte er aufgebracht und blätterte hastig in seinem Skript umher, bis er uns wieder mit funkelnden Augen ansah. "Ursprünglich war es ja so geplant, dass du, Theon, Susa vor Vivians Angriff rettest. Aber wer will denn immer nur die Klischees bedienen und Dinge wiederholen, die man schon tausendmal gesehen hat?"

Er schnippte vor unseren verdutzten Nasen mit den Fingern und strahlte dabei mit der Sonne um die Wette.

"Wir machen etwas ganz Innovatives! Etwas noch nie Dagewesenes!"

Oje. Miikka war zwar ein Genie, wenn es um kreative Prozesse und Drehbücher ging, aber mittlerweile fürchtete ich, er sei von allen guten Geistern verlassen worden. Irgendetwas sagte mir, dass es sich bei seiner alternativen Idee um etwas handelte, das mir nicht gefallen würde.

Aber wir wollten ihm trotzdem eine Chance geben. Und die erforderte, dass wir zunächst geduldig anhörten, was er uns zu sagen hatte.
 

"Ja, also, ich habe mir das so gedacht: Du bist dieses Mal der Retter Theons, Vivian. Du greifst ein, als Theon von einem Fremden angegriffen wird. Wir erzählen die ganze Geschichte so, dass man eure tiefe Freundschaft auch ohne große Worte erkennen kann. Nur durch Blicke, Gesten und getragen von diesem wunderschönen Lied."

Ich sah, wie Theon den Mund aufmachte, aber dieses Mal stumm blieb. Ich jedoch platzte sofort mit meinen Einwänden heraus.

"Aber...'Yours to keep' ist doch ein Liebeslied...wir würden uns ziemlich lächerlich machen, glaube ich...also..."

"Aber nicht doch, nicht doch!", fuhr mir prompt wieder Miikka dazwischen. "Man könnte auch eine Art Bruderliebe in die Lyrics hineininterpretieren und deswegen -"

"Theon hat es aber als Liebeslied geschrieben", argumentierte ich. "Ich will nicht, dass der ursprüngliche Sinn verfälscht wird."

Theon sah mich daraufhin lange an. Ich glaubte, Dankbarkeit in seinem Blick erkennen zu können. Aber auch noch irgendetwas anderes. Etwas...Flehendes? Wollte er Miikkas neue Geschichte etwa tatsächlich so abdrehen? Konnte er sie als Ergänzung zu seinen wundervollen Lyrics akzeptieren? Ich wunderte mich sehr darüber, aber ich hatte tatsächlich diesen Eindruck. Das war vielleicht auch der Grund, weswegen Theon keinerlei Einwände gegen Miikkas Idee geäußert hatte.
 

"Moment, Miikka, wir müssen das unter vier Augen besprechen", entschuldigte ich mich kurz und zog Theon dann am Arm weg von den anderen.

Schließlich stand er mir gegenüber und schaute mich stumm an.

"Im Grunde musst du entscheiden, schließlich hast du die Lyrics geschrieben", erklärte ich ruhig. "Wenn die Geschichte so, wie sie Miikka vorgeschlagen hat, für dich wirklich okay ist, dann werde ich mich nicht dagegen stellen."

Meine Stimme wurde leiser, ruhiger.

"Ich will nur nicht, dass die Message verfälscht wird. Dass den Hörer nicht mehr genau das erreicht, was du vermitteln wolltest."

"Es ist in Ordnung, Viv", nickte Theon sacht, seine Mundwinkel zuckten unsicher. "Ich bin um ehrlich zu sein für Miikkas neue Geschichte. Sie ist etwas ganz anderes, da hat er Recht. Und außerdem will ich nicht, dass du immer der Böse bist. Das passt nämlich eigentlich gar nicht zu dir..."

"Oh, wenn ich will, dann kann ich seeehr, seeehr böse sein", grinste ich dreckig, da man Miikka aber bereits von weitem winken sah, setzten wir uns wieder in Bewegung und teilten ihm schließlich unseren Entschluss mit.

Wir wollten das Video nach seinem neuen Skript drehen. Dass ich dennoch nach wie vor Zweifel hegte, behielt ich für mich. Ich wollte es versuchen, Theon zuliebe. Hier ging es weniger um mich, sondern viel mehr um ihn. Und außerdem musste man ja stets offen für neue Dinge sein, damit man nicht irgendwann zum Stillstand kam.
 

"Ähm, Miikka", äußerte Theon nun allerdings und schaute sich suchend um. "Wer soll eigentlich meinen Angreifer spielen? Die anderen Jungs sind nicht da und sonst..."

Miikka aber blickte entschlossen an ihm vorbei, in die vermeintliche Ferne. Doch dem war nicht so. Erkennen funkelte in seinen Augen und mit einem Mal wirkte er wieder ziemlich aufgeregt, winkte und rief laut "Hierher, Junge, hierher!".

Verwirrt drehte ich mich schließlich um und konnte prompt meine Kinnlade nicht mehr vom Hinunterfallen abhalten.

Es war dieser verrückte Groupie, der direkt auf uns zuschlenderte. Seine langen Haare und dieses fiese Grinsen waren unverkennbar ihm zuzuordnen und auch wenn ich absolut nicht begeistert, ja sogar schockiert über Miikkas Wahl war, so wusste ich, dass es wahrscheinlich keinen besseren Bösewicht auf der Welt hätte geben können.
 

"Wo hast du den denn aufgetrieben?", hakte Theon, der den Typen nun auch entdeckt hatte, ebenso wenig erfreut nach.

"Ach, das war alles nur ein großer, glücklicher Zufall", erörterte Miikka mit ausladenden Gesten und nahm den Jungen happy in Empfang, dieser aber verabscheute die Knuddeltour sichtlich und sah zu, dass er ein paar Zentimeter zwischen sich und Miikka brachte. "Kurz nach Susas Absage lief mir Neo über den Weg und ich hatte den kompletten Film vor Augen, mit ihm, mit euch. Ich musste ihn einfach fragen, ob er denn nicht im Video mitspielen wolle. Und er hat 'Ja' gesagt!"

Den letzten Satz presste er nur noch kieksend hervor, während ich Neos Blick unaufhörlich auf mir ruhen spürte.
 

Hatte es ihm denn nicht genügt, dass ich ihn letzte Nacht beinahe verkloppt hätte? Er war hartnäckig, das musste man ihm lassen. Und ich begann zu erkennen, dass es wirklich eine sehr gute Idee war, ihn in dem Video Theon angreifen zu lassen.
 

Es würde mir helfen, meine Rolle verdammt authentisch rüberzubringen.
 

*****
 

Es dunkelte bereits, als wir uns alle in die Ausgangsposition begaben.

Ich hatte mir meine Kapuze tief in das Gesicht gezogen, sodass sie beinahe meine Augen verdeckte, Miikka meinte, das ließe mich zunächst wie einen weiteren Antagonisten wirken. Wahrscheinlich wollte er mir aber nur einen leicht bösen Touch andichten, weil er mir einfach gut zu Gesicht stand. Theon teilte seine Meinung zwar nicht, wie ich erfahren hatte, aber der musste sich im Augenblick ohnehin viel zu sehr darauf konzentrieren, das arme Opfer zu spielen.

Im Moment sah ich lediglich Neos Rückseite, die sich vor Theon geschoben hatte, aber ich wusste, dass er ein Messer in der Hand hielt, welches er unserem Sänger gegen die Kehle drücken sollte. Es ist nur ein Spiel, versuchte ich mir einzureden und dennoch fühlte ich mich mit dieser Gewissheit ganz und gar nicht wohl. Sogar ein kleiner Funken von Wut flammte in meiner Brust auf, rutschte tiefer in den Magen, wo er förmlich explodierte und meine Hände zu Fäusten werden ließ.

Dieser Neo war mir einfach nicht geheuer. Ich vertraute ihm nicht. Wusste nicht, zu was er fähig war. Aber Gnade dir Gott, Bürschchen, raste es durch meinen Kopf, während Miikka laut 'Action!' rief und die Klappe geschlagen wurde.

Wenn du Theon wehtust, dann mache ich dich fertig.
 

Wild entschlossen spurtete ich los. Meine Blicke fixierten mein Ziel, es dauerte nicht lange, bis ich Neo zu fassen bekam und ihn von dem sich erfolglos wehrenden Theon zerrte. Letzteren riss ich an mich und fühlte mich dabei tatsächlich wie ein Held.

Theon strauchelte, doch ich hatte ihn. Hielt ihn fest. Sein Atem ging schnell, genau wie meiner. Seine Lippen waren einen Spalt weit geöffnet. Ich zog mir die Kapuze vom Kopf, sodass man den tapferen Retter erkennen konnte. Und es ermöglichte mir zudem einen Blick direkt in Theons Gesicht.

Seine Augen waren groß, geweitet, wendeten sich keinen einzigen Herzschlag lang von mir ab. Und auch ich konnte auf einmal nicht mehr wegsehen. Sog jedes Detail seiner Züge in mir auf und in dieser Sekunde wuchs ein schier übermächtiges Gefühl in mir heran.

Mir war, als wollte ich die ganze Welt umarmen, dieses Empfinden irgendwie kompensieren. Ich war so überwältigt, dass ich nichts mehr um mich herum mitbekam. Alles war ausgeblendet. Meine komplette Aufmerksamkeit galt Theon. Theon und seinen eisblauen Augen. Ich fühlte mich ihm plötzlich so nah, so verbunden, es war so intensiv wie nie zuvor.
 

Ich hatte keine Ahnung, was in diesem Augenblick mit mir passiert war. Ich spürte nur, dass es groß war. Ein tiefes, dumpfes Gefühl, dass noch lange anhalten sollte. Doch mir war bewusst, dass es etwas mit Theon zu tun hatte.

Wann immer ich ihn in den nächsten Stunden anschaute, flackerte wieder dieses irre Gefühl in mir, warm und wohlig wie die Kerzen an einem schönen Christbaum.

In mir war der Wunsch gewachsen, nach Feierabend unbedingt noch etwas mit ihm zu unternehmen. Irgendwie wollte ich mich nicht mehr von ihm verabschieden müssen. Ich wollte wieder in seiner Nähe sein, obwohl ich diese Gefühle nicht mehr einzuordnen wusste. So anders waren sie, so viel tiefer, als ich sie ihm gegenüber kannte.

Noch durchleuchtete ich sie nicht weiter, denn ich wollte sie viel lieber genießen, ohne ihnen einen Namen zu geben. Die Zeit war noch nicht reif, um sie zu hinterfragen und in eine Schublade zu stecken. Das wusste ich ganz genau.
 

Die Szene musste noch ein paar Mal wiederholt werden, ehe Miikka und auch wir endgültig zufrieden waren. Das bedeutete auch, dass ich Theon noch häufiger im Arm halten musste oder auch durfte und dass ich bei jedem Mal verrückter wurde.

Ich konnte kaum hinsehen, als wir uns die Szene auf dem kleinen Bildschirm der Kamera ansahen, denn ich schaute Theon ohne zu übertreiben wie ein hungriger Wolf an. Und es war mir äußerst unangenehm, dass dies auch Miikka aufgefallen war.

"Du guckst, als würdest du Theon gleich fressen wollen", amüsierte er sich, ich schwieg jedoch eisern. Und auch Theon sagte nichts, wirkte wieder einmal ziemlich abwesend. Wo er mit seinen Gedanken nur immer war? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich an diesem Abend ständig in Träumereien erwischte, die sich alle um diesen besonderen Moment drehten.
 

Theon war selbstverständlich einverstanden, dass wir noch ein gemeinsames Feierabendbier einnahmen und so zogen wir uns nach getaner Arbeit müde, aber sehr zufrieden und noch immer aufgewühlt in unser Lieblingslokal in unserer geliebten Heimatstadt zurück.

"Aber heute passe ich auf, dass du dich nicht wieder komplett volllaufen lässt", warnte Theon mich, als wir unser erstes Bier geordert hatten.

"Geht klar, Chef", salutierte ich grinsend mit der Gewissheit, dass ich heute ohnehin keinen Alkohol benötigen würde. In mir schwammen so viele Glücksgefühle, dass ich mich wirklich sehr zügeln musste, um sie nicht ausbrechen zu lassen.

Die Welt war so schön. Alles leuchtete, allem konnte ich heute eine positive Seite abgewinnen. Und trotzdem vermied ich nach Möglichkeit Blickkontakt mit Theon. Denn dieser ließ mich jedes Mal beinahe komplett durchdrehen.

Es war verrückt. So verdammt verrückt. Ich machte Späßchen noch und nöcher, Theon hielt sich den Bauch vor Lachen, was meine Stimmung noch höher drückte.

Ich hatte das Gefühl, dass es nichts mehr geben konnte, was mir hätte meine Laune ruiniert. Für mich gab es nur noch Theon, immer nur Theon, Theon, Theon und nochmals Theon.

Doch es existierte nicht umsonst dieses Sprichwort, welches besagte, dass auf einen hohen Flug ein tiefer Fall folgte.
 

Um mich und Theon schien sich eine Glocke gebildet zu haben, die die komplette Außenwelt abschottete. Ich nahm das Geschehen um uns herum nur noch beiläufig war, deswegen musste ich erst darauf hingewiesen werden, dass ich Besuch bekommen hatte.

Tatsächlich. Neben dem Tisch stand plötzlich meine Frau und schaute mich fragend an.

"Äh ja, hallo", begrüßte ich sie schließlich überrascht und noch immer ziemlich fahrig, aber ich hatte mich immerhin so weit gefangen, dass ich Worte aus mir herauspressen konnte. "Was machst du denn hier? Um die Zeit?"

Ihr Gesicht blieb allerdings starr, ihre Augen kalt, kein einziges Lächeln hatte sie für mich übrig. Mich überkam Angst.

"Ist irgendwas passiert?", wollte ich wissen, erhob mich sogar von meinem Stuhl und ließ sie nicht mehr aus den Augen. "Ist was mit Liina?"

"Nein, nein, alles okay", beruhigte sie mich sofort und ich atmete tief durch. Aber damit war noch nicht alles ausgestanden. Sie tat einen Schritt auf mich zu und zischte: "Ich muss mit dir reden."

Dieser Satz klang nicht gut. Überhaupt nicht gut. In Filmen bedeutete dieser stets den Auftakt für etwas Schlimmes.

"Jetzt?", hakte ich nach. "Können wir das nicht morgen besprechen? Es müsste doch fast schon Mitternacht sei und -"

"Es ist wichtig, Viv."

Ich runzelte die Stirn, wiegte mit Seitenblick zu Theon hin den Kopf und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Dieser aber hatte einmal mehr Verständnis dafür, ließ mich ruhig ziehen. Wahrscheinlich wusste er selbst zur Genüge, wie die Frauen waren: Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, dann konnte sie nichts von ihrem Vorhaben abhalten.
 

Wir ließen uns an einem Tisch abseits des wilden Kneipenlebens nieder; Katra saß mir gegenüber und fackelte gar nicht lange, bis sie mit dem Grund für ihren plötzlichen Besuch herausrückte.

"Ich will die Scheidung."

Ich war baff. Reckte geplättet den Hals nach vorne. Zum zweiten Mal an diesem Tage hätte ich meine Kinnlade fast nicht mehr vom Fallen abhalten können. Doch diese Situation war wesentlich bedeutender, einschneidender, schockierender als jedes Auftauchen Neos.

Sekunden brauchte ich, um mit dem eben Gehörten fertig zu werden. Wir sahen uns längst nicht mehr an, ich verfolgte nur noch unbewusst die Maserung des Holztisches und vermochte meine Gedanken nicht mehr zu ordnen.

"Aber...warum?", entkam es mir schließlich mit bebender Stimme, nun schaute ich sie auch wieder an, fand aber ihren Blick nicht. "Vor ein paar Tagen, da war doch noch alles gut bei uns..."

"Und genau das ist der Punkt", ergriff sie den Gesprächsfaden, ich verstand nicht, sie musste es mir genauer erklären, was sie auch tat. "Vor ein paar Tagen haben wir uns zum letzten Mal gesehen, dann warst du wieder weg, mit deiner Band. Weißt du, wir sehen uns viel zu selten. Wir sind doch schon längst keine Einheit mehr, leben nur noch nebeneinander her."

"Aber ich...ich liebe dich doch!", beteuerte ich fassungslos, war mir, nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, jedoch plötzlich gar nicht mehr sicher, ob das, was ich für sie empfand, tatsächlich noch die Bezeichnung Liebe verdient hatte. Sie war meine Heimat, sie war die Mutter meines Kindes, ich schätzte sie sehr. Doch war das noch Liebe? Oder nur noch bloße Gewohnheit? All diese Dinge prasselten nun auf mich nieder, ich wurde ihnen kaum noch Herr.
 

"Eine Ehe funktioniert für mich nur, wenn die Partner sich zumindest jeden zweiten Tag sehen", fuhr sie fort. "Tut mir Leid, Viv."

"Wir haben das doch aber alles damals besprochen", warf ich ein. "Du wusstest genau, auf was wir uns einlassen. Dass meine Band viel Zeit erfordert und deine auch. Und trotzdem wollten wir es durchziehen. Schon Liina zuliebe. Sie sollte mit Mutter und Vater aufwachsen dürfen. Und jetzt willst du das...alles einfach so hinschmeißen?"

Die letzten Worte zischte ich nur noch verständnislos, spürte, dass ich kurz davor war, die Fassung zu verlieren. All das, was ich sagte, war nichts als die Wahrheit. Und nun wollte sie all das einfach so auflösen? Das funktionierte nicht. Und plötzlich sah es so aus, als würde sie es einsehen.

Sie war ganz still geworden, fuhr sich durch ihr langes Haar, wie immer, wenn sie mit etwas haderte oder wenn sie mir etwas verheimlichte, was in jeder guten Ehe ab und an vorkam.

Ich wusste plötzlich, dass hier etwas faul war. Dass sie mir nicht alles erzählt hatte. Dass sie nur nach einer fadenscheinigen Ausrede gesucht hatte. Ich kannte sie lange genug, um das behaupten zu können.
 

"Raus mit der Sprache, was ist hier wirklich los?", forderte ich eindringlich, kesselte sie so lange ein, bis sie sich schließlich geschlagen gab. Im Lügen war sie noch nie gut gewesen, das wusste sie doch ganz genau. Und trotzdem versuchte sie es immer wieder.

"Ich habe mich in Aki verliebt. Wir sind seit ein paar Wochen zusammen. Es tut mir so unendlich leid, Vivian, aber es ist einfach pas-"

"Einfach passiert?"

Ich konnte mich kaum mehr auf meinem Stuhl halten. Wünschte mir sogar, dass ich die Wahrheit niemals erfahren hatte, denn sie tat weh. Verdammt weh. Und als sie auch noch reumütig nickte und mich beruhigen wollte, hatte ich Mühe, mich beherrschen zu können.

"Ich bin dir seit so vielen Jahren treu, habe nichts mit Groupies, verbringe jede freie Minute mit dir und zum Dank gehst du mir mit deinem Drummer fremd?"

Ich war aufgesprungen, ließ mich nun aber wieder auf meinen Stuhl sinken und schüttelte den Kopf.

"Ich fass es nicht...ich fass es einfach nicht..."

"Alles klar?", hörte ich nun eine mir vertraute Stimme fragen, schaute Theon allerdings nicht an, denn ich kämpfte noch immer mit dem gerade Gehörten.

"Nichts ist hier klar", presste ich hervor, stand jetzt endgültig auf und hastete ziellos durch die Kneipe, rannte dabei mehrmals gegen Stühle, spürte aber die Schmerzen aufgrund der Zusammenstöße nicht.

Letzten Endes fiel ich auf die Bank am anderen Ende der gemütlichen Stube und starrte zitternd an die Decke. So lange, bis mich jemand an sich drückte, mir etwas zusäuselte, das ich aber nur wie durch einen dichten Schleier vernehmen konnte.

"Sie...sie hat einfach einen anderen. Einfach so...", purzelte es aus mir heraus; ich plapperte noch mehr wirres Zeug vor mich hin, bis ich glaubte, überhaupt nichts mehr empfinden zu können. Ich spürte gerade noch so, wie mir Theons Hand über den Kopf strich, immer und immer wieder.

"Wie soll es jetzt weitergehen?", fragte ich, erwartete aber nicht ernsthaft eine Antwort. "Ich...ich...hier ist doch alles...alles im Arsch..."

"Ich bin da", meinte Theon daraufhin mit so viel Wärme in seiner Stimme. "Ich bin für dich da, Vivi. Du kannst mit zu mir kommen, meine Wohnung ist groß. Ich mach dir eine heiße Schokolade, dann gehts dir vielleicht ein kleines bisschen besser. Okay?"
 

Ich nickte, ohne über seine Worte nachgedacht zu haben. Mir war einfach alles recht.

Und ganz tief in mir drin wusste ich, dass Theon einfach das Beste war, was mir passieren konnte.

4. Kapitel - Different Light.


 

Theon
 


 

Er schien sich wieder gefangen zu haben.

Jetzt, wo er hier in meinem Wohnzimmer saß und sich unter die Sofadecke kuschelte, den Blick auf den Fernseher gerichtet, wirkte er wieder wie der Viv, den ich kannte. Sein Zusammenbruch hatte keine Spuren hinterlassen, er war ruhig und besonnen wie immer, obwohl ich eigentlich erwartet hätte, dass nun, wo wir allein waren, alles aus ihm herausbrach.

Doch nichts war geschehen. Und es war fast schon ein wenig unheimlich. In seinem Kopf arbeitete es sicher auf Hochtouren, das konnte gar nicht anders sein, schließlich war das, was sich eben zugetragen hatte, eine wahrlich harte Nuss. Selbst ich konnte meine Gedanken gerade nicht wirklich ordnen, musste mich immer wieder fragen, wie man Viv so etwas antun konnte. Ausgerechnet Viv.
 

Es behagte mir zugegebenermaßen nicht so wirklich, als ich langsam auf die Couch zuschritt, die Tasse mit dem Kakao in der einen und ein Glas Wasser für mich in der anderen Hand. Ich überlegte, was mir in dieser Situation am liebsten gewesen wäre: Alleinsein oder die Gewissheit besitzen, dass man jemanden neben sich hatte, mit dem man reden konnte, wenn einem plötzlich danach war. Auf die Schnelle kam ich jedoch zu keinem Entschluss und da es mir falsch vorgekommen wäre, wenn ich mich einfach ohne ein Wort in mein Schlafzimmer zurückgezogen hätte, nahm ich behutsam neben Viv Platz und reichte ihm seine Tasse.

Er bemühte sich sichtlich um ein kleines Lächeln, während das Geschehen im Fernseher mal hellere und dunklere Schatten über sein Gesicht huschen ließ, aber zu mehr als zu einem zaghaften Mundwinkelzucken genügte es nicht. Doch ich spürte nun, dass meine Anwesenheit für ihn okay war. Eigentlich war sie es immer, denn ich verhielt mich nie aufdringlich, wartete stets, bis der andere mir von sich aus sein Herz ausschüttete und hörte dann meist geduldig zu.

Außerdem wusste Viv, dass er in meiner Gegenwart nicht stark sein musste. Selbst wenn er geweint hätte, ich hätte mich nicht daran gestört. Wahrscheinlich hätte es mich lediglich zum Mitweinen animiert. In dieser Beziehung war es gut, dass er für nichts und niemanden Tränen übrig hatte. Aber hier ging es nicht um mich. Hier ging es ausschließlich um ihn.
 

Die Stille, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte, war keine von unangenehmer Natur. Wir beide starrten auf die Mattscheibe, ich bekam allerdings nicht wirklich etwas von der Handlung mit. Viv ging es sicher ähnlich. Nebenbei hoffte ich, dass das warme Getränk seine Nerven etwas zu stärken wusste. Doch diese verdammte Sache hatte Wunden hinterlassen. Tiefe Wunden, die nun auch noch an seinem Selbstwertgefühl kratzten.

"Bin ich wirklich so schlecht und langweilig, dass man mich nach ein paar Jahren mit einem anderen ersetzen muss?"

Seine Stimme war fest und ruhig, passte nicht zu dem gerade Gesagten. Ich spürte, wie sich in mir etwas aufbegehrte, etwas, das sofort Einspruch erheben wollte, aber ich unterdrückte es. Dies hier war nicht der richtige Zeitpunkt für das Herauslassen meiner eigenen Gefühle. Jedenfalls erschien mir die Art und Weise nicht als die Richtige. Ob Viv tatsächlich eine Antwort auf seine Frage erwartete, konnte ich nicht sagen. Aber ich wollte ihm gerne eine liefern. Und ich wusste plötzlich ganz genau, wie ich sie verpacken würde.
 

Es dauerte nicht lange, bis ich mit meiner Gitarre zurückgekehrt war.

Als ich mich wieder auf die Couch setzte, trafen mich Vivs verwunderte Blicke, selbst während er einen erneuten Schluck aus seiner Tasse nahm, schaute er zu mir auf und stellte stille Fragen nur mit seinen Augen. Es war gut, dass er sich für diese Form der Kommunikation entschieden hatte. Ein Austausch ohne Worte war manchmal einfach intensiver als alles andere.

Eine merkwürdige Unsicherheit überkam mich, als ich den ersten Akkord griff und dabei sacht die Seiten anschlug. Doch das war nur anfangs. Ganz schnell schaltete mein Tun auf Autopilot und auch Vivs Blicke, die mal mich, mal die Gitarre still anschauten, konnten mich nicht mehr verwirren.

Und dann begann ich zu singen. Leise, aber so, dass meine Stimme den warmen Klang der Gitarre noch übertönen konnte. Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Und besonders in diesen Augenblicken sang ich nur noch für ihn. Ich dachte nicht mehr, ich fühlte nur noch. Hatte keine Angst mehr davor, dass sich meine wahren Gefühle entblößen könnten. Seit dem Videodreh war sie verpufft. Denn vor jemandem, dem man so nahe war, musste man sich nicht verstecken.

Irgendwie wollte ich, dass er es endlich wusste.
 

You´re in my soul

you´re in my head

and in every step

I take

I know I´m not

perfect in any way

but everything I do

I do it for you
 


 

Ich hoffte, er hätte die Antwort auf seine Frage in diesen Zeilen gefunden. Ich wollte nichts mehr ergänzen, denn ich hatte alles gesagt. Alles, was ich ihm immer sagen wollte.

Das Lied war für ihn. Von Anfang an. Und genau deswegen war ich so begeistert von Miikkas neuem Skript. Weil eben dies zeigen konnte, was Viv für mich war. Es wirkte sich zwar enthüllend auf meine Gefühle aus, aber es fühlte sich richtig an. Genauso richtig wie dieser Augenblick. Eigentlich brauchte es keine weiteren Worte, um ihm meine Liebe und Wertschätzung zu gestehen, aber ich wollte es ihm doch noch unverblümter mitteilen. Er sollte nie wieder denken, dass er schlecht war. Denn das zerriss mir fast das Herz.
 

"Viv", begann ich, hoffend, meine Stimme würde nicht zu zittern beginnen, aber sie blieb stark, wurde nicht zaghaft. Die Gitarre hatte ich auf den Boden gestellt, ich wollte nicht, dass sich eine Barriere zwischen uns bildete. Folgerichtig rückte ich ihm ein paar Zentimeter entgegen, allerdings nicht zu nah. Ich wollte ihn nicht bedrängen, ihn mit meiner Liebe erdrücken. Er sollte selbst entscheiden, wie nah er mich an sich heranlassen wollte.
 

"Denke bitte nie, nie wieder, dass du schlecht oder langweilig bist", forderte ich eindringlich, fast schon ein wenig zu leidenschaftlich, wie ich glaubte. "Wenn...wenn Katra dich nicht schätzen kann, dann hat sie dich auch nicht verdient."

Ich konnte seinen Blick nicht wirklich deuten, aber er hielt meinen gefangen. Vielleicht hielt meiner auch seinen gefangen. Ich wusste es nicht.

"Viv...ähm...was ich sagen wollte ist, dass du...einfach nur toll bist. Dass sie es bereuen wird, dass sie dich betrogen hat. So einen Mann wie dich...findet sie nie wieder...ich hoffe, dass da draußen noch irgendjemand ist, der genauso denkt wie ich und der dir niemals wehtun würde. Denn du...du bist einfach...einfach..."

Ich fand längst keine Worte mehr, um ihn beschreiben zu können. Denn Viv war für mich unbeschreiblich.

"Komm mal her", meinte Viv daraufhin nur, legte behutsam die Hand auf meine Schulter und zog mich schließlich ganz in seine Arme. "Danke, Toro, danke für alles. Dass du mich nie hängen lässt. Und dass du so ein toller Freund bist..."

Ich glaube, das war seine Art, mir zu zeigen, wie ergriffen er von meinen Worten war. Erst nach einer halben Ewigkeit entließ er mich langsam aus der Umarmung, hielt den Körperkontakt jedoch noch immer aufrecht, indem seine Finger auf meinem Hals ruhten und schaute mich eine ganze Weile lang halb fragend, halb abwartend an. Kurz überlegte ich tatsächlich, ob ich ihn einfach küssen sollte, aber ich entschied mich, ihn entscheiden zu lassen, welchen Ausdruck seine Gefühle mir gegenüber benötigten.

Schließlich legte er mir seine Lippen auf die Wange, löste sie aber sehr schnell wieder. In meinem Bauch wühlte schlagartig das pure Glück, die tiefste Liebe, die ich jemals empfunden hatte. So sehr hoffte ich, er würde sie auch nur ein klein wenig erwidern. Doch man sollte manchen Dingen nicht zu voreilig eine Bedeutung zuweisen, die ihnen gar nicht zugrunde lag. Selbst als Viv mich urplötzlich auf den Mund küsste, musste ich mich zwingen, zu denken, dass er mich nicht auch liebte.

Lange brauchte ich jedoch nicht mit mir zu kämpfen; es verging nicht viel Zeit, bis ich komplett in diesen dumpfen, schweren Gefühlen zerfloss und alles nur noch so an mir vorbeirauschte, als wäre es nicht mehr als ein intensiver Traum, der meine bloße Fantasie abbildete.
 

*****
 

Viv blieb. Nicht nur in dieser Nacht, sondern auch in den darauffolgenden.

Er wusste, dass es nicht richtig war, den Schwanz einzuziehen und seiner Ex-Frau das Feld zu überlassen, aber ein friedliebender Mensch wie er gab lieber klein bei als sich in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen.

Im Grunde kam das Angebot, so lange bei mir unterkommen zu können, bis er etwas Eigenes gefunden hatte, von mir. Er sollte sich bei mir willkommen fühlen, ein Stück weit zu Hause; ich wollte ihm Heimat geben.

Er hatte meinen Vorschlag dankbar angenommen, richtete sich genügsam in dem kleinen Gästezimmer ein und betätigte sich ab und an sogar in Haushalt und Küche. Und immer, wenn er sich mal wieder ohne Aufforderung nützlich gemacht hatte, stand ich kopfschüttelnd vor ihm und überlegte zum hundertsten Mal, wie man so einen tollen Mann einfach ersetzen konnte. Umso länger wir zusammenwohnten, desto eingespielter wurde unser gemeinsamer Tag. Es war, als hätten wir schon ewig unter einem Dach gewohnt. Ich genoss es, und Viv, ja, Viv genoss es auch.
 

Nur über den Kuss sprachen wir nie wieder. Es war gut, dass ich an jenem Abend nicht zu viel in ihn interpretiert hatte, schien er tatsächlich nur aus der Stimmung heraus entstanden zu sein und nicht aus tieferen Gefühlen, die eine Freundschaft auch von Vivs Seite weit überschritten. Und doch hatte ich in stillen Momenten, die ich nur mit meinen Gedanken teilte, die Hoffnung gehegt, dass auch er endlich erkannt hatte, wie viel ich für ihn war. All diese Momente mit ihm, in denen ich ihm nahe war, der Videodreh, der Abend auf der Couch - ich hatte geglaubt, jedes Mal ein Funkeln in seinen Augen erkannt zu haben. Irgendein Signal, das von Herzen kam und mein Herz erreichen sollte.

Doch als der Alltag uns wiederhatte und Viv tapfer seine Trennung verarbeitete, dachte ich nur noch selten über diese gravierenden Dinge nach. In meinem Unterbewusstsein lebten sie jedoch weiter fort und hüllten sich in meine Träume ein.
 

Es kam der Tag, an dem Viv mir zeigte, wie heimisch er sich wirklich bei mir fühlte.

Wir saßen gerade am Frühstückstisch, schwiegen uns wie ein altes Ehepaar an, aber Viv warf mir schon seit längerer Zeit prüfende Blicke zu. Und ich kannte meinen Freund gut genug um behaupten zu können, dass er mir etwas sagen wollte.

"Schieß los", forderte ich ihn seufzend auf, während ich das Messer zurück in das Marmeladenglas tauchte. "Ich sehs dir doch an, dass dir etwas auf der Zunge liegt."

Endlich gab Viv sich einen Ruck. Obwohl wir uns so gut kannten blieb er mir und auch anderen gegenüber oft höflich wie in Gegenwart eines Fremden; wahrscheinlich hatte dies aber nichts mit Reserviertheit zu tun, sondern mit Bescheidenheit und Wertschätzung.

"Ich wollte dich fragen, ob es okay wäre, wenn Liina für ein paar Tage hier schlafen könnte...", begann er, lenkte dann aber sofort ein. "Also nur, wenn es dir recht ist."

"Natürlich, das geht in Ordnung", gab ich ihm mein Okay, woraufhin er direkt zu strahlen begann, was mir wiederum ein warmes, dumpfes Gefühl in der Magengegend schickte. "Du weißt doch, dass ich die Kleine mag, und außerdem ist das hier ja jetzt auch deine Wohnung."

Viv nickte langsam, biss dann in sein Brot und auch ich sagte nichts mehr.

Wir waren eben häufig sehr finnisch.
 

Bereits am Nachmittag trafen Viv und Liina ein. Der Kleinen war es deutlich anzusehen, dass sie sich auf die gemeinsame Zeit mit ihrem Papa freute. Sie strahlte bereits über das ganze Gesicht, als ich sie im Flur begrüßte und als wir ihr zeigten, wo sie ihre Schuhe abstellen konnte, hüpfte sie fröhlich auf einem Bein durch den Raum. Auch wenn ich es nicht sonderlich mit Kindern hatte, Liina konnte man einfach nur in sein Herz schließen. So viel Lebensfreude, wie sie an den Tag legte, so eine Offenheit, wie sie unter finnischen Erwachsenen selten zu finden war. Und dann war ja auch noch der Aspekt, dass sie so viel von ihrem Vater geerbt hatte. Nicht nur die genauso nervige wie liebenswerte Sturheit war es, die sie mit Vivian teilte, nein, sie besaß auch haargenau seine Nase und die Form seiner Lippen. Wann immer sie mich anschaute, schaute mich auch ihr Papa an. Und dass mir dann stets ein wenig warm wurde, konnte ich einfach nicht leugnen.
 

"Ich geh schon mal in die Küche", meinte Viv, blickte erst mich und dann seine Tochter an, der er zudem noch fürsorglich durch das dunkle Haar fuhr. "Heute gibts Nudeln, Liina, nur für dich."

"Au ja!", jubelte das kleine Mädchen zugleich los und war kaum noch zu bremsen, purzelte mir beinahe gegen die Beine, wovon ich sie lachend abhalten musste.

Viv grinste ebenfalls in sich hinein, verschwand dann aber schnell in der Küche, während ich mich dazu bereiterklärt hatte, Liina zu zeigen, wo sie schlafen konnte. Natürlich würde das bei Vivian im Gästezimmer sein, und Vivian würde für die Zeit auf die Luftmatratze ausweichen, um seiner Tochter das gemütlichere Schlaflager zu überlassen.
 

Der Raum war wirklich nicht gerade groß, wie ich erneut feststellen musste, als ich die Tür aufstieß und Liina mit Fingerzeig auf den einzigen Schrank bedeutete, dass sie dort ihre Kleidung und ihre Puppen verstauen konnte.

"Meine Puppen wollen aber nicht in den Schrank!", durfte ich mir daraufhin empört anhören, lenkte aber ein und sagte, dass sie natürlich auch draußen sitzen bleiben durften, was sie zufrieden stimmte. Ganz nebenbei stellte ich mir Viv vor, wie er versuchte, im Puppenparadies ein Auge zuzumachen. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln, Liina bemerkte es zum Glück nicht.

Das Lachen verging mir im nächsten Augenblick ohnehin, denn wie Kinder nun einmal sind, so stellte auch Vivs Tochter aus heiterem Himmel eine sehr gewagte These in den Raum.

"Papa hat mir schon erzählt, dass er jetzt bei dir wohnt", plapperte sie unbeschwert darauf los, machte eine kurze Pause und schaute unschuldigen Blickes und mit hinter dem Rücken versteckten Armen zu mir herauf. "Du bist der neue Freund von Papa."

Ich verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Spucke. Zudem spürte ich, wie mein Gesicht ganz heiß wurde und ich verzweifelt nach einer Erwiderung auf ihre Behauptung suchte. Einerseits wollte ich ihr widersprechen, sie darüber aufklären, dass ich mit Viv nicht so zusammen war wie er mit ihrer Mama damals, andererseits wollte ich sie ganz gern im dem Glauben lassen, schließlich war genau das mein heimlicher Wunsch.
 

Gerade setzte ich zu einer Antwort an, als sich der Spalt zwischen Tür und Angel so weit vergrößerte, dass Viv seinen Kopf hindurchstecken konnte.

"Ihr könnt schon mal in die Küche kommen und euch hinsetzen, Essen ist gleich fertig."

Puh. Ich war erleichtert über die Unterbrechung des Gesprächs, seufzte hoffentlich nicht hörbar, als Liina wie vom Blitz getroffen hinter Viv hersprang und ihm sichtlich hungrig in die Küche folgte.

Um ehrlich zu sein hatte ich keinen blassen Schimmer gehabt, welche Antwort ich ihr hätte liefern sollen.
 

Viv hatte sogar schon den Tisch gedeckt, wie ich feststellen musste, als ich den Raum betrat. Natürlich hatte er sich für das weiße Geschirr mit der Blütenborte am Rand entschieden, ich beschmunzelte ihn schon seit er bei mir eingezogen war für seine merkwürdige Vorliebe. Heute jedoch nahm ich es stumm hin, setzte mich auf den Stuhl gegenüber von Liina, die hyperaktiv wie immer die Beine baumeln ließ und fast über dem gesamten Tisch lag.

Immer wieder ließ sie ihren Blick hin zu ihrem Vater wandern, aber auch ich interessierte sie nach wie vor. Schließlich bewies sie mir, dass sie noch längst nicht wieder vergessen hatte, über was wir uns vorhin im Gästezimmer unterhalten hatten.

"Ich hab das im Fernsehen gesehen, dass Männer auch heiraten dürfen", krähte sie vergnügt. "Und dann ziehen die auch zusammen. So wie Papa und du."

Am liebsten wäre ich unter den Tisch gerutscht, wollte mich vor Vivs Blicken und besonders vor seiner Reaktion verstecken, wobei es mir im nächsten Moment selbst schon unsinnig vorkam.

Viv aber schien ganz ruhig zu bleiben, werkelte weiter auf dem Herd herum und machte beinahe den Eindruck, als hätte er Liinas Worte nicht einmal mitbekommen. Vielleicht ignorierte er sie aber auch nur, aus irgendeinem Grund, der mir gerade nicht einleuchten wollte. Er war doch derjenige von uns, der Liina ohne Wehmut über unser rein freundschaftliches Verhältnis hätte aufklären können.
 

Doch er tat es nicht. Kurze Zeit später trat er fast schon professionell wie ein Kellner mit den vollen Tellern zu uns an den Tisch, servierte uns unser Essen und nahm schließlich auf dem noch freien Stuhl Platz.

Wir wünschten uns alle einen guten Appetit und noch während ich nach der Gabel griff, schaufelte Liina bereits gierig die Spaghetti in sich hinein.

"Liina, nicht so hastig, du hast alle Zeit der Welt", maßregelte sie Vivian schmunzelnd, woraufhin das Mädchen tatsächlich sein Tempo herunterschraubte und Gabel für Gabel fast schon mit Bedacht in den Mund schob.

Aber schon nach ein paar Mal kauen verzog sie angewidert das Gesicht und schob den Teller beiseite.

"Iiiih", machte sie dabei, Viv und ich tauschten prompt verdutzte Blicke, dann kostete ich gespannt, wollte wissen, ob Viv tatsächlich ein Patzer beim Kochen unterlaufen war.

Und tatsächlich. Die Tomatensoße war vollkommen versalzen. Ich ahmte mit großer Wahrscheinlichkeit Liinas Blick nach.

Vivs Tochter aber schien sich von dem Schreck da schon längst wieder erholt zu haben und schmiss mit einer großen Weisheit um sich.

"Mama sagt, wenn das Essen versalzen ist, dann ist der Koch verliebt."

Wie vom Donner gerührt schaute ich Vivian an. Dieser hüstelte ein wenig vor sich hin und lief dann sogar ein ganz kleines Bisschen rot an.
 

Mir blieb beinahe das Herz stehen. Und ich hoffte wieder. Hoffte so sehr, dass das Funkeln in seinen Augen tatsächlich Liebe geheißen hatte.

Mit einem Mal wähnte ich mich meinem größten Wunsch so nah. Und doch war mir seine Erfüllung nach wie vor so fern.
 

Bis zu diesem Tag, an dem sich alles verändern sollte...

5. Kapitel - Yours to keep.


 

Vivian
 


 

Ein paar wenige Tage hatten genügt, um alles zu verändern.

Wahrscheinlich war es für einen Außenstehen nicht offensichtlich, wie sich das Verhältnis zwischen mir und Theon gewandelt hatte, aber ich spürte stets diese Spannung zwischen uns, wann immer wir uns gegenüberstanden. Ich wusste, dass sie die Fortsetzung diesen großen, überwältigenden Gefühls sein musste, welches während des Videodrehs über mich hineingebrochen war. Und all diese Dinge, die sich in letzter Zeit zwischen uns ereignet hatten waren ein Relikt meiner tiefen Zuneigung, die ich für Theon empfand.

Irgendwann beschloss ich, diesem Großen doch einen Namen zu geben, denn ich hatte es lange genug in mir pulsieren gespürt.

Ich taufte es Liebe. Ja, es fühlte sich richtig an. Richtig und sehr, sehr warm.

Aber leider waren die Schwierigkeiten mit dieser Erkenntnis noch längst nicht ausgestanden. Ich haderte mit mir, wehrte mich gar gegen diese Gefühle, denn mein Leben hatte mir als heterosexueller Mann deutlich besser gefallen. Besser, weil es in geregelten Bahnen verlief, keine Überraschungen und Wirrungen für mich bereithielt. Diese Empfindungen zerstörten das ganze Bild, das ich von mir hatte. Als hätte ein höhnischer Mensch meinem Spiegelbild einen Schnauzbart verpasst. Das in Verbindung mit dem Prozess meiner Scheidung war nicht sonderlich angenehm. Nur manchmal, wenn ich locker ließ und mich nicht dagegen wehrte, dann war es auch ein bisschen schön. Dann wollte ich einfach nur in Theons Nähe sein, ihn am liebsten wieder küssen und über nichts und niemanden mehr nachdenken müssen. Wahrscheinlich hätte ich es tun sollen, denn ich wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass Theon diese Gefühle mit mir teilte. Dass er mich auch liebte, es schon lange vor diesem besonderen Moment getan hatte. Und trotzdem konnte ich nicht so einfach auf ihn zugehen. Ich hoffte, er würde den ersten Schritt tun und dass mein Hirn endlich einmal aufhörte, sich selbst für sein Denken zu verurteilen.
 

Liina sollte noch die ganze restliche Woche bei uns bleiben, ich hatte es mit Katra in einem kühlen, sachlichen Ton geregelt. Ihr war anzumerken, dass sie nicht sonderlich begeistert darüber war, ihre Tochter in einen reinen Männerhaushalt zu geben, aber da wir beide uns nach wie vor das Sorgerecht teilten, musste sie sie wohl oder übel in meine Obhut geben. Außerdem vermittelte die Kleine unmissverständlich, dass sie die gemeinsame Zeit mit mir genoss, denn ich verwöhnte sie zugegebenermaßen ziemlich und teilte kleine Geheimnisse mit ihr. Mama sollte nichts von den Süßigkeiten wissen, die sie von mir und manchmal auch von Theon bekam, wenn sie beim Geschirrabtrocknen half. Oh, und sie liebte diese Geheimnisse, versiegelte ihre Lippen stets mit einem imaginären Reißverschluss.

Ja, Geheimnisse waren wirklich eine schöne Sache. Doch wenn man sie mit niemandem teilte und lange für sich behielt, dann konnte man genauso gut daran zerbrechen.
 

Es gab Tage, an denen schafften wir Liina gemeinsam in den Kindergarten, unternahmen am Vormittag etwas unter Männern und holten meine Tochter schließlich auch gemeinschaftlich wieder ab.

Manchmal entwarfen wir während der Zeit zu zweit neue Kompositionen, schrieben gemeinsame Lieder und waren insgesamt ziemlich kreativ, ein andermal brauchten wir einfach eine kleine Auszeit und zogen uns deswegen in Theons eigene kleine Sauna zurück, die an sein Schlafzimmer grenzte. Dort verbrachten wir ein paar Minuten, schlossen aber jedes Mal eine Wette ab, wer es am längsten aushalten würde. Meist ging ich als Sieger hervor, was Theon auch nach Wochen noch wurmte, aber er lief eben schnell rot an und glänzte vor Schweiß am ganzen Körper. Dass mir daraufhin nicht ebenfalls übermäßig heiß wurde, grenzte an ein Wunder. Denn der Anblick seines nackten Oberkörpers ließ mich ganz und gar nicht kalt. Dass Theon eine sehr attraktive Figur besaß und die Tätowierungen die Anziehungskraft noch weiter in die Höhe schraubten, war längst kein Geheimnis mehr. Aber dass mein eigener Körper darauf zu reagieren begann, das war neu. Und es wurde mit jedem Mal heftiger.
 

Dennoch saßen wir auch heute wieder nur mit einem weißen Handtuch um die Hüften auf den Holzleisten und genossen die schwelende Hitze.

Liina war wie immer im Kindergarten und so brauchten wir uns nicht sorgen, dass sie uns plötzlich beim Saunieren stören könnte. Alles war ruhig und entspannt, wir unterhielten uns nur sporadisch und ich hatte Zeit, mich ganz auf dieses wohlige Ziehen zwischen meinen Beinen zu konzentrieren.

Mittlerweile genügte schon die Gewissheit, einen im Grunde nackten Theon neben mir sitzen zu haben, der Anblick seines Oberkörpers trieb es allerdings auf die Spitze. Zum Glück war das Handtuch ziemlich weit, sodass ich meine beginnende Erregung auch heute wieder irgendwie verbergen konnte. Und dabei zweifelte ich an Theons Gefühlen. Wenn er meine Liebe tatsächlich erwiderte, wieso blieb er dann so locker in der Gegenwart des Objektes seiner Begierde, welches keine Kleidung am Leib trug? Konnte er sich tatsächlich so gut beherrschen, seinen Körper kontrollieren oder war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um seine Erregung zu bemerken?

Um mich abzulenken, begann ich hier und da ein zugegebenermaßen ziemlich unsinniges Gespräch, welches nicht nur Theon, sondern auch mich manchmal in Verlegenheit bringen konnte. Heute war es besonders schlimm. Aber mit so einem erhitzten Hirn fiel das Denken nun mal sehr schwer.
 

"Wie lange ist nun eigentlich deine letzte Beziehung her? Ein Jahr, anderthalb?"

Theon schnaubte. Dachte nach. Und ich kam mir schon jetzt ziemlich doof vor.

"Ein Jahr, glaub ich", lieferte er mir seine Antwort, klang so ruhig wie eh und je. Mit einem Seitenblick auf ihn konnte ich auch nicht feststellen, ob sein roter Kopf von der Hitze oder dem leichten Anflug von Scham rührte, den ich verursacht hatte. Im Augenblick interessierten mich ohnehin die kleinen Wassertröpfchen stärker, die über sein Gesicht rannen und die, die ich an seinem Körper entdeckte, als ich meinen Blick zaghaft und zugleich begierig tiefer hinabwandern ließ. Es war das erste Mal, dass ich Erregung beim Anblick eines Mannes empfand, und als Theon mir plötzlich sein Gesicht zuwandte und mich fragend anschaute, verdrückte ich mir meine Gefühle schnell. Dass er sich dabei allerdings mit der Hand seine blonden Haare nach hinten strich, machte es meinen Trieben nicht gerade einfach, sich tief in den hintersten Windungen meines Gehirnes zu verbergen.

Klartext: Die ganze Szene trieb mich beinahe in den Wahnsinn.
 

"Und sehnst du dich nicht manchmal wieder nach einer Beziehung? Ich meine, du bist ja schon ziemlich lange Single..."

Ich war ein Idiot, weil ich weiterhin auf diesem Thema herumritt. Aber wahrscheinlich hoffte ich einfach nur, das Gespräch in diese eine gewisse Richtung zu lenken. Dass er mir sagte, dass er ebenfalls Interesse an mir hatte. Doch das blieb aus. Theon war einfach zu schüchtern, um diesen Schritt zu gehen. Schließlich hatte ich ihm meine Zuneigung noch nicht wirklich eindeutig präsentiert.

"Es ist gut so, wie es ist, glaube ich", kam es schließlich von dem anderen, es klang endgültig. "Ich bin viel zu gewählt, um mir die erstbeste Frau zu schnappen."

"Oh ja, das kenne ich nur zu gut", erwiderte ich amüsiert, reckte mich ein bisschen, hielt aber schnell inne, als sich meine Erregung in Form einer Beule leicht unter dem Handtuch abzeichnete. "Aber du kannst ja auch Ansprüche stellen, schließlich bist du ein klasse Typ. Nett, charmant, höflich, verdammt gut aussehend..."

"Danke gleichfalls", schmunzelte mir Theon daraufhin entgegen und da war es wieder.

Dieses Funkeln in seinen eisblauen Augen, welches ich genauso an dem Abend auf der Couch gesehen hatte. Während er mir sein Lied widmete.

Es konnte einfach nicht anders sein. Er liebte mich auch. Ich wusste, dass ich etwas tun musste, kam mir aber zugleich so hilflos vor. Hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Das Schicksal allerdings stellte sich hinter mich und verschaffte mir eine Gelegenheit, die ich beim Schopfe packen musste.
 

Heute war ich derjenige, der der Hitze als Erster entkommen wollte. Ich hielt Tag um Tag kürzer aus, wahrscheinlich lag das auch an diesem Brennen, welches von meiner Psyche ausging und sich in meinem Inneren ausbreitete. In jener Sekunde, als er meinen Blick eingefangen hatte, schien das Feuer komplett zu explodieren. Ich musste weg.

Doch just in diesem Moment, in dem ich meinen Hintern erhob, schien auch Theon in Aufbruchsstimmung geraten zu sein. Wir hielten gleichsam in der Bewegung inne, schauten uns stumm an, bis er das Schweigen schließlich mit einem Grinsen entschärfte.

"Zwei Dumme, ein Gedanke", meinte er belustigt. "Und wer geht jetzt zuerst?"

In mir arbeitete es. Kurz nur. Ganz kurz. Dann gingen meine Gedanken in ein dumpfes Pochen über. Das wohlige Gefühl. Die Erregung, die nicht zog, sondern eher dem weichen Schlag von Schmetterlingsflügeln glich. Ich kannte sie, sie suchte mich in letzter Zeit öfter heim. Besonders dann, wenn sich eine intime Nähe zwischen uns aufzubauen drohte.
 

Meist hatte ich lange genug in der Wärme ausgeharrt, damit Theon in Ruhe seine kalte Dusche beenden konnte. Ich hatte die Sauna erst verlassen, als er bereits vollständig angezogen durch das Schlafzimmer tappte und nur noch seine feuchten Haare von unserer Wellnesseinlage zeugten. Nun aber sollte das nicht funktionieren. Und ich musste meinen Vorschlag schnell äußern, bevor ich riskierte, dass er oder ich einen Schwächeanfall erlitt.

"Lass uns einfach zusammen gehen", hörte ich mich sagen, ein flaues Gefühl kroch durch meine Eingeweide, doch ich konnte meine Worte nicht mehr zurücknehmen.
 

Ohne Einspruch einzulegen verließ Theon letztlich nach mir die Saunakabine, stand dann aber ratlos und nass glänzend im Raum und warf fragende Blicke in Richtung des Badezimmers, welches sich ebenfalls von seinem Schlafzimmer abzweigte.

"Dusche, ich, du?", fasste er sich kurz und besagtes flaues Gefühl schlug komplett über mir zusammen.

"Ich denke, sie ist groß genug für uns beide."
 

Er hatte keine Zeit, länger über meinen Vorschlag nachzudenken. Doch ich merkte ihm an, dass er sich in diesem Moment ebenfalls nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. Zögerlich wirkte er, als er die Tür zum Bad öffnete, unsicher, als er mir einen Blick zuwarf. Ich hoffte, dass er spürte, dass ich einmal mehr dasselbe fühlte wie er. Dass sich meine freudige Erregung vermischte mit dieser unheimlichen Angst vor dem Unbekannten. Wir hatten, seitdem wir uns kannten, stets vermieden, uns dem anderen nackt zu zeigen und nun sollte dieses ungeschriebene Gesetz einfach so gebrochen werden. Weil es sich richtig anfühlte. Richtig, aber noch nicht gut. Und selbst als ich noch das Handtuch um die Hüften trug, fühlte ich mich bereits komplett entblößt.
 

Gnadenlos schlug die Kälte der Fliesen gegen meine Fußsohlen. Es gab kein Zurück mehr. Spätestens, als Theon seine Hände um den Knoten des Handtuchs auf seiner Hüfte legte, spürte ich, dass es begann.

Es war wie in einem Film, unwirklich, intensiv, und in seinen Augen schwelte noch immer dieses Zögernde. Ich spürte, wie ich ihm zunickte, als ich es entdeckte, sah, wie er sich langsam aus seinem Handtuch schälte. Wie es Zentimeter für Zentimeter nach unten glitt. Wie es noch nie entdeckte Haut freilegte.

Ich konnte kaum mehr atmen, rang mit geöffneten Lippen nach Luft, besann mich aber ganz schnell und riss mir selbst ein wenig zu hektisch das Handtuch vom Leib, ließ es auf den Boden gleiten.

Sprung ins kalte Wasser. Höchste Intimität. Spannung. Spürbar, alles spürbar.

Und dabei musterte ich ihn. Fühlte den Trieb in mir aufsteigen. Die Begierde, die Lust, die Erregung. Ihm ging es nicht anders, denn er war hart. Stellte gerade fest, dass ich es auch war. Dieses Mal vermochte ich nicht in seinem Blick zu lesen.
 

Erst als das eiskalte Wasser auf mich niederprasselte gab es auch wieder etwas anderes in mir außer diesem gleißenden Feuer.

Grausam riss es mich aus meinem Begehren, doch immer, wenn Theon und ich uns versehentlich berührten, flammte die Glut wieder auf. Haut an Haut.

Er sah gut aus, irre gut, unheimlich gut. Ich wollte ihn. Die Lust hatte mich in Ketten gelegt, ich gestand mir alles ein. Schämte mich nicht mehr. Wollte ihn einfach nur packen und spüren. Egal wie. Hauptsache spüren.

In seinen Blick interpretierte ich nun, dass es ihm nicht anders ging. Während er die Augen schloss und sein Kinn ein wenig nach vorn reckte, rieselte eine erneute Welle der Lust durch mich. Und als er seine Hände behutsam auf meine Hüften legte, stieß ich vor und küsste ihn hart und ungehalten. Einfach so. Machte mir keine Gedanken mehr.

Spürte nur, wie sich dieses Richtig in ein definitives Gut verwandelte, umso bestimmter wir uns anfassten.
 

Doch mein Gehirn lebte noch. Schickte mir plötzlich einen zuckenden Bildfetzen hinter die geschlossenen Augenlider. Er zeigte Liina. Ich erschrak augenblicklich.

"Scheiße, wie spät ist es?", stammelte ich nervös, nachdem ich mich ruckartig von Theon gelöst hatte. Hastig schaute ich mich um, als hätte ich tatsächlich Hoffnungen gehegt, in der Duschkabine eine Uhr zu entdecken.

"Keine Ahnung, zwölf, eins?", murmelte Theon, er schien noch immer nicht wieder ganz in der Realität angekommen zu sein und wirkte auch nicht sonderlich froh darüber, dass ich ihn so jäh aus dem Traumland herausriss.

Ich aber konnte keine Rücksicht mehr darauf nehmen, spurtete aus dem Badezimmer und warf Theons Radiowecker, der auf dem Nachtschrank stand, einen starren Blick zu.

12:48.

Mist. Ich hatte ausgerechnet heute mit Liina um 13:00 Uhr einen Arzttermin, den ich nun nie und nimmer pünktlich wahrnehmen konnte.

Obwohl ohnehin alles zu spät war, machte ich mich schleunigst daran, mir meine Kleidung überzuwerfen, in das Auto zu springen und in den Kindergarten zu kommen.

An Theon dachte ich erst wieder, als ich schon drei Straßen weiter war.
 

Mit einer Gnadenlosigkeit fiel das schlechte Gewissen über mich her.

Ich hatte ihn einfach so stehen gelassen, ohne ein Wort der Entschuldigung, ohne eine Erklärung. Ich schämte mich, wünschte, ich könnte genau jetzt noch einmal umdrehen und das Ganze geraderücken. Doch das ging nicht.

Die Häuserzeilen rasten an mir vorbei, während ich den Kopf einfach nicht mehr freibekam. Da war nicht nur diese plötzliche Flucht aus dieser vertraulichen Szene zwischen Theon und mir, da waren auch die Sequenzen, die sie eingeleitet hatten, der Anflug von Gefühlen, von Kribbeln, von diesem dumpfen Schwelen im Magen. Da war zu viel, um es überhaupt noch fassen zu können.

Unwirklich wirkte es im Nachhinein auf mich. Als wäre es nur ein Traum gewesen oder eine Welt, die hinter einem Tor zu einer anderen Realität lag und stets unerreichbar gewesen war. Ich wusste plötzlich nicht mehr, ob ich es lieber verschlossen gelassen hätte oder ob es gut war, so wie es gekommen war. In mir herrschte nur noch Chaos. Die Erinnerungen an alle Eindrücke gleichzeitig prallten auf mich ein.
 

Vivian, schau auf die Straße.
 

Gerade noch so konnte ich einem Lastwagen ausweichen. Bremsen quietschten. Dann Stille. Nur noch mein stumpfer Herzschlag verblieb.

Als das Adrenalin aus meinen Venen gewichen war, fühlte ich mich auf einmal nur noch schlecht. Schlecht und irgendwie - blockiert. Katras Gesicht tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ihre Stimme kam hinzu. Ihre Stimme, die mir sagte, dass sie einen anderen hatte. Dass sie die Scheidung wollte.

Enttäuschung. Fester schlug ich meine Hände in das Lenkrad. Weiß traten meine Knöchel hervor.

Ich war mir sicher, dass ich Theon liebte. Gleichzeitig hatte ich jedoch keine Ahnung, ob ich mich schon jetzt wieder auf jemand Neues einlassen konnte. Der Schmerz von dem Vergangenen zog in mir noch immer seine Bahnen. Mein Vertrauen in die Menschheit - aufgeweicht. In die Pfütze gefallen.

Obwohl ich Theon so gern vertrauen wollte. Er würde mich nie betrügen, darüber war ich mir im Klaren. Und trotzdem.

Gebranntes Kind scheut das Feuer.

Nein, ich wollte mehr von diesem Feuer. Wollte mich in es fallen lassen, unbedarft, ohne jeden Zweifel. Es war ohnehin unauslöschlich. Ich hatte es gespürt, zum ersten Mal körperlich, und ich hoffte, dass Theon es wieder entfachen wollte.

In meinem Magen hielt die Enge an.

Bestimmt war er sauer. Doch ich wollte das nicht. Wollte das alles einfach nicht.

Warum konnte das Leben nicht einmal einfach sein?
 

Liina stürmte mir bereits entgegen, als ich die Autotür hinter mir zuschlug. Sie erkannte meinen Wagen für gewöhnlich schon aus vielen Metern Entfernung und auch heute schien sie mich bereits vom Fenster aus beobachtet zu haben.

"Papa!", rief sie fröhlich, versuchte dabei übermütig das Tor zu erklimmen, hinter dem der kleine Hof des Kindergartens lag, der mit zahlreichen Spielzeugen ausgestattet war. Ein Stück weit hinter Liina sah ich nun auch die Erzieherin auftauchen, deren Namen ich ständig vergaß. Nur nebenbei vernahm ich, wie sie meine Tochter mit strenger Stimme maßregelte, das Tor nicht als Klettergerüst zu benutzen, woraufhin sie unsicher abstieg, aber als ich schließlich vor ihr stand, hüpfte sie wieder daran empor und nun entdeckte ich auch, dass sie mir etwas entgegenhielt.

"Das hab ich vom Lauri gekriegt!", krähte sie, den roten, glatten Gegenstand wild herumschwenkend, bis ich mir erst einmal leise lachend Eintritt verschaffte.

Ich spürte, wie es mir nun schon viel besser ging, nur aufgrund der Fröhlichkeit meiner hübschen Tochter.
 

"Hier, Papa!", fuhr Liina wenige Sekunden später lautstark fort. "Das ist ein Herz."

"Ein Herz?", hakte ich ganz erstaunt nach und nahm es nun in meine eigenen Hände, um es von allen Seiten zu mustern, ganz wie es die stolze Liina verlangte.

"Lauri hatte heute Geburtstag, nicht wahr, Liina, und da habt ihr alle so ein Herz gekriegt", erklärte die Erzieherin beiläufig, aber das interessierte mich schon längst nicht mehr. Nachdem Liina mir deutlich gemacht hatte, dass sie das Herz nun an mich weiterverschenken wollte, kam mir eine Idee.

Kitschig war sie, ohne Zweifel, aber vielleicht ja auch ganz süß.

Mit neuer Hoffnung ließ ich das glänzende, rote Herz in meiner Hosentasche verschwinden, nahm Liina an die Hand und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Auto, um so schnell wie möglich erst zum Arzt zu fahren; vielleicht hatte er ja trotzdem noch Zeit für uns, auch wenn die Kirchturmuhr bereits halb Eins schlug. Erst dann sollte es nach Hause gehen und ich wurde schon bei dem Gedanken daran leicht von Nervosität durchflutet.
 

Doch es war umsonst. Theon war bei unserem Eintreffen nicht da. Vielleicht kaufte er gerade ein, einen Zettel hatte er jedenfalls nicht hinterlassen.

Am Abend hatte er sich allerdings noch immer nicht zu Hause blicken lassen. Beunruhigt wählte ich seine Nummer, um mich mit einem kurzen Anruf über seinen Verbleib zu informieren. Die Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte, nahm zwar ab, als ich seine Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, aber aufgrund seiner Reserviertheit vermutete ich tatsächlich, ihn mit meiner Aktion nicht gerade begeistert zu haben.

Er wollte mir nicht genau sagen, wo er rumhing. Aber anhand der konfusen Geräusche, die im Hintergrund waberten, schloss ich auf eine Kneipe.

Super, jetzt schoss er sich ab, nur weil ich so ein Idiot war. Wenn ich wenigstens nun den Mund aufbekommen hätte, um mich zu entschuldigen, aber nein, ich Trottel hatte plötzlich das Handy in der Hand und starrte auf das Display. Aufgelegt.
 

In der kommenden Nacht hatte ich Probleme, in einen tiefen Schlaf zu fallen. Dauernd erwachte ich, spürte, wie meine Zunge am Gaumen klebte und schlich an die fünf Mal in die Küche, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Dabei warf ich ständig der Tür zu Theons Schlafzimmer fragende Blicke zu. Ob er schon da war? Oder sich noch immer in den Clubs herumtrieb, sich volllaufen ließ, was doch eigentlich mein Part war? Ich hatte keine Ahnung, hatte bisher keine Geräusche gehört.

Erst gegen Fünf vernahm ich Schritte in der Küche. Natürlich rührte ich mich nicht von der Stelle, blieb im Bett liegen, bis wieder alles ruhig war. Erst dann machte ich mich erneut auf zum Kühlschrank und trank im Dunklen ein weiteres Glas Wasser leer.

Wenigstens wusste ich jetzt, dass er zu Hause war. Trotzdem starrte ich nach wie vor diese verdammte Tür an, die sich als weißliches Rechteck mit weichen Kanten an der gegenüberliegenden Wand erhob.

Ich flößte mir den letzten noch verbliebenen Schluck ein, dann presste ich die Lippen aufeinander und spielte ernsthaft mit einem gewissen Gedanken.

Irgendwann begannen sich meine Beine tatsächlich selbstständig in Bewegung zu setzen. Führten mich auf das weißliche Rechteck zu, bis ich davor zum Stehen kam und ich ohne groß zu zögern meine Hand auf die Klinke legte.

Die Stille der Nacht hob das Knacken viel zu sehr hervor, welches erzeugt wurde, als ich die Tür öffnete. Achtsamer wurde ich, schlich letztlich über das kühle Parkett, bis ich neben dem Bett stand. Ich erklärte mich für verrückt, kletterte aber trotzdem auf die Matratze, nachdem ich den auf dem Rücken liegenden Theon ausgemacht hatte.
 


 

Theon
 


 

Erschrocken war ich. Ganz kurz nur. Dann wich der kühle Blitz einem freudigen Kribbeln.

Ich schlief nicht, konnte es gar nicht, war noch immer hellwach, einerseits aufgrund der aufreibend hellen Lichter des Clubs, andererseits ließ mir Vivian keine Ruhe mehr.

Ja, vielleicht war ich etwas enttäuscht, weil er mich einfach in der Dusche stehen gelassen hatte, aber dass es überhaupt soweit mit uns gekommen war, das überwog alles. In den Club hatte ich mich nur zurückgezogen, weil ich gehofft hatte, die ganze Euphorie dort ungehindert hinauslassen zu können. So nah war ich meinem Ziel gekommen. So nah, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Kein Wort auf dieser Welt konnte beschreiben, wie ich mich gerade fühlte. Es war nur noch ein Prickeln, ich war pure Energie. Und jetzt, wo Viv auch noch in das Schlafzimmer gekommen war, schwappte eine noch intensivere Welle des Glücks durch meinen Körper. Ich glaubte, wahnsinnig werden zu müssen, als er in das Bett gekrochen kam, sich halb auf mich legte und ganz viele kleine Küsse auf meinem Hals verteilte.

"Vivi...", murmelte ich, klang aber heiser, da ich so lange nicht mehr gesprochen hatte.

Ich spürte anhand seines Atems, der plötzlich stärker auf meine Haut traf, dass er grinste. Dann bedeckte er mich weiterhin mit seinen Küssen, glitt langsam tiefer, bahnte sich seinen Weg in Richtung meines Schlüsselbeines.

"Vivi", kam es erneut von mir, dieses Mal aber fester und ebenfalls mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Nun erhob ich auch meine Hand, platzierte sie zielgerichtet auf seinem Hinterkopf, ertastete seine kurzen, weichen Haare, dann fuhr ich mit den Fingerspitzen sacht abwärts und berührte seine Wange. Da ich die Augen längst geöffnet hatte, fing ich seinen beharrlichen Blick mühelos auf und spürte den eindringlichen Wunsch, endlich richtig geküsst zu werden. Auf den Mund.

Doch kurz bevor er meine Lippen erreicht hatte, hielt er inne. Zog die Stirn leicht in Falten. Dann erhob er seine Stimme, die ebenfalls recht kratzig von der Nacht klang.

"Sorry wegen gestern...ich wollte dich nicht einfach so stehen lassen. War doof. Aber ich bin eben so erschrocken wegen der Zeit..."

"Ist okay", verzieh ich ihm mit einem gütigen Schmunzeln. "Ich weiß doch, wie zerstreut du manchmal bist..."

Ihm fiel ganz offensichtlich ein Stein vom Herzen. Seine Miene hellte sich auf.

"Ich hatte voll Angst, dass du total sauer auf mich bist...", gestand er mir schließlich. "Cockblocking ist eine ziemlich böse Sache, das weiß ich aus Erfahrung...und gestern, das hat mir natürlich auch nicht gefallen. Ganz und gar nicht."

Wir schwiegen kurz, dann aber ergriff er wieder den Gesprächsfaden. In seinen Augen lag dieses Funkeln, das ihm so etwas Jungenhaftes gab. Wann immer ich es sah musste ich lächeln.

"Jetzt hätten wir Zeit", raunte er, seine Mundwinkel zuckten etwas. "Ich glaube, es ist erst nach Vier...also, wenn du willst..."

"Was meinst du denn?", hakte ich grinsend nach; manchmal musste ich einfach ein wenig fies sein, denn ich wollte nur zu gerne hören, wie er mir es ins Gesicht sagte, was er nun mit mir tun wollte.

"Mit dir schlafen?"

Es war eigentlich keine Frage, aber es klang aus seinem Mund so. Doch das spielte nun keine Rolle mehr.
 

Vivi küsste mich, von ganzem Herzen, es war der Auftakt für eine der schönsten Nächte meines Lebens.

Es sollte niemals mehr enden, sich morgen einfach so fortsetzen - aber auch wenn wir uns so nahe waren, so wusste ich noch immer nicht sicher, ob er meine Gefühle tatsächlich teilte oder ich nur ein bisschen Spaß für ihn war, gar eine bloße Ablenkung von seiner gescheiterten Ehe.
 

Doch ich hätte es besser wissen müssen. Viv war nicht so. Nein, Viv war ganz anders. Er war genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.
 

Liina hatten wir am nächsten Tag wie jeden Morgen in den Kindergarten gebracht und bereits auf dem Weg dorthin belästigte ich meine beiden Mitbewohner mit einer Superidee für einen neuen Song. Die Nacht schien mich ziemlich inspiriert zu haben...

Folgerichtig wollte ich, kaum dass ich mit Viv wieder zu Hause war, nach meiner Gitarre greifen, um gleich mit dem Komponieren zu beginnen, aber mich erwartete eine kleine Überraschung, als ich in mein Schlafzimmer ging und meine Gitarre hinter dem Vorhang erblickte.

Zwischen den Saiten klemmte ein kleines, rotes Plastikherz, welches ich verwirrt, aber zugleich schmunzelnd befreite und von allen Seiten betrachtete.

Ich hörte, wie just in diesem Augenblick die Tür hinter mir aufging und Viv den Raum betrat.

"Hehe, guck mal", begann ich zugleich und hielt das Herz in die Höhe, schüttelte etwas amüsiert den Kopf. "Liina ist ja niedlich. Wann sie das wohl hier versteckt hat?"

Ich hatte erwartet, dass Viv nun ebenfalls in gerührtes Gelächter einfiel, aber das blieb aus. Er grinste zwar, aber schien aus irgendeinem Grund peinlich berührt. Oder bildete ich mir das ein?
 

"Das ist nicht von Liina", erklärte er mir schließlich, guckte mich auch an, aber dann wanderte sein Blick wieder über den Boden. "Das ist von mir."

Das saß. Tausend Gedanken prasselten gleichzeitig auf mich hernieder. Ich wusste nicht, welchem ich mich zuerst hingeben sollte. Doch ganz instinktiv trat ich einfach näher an Viv heran, sodass ich ihn mühelos in meine Arme schließen konnte.

"Ich...ich liebe dich", hörte ich mich gegen seinen Hals nuscheln, spürte nun, wie er seine Hände auf meinen Rücken legte und sie unaufhörlich auf und nieder schob.

"Ich liebe dich auch", kam es von ihm und in diesem Moment wusste ich, dass er mich gerade zum glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt gemacht hatte.
 

Träume konnten wahr werden, wenn man nur ganz fest daran glaubte. Egal, wie absurd sie schienen.

Die Hoffnung sollte man niemals sterben lassen. Auch nicht, wenn sie bereits im Koma liegt.
 


 

I can´t give you the world

can´t turn hell into heaven

but I can give you all of me

and everything I´ll be

And I deserve

nothing in return

but as long as it will beat

my heart is yours to keep
 

Epilog


 

Theon
 

Die Lichter der Musik trugen mich. Warme Farben der Klänge umfingen meine Seele. Es gab nichts anderes mehr. Hatte nie etwas anderes gegeben.

Keine Gedanken, nichts. Gefühle - nur Überwältigung. Prickeln.

Stärkeres Prickeln, als ich auf Viv zulief, der mal wieder alles gab. Kein Mensch auf der ganzen Welt schien so ein energetisches Gitarrenspiel an den Tag zu legen; es wusste selbst den größten Griesgram mitzureißen, denn wenn Viv etwas tat, dann tat er es mit purer Leidenschaft.

In diesem Punkt waren wir uns ähnlich. Der gesamten Band war ihre Spielfreude anzumerken, die wohl niemals abebben würde. Wir waren ein eingespieltes Team, brachten die Menge zum Kochen und heute war es in meinen Augen besonders heftig. Vielleicht, weil ich euphorischer war als sonst. Denn wann immer ich einen Blick in Vivs Richtung warf, flammte das Feuer in mir auf; dann raste der Gedanke in Windeseile durch meine Hirnwindungen, dass dieser Mann endlich mir gehörte. Dass er mir sein Herz geschenkt hatte. Nicht nur symbolisch, sondern ganz wörtlich.
 

Ich sang aus voller Kehle. Baute mich neben Viv auf. Vereinte mich mit dem Beat des Schlagzeugs, als wäre es das Natürlichste auf der ganzen Welt.

Viv fand meinen Rhythmus ganz automatisch, unsere Bewegungen wurden harmonisch und blieben dennoch ungestüm und gleichzeitig so geschmeidig.

Ein Herzschlag. Gleichklang.
 

You cannot hide, you gotta run
 

Als ich mich ihm zuwandte, brüllte er die Worte mit mir gemeinsam. Unsere Stimmen duellierten sich. Drangen wie aus einer Kehle an die Ohren dieser Welt. Wurden eins.
 

Give up the fight it cannot be won
 

Im Grunde waren die Lyrics mit einer anderen Bedeutung belegt. Doch heute sahen wir in dem besungenen Kampf eindeutig die Liebe. Nichts anderes. Denn es gab nichts anderes mehr. Keine Angst, keine Verzweiflung. Keinen Verfolgungswahn. Nur Prickeln. Heißes, kaltes Prickeln. Im Nacken. In der Magengegend. Auf dem Rücken. Elektrisierend.
 

Man kann sich gegen diese Gefühle auflehnen, sie zu zerstören versuchen, aber es wird nicht gelingen. Und es ist gut. Denn es gab sie tatsächlich, diese Menschen, die du mit deinen Empfindungen anstecken konntest. So seltsam es auch erschien, dass zwei Menschen dasselbe füreinander fühlten, so ein Wunder war es auch, wenn ein neues, junges Pflänzchen erwuchs, welches nur mit Liebe gedüngt zu werden brauchte.
 

Ein seltenes Glück war uns zuteil geworden. Nicht jeder konnte das von sich behaupten.

Als ich auch heute plötzlich Neos starres Antlitz in der ersten Reihe erkannte, welches das Neonlicht in schreiende, flackernde Farben tauchte, bekam ich beinahe Mitleid mit ihm. Aber nur beinahe. Denn als er sich nach dem Konzert wieder an eine Säule gelehnt nahe der Bar präsentierte und arrogant zur Schau stellte, wie gut er rauchen konnte, warf er Viv wieder hoffnungsvoll-interessierte Blicke zu.

Genervt verdrehte ich die Augen, während wir ihn passierten, schaute hoch zu meinem Freund.

"Macht der sich etwa immer noch Hoffnungen?", maulte ich, doch mir fiel etwas ein. "Na ja, aber als ihr euch zum ersten Mal begegnet seid, warst du eben auch anfangs nicht deutlich genug, glaube ich."

Viv aber grinste nur spitzbübisch vor sich hin, schnappte mich entschlossen an meinem Tanktop und zog mich dann vor Neos Nase enger zu sich heran.

"Ach, und du warst total eifersüchtig, deswegen warst du so still."

Seine Stimme war schneidend. Scharf. Wie ein Messer. Ertappt.

Er sonnte sich darin. Es gefiel ihm sichtlich, dass ich ihn schon damals so begehrte. Und als er seine Hand über meinen Hals bis hoch zu meiner Wange wandern ließ, ganz behutsam im Gegensatz zu seinem so harten Griff in mein Shirt, dann wusste ich auf einmal gar nicht mehr, wie das Leben vor all diesen Momenten ausgesehen hatte. Wie ich es aushalten konnte, nicht die liebevollen Nasenstüber verpasst zu bekommen, mit denen er mich am liebsten neckte.

So auch jetzt. Aber dieses Mal folgte nicht etwa ein frecher Spruch, sondern ein Geständnis. Eine Sache, die am Beginn eines schleichenden Prozesses gestanden hatte. Ein Zeichen, dass aus Vivs Unterbewusstsein an die Oberfläche gedrungen war. Schon vor dem Moment, in dem er sich wissentlich in mich verliebt hatte.

"Ich hab das auch damals schon ernst gemeint, dass ich viel mehr auf blaue Augen und blonde Haare stehe. Nur wurde es mir wohl erst später bewusst."
 

Leider konnte ich Neos Blick nicht sehen und auch nicht feststellen, ob ihm die Kinnlade hinunterfiel, jetzt, wo wir uns in aller Öffentlichkeit küssten und sich jede seiner verbliebenen Hoffnungen wohl endgültig von selbst zerstörte.

Er musste eben damit klarkommen, dass Viv sich für mich entschieden hatte und nicht für ihn.

Und obwohl ich ihn nie mochte, nie mögen würde, so war ich ihm irgendwie zu Dank verpflichtet, glaubte ich. Schließlich war er es, der Viv in meine Arme getrieben hatte.

Ein Gesandter des Schicksals. Ein Engel wider Willen. Ohne Zweifel zählten wir die besten Leute auf Erden zu unseren Fans. Das war mir bewusst geworden.
 

Manchmal war das Leben ungerecht und manchmal hielt es auch Geschenke bereit. Doch man konnte nichts erzwingen. Man musste einfach locker lassen und nur die Augen offen halten, damit man sein Päckchen zur rechten Zeit von der rechten Person in Empfang nehmen konnte.
 

Dann fand man auch die Liebe. Denn die versteckte sich für gewöhnlich dort, wo man sie längst nicht mehr vermutet hätte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer wissen will, wie es mit Neo weitergeht, liest weiter bei der Juliprinzessin. ;) Komplett anzeigen

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